Georg Cadeggianini
Vorher ist man immer klüger
Überraschende Erkenntnisse eines Familienvaters
FISCHER E-Books
Georg Cadeggianini, geboren 1977, ist Brigitte-Redakteur und Kolumnist bei wdr und Brigitte MOM. Er schreibt unter anderem für »Die Zeit«, »Stern«, »Nido«. Er lebt mit Frau und sieben Kindern in München.
Erschienen bei FISCHER E-Books
© S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main 2014
Covergestaltung: bilekjaeger, Stuttgart
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Dieses E-Book ist urheberrechtlich geschützt.
ISBN 978-3-10-402859-0
Die Hand ist zur Kelle gekrümmt, aufs äußerste gespannt und sieben Jahre alt. Sie gehört meinem Sohn Lorenzo. Gleich haut er sie wieder auf den Boden, nur ganz kurz, als ob der Asphalt eine riesige, heiße Herdplatte wäre. Er schlägt auf eine Sammelkarte: Dreht sich die Karte um, gehört sie ihm. Bleibt sie liegen, ist der andere dran und darf auf die Karte hauen. Wer dreht, kassiert. Fast alle Jungs, die Lorenzo kennt, machen das. Sie nennen es Zocken.
Starwars, Pokémon, EM, WM. Mein Sohn verwendet große Teile seiner Freizeit – und nicht nur dieser – mit Tauschen, Sortieren, Einkleben – vor allem aber mit Zocken. Er tut es in der Schule und auf dem Fußballplatz, nach dem Klavierunterricht und vor dem Tischabdecken, morgens zwischen Schlafanzugoberteilausziehen und T-Shirtsuchen. Flachhand, Hohlhand, Knickshand – runter, rauf: Der Arm bewegt sich wie ein Scheibenwischer auf Stufe vier. Kreuzzock, Stapelzock, Lotterie.
»Du musst mit dem Untergrund arbeiten«, sagt Lorenzo. Manchmal bläst er vorher unter die Karte. »Papa, ich weiß, was ich tue.«
Heiner Geißler, der CDU-Krawallo und Streitschlichter, sagte einmal: »Ich bin überzeugt: Wir wären nie in die Krise geraten, in der wir uns heute befinden, wenn Frauen an den Positionen der Banker gesessen hätten.«
Ich schaue auf meinen Scheibenwischerzockersohn, der gerade eine Hexentreppe legt, die er mit Doppelhand zocken will, und denke: Ja, vielleicht hat dieser Geißler recht? Es gibt Tage, da zocken die Jungs nicht um einzelne Karten oder Reihen, da türmen sie Stapel so hoch wie Pausenbrotboxen. Halbjahrestaschengeldgehälter stehen auf dem Spiel. Ein Schlag entscheidet. Alles gewonnen, alles zerronnen. Alles aus der hohlen Hand.
Meine Tochter Elena ist drei Jahre älter als Lorenzo. Sie kann nicht zocken. Ihr tue die Hand dann immer gleich weh, sagt sie. Aber ihr Klassenkamerad, »der zockt dir alles«. Für die große Pause gibt sie ihm ihre Karten.
»Der gewinnt immer«, und nach der Pause wird der Gewinn aufgeteilt.
Vier Tage später kommt Lorenzo verheult nach Hause.
»Alles weg«, presst er. »Meine ganzen Karten.«
»Ich gehe nie wieder in die Schule.« Elenas Meisterzocker, dem auch Lorenzo längst seine Karten anvertraut hatte, hatte nur noch den Stapel zu Ende zocken wollen, nach der Pause, unter der Bank, nur noch kurz … Irgendwann stand die Lehrerin direkt hinter ihm.
Herr Geißler, übernehmen Sie?
Als Elena nach Hause kommt und von der Malaise erfährt, sagt sie leichtfüßig, und auch das hätte Heiner Geißler sagen können: »Es gibt nichts Langweiligeres als ein volles Sammelalbum.«
Das Knie ist auf jeden Fall blutig, so viel ist schon mal klar. Ich schneide ein Pflaster zurecht, großzügig. Puste, desinfiziere, verarzte. Es ist aussichtslos.
»Der hat das absichtlich gemacht«, sagt Lorenzo. Und, das ist ihm besonders wichtig: »Der wurde nicht bestraft.« Schuld und Sühne, Vergehen und Vergeltung, Schubsen und Strafe.
»So gehört sich doch die Welt«, meint Lorenzo, sieben Jahren alt – und exakt genauso lang auf der Suche nach Gerechtigkeit. Ein kleines Kniepflaster ist da genauso hilfreich wie Kristina Schröder beim Kitaausbau. Ich nehme ihn in den Arm, hole beim Trösten sehr weit aus.
»Menschen sind nun mal nicht nur rationale Wesen. Kinder nicht und Erwachsene auch nicht. Jeder hat ein Recht darauf, mal unvernünftig zu sein; manchmal ist das dann auch ungerecht. Und ja, manchmal wird dann sogar geschubst.« Lorenzo schaut mich fragend an. Immerhin blutet das Knie nicht mehr. Ich fasse noch mal zusammen: »Jeder regt sich mal auf. Sogar die Mama.«
Gerechtigkeit ist die Pest der Kindheit: einnehmend, ansteckend, ruinös. Eine Krankheit mit drei Eskalationsstufen: Sie beginnt mit lauten »Unfair«-Rufen. Stufe zwei lautet wahlweise: »Dann gebe ich dir nie wieder was von meinen Süßigkeiten.« / »Dann schubse ich dich.« / »Dann bin ich nie wieder dein Freund.« / »Dann verhaue ich dich.« Und Stufe drei ist dann – und zwar unabhängig davon, wie Stufe zwei lautete – das Verhauen. Anschließend beginnt alles wieder von vorn, nur mit vertauschten Rollen.
Wladimir Putin, der Schwarzgurt-Präsident der Russischen Föderation, reitet und fischt gern oben ohne. Kraft zeigen. Muskeln spielen lassen. Er dirigiert Glotze, Geheimdienst und Gerichte. Er fliegt Kampfjets, kann Judo, Kalaschnikow und KGB. Auch Putin spricht gern von Gerechtigkeit. So wie meine Kinder.
Mein Sohn Jim ist drei Jahre alt. Die Übergänge zwischen aus Versehen, fahrlässig und mutwillig sind bei ihm noch fließend. Fakt ist: Wenn er in der Nähe ist, fällt ständig was um oder runter. Wasser und Saft, Fischstäbchen und Honigbrot, Buch und Gitarre. Inzwischen haben wir die dritte Butterschale. Was wohl Schwarzgurt-Putin mit Jim machen würde? Ab in den Plexiglaskäfig zu Chodorkowski und den Punkerinnen aus der Erlöserkirche?
Ich nehme mir Jim zur Brust, versuche es ganz ruhig.
Ob. Er. Bitte. Besser. Aufpassen. Kann. Verdammtnochmal. Jim hat sich währenddessen das nasse Shirt ausgezogen. Jetzt steht er da, oben ohne, zuckt mit den Schultern und sagt: »Ich habe einen Schubsengel.«
Schubsengel? Rowdytum aus religiösem Hass? Was würde Putin da raten? Der hat den Kathedralen-Punkerinnen kurz seine milde Seite gezeigt: »Ich denke nicht, dass sie dafür zu hart verurteilt werden sollten.« Milde im Stil der KGB-Kampfjet-Gerechtigkeit: Nicht zu hart verurteilen. Hart reicht.
Meine neue Geheimwaffe ist das Geheimnis. Ich gehe ganz nah ans Kinderohr, forme verschwörerisch meine Hand zur Flüstertüte.
»Jim, ich will nicht, dass du mir noch mal eine Scheibe Räucherlachs auf den Kopf legst.« Dann Nicken, Augenzwinkern – soll heißen: Davon wissen jetzt wirklich nur wir beide. »Streng vertraulich, Kumpel.«
Geheimnisse gehören zum Leben. Vom Colarezept bis zu Steinbrücks Steuererklärung – die wirklich wichtigen Dinge in der Welt bleiben erst mal geheim. Hat Gott eine Freundin? Der Iran die Bombe? Seehofer eine Ahnung, wie es mit dem Betreuungsgeld weitergeht?
Bei uns in der Familie hat das Geheimnis einen festen Platz: Es ist walnussbraun, hat einen schweren Deckel, Beschläge und ein Vorhängeschloss. Und den Schlüssel dafür hat ausgerechnet ein Siebenjähriger.
Lorenzo.
Es ist seine Schatztruhe – und Lorenzo der Gralshüter. Ein Zehntel-Kubikmeter Geheimreich, darin: ein ferngesteuerter Helikopter, gebunkerte Süßigkeiten und – ach, was weiß denn ich. Kinder lieben Geheimnisse. Sollen sie doch. Wer seinen Kaugummi unter meine Computermaus geklebt hat? Wann Elena ihre Hausaufgaben macht? Wie ein Honigbrot mit Thunfisch schmeckt? Ich will ja gar nicht alles wissen.
Es gibt auch Dinge, die halte ich vor meinen Kindern geheim. Wie man einen Singvogel fängt zum Beispiel, dass unser DVD-Player wieder funktioniert, dass es früher keine Fahrradhelme gab.
Neulich fehlten in Lorenzos Schatztruhe alle Süßigkeiten. Der Gralshüter selbst hatte vergessen abzuschließen. Und die Spur führte direkt zum kleinen Bruder. Und nein, der Gralshüter flüsterte auch nicht mehr. Ich drängelte mich dazwischen, nahm Jim ins Verhör.
»Jim, weißt du, wo Lorenzos Süßigkeiten sind?«
Darauf Jim, selbstbewusst, ein bisschen pikiert, Marke Steinbrück: »Also ich habe sie nicht genommen. Auf keinen Fall. Nein, nein, nein.«
Ich: »Jim, ich glaub dir das. Wenn du das sagst, dann glaube ich dir das auch.«
Jim überlegt kurz, dann sagt er: »Ich glaub mir das auch.«
Es gibt so viele Helfer im Alltag einer Familie: Omas und Fieberzäpfchen, Feuchttücher und Anrufbeantworter. Und wenn das alles nichts hilft, haben wir immer noch die Welt der Magie: Dann rufen Eltern kleine Zauberwesen zu Hilfe, die Feen.
Die Kinder fragen: »Warum baut der Körper nicht gleich die richtigen Zähne rein?« – »Wo ist mein Schnuller?« – »Warum soll ich nicht mehr in die Windel machen?«
Ich rufe: »Zahnfee« – »Schnullerfee« – »Kackfee«.
Feen tun, was sich Erwachsene nicht trauen: Sie nehmen die wichtigsten Dinge im Leben der kleinen Leute weg – prompt und über Nacht, ohne Rück- und Wiedergabe. »Change Management« nennen das Beraterfuzzis. Ich sage: »Die Welt braucht viel mehr Feen.«
Eurobonds, Betreuungsgeld, Verfassungsschutz: Könnte sich darum nicht mal die Kackfee kümmern? Prompt und über Nacht. Oder unterschätzen wir unsere Politiker? Sind die da längst dran? Schwebt der Umweltminister feengleich durch unsere Schlafzimmer, bimst uns Energiespartricks direkt in die REM-Phase – und dreht, wenn er schon mal da ist, hinterrücks die Heizung ab? Was würde eine magische Merkel anstellen? Und wo ist eigentlich Westerwelle? Hat der sich selbst weggezaubert? Nimmt uns Obama nach dem nächsten TV-Duell den Fernseher weg? Was macht Kachelmann mit dem Wetter, Schavan mit der Wissenschaft, Seehofer mit unserem Kalender: »Gewählt wird am 32. September«? Zaubern die nicht alle schon? Prompt und über Nacht?
»Unfair, ich will auch einen Goldzahn«, beschwert sich am Abend mein fünfjähriger Sohn. Ich halte die Wange, spreche von Wurzelspitzenresektion, zurückgehendem Zahnfleisch, Schmerzen.
»Ein Goldzahn ist eine Notlösung.«
»Jaja, schon gut«, meint mein Sohn: »Aber wenn der rausfliegt, was bringt dir dann die Zahnfee?«
Herbstsonne bricht durch goldgelbe Blätter. 14 Gummistiefel stehen auf dem Waldweg. Darin: sechs kleine Großstadt-Forscher und ich. Wir waren aufgebrochen, um das Fremde zu erforschen, die Natur der Dinge zu begreifen – und vielleicht ganz nebenbei auch ein paar Pilze einzustecken. Aber wir hängen am Waldrand fest, am ersten Busch: Springkraut.
»Wenn man die Kapseln drückt, dann explodieren die«, hatte ich den Kindern im Vorbeigehen erklärt. Seitdem drücken sie.
Der Mensch hat einen sehr stark entwickelten Sinn für Ursache und Wirkung. Von klein auf.
»Wenn die richtig dick sind, dann knallern sie noch mehr«, meint Camilla.
CSU