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Daniela Knor

Der Tag des Zorns

Ein Roman in der Welt von
Das Schwarze Auge
©

Originalausgabe

Impressum

Ulisses Spiele
Band 76

Kartenentwurf: Ralf Hlawatsch
E-Book-Gestaltung: Michael Mingers

Copyright © 2014 by Ulisses Spiele GmbH, Waldems.DAS SCHWARZE AUGE, AVENTURIEN, DERE, MYRANOR, RIESLAND, THARUN und UTHURIA sind eingetragene Marken der Significant GbR.

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Print-ISBN 978-3-89064-573-5
E-Book-ISBN 9783868898835

Die Koschberge und Umgebung in der heutigen Zeit

Prolog

Das Echsenreich Zze Tha, 3075 v. BF

Der Zwerg starrte angestrengt durch die Sehschlitze der Echsenmaske in die Dunkelheit. Seine Augen konnten bei Nacht zwar besser sehen als die jedes Menschen, aber so gut wie Eulenaugen waren sie auch nicht. Und die Maske, aus dem Schädel eines Echsenwesens gefertigt, machte die Sache nicht einfacher.

Er fragte sich, ob eine echte Echse auch nur einen Augenblick auf diese lächerliche Verkleidung hereinfallen würde. Schließlich gab es keine Marus, die so klein und stämmig waren wie ein gestandener Angroschim. Der Mann hinter ihm, Assaf Sohn des Kasim, trug ebenfalls eine Maske, aber er mochte mehr Glück haben, denn er war groß und schlank wie viele Menschen seines Stammes.

„Was ist los, Calaman?“, fragte Assaf leise. „Warum bleibst Du stehen?“

Calaman Sohn des Curthag hob die Hand und gebot seinem Gefährten zu schweigen. Voller Ungeduld, diese Menschen, dachte er missbilligend. Sie sind so kurzlebig und haben niemals Zeit. Wobei er sich eingestand, dass Ungeduld auch einfach Assafs persönlicher Makel sein konnte, denn Calaman kannte sonst keinen Menschen näher. Bis vor wenigen Jahren hatte er nicht einmal von der Existent dieser Wesen gewusst.

„Ich dachte, ich hätte eine Bewegung gesehen“, flüsterte er Assaf zu. „Dort, hinter dem kleinen Felsbrocken.“

Assaf blickte in die angegebene Richtung. Zumindest drehte sich die Maske dem Felsen zu. Mehr konnte Calaman nicht erkennen.

„Da ist nichts“, behauptete der junge Menschenmann.„Sei zuversichtlich! Feqz ist mit denen, die in Dunkelheit und heimlich handeln.“

„Bei Angrosch bin ich mir da nicht so sicher“, brummte der Zwerg und huschte dann, so leichtfüßig wie das in schweren Stiefeln möglich war, zu dem bezeichneten Felsbrocken hinüber. Der Echsenschwanz, der zu seiner Kostümierung gehörte, schleifte hinter ihm über den Sand. Bei Angroschs Bart, dachte Calaman angewidert, ich muss lächerlich aussehen! Außerdem schwitzte er unter der schweren, geschuppten Haut sogar in dieser kalten Nacht.

Vorsichtig spähte er um den Felsen herum und zog rasch den Kopf zurück. Assaf war ihm mittlerweile gefolgt und wandte ihm die Maske zu. Wahrscheinlch blickte er ihn darunter fragend an. Calaman schloss dies jedenfalls aus dem schief gelegten Echsenkopf. Lautlos ahmte er den watschelnden Gang eines Marus nach und deutete energisch über den Steinblock. Assaf nickte verstehend.

Calaman zog seine Streitaxt unter der Tarnung hervor, ein Meisterstück zwergischer Schmiedekunst, das er von seinem Großvater Curoban geerbt hatte. Curoban war einer der acht Urväter der Angroschim gewesen, was diese Axt um so wertvoller machte. Calaman fand den Menschen mit seiner primitiv gehämmerten Speerspitze ziemlich bemitleidenswert. Wenn das alles hier vorbei war, würde er Assafs Stamm einen Schmied schicken, der ihn unterweisen konnte. Diese Entweihung des ehrwürdigen Stahls musste ein Ende haben.

Assaf deutete auf sich und nach rechts, dann wies er auf Calaman und nach links. Der Zwerg nickte kurz und machte sich zum Angriff bereit.

„Jetzt!“, raunte Assaf.

Calaman sprang los, um den Felsblock herum und landete den ersten Hieb. Der Maru brach blutend zusammen. Die Zwergenaxt hatte ihm den schmalen Schädel gespalten. Assaf brauchte seinen Speer gar nicht einzusetzten.

„Hat wahrscheinlich hier geschlafen“, vermutete Calaman leise.

„Ich sagte dir doch, dass sie nachts steif und träge werden. Genau wie Schlangen und Eidechsen“, flüsterte Assaf. „Es ist ein Kinderspiel, sie dann zu töten.“

Der Zwerg sah nachdenklich auf den Echsenleichnam zu seinen Füßen hinab.

„Ich weiß“, erwiderte er ernst. „Ich habe es ja selbst schon gesehen. Aber was ist mit dem eigentlichen Drachengezücht? Sie haben heißes Blut, die echten Drachen. Wie sollten sie da von der Kälte starr werden?“ Assaf wiegte ungeduldig den Kopf. „Sind wir bis hierher gekommen, um jetzt zu zaudern?“, fragte er eine Spur zu laut. Er schien die eigene Angst überspielen zu wollen. „Ich werde Zze Tha nicht verlassen, ohne einen

Blick auf Pyrdacors Hort geworfen zu haben.“

„Schon gut, schon gut“, beschwichtigte ihn Calaman.

„Kein Grund, so zu schreien. Die finden uns früh genug. Los, lass uns weitergehen!“

Der Angroschim watschelte im Licht der Sterne auf die Felswand zu, die sich sechzig Schritt vor ihnen in den Nachthimmel erhob. Wahrhaft die pummeligste Echse auf Dere, dachte Assaf grinsend und folgte dem Zwerg, wobei er weniger wackelte. Man musste die Maskerade ja nicht übertreiben.

Calaman lehnte sich gegen das kühle Gestein, ohne es durch die dreilagige Kleidung zu spüren. Unter der Echsenhaut trug er das Kettenhemd, das er nicht mehr abgelegt hatte, seit er und Assaf vor zwei Monaten zu diesem Wahnsinn aufgebrochen waren. Darunter schwitzte er in der wollenen, gepolsterten Unterwäsche. Angrosch sei Dank, dass Assaf mich wenigstens überredet hat, den Umhang zurückzulassen, sagte Calaman zu sich, während ihm unter der Maske der Schweiß herunterrann.

Wahrscheinlich bin ich auch der einzige Maru im ganzen Drachenreich, der einen schwarzen Vollbart trägt, fügte er in Gedanken hinzu und musste fast lachen.

Assaf übernahm nun die Führung. Scheinbar brauchte er keine Verschnaufpause. Im Schatten der Felswand war es noch finsterer, aber irgendwo vor ihnen, ein paar Hundert Schritt weiter am Fuß dieser Klippe entlang, glaubte der Zwerg, einen Lichtschein zu erkennen.

„Da vorne muss es sein“, flüsterte er. „Der Hintereingang.“

Der „Hintereingang“ zur Residenz des selbsternannten Drachengottes Pyrdacor. Der Ort, an dem dieser riesige goldene Drache einen unvorstellbar großen Hort an Reichtümern angehäuft haben musste.

Aghira, meine schöne Aghira, heute Nacht werde ich es wagen, dachte Calaman. Vor seinem geistigen Auge entstand das Gesicht dieser schönsten aller Zwerginnen und lächelte ihm verliebt zu. Die strahlend blauen Augen leuchteten mit ganz besonderem Licht in Aghiras ebenmäßigen Zügen. Ihre rundlichen Wangen waren leicht gerötet, ihre Lippen luden zum Kuss ein. Heute Nacht werde ich für dich ein Stück aus Pyrdacors Hort stehlen oder sterben, beteuerte Calaman dem von dicken schwarzen Zöpfen umrahmten Antlitz, bevor er in die kühle, sternklare Nacht des Echsenreiches Zze Tha zurückkehrte. Zurück zu Assaf und der Gefahr, die in jedem Felsspalt lauern mochte.

Mittlerweile hatten sie den Lichtschein fast erreicht, der aus einer Öffnung in der Gesteinswand hervordrang. Eine Höhle, die wahrscheinlich zu Pyrdacors Hort führte – führen musste!

Assaf wandte zu Calaman . „Wenn ich mit der Maske versuche, um die Ecke zu schauen, blitzen die Zähne schon im Licht, bevor ich den Kopf weit genug habe, um etwas sehen zu können“, meinte der junge Krieger.

„Nimm du sie solange! Und meinen Speer.“

Er reichte dem Zwerg seine Waffe, zog die Maske vom Kopf und hielt auch diese dem Angroschim hin. Calaman war zutiefst befriedigt, als er sah, dass Assafs dunkles Haar feucht am Schädel klebte und Schweißperlen auf der Stirn des Mannes glänzten. Ich schwitze also nicht allein, beruhigte er sich.

Assaf schlich, mit der rechten Schulter dicht an die Felsen gedrückt, bis an den Rand der Öffnung und schaute vorsichtig hinein. Ein kurzer Blick genügte ihm schon, dann bewegte er sich lautlos zu Calaman zurück.

„Der Echsenmensch hat die Wahrheit gesagt“, berichtete er leise. „Der Eingang ist recht klein. Nur zwei Marus bewachen ihn. Sie halten ein großes Feuer in Gang, damit sie nicht zu kalt werden, und sind wohl in irgendein Spiel vertieft.“

„Wie sind sie bewaffnet?“, fragte er den Gefährten.

„Mit den üblichen Speeren“, antwortete Assaf gelassen. „Da sind ihre Zähne gefährlicher.“

Angrosch gebe ihm Verstand! betete Calaman. Er hat doch selbst nur einen Speer!

„Du nimmst den linken, weil du größere Schritte machst“, bestimmte der Zwerg. „Willst du die Maske wieder aufsetzen?“

Der Mann nahm seine seltsame Kopfbedeckung nickend entgegen und zog sie wieder über. „Auf geht’s!“, zischte er dann und stürmte los. Der Angroschim folgte mit kampfbereit erhobener Axt.

Der Felsspalt war am Boden sechs Schritt breit, aber mindestens zwanzig Schritt hoch. Hinten wurde er jedoch rasch flacher. Die Raubechsen am Feuer sprangen mit wütendem Zischen auf und griffen nach ihren Speeren, als Assaf und Calaman um die Ecke gerannt kamen. Gleichzeitig wirkten sie ein bisschen verblüfft, angesichts der seltsamen Echsen, die sie da offensichtlich angriffen. Die Überraschung hielt allerdings nur kurz an, denn Marus gerieten im Kampf immer in eine Art Rauschzustand, in dem es ihnen egal war, gegen was sie kämpften.

Calaman wandte sich sofort der rechten, näher stehenden Echse zu und hoffte nur, dass sein schweres Kostüm ihn nicht zu sehr behinderte. Der Maru hielt den Zwerg auf, indem er eine Finte mit dem Speer machte und gleichzeitig mit dem peitschenden Krokodilschwanz nach den kurzen Beinen des Gegners schlug. Calaman hatte mit so etwas gerechnet und versuchte, so hoch wie möglich zu hüpfen, aber der Schwanz der Echse blieb an Calamans eigener Schwanzattrappe hängen, so dass der Zwerg doch das Gleichgewicht verlor und zur Seite stürzte.

Der Maru stieß einen Triumphschrei aus und wollte dem Angroschim den Speer zwischen die Rippen jagen. Calaman war jedoch durch seine dicke Kleidung recht weich gefallen und nicht benommen. So flink, wie man es den Angroschim meist nicht zutraut, riss er die Axt hoch und lenkte den Speer ab, der mit dem Ende des Schafts gegen den Schädel der Echse prallte. Der Maru störte sich nicht daran und schien nur noch wütender zu werden.

Calaman gelang es, eine weitere Speerattacke zu parieren, während er sich aufsetzte. Ohne abzusetzen schwang er die Axt in einem Bogen weiter und hackte nach dem Schwanz des Maru, der ihn sonst wieder getroffen hätte. Der Zwerg grinste zufrieden, als er das gelbliche Blut sah. Die Echse fauchte zornig und streifte Calamans Kopf mit der Speerspitze. Der Zwerg war nun doch froh, die Maske zu tragen, die Schlimmeres verhindert hatte.

Endlich gelang es ihm, den Speer des Gegners zu kappen. Der Maru warf den verbliebenen Stock wütend weg, peitschte mit seinem gestutzten Schwanz nach dem Zwerg und drang nun auch mit Klauen und Zähnen auf ihn ein. Calaman, dem das tobende Untier noch keine Zeit gelassen hatte, sich wieder aufzurappeln, verschaffte sich mit einem weiteren Hieb etwas Luft.

Nun stand er endlich wieder auf seinen kräftigen Beinen, hatte dem Maru aber eine Blöße gegeben, weil er mit der Axt so weit ausgeholt hatte. Die Echse stürzte sich auf ihn, bevor er die Waffe wieder nach vorn bringen konnte. Der Zwerg spürte, wie die Krallen durch die Echsenhaut drangen und über das Kettenhemd kratzten. Fie Fußklauen des Marus zerkratzten Calamans Beine. Das Maul mit den zahllosen Zähnen schnappte gefährlich nah am Kopf zu. Zum Glück war er einen halben Schritt kleiner als sein Gegner! Die Wucht des Angriffs warf ihn jedoch beinahe wieder um. Statt dessen klammerte sich der Zwerg mit der linken Hand an den Arm der Raubechse und holte mit der rechten zu einem neuen Hieb aus.

Der Maru versuchte sofort, Calaman abzuschütteln, aber dennoch traf der Zwerg erneut. Der Schlag schnitt zwar nicht wie beabsichtigt einen tiefen Spalt in die Seite der Echse, schlitzte ihr aber eine böse Wunde quer über den Bauch.

Jetzt erst ließ Calaman los, tauchte unter dem ausgestreckten Arm hindurch, an dem er sich eben noch festgehalten hatte, und stand zu seinem Entsetzen fast im Lagerfeuer der Echsen. Schnell warf er sich zur Seite, rollte sich ab, so gut es in der Verkleidung ging, und kam gerade rechtzeitig hoch, um dem erneuten Angriff des Maru begegnen zu können.

Die Echse stürzte sich wieder mit Zähnen und Klauen auf ihn. Calaman aber holte mit der Axt aus und hackte dem Maru so tief ins Bein, dass der Knochen splitterte. Die Echse ging in die Knie, nicht ohne wieder nach Calaman zu schnappen, der zurücksprang und zur Seite wirbelte. Nun bot der maru dem Zwerg den Nacken und Calaman führte den tödlichen Hieb ins Genick.

Assaf, der den Speer gerade mühsam aus dem Rücken der anderen Raubechse zerrte, grinste wieder. Zum Glück konnte der Zwerg das unter der Maske nicht sehen. Auch den Menschen hatte im Kampf das Kostüm behindert. Calaman sah, dass die Echsenhaut des Mannes an mehreren Stellen aufgeschlitzt war.

„Bist du verletzt?“, erkundigte er sich rasch.

Assaf schüttelte den Kopf. „Nur ein paar Kratzer und ein geprellter Arm“, sagte er achselzuckend. „Es wird gehen.“

„Gut“, schnappte Calaman und hielt ihm seine Axt unter die Nase. „Dann kappst du jetzt diesen unseligen Echsenschwanz an meinem Rücken! Das Ding hat ein gefährliches Eigenleben. Wahrscheinlich sitzt die Seele seines früheren Besitzers noch darin und sinnt auf Rache.“ Assaf hob abwehrend die Hände. „Aber, Calaman“, versuchte er, den Zwerg zu beruhigen, „die Echse ist doch tot. Der Schwanz gehört zur Verkleidung. Wer hat schon

einmal einen Maru ohne Schwanz gesehen?“

„Wer hat schon einmal einen Maru mit meiner Statur gesehen?“, fragte der Angroschim grollend zurück. „Da liegt ein Maru mit kupiertem Schwanz und du hackst meinen jetzt auch ab, sonst…“

„Sonst was?“, erwiderte Assaf erheitert.

„Sonst spalte ich dir mit dieser Axt deinen hohlen Schädel“, drohte der Zwerg wütend.

„Wenn du weiter so schreist, werden das andere Wächter für dich besorgen“, behauptete der junge Krieger.

„Ich muss gar nicht schreien“, erwiderte Calaman stur.

„Ich bleibe einfach hier sitzen, bis du tust, was ich sage.“ Er nahm tatsächlich vor dem Feuer Platz, den Echsenschwanz sorgfältig nach hinten gelegt. Assaf

schüttelte resigniert den Kopf.

„Nicht einmal ein Esel ist so störrisch wie du, mein Freund“, sagte er dann.

„Wenn du mein Freund wärst, würdest du mich endlich von diesem Anhängsel befreien, damit wir weitergehen können“, brummte Calaman. „Da wartet noch ein Drache auf uns.“

Assaf griff seufzend nach der Axt und trennte mit einem kräftigen Hieb drei Viertel des Echsenschwanzes ab.

Ach, Aghira, ich hoffe, du weißt zu würdigen, was ich alles für dich erdulde, wünschte sich Calaman, während er wieder aufstand. „Vielen Dank, Assaf“, sagte er und nahm die Axt wieder an sich. „Warum nicht gleich so?“

Der Mann drehte sich schweigend um und marschierte weiter in die Höhle hinein, der Zwerg schnaubte und stapfte hinterher. Es war zwar Winter, aber dennoch würde die Nacht nicht ewig andauern. Es wurde allmählich Zeit, dass sie Pyrdacors Hort fanden.

Die Höhle war stellenweise nicht einmal zwei Schritt hoch und breit. Kein Wunder, dass sie nicht übermäßig bewacht wurde. Ein Maru konnte schon mit dem Kopf anstoßen. Calaman dagegen empfand die Größe des Ganges als angenehm. Weniger erfreulich war, dass hier pechschwarze Dunkelheit herrschte, so dass die Gefährten sich an der Wand entlangtasten mussten. Assaf wollte zunächst zurück zum Eingang, um einen brennenden Scheit aus dem Lagerfeuer der Wächter zu holen mit dem er die Finsternis erhellen wollte, aber Calaman hielt ihn davon ab. Wenn im Dunkeln etwas auf sie lauerte, würden sie sich mit einer Fackel verraten.

„Aber so bin ich ganz einfach blind“, hielt Assaf dagegen.

„Dann lass mich vorangehen“, forderte der Zwerg. Ich bin zwar genauso blind, aber ich störe mich nicht daran, fügte er in Gedanken hinzu.

So wie sich die Wände anfühlten, war der Gang nur eine natürliche Felsspalte, die man stellenweise verbreitert hatte. Calaman ertastete problemlos, dass es sich um Sandstein handelte, wie er hier oft zu finden war. Gelegentlich zeigte ein Luftzug weitere Risse im Gestein an. Der Angroschim war in seinem Element. Aber auch wenn der Durchgang für einen Drachen zu schmal und zu niedrig schien, wunderte Calaman sich doch über die schlechte Bewachung. Der Echsenmensch, den sie vor zwei Wochen gefangen und verhört hatten, war sich darüber nicht sicher gewesen. Er hatte behauptet, der Haupteingang, eine Schlucht, werde von zwei Höhlendrachen geschützt. Für einen Menschen und einen Zwerg eine geradezu unüberwindliche Barriere. Der Hintereingang sei dafür nur von Marus bewacht, hatte der Echsenmensch gesagt, er wisse aber nicht, von wie vielen.

Calaman versuchte, nicht mehr an den Gefangenen zu denken. Sie hatten ihn töten müssen, sonst hätte er sie verraten, aber es war ihnen nicht leicht gefallen. Der Angroschim fragte sich einmal mehr, ob das ein Frevel gewesen war. Sumu, verzeih mir, bat er im Stillen. Es war nur eine Echse. Eine Kreatur des Erzfeindes Pyrdacor!

Und warum sollte dieser Zugang auch gut bewacht sein? Pyrdacor, der Goldene Drache, brauchte keinen Gegner zu fürchten. Er war zweifellos das mächtigste Wesen auf ganz Dere. Magie, Drachenfeuer und seine schiere Größe und gewaltige Kraft machten ihn nahezu unbesiegbar. Nicht umsonst hatte er sich zum Drachengott ernannt. Calaman fragte sich einmal mehr, was er hier eigentlich tat. Er musste wahnsinnig sein, wahnsinnig vor Liebe zu Aghira, der ungekrönten Königin unter den Zwergenfrauen.

Assaf war, als seien sie schon meilenweit durch die Finsternis getappt. In Wahrheit waren es nur einige Hundert Schritt. Feqz, verlass uns nicht! flehte er innerlich. Der große Drache ist ein allzu übermächtiger Gegner, wenn du uns deinen Beistand verwehrst. Wie als Antwort auf sein Gebet glaubte er plötzlich, der Gang werde heller. Aufgeregt schritt er rascher aus.

„Ruhe bewahren“, brummte Calaman. „Ich hab’s auch schon gesehen.“ Tatsächlich näherten sie sich dem Ende der Höhle. Der Zwerg konnte den Ausgang als helleren Kreis bereits vor sich sehen. „Ab jetzt keinen Laut mehr!“, mahnte er. Assaf nickte, was Calaman mehr ahnen als sehen konnte. Langsam pirschten sie sich an den Ausgang heran. Von draußen war kein Laut zu hören. Der Zwerg glaubte, seine Stiefel knirschten auf einmal unnatürlich laut und er schnaufe wie ein Höhlenbär. Der Drache musste sie kommen hören.

Calaman rief tief in seinem Herzen „Für Aghira!“, und tat den letzten Schritt an den Höhlenrand. „Bei Angroschs Bart!“, hauchte er staunend.

Sie standen am Boden eines gewaltigen Talkessels. Ringsherum türmten sich die Felswände über einhundert Schritt auf und gaben erst darüber den Blick in den sternenübersäten Nachthimmel frei. Lediglich zur Rechten war die Felswand auf der anderen Seite des Tales an einer Stelle durchbrochen. Dort musste der Haupteingang sein, die von minderen Drachen bewachte Schlucht. Aber es war nicht die ungewöhnliche Felsformation, die Calaman in Staunen versetzte, es war der riesige Drache.

In der Mitte der etwa sechzig Schritt weiten Talsohle lag Pyrdacor auf seinem Hort. Calaman und sein menschlicher Freund hatten unwillkürlich den Atem angehalten. Das goldfarbene Ungetüm maß von der Schnauze bis zur Schwanzspitze mindestens dreißig Schritt. Der mächtige Drache ruhte schwer auf den angehäuften Schätzen, der lange Schwanz um den Leib geringelt. Die Schnauze, die allein schon so groß wie Calaman war, hatte der Drache auf den Schwanz gelegt. So lag er da, wie eine gigantische Katze gemütlich auf einem gigantischen Kissen vor dem warmen Herd.

Aber der Angroschim wusste, wie sehr der friedliche Eindruck täuschte. Pyrdacor war seit Tausenden von Jahren der Erzfeind der Zwerge. Jede einzelne Schuppe an seinem goldenen Körper symbolisierte die Gier dieses Drachen nach Kostbarkeiten aller Art. Jeder Fingerbreit seiner immensen Größe stand für Skrupellosigkeit, Grausamkeit und Hinterlist. Und die Zwerge waren von Angrosch geschaffen worden, um dieser Gewalt zu trotzen. Um die Schätze der Erde vor den Drachen zu bewahren.

Calaman straffte sich. Er war ein Angroschim, ein Streiter wider die Drachen in göttlichem Auftrag. Wenn er auch nur ein Stück aus Pyrdacors Hort mit sich nehmen und zurück unter die Erde bringen konnte, war das ein symbolischer Akt des Zwergenwiderstandes im Auftrag Angroschs.

Langsam und vorsichtig setzte Calaman einen Fuß vor den anderen. Er wollte im Rücken des Drachen etwas aus dem Hort nehmen und dann denselben Weg zurückschleichen. Doch plötzlich knackte unter dem linken Stiefel ein trockener Zweig. In der nächtlichen Totenstille schien es Calaman, als habe er einen Hammer auf einen Amboss krachen lassen. Angrosch, steh’ uns bei! betete er verzweifelt, sonst ist alles verloren.

Ein Zittern lief über den Rücken des Drachen. Der Zwerg fiel auf die Knie. „Das ist das Ende“, murmelte er.

„Mutter Sumu, nimm meinen Leib auf! Vater Angrosch, nimm meinen Geist auf! Ehrwürdige Ahnen, zu euch kehrt meine Seele heim.“

Assaf hatte das Knacken ebenfalls gehört und war beunruhigt, als der Drache zuckte. Aber als der Zwerg vor ihm zusammenzubrechen schien und wirres Zeug murmelte, packte ihn blankes Entsetzen. Hatte Pyrdacor den Angroschim mit einem Zauber gebannt? Assaf schnappte Calaman bei den Schultern und schüttelte ihn. Das Gesicht des Zwergen war unter der Maske verborgen. Daher konnte Assaf nicht sehen, ob sein Freund wieder zu sich kam, aber schließlich stieß ihn der Zwerg fast gewaltsam weg und machte eine abwehrende Geste. Calaman hatte sich wieder im Griff. Der Drache schlief scheinbar immer noch tief und fest. Jedenfalls rührte er sich nicht, abgesehen von einem fast unmerklichen Heben und Senken des Brustkastens. Näher und näher schlichen der Zwerg und der Mensch an das Ungetüm heran. Je geringer der Abstand wurde, desto beeindruckender erschien ihnen der Drache.

Und natürlich sein Hort. Ein wahrer Berg von Schätzen. Calaman glaubte, trotz der Dunkelheit ein paar Stücke unterscheiden zu können. Pyrdacor lagerte auf einem Durcheinander von bearbeiteten und rohen Edelsteinen, Perlen und Korallen. Große Goldklumpen, wie man sie nur in den reichsten Adern fand, lagen neben primitiven Götzenbildern aus massivem Edelmetall und feinsten Schmuckstücken, wie sie nur ein Zwergenschmied gertigen konnte. Dazwischen Goldund Silbermünzen, Prunkwaffen und allerlei mehr, das der Zwerg nicht einordnen konnte. Auch Assaf stand vor Staunen der Mund offen. Welches Stück sollte er mitnehmen, um dem Stamm zu beweisen, dass er tatsächlich hier gewesen war?

Für Calaman stellte sich diese Frage nicht. Aghira ließ sich nur durch Schmuck beeidrucken. Zwergenschmuck am besten, denn der stand dem Drachen ohnehin nicht zu. Das alles waren geraubte Stücke, für die Angroschim ihr Leben gelassen hatten. Calaman streckte die Hand nach all diesen Schätzen aus. Er konnte ganz leise den Atem des Drachen hören. Sein Herz schlug so heftig wie noch nie. Calaman war kein Freund von Heimlichkeiten. Er hatte noch nie etwas gestohlen. Ob Pyrdacor ein Recht auf diese Dinge hatte oder nicht, im Augenblick war Calaman ein Dieb, und erwischt zu werden, bedeutete einen grauenvollen Tod.

Seine Hand schloss sich um etwas, das sich wie ein mit Juwelen besetztes Diadem anfühlte. Er zog das Schmuckstück behutsam heran, völlig lautlos. Der Angroschim sah sich nach seinem Freund um. Assaf hatte den Speer beiseite gelegt und hielt einen riesigen geschliffenen Diamanten in der einen, ein prächtig verziertes Kurzschwert in der anderen Hand. Abwägend blickte er zwischen beidem hin und her.

Calaman kniff prüfend die Augen zusammen. Die Waffe war sicher Zwergenarbeit. Was sollte Assaf mit dem Edelstein anfangen? Der war zu nichts nütze. Calaman bedeutete seinem Freund, das Schwert zu behalten. Der Mann nickte bedächtig und legte den Diamanten zurück. Es gab ein leises Klicken, doch Pyrdacor wachte nicht auf.

Schritt für Schritt zogen die beiden Gefährten sich von dem Drachen und seinem Hort zurück. Es drängte sie, sich schneller zu bewegen. Nichts wie weg von diesem gefährlichen Ort, aus der Reichweite des Drachengottes. Aber genau das durften sie nicht tun. Wenn sie sich jetzt hetzen ließen, war ein Fehler unausweichlich. Sie mussten genauso langsam und lautlos verschwinden, wie sie gekommen waren.

Endlich hatten sie die Höhle erreicht, die sie hierher geführt hatte. Calaman atmete tief durch. Es war noch nicht vorbei. Vor ihnen lag noch eine wochenlange Flucht aus dem Echsenreich Zze Tha, bevor sie Assafs Stamm erreichen würden. Aber der Zwerg war zuversichtlich. Ich werde Aghira diesen Schmuckreif bringen und sie heiraten, sagte er sich. Nichts wird mich davon abhalten. Er warf einen letzten Blick auf den schlafenden Drachen, der im Sternenlicht weißgolden glänzte, dann trat er in die tiefe Dunkelheit des Ganges zurück.

Pyrdacor hob träge ein Augenlid und verzog die Schnauze zu einem leisen Drachengrinsen.