Es muss möglich sein,
die Realität als die geschichtliche Fiktion,
die sie ist, auch darzustellen.
Alexander Kluge
Zufälle aller Art haben die Aufzeichnungen, aus denen die Verborgene Chronik schöpft, ein Jahrhundert lang vor der Vernichtung bewahrt. Auf verschiedenen Wegen fanden sie, von privaten Besitzern übergeben, in das Deutsche Tagebucharchiv. Die Motive und Entscheidungen, die letztlich zum Erhalt und damit zur Überlieferung der Aufzeichnungen beigetragen haben, sind nur bedingt und manchmal gar nicht rekonstruierbar. Auch die Absichten und Wünsche derer, die diese Aufzeichnungen verfassten, sind im Einzelnen unbekannt. Wir können nur feststellen, dass diese Tagebücher im Gegensatz zu anderen Selbstzeugnissen nicht zerrissen, verbrannt, verschüttet oder weggeworfen wurden und dass sie uns nun für eine vielstimmige historische Erzählung zur Verfügung stehen. Das erhalten Gebliebene, das Handschriftliche und das Getippte, ist der Stoff der Verborgenen Chronik. Was sie berichtet, ist dementsprechend vom Zufall getragen. Eine Chronik mit anderen Aufzeichnungen hätte einen anderen Erzählverlauf. Sie wäre eine Geschichte anderer Möglichkeiten.
In diesem Buch kommen nur unveröffentlichte Tagebücher zu Wort. Es beginnt am 27. Juli 1914, einen Tag vor der Kriegserklärung Österreich-Ungarns an Serbien, es endet mit dem ersten Tag des zweiten Kriegsjahrs, am 1. Januar 1915. Es berichtet von den spontanen und inszenierten Kundgebungen und Truppenverabschiedungen an Bahnhöfen, von den seit der Mobilmachung einsetzenden Veränderungen des gesellschaftlichen und alltäglichen Lebens und den wechselvollen, zwischen Nationalstolz, Angst und Trauer hin- und hergerissenen Stimmungen in der Heimat, von ersten militärischen Erfolgen und Niederlagen im Sommer bis zum Beginn des Stellungskrieges, wie er bereits ab November 1914 vor allem die Westfront für Jahre beherrschen sollte. Es erzählt, wie aus der Sicht Einzelner Geschehnisse erlebt wurden, die heute Teil der Geschichte des 20. Jahrhunderts sind – chronologisch, Tag für Tag, mit ständig wechselnden Schauplätzen und Perspektiven. Die für die Chronik verwendeten Aufzeichnungen sind durchdrungen von der eigenen unmittelbaren Beobachtung und Erfahrung. Sie entstanden jedoch nicht unabhängig von der öffentlich zugänglichen Information, sondern sind beeinflusst von Kriegsberichterstattung, Regierungsverlautbarungen, Propaganda und politischen Lügen, von Zensur und verlegerischer Selbstzensur. Die Chronik zeichnet Bilder verschiedener Bewusstseinslagen aus einer vergangenen Zeit. Politische Unwahrheiten, Täuschungen und historische Irrtümer werden nicht widerlegt, der Horizont der dargestellten Zeit wird nicht verlassen. Im Vordergrund steht die zeitnahe, subjektive Niederschrift von Berichten und Reflexionen.
Es mag vielleicht auch manchen Leserinnen und Lesern so ergehen, wie es uns bei der Zusammenstellung und Montage der Selbstzeugnisse erging. Die Verfasserinnen und Verfasser der Tagebücher, über die in vielen Fällen nur bekannt ist, was aus ihren Notizen hervorgeht, nehmen mehr und mehr Gestalt an: Aus Berichtenden werden Figuren. Ihre Einträge beschreiben eigene Erlebnisse. Es sind Nahaufnahmen, die eine Fülle unbekannter Details sichtbar machen und gleichzeitig die Ausschnitthaftigkeit der Beobachtung, die Begrenzung der eigenen Erfahrung, des eigenen Wissens und der individuellen Handlungsmöglichkeiten zeigen.
Wir stellen uns vor, wie damals die verordnete militärische Mobilmachung einherging mit einer alltäglichen und individuell erlebten: Die Wahrnehmung und das Gefühl, an großen, epochalen Ereignissen teilzunehmen, eine Art innerer Mobilmachung dürfte viele Menschen bewegt haben, ab Kriegsbeginn eigene Beobachtungen und Erlebnisse festzuhalten – sei es aus dem Bedürfnis rein privater Orientierung, sei es aus dem Bewusstsein eigener Zeitzeugenschaft heraus, das schemenhaft den möglichen Einfluss erlebter Gegenwart auf die Zukunft begriff. Wir wissen heute, dass der Kriegsbeginn Auslöser für das Entstehen einer regelrechten Schreibbewegung war. Es wurden nicht nur massenhaft Tagebücher angefangen, es entstanden angeblich allein im Monat August 1914 in Deutschland auch über eine Million Kriegsgedichte. Aber was besagt so eine Zahl? Sie sagt etwas aus, wenn sie in eine Relation zu anderen Zahlen gesetzt wird: Vier Millionen Männer wurden im August 1914 eingezogen. Bis Dezember 1914 hatte die deutsche Armee über 140000 Tote.
Die Aufzeichnungen zu diesem Band der Verborgenen Chronik stammen von 37 Tagebuchautorinnen und -autoren. Sie kommen mit fast täglichen Einträgen oder auch sporadisch zu Wort. Sie treten irgendwann mit ihren Notizen in die Montage-Erzählung ein und geraten zu einem anderen Zeitpunkt wieder aus dem Blickfeld. Im Laufe der Kriegsmonate kommen neue Tagebuch schreibende Beiträger hinzu, während andere verschwinden – weil sie ihre Skizzen einstellten aus Gründen, die unbekannt sind, oder weil der Tod zum Abbruch der Aufzeichnungen führte oder weil die Einträge unsere Gesamtdarstellung nicht oder nur geringfügig bereichert hätten. Aus unserer Sicht bot es sich nach intensiver Lektüre an, die Aufzeichnungen zu den ersten Kriegsmonaten in einer literarischen Montage vorzustellen, die eine tägliche Chronik mit häufig wechselnden Schauplätzen ergeben sollte – auch und gerade, weil sie Lücken in den Ereignisfolgen zeigt und mit jedem Wechsel oder Schnitt die fragmentierende Erzählweise in Erinnerung bringt. Der entstehende Erzählraum der Verborgenen Chronik umfasst in seiner Gesamtdimension den Ersten Weltkrieg bis zu seinem Ende. Die stoffliche Fülle der auf drei Bände angelegten Edition beruht auf den von insgesamt 189 Autorinnen und Autoren geschriebenen Tagebüchern, die uns der Herausgeber, das Deutsche Tagebucharchiv, großzügig zur Verfügung stellt.
Lisbeth Exner, Herbert Kapfer
München, Januar 2014
Der irre Zufall kann heute, kann morgen, kann jede Minute rufen, und alle, alle werden kommen. Der Not gehorchend – aber gehorchend. Anfangs werden sie heulen, da sie ihr bisschen Erdenglück zusammenbrechen sehen, – bald jedoch werden sie, wenn auch nicht mit ganz sauberer Unterwäsche, vom allgemeinen Taumel besessen sein und besinnungslos morden und ermordet werden.
Franz Pfemfert, Die Besessenen, geschrieben am 27. Juli 1914
Um 9 Uhr vormittags Telegramm erhalten folgenden Inhalts: »9. Korps mobil, sofort kommen.« Die Vorstandsmitglieder telefonisch verständigt. Von 11 bis 12 Uhr Vorstandssitzung. Kollege Röllig, Hildesheim, als Vertreter bestellt. Nach dem Essen in Uniform geworfen. Bei Herrn von Krosigk und Inspektor Rauch Abschiedsbesuche gemacht und in Fabrik die letzten Anordnungen getroffen. Um 2.15 Uhr in Begleitung von Irma mit dem Wagen zum Bahnhofe Belleben gefahren, dort von Kollegen Hartmann verabschiedet. Um 3.42 Uhr abgefahren über Halle, Leipzig, Dresden, Zittau nach Reichenberg. Auf den Stationen normales Leben.
Trübes Wetter und trübe Aussichten: Österreich mobilisiert. Abends bemerkte Ludwig eine kleine schmerzhafte Stelle am Fuß.
Spannung stark, da Russland mobilisiert. Unser Kaiser aber wünscht den Frieden.
In Reichenberg eingetroffen. Einige Stunden geschlafen. Die Feldausrüstung in Ordnung gebracht, um 9.50 Uhr abgefahren. Reserveleutnant Hendrich vom 73. Infanterie-Regiment fährt bis Leitmeritz mit. Dort um 1.30 Uhr eingetroffen. In der Stadt herrscht reges Leben, vor allen öffentlichen Gebäuden stehen große Menschenmengen. Zahlreiche Wagen mit Ausrüstungsgegenständen rollen durch die Straßen. In der Kaserne erfahre ich die Zuteilung zur 8. Kompanie. Mittels Wagen mein Gepäck abgeholt und nach Schüttenitz gefahren. Dort beim Fleischermeister Kubitschek Wohnung bezogen. Um 7 Uhr mit Reserveleutnant Liebisch nach Leitmeritz gefahren und im Hotel Schwane gegessen, das erste Essen seit 8 Uhr früh. An Stelle des Holzkoffers einen leichten Stoffkoffer gekauft, da unsere Verwendung in Serbien gesichert erscheint. In der Stadt noch bewegtes Leben. Nach 9 Uhr den Rückweg zu Fuß angetreten, dreiviertel Stunden Gehzeit. Sehr voluminöses Bett in geräumigem Zimmer.
Der Fuß bessert sich, aber Ludwig muss ruhig liegen. Dabei werden die Zustände immer aufregender. Alles hängt davon ab, ob Russland sich einmischt. Es regnet Bindfäden. Nachmittags in Friedenau. Die Kriegserklärung Österreichs wird veröffentlicht und das Manifest Kaiser Franz Josephs an seine Völker.
Krank gemeldet bis 16. August, werde ich heute zum Dienst berufen wegen großen Telegrammverkehrs. Lage beginnt ernst zu werden.
Nachmittag um 1.30 Uhr mit der Kompanie zur Schießstätte nach Trabschitz marschiert in zweieinhalb Stunden. Mannschaft schießt gut.
Tag und Nacht Dienst. Telegramme deuten auf Verschlimmerung der Lage hin.
Russland mobilisiert! Frau Sievers telefoniert, dass in Berlin Extrablätter ausgegeben seien mit der Nachricht, dass Deutschland auch mobilisiere. Aber die Nachricht wird öffentlich dementiert. Abends Jolles bei uns, der sich als Kriegskorrespondent melden oder sonst was Nützliches tun will. Später kamen noch Sievers in großer Aufregung. Ludwig arbeitet mit unerschütterlicher Ruhe an seinem Buch.
Da Serbien eine unzureichende, unbefriedigende Note an Österreich sandte, wurde der Krieg zwischen Serbien und Österreich beschlossen. Serbien hat die Unterstützung Russlands zugesichert bekommen. Welch eine Verantwortung liegt jetzt auf dem russischen Staat! Österreich hat vollständig mobilisiert, die Truppen sollen Belgrad schon eingenommen haben. Die Friedensverhandlungen Englands hat Deutschland abgelehnt. Gestern war der junge Graf Geßler hier zu Tisch.
Vor Erwartung und Neugierde hielt es kein Mensch daheim aus. So war alles auf den Straßen versammelt, wir selbst auf der bekannten Hauptstraße, als uns gegen Abend die »roten« Zettel verkündeten: Kriegszustand, noch keine Kriegserklärung!
Der Fuß wieder etwas schlechter: Es ist scheußlich, dass Ludwig so festsitzt. In Berlin morgens, als ich mit Peter dort war, um Geld zu holen, noch alles ruhig, nur Banken und Sparkassen voller Menschen. In den Warenhäusern wollen sie keine Lebensmittelvorräte mehr ausgeben. Nachmittags wird der Kriegszustand über Deutschland verhängt. Der Kaiser fährt durchs Brandenburger Tor ein und hält eine Ansprache. Schade, dass man nicht dabei war! Hier regelt man seine Finanzen und sucht sich Vorräte zu sichern. Ludwig arbeitet ruhig weiter.
Um 5½ Uhr nachmittags Verkündung des Kriegszustandes durch einen Offizier und vier Begleiter. Der Marktplatz hatte sich gefüllt. Nach Verlesung des ersten Teils brauste ein kräftiges Hurra durch die Luft, angestimmt durch einen alten weißbärtigen Herrn. Von wenigen Ausnahmen abgesehen, war das Stadtleben ein unverändertes. Oft drängte sich neugieriges Publikum zusammen, eifrig alle Möglichkeiten der Zukunft erörternd. Am Bahnhof reges Leben, die Sommerfrischler kehrten zurück, die eingezogenen Reservisten füllten die Straßen. Bei Zivilbevölkerung teilweise Freude, teilweise Betrübnis insbesondere beim besonnenen Publikum, das den Ernst der Situation mehr übersah. Bei den jungen Offizieren wider Erwarten viele ernste Gesichter und oft nur gezwungenes Lächeln.
Um 9 Uhr am Marktplatz in Leitmeritz feierliche Einsegnung. Blauer Himmel, große Menschenmenge. Tscheche demonstriert durch Ruf: »Hoch Serbien!«, wird verprügelt. Nachmittags wimmelt es von Menschen in Schüttenitz, die die eingerückten Reservisten besuchen.
Hier ist schon alles gerüstet. Die Brücke bei Maxau ist von den hiesigen Dragonern bewacht. Man darf nur in Begleitung eines Soldaten die Brücke betreten. Heute hat sich Wilhelm als Kriegsfreiwilliger bei den Dragonern gestellt. Am zweiten Mobiltage muss er eintreten. Es ist kaum noch etwas zu bekommen. Die Preise sind gewaltig gestiegen, Mehl von 20 auf 35 Pfennig. Da ich erst fünfzehn Jahre alt bin, darf ich mich als Krankenhilfe noch nicht melden. Um aber nicht müßig zu Hause zu sitzen, will ich sehen, ob ich genommen werde, um im Ernstfalle den Soldaten Erfrischungen an der Bahn zu reichen. – Abends 6 Uhr. Der Krieg ist erklärt! Ich kann es nicht glauben, kann es mir nicht vorstellen … was heißt es, Krieg … Gott sei mit uns, wir Menschen können nichts mehr machen. Wilhelm kommt Montag in die Kaserne. Major Moser hat sich noch sehr nett und liebenswürdig mit ihm unterhalten und hat ihm gesagt, dass Graf Geßler den Wunsch hege, ihn in seinem Regiment als Fahnenjunker zu sehen. Er wird aber als Kriegsfreiwilliger eintreten. Gott schütze ihn. In der ganzen Stadt herrscht Begeisterung. Bei der Kriegsverkündigung sangen sie heute ›Deutschland, Deutschland über alles‹.
Gegen 7 Uhr wird die Mobilisierungs-Ordre hier an den Säulen angeschlagen. Also wirklich. Ich möchte nach Berlin, aber Peter hat keine besondere Lust. Wenn nur Ludwig nicht so festsäße. Jolles macht alles in Berlin mit.
Ungeheure Begeisterung bei Alt und Jung! Arm und Reich reicht sich die Hand, spricht zusammen auf den Straßen. Alles ist eins in dem Gedanken: Zusammenhalten, was da kommen mag. Nun wird nichts mehr gearbeitet, alles macht Feierabend. Viele junge Männer sieht man eilends heimwärts laufen: »Ich muss mich morgen früh stellen«, heißt’s. Überall die gleiche Begeisterung, alle freuen sich dreinzuschlagen.
Am Vorabend des Weltkrieges!?! steht heute auf den meisten Depeschen! So sieht Krieg aus, muss ich immer denken! Es ist viel, viel grässlicher, als man immer dachte und aus Büchern las.
Gegen 6 Uhr hörte ich im Kreiskrankenhaus zu Alzey, die Mobilmachung sei befohlen. Wir eilten auf den Roßmarkt, wo eine große Menge in dumpfem Schweigen harrte, denn noch war hier nichts angeschlagen, und nur Einzelne hatten die Nachricht mitgebracht. Nun erschien auch ein Schutzmann und klebte an die Litfaßsäule die Meldung, die alle wussten und die doch jeder sehen wollte. Die meisten waren erschüttert. Jeder, der nicht selbst mitmusste, hatte einen ihm Nahestehenden, der ins Feld sollte. Die zwei Bayern Hirtreither und der Provisor Godesbauer waren am meisten kriegsbegeistert. Sie fuhren noch am selben Abend nach München.
Tausende von Fremden ergriffen eiligst die Flucht, die Züge waren riesig überfüllt. Mich überkam ein eigenartig dumpfes Gefühl, ich konnte das Schwere noch nicht ganz fassen. Am Abend letztes Konzert, die Gäste kargten nicht mit Applaus.
Sachen gepackt und abends Abschied gefeiert im Wilhelmsbau.
Hier ziehen immerzu die Truppen aus, alle laufen in feldgrauer Uniform herum. Man sieht schrecklich viel verweinte und ernste Gesichter. Kassel ist belebt wie nie. Nagelneue Autos flitzen herum, Pferde und Leiterwagen, Möbelwagen, alles wird herangeholt. Viele Soldaten sind riesig vergnügt, singen und freuen sich, dass wir Deutsche auch mal zeigen können, was wir können! Alles ist in Bewegung. Heute Morgen war ich bei Pfarrer Stein in der Kirche. Er sprach kurz und wunderhübsch über meinen Konfirmationsspruch: »Halte, was du hast, dass niemand deine Krone nehme.« Alle waren gerührt. Wunderhübsch war es!
Mich litt es nicht länger hier, ich musste nach Berlin. Peter enttäuscht mich sehr durch seinen Mangel an Begeisterung, er wollte nicht mit. Ich ging mit Frau Jolles und Jan, um ½ 11 Uhr Gottesdienst am Bismarck-Denkmal vor dem Reichstag. Um ½ 12 Uhr gingen wir die Linden entlang bis zum Schloss, sahen die Wache aufziehen und die kronprinzliche Familie anfahren. Fabelhaft war der Menschenandrang und die allgemeine Begeisterung. Um ½ 4 Uhr war ich wieder in Wannsee. Jolles telefoniert um ½ 9 Uhr, dass Japan den Krieg an Russland erklärt habe! Die Franzosen haben Nürnberg bombardiert per Aeroplan. Wilde Gerüchte überall.
Erster Mobilmachungstag wurde durch überall angeschlagene Zettel kundgegeben. Alles befand sich in furchtbarer Erregung. Ich wurde nicht mehr Herr meiner selbst, eine Unruhe überkam mich, die mir alles klare Denken verwehrte. In den Hafen fuhr ein Schleppdampfer herein, der in Kriegszeiten den Weg für feindliche Schiffe versperren muss. Eine Menge russische Spione wurde verhaftet und standrechtlich erschossen. In unserem Hause wohnte gleichfalls eine russische Dame, welche verdächtigt wurde, Bomben bei sich zu haben. Die Polizei hielt Haussuchung, fand aber zum Glück nichts Verdächtiges vor. Trotzdem war die Aufregung eine maßlose.
Seit gestern früh ist mein Herzallerliebster fort, um sich seinem Vaterland zur Verfügung zu stellen. Welche Tage und Nächte gingen dem Abschied voran, davon will ich schweigen. Wie viel kann das Menschenherz ertragen. Wir sind die Tage keinen Schritt voneinander gewichen, jede Minute wollte man zusammen sein. Er hat den Abschied wie ein Held getragen. Ein kleines Ringlein, das ich ihm schon als Braut einmal gegeben, habe ich ihm an einem goldenen Kettchen um den Hals gehängt, das soll ihn schützen. Mit heißen Tränen und Küssen habe ich es benetzt und an die Lippen gedrückt, vielleicht hat meine heiße Liebe die Macht, eine feindliche Kugel von ihm abzuwenden. Sein Vater und ich gaben ihm das Geleit zum Bahnhof. Ich ließ es mir nicht nehmen, ich musste den Säbel tragen, wie habe ich ihn verstohlen an den Mund gepresst. Wie stattlich sah mein Liebster aus. Ich hielt mich tapfer, nur als der Zug nicht mehr zu sehen, da verließ mich die mühsam bewahrte Fassung. Lieber, lieber Gott, gib uns ein Wiedersehen!
Es mussten viele militärpflichtige Männer und Jünglinge zum Heer einrücken und ihre Heimat verlassen. Der »letze Berg« wurde mit Kanonen und Soldaten besetzt. Man vermutete, der Feind rücke in das Münstertal ein.
Krieg mit Frankreich. Französische Truppen halten deutsche Ortschaften besetzt. Bomben werfende Flieger kommen seit gestern nach Baden und Bayern und versuchen unsere Bahnen zu zerstören. Frankreich hat damit den Angriff gegen uns eröffnet und den Kriegszustand erklärt. Unseres Reiches Sicherheit zwingt uns zur Gegenwehr. Der Kaiser hat die erforderlichen Befehle erteilt.
Heute Morgen kamen feine Depeschen. 1) Deutsche über die russische Grenze bei Thorn, 2) ein französischer Flieger heruntergeschossen, 3) Sprengung eines Tunnels bei Kochem verhindert, die zwei Leute erschossen. 4) König Peter von Serbien mit 20000 Mann von Österreichern gefangen genommen!!! 5) Kreuzer Augsburg im Hafen Libau (Russland) Minen gelegt, Hafen in Brand! 6) Russische Flotte im Hafen Libau vollständig vernichtet!!!!!! Das ist doch fein! Ich habe mich mächtig gefreut!
Der Montag begann mit einer Blinddarmoperation: ein Patient, der schon vor Wochen bei mir gewesen war und bisher keine Zeit zur Operation gehabt hatte. Jetzt schien es ihm das Sicherste, sich den Bauch aufschneiden zu lassen. Dies ging noch an, da er wirklich nach meiner Ansicht nicht ausrücken konnte. Auch sonst fanden sich manche ein, die ein Zeugnis über früher im Krankenhaus durchgemachte Erkrankungen verlangten. Es wurde eine große Razzia abgehalten. Alles, was einigermaßen entlassen werden konnte, vor allem die Drückeberger wurden ausgewiesen. So konnte ich Dr. Drescher das Haus mit einem Bestand von zwanzig Patienten übergeben. Der Nachmittag war mit Packen ausgefüllt.
Wenn ich nicht solch alter Krüppel wäre, ginge ich auch mit. Leider kann ich mich in keiner Weise dem teuren Vaterlande nützlich machen.
Ich und meine Jungens Adolph und Friedrich haben uns sofort freiwillig zum Heeresdienst gemeldet. Adi meldete sich in Spandau beim Garde-Fußartillerie-Regiment und Friedel bei der Ersatz-Schwadron eines Regiments Jäger zu Pferde in Hannover. Ich kaufte sofort in Osterode als Militärkommission ca. 500 Pferde und 200 Ackerwagen zur Beförderung von allerhand Kriegsmaterial an. In zwei Tagen mussten die Pferde und Wagen ausgehoben sein. Ich konnte dem Generalkommando Allenstein melden, dass ich genügend Pferde angekauft hätte. Während des Ankaufsgeschäftes erhielt ich schon die Anfrage, ob ich für den erkrankten Hauptmann von Mandel die Führung der 6. Artillerie-Munitions-Kolonne übernehmen wollte. Ich willigte natürlich ein und musste am dritten Mobilmachungstage zwei Stunden nach beendigtem Pferdeankauf mit der Kolonne ausrücken. Sie bestand aus ca. 25 Munitionswagen mit Vorder- und Hinterprotze, 180 Kanonieren, 180 Pferden und zwei Offizieren. Alles nigelnagelneues Material. Jeder Rock, jede Hose, jeder Wagen, alles neu. Ich ließ aufsitzen, brachte ein Hurra auf unseren Kaiser und König aus, und fort ging es in den Krieg. Ganz so einfach war das nun allerdings nicht. Die Pferde, die an Kummetgeschirre nicht gewöhnt waren, sondern vom Lande her nur Brustblattgeschirre, wollten nicht anziehen. Schließlich ging es aber. Um 4 Uhr nachmittags verließen wir Osterode, und um 9 Uhr abends waren wir im ersten Quartier in dem kleinen Städtchen Liebemühl.
In Wannsee tragikomische Aufregung über 24 Autos mit russischem Gold und Spionen, die hier durchkommen sollen und aufgehalten werden müssen, am Rathaus große Absperrung der Chaussee. Ich fuhr per Rad nach Nikolassee zur Versammlung des Vaterländischen Frauenvereins, aber es war viel zu voll. In Berlin tritt der Reichstag zusammen, feine Thronrede des Kaisers, Einigkeit mit den Sozialdemokraten.
Nun möchte ich nur irgendwo helfen, aber ich kann ja nicht fort, Papa will es nicht. Ich schäme mich so, nicht mitmachen zu können. Einzelschicksale gibt es nicht mehr, nur Deutschlands Geschick zu bedenken.
Die Deutschen drei russische Städte eingenommen. Hurra! Montag hat Russland den Krieg erklärt. Heute ist Notabiturium, und Donnerstag fährt Wilhelm nach Paderborn. Es wurde gesagt, dass bald der Landsturm aufgeboten wird. Dann muss Enzio auch mit, o Schreck. Und doch freu ich mich in einer Beziehung, denn ich glaube, dass er sehr tapfer sein wird. Montag Morgen habe ich ihn getroffen und bin mit ihm gegangen. Leider war Marianka auch dabei. Er erzählte, dass zwei Brüder von ihm mitmüssten. Was Gretchen wohl sagt, wenn ihr Paul wegmuss. Ich nenne ihn nur Enzio, weil ich finde, dass das der schönste Jungensname ist. Ich hab mal eine Geschichte gelesen von Bertha Josephson-Mercator: ›Unter Jerusalems Toren‹ heißt sie, doch ursprünglich ›Gott will es‹. Fein, o ganz wunderbar schön. Da hieß auch einer Enzio, und den mocht ich auch so gern leiden.
Die ganze Nacht im Zug verbracht! Morgens ½6 Uhr in Saalfeld, reizendes Thüringer Städtchen. Nachricht von einer russischen Niederlage. Siebzig Russen und zehn Franzosen wurden in unserem Zug verhaftet. Es herrscht überall die denkbar größte Begeisterung. Die Bahnhöfe sind bis spät in die Nacht mit Menschen dicht besetzt, welche den vorüberfahrenden Reservisten ein lautes »Hurra!« zurufen. Kurzer Aufenthalt in Probstzella und Lichtenfels. Erneuerung des Eisernen Kreuzes. Die Deutschen rücken in breiter Front in Belgien ein.
Am vierten Mobilmachungs- und meinem Gestellungstag meldete ich mich um ½8 Uhr in der Kaserne des 2. Train-Bataillons. Ich erfuhr, dass die Kriegslazarettabteilung, der ich zugehöre, in der Turnhalle in der Huttenstraße sei. Um ½12 Uhr hatte man uns bestellt, um uns dem Generaloberarzt vorzustellen. Er war ein 67er, der schon im Krieg 70 mit gewesen, eine schöne charakteristische Soldatenerscheinung, von Henn aus Bodenheim. Die Mannschaft betrug neunzig Mann. Es stellte sich bald heraus, dass niemand recht Bescheid wusste und dass der Trainleutnant der Einzige war, der etwas von der Sache verstand. Das Einzige, was von ärztlichem Material vorhanden war, war ein großer zahnärztlicher Kasten. Verbandsmaterial, Instrumente, alles, hieß es, würden wir von den Feldlazaretten, die wir übernehmen müssten, bekommen. Die einzige von oben angeordnete ärztliche Funktion, das Impfen des ganzen Kriegslazarettpersonals, war nicht möglich.
Wilhelm ist schon in der Kaserne. Er kam gestern mit einem Bekannten, Herrn Holthusen, einem sehr netten Menschen, zum Essen. Die jungen Leute sind alle begeistert. Heute hat England den Krieg erklärt. Jetzt heißt es, bis zum Letzten aushalten. Das Volk steht auf, der Sturm bricht los. Gestern Nachmittag habe ich schon fest im Roten Kreuz geholfen. Wie schrecklich ist es, wenn man all das viele Verbandszeug sieht und weiß, dass man es braucht und dass die Verwundeten es nötig haben.
Gibt es einen Gott, so muss er uns seinen Schutz verleihen, denn ungerechter und grundloser ist wohl nie ein Krieg vom Zaun gebrochen worden. Ich war heute Morgen mit meiner Schwester in der Schlosskapelle in Bensberg zum allgemeinen Gebet. So viele Menschen hat unser kleines Kirchlein wohl noch nie beisammen gehabt. Herrliche Worte sprach unser Militärpfarrer, die ich wohl nie vergessen werde.
Selbst ich brauche wieder Gott und schäme mich, ihn in glücklichen Zeiten abgestritten zu haben. Man hört nichts von den Grenzen. Wären doch erst einmal alle Truppen hinaus. Es dauert noch reichlich lange, finde ich. Wenn es nur bald zum Schlagen käme, dann sähe man doch einmal klar. Die Ungewissheit ist zum Umbringen.
Übernachtet auf Strohsäcken, oft zwei Mann auf einem, gegen 2000 bis 3000 Mann in einem Saal. Welcher Staub! Welcher Geruch?!! Die Begeisterung stellt alle Widerwärtigkeiten in den Hintergrund. Früh um 8 Uhr Abmarsch nach Cawallen. Die militärische Tätigkeit bestand beim Arbeiterbataillon zunächst im Aufwerfen von Schanzen (9 m lang, 1 m hoch). In Cawallen jedes Haus voll Militär. Erste Abendmahlzeit bestand in einer Suppe und einer Scheibe Kommissbrot.
Kürnbach, um 4 Uhr früh ein kurzer, aber schwerer Abschied, und fort geht’s einer dunklen Zukunft entgegen. Eine stattliche Zahl, fast lauter Familienväter, fahren wir 5.27 Uhr in Flehingen ab. In Bretten ein kurzer Abschied von den nach Bruchsal und Mannheim einberufenen Kameraden. Unser Zug geht erst 7.48 Uhr weiter. Ein Zug mit jungen Reservisten aus München für Metz erregt große Begeisterung durch die Ausschmückung ihres Zuges, an jedem Wagen hängen Bierflasche und Rettich. Um 10 Uhr melden wir uns in der Gottsauer-Kaserne beim Feldartillerie-Regiment 50, werden nach längerem Herumstehen eingeteilt, erhalten Bürgerquartiere, empfangen unsere Ausrüstungsstücke und geben abends noch unsere Zivilkleider zur Post.
In vier Tagen mussten 900 Männer und Jünglinge fort. Da herrschte abends Ruhe im Dorf.
Nachdem wir 4. August abends verladen waren, kamen wir morgens 7 Uhr in Malmedy, der deutschen Grenzstation, an. Die Fahrt war herrlich, überall große Begeisterung. Komische Vorträge wechselten mit vaterländischen Liedern ab. Auf allen Bahnhöfen erhielten wir Essen und Erfrischungen, Zigarren und Zigaretten, überall wurden wir mit Hochrufen empfangen. In Malmedy angekommen, wurde der zweite Halbzug des 1. Zuges der 2. Kompanie, zu der Karl Weber und ich gehörten, zur Bedeckung der Bagage kommandiert und folgte unmittelbar dem Bataillon. Um 9.45 Uhr überschritten wir mit einem kräftigen Hurra die belgische Grenze. Der erste Ort, den wir berührten, war der schöne Badeort Spa. Der Ort war noch ziemlich belebt. Leute anscheinend aller Nationen gingen spazieren, vielfach wurden wir deutsch angeredet. In Theux machten wir Halt und bekamen in einem Kloster Mittagessen. Die Leute waren erst schüchtern, aber nach und nach kamen sie aus den Häusern heraus. Wir unterhielten uns mit den Leuten, so gut es ging. Mancher von uns konnte Französisch, da war alle Schüchternheit verflogen. Nach längerem Halt ging’s vorwärts. Bald jedoch mussten wir unfreiwillig Aufenthalt nehmen, eine steile Straße war durch gefällte Bäume und teergefüllte Gruben gesperrt und musste geräumt werden. Als wir glücklich alle Hindernisse beseitigt und einen Wagen mithilfe von vier Pferden hinaufgebracht hatten, erhielten wir aus dem Walde Feuer. Wir schickten gleich eine starke Patrouille vor, diese konnte jedoch nur noch eine fliehende Patrouille feststellen. – Bald stießen wir auf die große Bagage der 73., 72., 20. und 39. Diese kamen von Lüttich zurück, einige erzählten uns von dem ersten Gefecht der Unseren vor Lüttich am 4. und 5. August. Friedensstarke Infanterie-, Kavallerie- und Artillerie-Brigaden rückten in großen Eilmärschen auf die Festung Lüttich zu und dachten, dieselbe gleich im ersten Ansturm zu nehmen. Ehe sie sich’s versahen, waren sie bei Nacht und Nebel herangekommen und erhielten plötzlich aus unmittelbarer Nähe Feuer. In der Dunkelheit konnten die Führer die Truppen nicht in der Hand behalten, und diese, durch die Plötzlichkeit des Angriffs verwirrt, beschossen sich teilweise gegenseitig und brachten sich empfindliche Verluste bei. Nach den Aussagen von Augenzeugen sollen mehr Deutsche durch deutsches als durch belgisches Blei erschossen sein, denn die Belgier hätten nicht gewagt, den Kopf aus den Schützengräben herauszustecken, sondern hätten in die Luft geschossen. Als es dann hell wurde, haben unsere Truppen tüchtig aufgeräumt und auch sehr viele Gefangene gemacht. Unsere Truppen hatten aber auch beträchtliche Verluste, und da sie keine Verstärkung erhalten konnten, mussten sie sich zurückziehen. Unser Bataillon hatte an Toten und Verwundeten sechs Offiziere und etwa fünfzig Mann. Empört waren die Unseren über die Falschheit der Belgier. Diese hatten, als die Unsrigen etwa auf 300 Schritt heran waren, die weiße Fahne gehisst, ein Zeichen, dass sie sich ergeben wollten. Als unsere aufstanden, um sie gefangen zu nehmen, fingen sie wieder an zu schießen. Da kannten unsere aber auch keine Rücksicht mehr und machten alles erbarmungslos nieder, ob Belgier die Waffen streckten oder nicht.
Lüttich von den Deutschen nach heftigem kurzem Angriff gestürmt, 3000 bis 4000 Belgier gefangen. Wer ist gefallen oder verwundet? Diese Ungewissheit ist schrecklich. Tante Anneles Einquartierungsleutnant sagt, gefallen kein Offizier, aber verwundet zum Beispiel Hauptmann Lignier und Pempel.
Endlich habe ich was gefunden, wo ich mich betätigen kann! Mutti und ich sind immer am Wilhelmshöher Bahnhof und verpflegen die durchreisenden Truppen. Das macht riesig viel Freude! Heute war ich den ganzen Morgen von 9 bis 2 Uhr dort. Die Soldaten bekommen immer Kaffee, Butterbrote usw. Wenn ein Zug einfährt, gehen die Damen an die Wagen: Eine hat einen Eimer mit Kaffee, die andere Tassen und Brötchen. Die Soldaten sind alle zu nett, freuen sich über alles und sind fast alle furchtbar fidel und lustig. Dann steigen sie zum Teil aus und bekommen auch Zigarren, Schokolade, Keks und Ansichtskarten. Über die Postkarten freuen sie sich immer besonders. Jeder will noch mal nach Hause schreiben. Die geschriebenen Karten nehmen wir dann wieder an zur Besorgung. Man kann morgens von 5 bis 9 Uhr, dann von 9 bis 2 Uhr, von 2 bis 6 Uhr und dann von abends bis Mitternacht kommen. Ein Fräulein Consbruch steht der Sache vor und ordnet alles an. Die Züge waren teilweise mit Laub geschmückt, und alle Wagen waren mit Kreide bemalt und beschrieben. Zum Beispiel: »Jeder Schuss ein Russ, jeder Stoß ein Franzos, jeder Tritt ein Brit. Alle Serben müssen sterben, und der Engländer darf nicht erben.« Dann stand dran: »¼ Liter Russenblut 30 Pfennige!« Grässlich! »Nikolaus, nimm dich in Acht, aus dir wird Leberwurst gemacht!«, »Speisenfolge: Franzosengulasch mit Zarenkompott!« und »Poincaré-Suppe, Russischer Salat, Englische Sauce«. Oft stand auch dran: »Nach Paris!« oder »Parole: Paris« und noch alle möglichen herrlichen Sachen. Ich habe mich mal schlapp gelacht!
Mein lieber Bruder ist voll glühender Begeisterung. Er meldete sich freiwillig, Mutter vergoss schon viele Tränen, es ist eben der einzige Sohn. Doch auch ich habe Kämpfe im Innern zu führen, die Schwesterliebe regt sich. – Montenegro erklärt an Österreich den Krieg.
Um 16 Uhr noch gepackt, kurze Hosen angezogen. Großmutter ist da, von ihr noch 4 Mark erhalten. 17.04 Uhr Abfahrt nach Ludwigsburg. Albert begleitet mich. Bis Crailsheim gefahren. Dort von 18 bis 21.05 Uhr Aufenthalt. Während dieses Aufenthalts war ich zum ersten Mal Zeuge von der menschenfreundlichen, keinen Unterschied kennenden Tätigkeit des Roten Kreuzes. Es fuhren mehrere bayerische Militärzüge durch. Der eine fuhr unter Musik seiner beiden Kapellen in den Bahnhof ein und machte Halt. Da sah man junge bildhübsche Damen, die einen mit Körben voll Brot, die anderen mit hartgesottenen Eiern und Salz, den haltenden Kriegern ihre Gaben verteilen, so viel jeder wollte, ja überhaupt mitnehmen konnte. Andere Mädchen des Roten Kreuzes trugen zu zweien saubere Kübel voll süß dampfenden Kaffees und Tees. Jeder Krieger ließ sich seine Feldflasche von schöner Hand füllen und trank mit seinem Kochgeschirr, im Vaterland schon als kriegsbereiter Beschützer, das freundlich mundende Getränk. Ein Mädchen verteilte Zigarren aus einer Riesenschachtel, eine andere Ansichtspostkarten. Es ist und war ergreifend, wie ins Feld ziehende Krieger von ihren edlen deutschen Heldentöchtern noch freundliche Gaben auf den Weg bekamen. Herrlich, wie das schöne, an der ernsten Lage unseres Vaterlandes ebenso teilnehmende Geschlecht den doch nicht betrübten, sondern immer noch humorvollen Kriegern den Abschied erleichtern will, vielleicht aber auch erschwert. Als Dank gaben ihnen die Krieger die Versicherung, dass sie fest fürs Vaterland und seine Kleinode, die es birgt (besonders in seinen deutschen Frauen und Mädchen), kämpfen und den Franzosen das Fell gerben wollen. An den Wagen stehen die Worte mit Kreide: »Eilzug nach London über Moskau – Petersburg – Paris«. Dann »Auf Wiedersehen in Paris« und dergleichen. Kein Unterschied, keine Partei, alles hilft mit, Deutschland ist einig.
Abmarsch nach Müllheim Bahnhof und Abfahrt nach Istein Festung. Abends Ankunft auf Feste. Feind bereits im Anmarsch. Gegen Abend schwerer Kanonendonner in Gegend Altkirch hörbar.
Kavalleriepatrouillen erzählten uns, dass sie vielfach in Dörfern und Wäldern von Zivilisten überfallen und angeschossen worden seien. Wir mussten deshalb die erste Nacht in Feindesland unter freiem Himmel mit aufgepflanztem Seitengewehr im Arm schlafen. Dass die Vorsicht zweckmäßig war, sahen wir bald ein, denn unsere Posten wurden öfter beschossen, ohne dass jedoch jemand verletzt war. Am Morgen ging’s weiter nach Louveigné. Unterwegs wurden wir aus einem Gebüsch beschossen. Hier waren schon Spuren des Krieges zu sehen. Viele Häuser, aus denen auf unsere Truppen geschossen worden war, waren in Brand gesteckt, viele Gehöfte von den Einwohnern verlassen.
Alarm, französische Kavallerie im Anmarsch auf Feste. Großes Gefecht bei Mülhausen: furchtbares Gewehrfeuer, Kanonendonner, Sennheim brennt. Patrouille mit Oberleutnant Lessel nach Kembs und Blansingen. Gefecht, Artillerie 76 ziemliche Verluste, Franzosen in fluchtähnlichem Rückzug auf Belfort.
Es regnete. Fingerdicker Lehm auf den Wegen nach der Arbeitsstätte. Vor Breslau (Hundsfeld) Tausende von Soldaten, an der Fortifikation arbeitend. Man sprach von russischen Patrouillen, die bis vor Breslau gekommen sein sollen.
Mich überfiel eine so furchtbare Angst und der Kummer, dass ich den lieben Herzensjungens noch nicht den 91. Psalm geschickt habe. Ich setzte mich sofort hin, um ihn abzuschreiben und jedem zu schicken. Er ist aber kaum vor dem ersten Zusammenstoß mit dem Feinde in L.s und P.s Hände gelangt. Umso betrübter bin ich, dass ich so lange gezögert habe. Überhaupt habe ich meine guten Ratschläge aus meiner Kriegserfahrung zu spät mitgeteilt. Wo habe ich gedacht, dass dies alles so schnell gehen würde. Der Psalm 91 gilt als Talisman in unserer Familie seit meinem Großvater, dem die Großmutter denselben mitgegeben hat, mit Erfolg. Da ich aber die Erfahrung an meinem lieben Bruder E. gemacht habe, dass dieser ihn nicht vor tödlicher Verwundung geschützt hat, so war ich etwas ungläubig geworden. Daher die törichte Verzögerung. Ich befinde mich in großer Sorge und Angst um meinen geliebten L. Der Herzensjunge hat einen sehr gefährlichen Auftrag, er hat die Aufklärung gegen Brüssel mit seiner Eskadron.
In Theux wurden wir in einem Fabrikgebäude einquartiert und konnten schön ausschlafen. Wir sollten Ruhetag haben, mussten jedoch mit den Reservisten der 74. wieder zurück nach Louveigné. Unterwegs begegneten uns 82. mit 600 belgischen Gefangenen. Die Belgier trugen schwarze Uniform, Wickelgamaschen und Käppi, Gewehr wie unsere 88. Von Ferne sahen wir schon, dass Louveigné brannte. Als wir hinkamen, bot sich uns ein schrecklicher Anblick. Die Häuser zusammengeschossen und ausgebrannt, die noch stehenden geplündert und überall entstellte Leichen. Als unsere Truppen von Lüttich zurückkamen, glaubten die Einwohner, wir wären geschlagen und müssten wieder aus dem Lande hinaus. Dies schien für sie ein günstiger Augenblick zur Rache. Schnell rotteten sie sich zusammen und fielen über unsere Nachzügler und Patrouillen her. Sie taten freundlich, gaben ihnen zu essen und zu trinken, nahmen sie in Quartier und schnitten ihnen im Schlaf den Hals ab und verübten sonstige Gräueltaten an ihnen. Einen hatten sie mit Händen und Füßen auf dem Fußboden festgenagelt, einen anderen mit Teer übergossen und lebendig verbrannt. Sogar die Frauen beteiligten sich an den Gräueltaten, sie warfen aus den Häusern Handgranaten. Eine reichte einem Husaren mit der Linken Wasser, mit der Rechten erschoss sie ihn. Wie wir nachher erfuhren, hatte der Pastor die Leute von der Kanzel aus aufgefordert, so zu handeln, und ein Graf, der in der Nähe wohnte, hatte sie bewaffnet. Durch diese Gräueltaten aufs höchste erbittert, verübten unsere Truppen, vor allen Dingen die Kavallerie, ein furchtbares Strafgericht. Die Häuser wurden in Brand gesteckt und jeder, der aus dem Hause hinauswollte, niedergeknallt. Wo Männer lebendig gefangen wurden, banden wir sie zu vieren zusammen und erschossen sie. Was an ess- und trinkbaren Gegenständen da war, gehörte uns. Wein, Sekt, Zigarren und Zigaretten waren die begehrtesten Artikel, mancher wechselte auch schnell seine Leibwäsche.