Cover

Inhaltsübersicht

Impressum

Die Originalausgabe erschien 2012 unter dem Titel «The Odds. A Love Story» bei Viking, New York.

 

Motto: Der Auszug aus dem Song «Wheel of Fortune» auf Seite 5 der Printausgabe, Text und Musik von Bennie Benjamin und George David Weiss, © 1951 by Claude A. Music Co. und Abilene Music Ltd., erfolgt mit freundlicher Genehmigung von Chappell und Co. GmbH & Co. KG, Hamburg, und Melodie der Welt GmbH & Co. KG, Frankfurt/Main.

 

Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg, Juli 2014

Copyright © 2014 by Rowohlt Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg

«The Odds. A Love Story» Copyright © 2012 by Stewart O’Nan

Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt, jede Verwertung bedarf der Genehmigung des Verlages

Umschlaggestaltung any.way, Hamburg

nach einem Entwurf von Anzinger | Wüschner | Rasp, München

Umschlagabbildung plainpicture/Millenium

Schrift DejaVu Copyright © 2003 by Bitstream, Inc. All Rights Reserved.

Bitstream Vera is a trademark of Bitstream, Inc.

ISBN Printausgabe 978-3-499-25873-2 (1. Auflage 2015)

ISBN E-Book 978-3-644-03931-5

www.rowohlt.de

ISBN 978-3-644-03931-5

The wheel of fortune

goes spinning round

Will the arrow point my way?

Will this be the day?

O wheel of fortune

don’t pass me by

Let me know the magic of

a kiss and a sigh

While the wheel is spinning, spinning, spinning

I’ll not dream of winning

fortune or fame

While the wheel is turning, turning, turning

I’ll be ever yearning

for love’s precious flame

O wheel of fortune

I’m hoping somehow

if you’ll ever smile on me

please let it be now.

 

Dinah Washington

Wahrscheinlichkeit, dass ein amerikanischer Tourist die Niagarafälle besucht:
1:195

Getrieben von hohen Schulden, von Unschlüssigkeit und, törichterweise, mehr oder weniger insgeheim, von der unterschwelligen Erinnerung an ihre Untreue, flohen Art und Marion Fowler am letzten Wochenende ihrer Ehe aus dem Land. In den Norden, nach Kanada. «Wie die Sklaven», hatte Marion zu ihrer Schwester Celia gesagt. Sie wollten ihre letzten Tage und Nächte als Mann und Frau genau wie die ersten vor fast dreißig Jahren in Niagara Falls verbringen, als könnten sie auf der anderen Seite der Grenze, in diesem legendären, brodelnden Kessel des Neuanfangs, weit weg von allen häuslichen, alltäglichen Anforderungen, wieder zueinanderfinden. Das erhoffte sich jedenfalls Art. Marion hoffte nur, es mit Würde zu überstehen, um dann nach Hause zurückzukehren und sich dem Papierkram zu widmen, der sie erstmals in ihrem Leben zu einer einzeln veranlagten Steuerzahlerin machen würde.

Ihrer Tochter Emma sagten sie, sie unternähmen eine zweite Hochzeitsreise.

«Außerdem findet hier wieder eine Hausbesichtigung statt, und deshalb …», stellte Marion am anderen Apparat klar.

Sie waren keine guten Lügner, hatten bloß Angst vor der Wahrheit und allem, was diese Wahrheit über sie aussagen mochte. Als Mittelständler unterlagen sie der Tyrannei des äußeren Scheins und dessen, was sie sich leisten oder was sie riskieren konnten, das war Teil ihres Problems. Sie waren zu etabliert und pragmatisch für das, was sie vorhatten, Verzweiflungstaten bereiteten ihnen Unbehagen. Selbst unter vier Augen fiel es ihnen schwer, über ihren Plan zu reden, als könnte er sich, bei Licht betrachtet, in Luft auflösen.

Gegenüber Jeremy genügte es zu sagen, dass sie das neue Casino sehen wollten, eine Frank-Gehry-Kopie, die auf den Titelseiten sonntäglicher Reisebeilagen oder auf Bordzeitschriften abgebildet war. Er war beeindruckt davon, wie wenig das Ganze kosten sollte. Art hatte das Internet durchforstet, um ein günstiges Angebot zu finden.

«Dein Vater, der High Roller», witzelte Marion.

Es nannte sich Valentinstag-Spezial: 249 Dollar, einschließlich der Mahlzeiten und eines Gutscheins im Wert von fünfzig Dollar für einen der Spieltische.

Sie nahmen den Bus, weil die Fahrt im Preis inbegriffen war, doch jetzt, wo sie sich, umgeben von wesentlich jüngeren Leuten – darunter auch, im Licht entgegenkommender Autos stroboskopisch erstarrt, ein dralles Paar in Harleymontur, das auf der anderen Seite des Gangs knutschte –, irgendwo am Stadtrand von Buffalo durch einen dunklen Windkanal aus Schneegestöber kämpften, wünschten beide, sie wären mit dem eigenen Wagen gefahren.

Ihre Argumente hatten sie schon zu Hause ausgetauscht, deshalb hatte es keinen Sinn, alles noch einmal durchzugehen. Art, von jeher das Matheass, das alles auf die dürftige Realität von Zahlen reduziert, hatte gesagt, so würden sie fünfzig Dollar Benzinkosten sparen, ganz zu schweigen von den Parkgebühren, was Marion absurd, aber typisch fand. Sie waren weit über das Stadium hinaus, in dem fünfzig Dollar noch helfen konnten – genauso wenig wie dieses lächerliche Glücksspiel, bei dem ihre Ehe im Grunde genommen von der Drehung eines Rades abhing –, und doch klammerte er sich an seine alte Wer-den-Pfennig-nicht-ehrt-ist-des-Talers-nicht-wert-Buchführung und vergaß, dass ihre Bilanz voll roter Zahlen war. Dass sie den Bus nahmen, stellte einen weiteren Kontrollverlust dar und legte ihr Leben in die Hand des Schicksals oder zumindest eines unausgeschlafenen Fahrers. Abgesehen davon, dass sie nicht streiten wollte, hatte sie sich nur deshalb darauf eingelassen, weil sie so keine Angst haben musste, dass Art bei diesem Wetter ständig zu dicht auffuhr, doch das sagte sie natürlich nicht.

Außerdem sollte der Bus ihnen Schutz bieten, als wären sie, grau und mittleren Alters, noch nicht unsichtbar genug. Von Anfang an hatte Art sich den Ausflug als Geheimmission ausgemalt, als phantastische, da im allerletzten Moment gelungene Flucht vor den Fallstricken ihres wahren Lebens, und obwohl sich Marion weigerte, an diese Möglichkeit zu glauben, so wie sie sich anfangs geweigert hatte, an den Ernst ihrer Lage zu glauben, wusste sie doch, dass ihnen die Alternativen ausgegangen waren. Das Haus stand seit über einem Jahr zum Verkauf, ohne dass jemand zugegriffen hätte. Sie würden es verlieren – hatten es, um ehrlich zu sein, schon verloren. Die Frage war, wie viel es sie kosten würde.

Alles, falls kein Wunder geschah. Art hatte die Zahlen bereits errechnet, und nach einer notwendigen Zeit des Leugnens hatte Marion sich mit ihnen abgefunden, weshalb sie jetzt, der Eriesee hinterm Fenster ein schwarzes Nichts, auf der I-90 nach Norden brausten.

Art wollte einfach nur ankommen. Die mit dem Logo des anzüglich grinsenden Häuptlings Wahoo bedruckte Indians-Sporttasche auf seinem Schoß machte ihn nervös, als wären die wie Ziegelsteine darin gestapelten Bündel Zwanziger Diebesgut. Er würde sich erst entspannen können, wenn er sie, zusammen mit dem Ring, den er vor Marion geheim hielt, im Safe eingeschlossen hatte. Egal, was sie sagen würde, in Liebesdingen war er nicht knauserig. In einem weiteren Anfall von Verschwendung hatte er für einen Aufpreis von fünfundsiebzig Dollar pro Nacht eine der Hochzeitssuiten im Obergeschoss mit Blick auf den Wasserfall reservieren lassen, und trotz der Zusicherung, dass man ihnen das Zimmer auch bei verspätetem Eintreffen freihalten werde, befürchtete er, an der Rezeption könnte man seine Bitte vergessen oder ignoriert und das Zimmer anderweitig vergeben haben.

Neben ihm ließ Marion ihren Krimi sinken und massierte ihren Hals, als hätte sie einen steifen Nacken.

«Ich sterbe vor Hunger», sagte sie. «Du nicht?»

Es war der einzige Bus an diesem Tag, aber da er alles geregelt hatte, trug er auch die Verantwortung, und es war seine Schuld, dass so dichter Verkehr herrschte, dass das Wetter scheußlich und es inzwischen dunkel war.

«Ich könnte auch was zwischen die Zähne gebrauchen», pflichtete er ihr bei. Wie bei allem an diesem Wochenende wollte er, dass sie auf derselben Seite standen, sie beide gegen den Rest der Welt.

«Für wann hast du den Tisch reserviert?»

«Vor halb acht war nichts zu machen.»

«Und wie spät ist es jetzt?»

«Kurz nach sechs. Es sind nur noch dreißig Kilometer.»

«Ich hätte einen Müsliriegel mitnehmen sollen. Ich muss mein Kleid noch bügeln. Hoffentlich gibt’s ein Bügeleisen.»

«Müsste es eigentlich.»

«Müsste, wenn man’s wüsste», sagte sie.

Das war ein Running Gag zwischen ihnen, eine spöttische Anerkennung der Tatsache, dass sich auch auf die schlichteste Hoffnung nicht bauen ließ, war eine spontan geäußerte Phrase wie so viele andere, die, in Lieblingsfilmen oder Fernsehsendungen aufgeschnappt, als mechanischer Ersatz für Gespräche dienten und sie beide wie eingesperrte Zwillinge zusammenschweißten, von denen jeder des anderen bester und zumeist einziger Zuhörer war. Obwohl sie es im Lauf der Jahre schon Hunderte Male zueinander gesagt hatten, unterwegs zu Abschlussfeiern, Hochzeiten oder Beerdigungen, und Marions Skepsis eine alte, ziemlich gedankenlos ausgesprochene Gewohnheit war, nahm er es an diesem Abend persönlich, weil er es als seine Aufgabe ansah, durch eine forsche, gewagte Tat alles wiederzuerlangen, was sie verloren hatten. Er redete sich gern ein, Marion habe, als er sie kennenlernte und sie ihm noch völlig fremd, ja richtiggehend rätselhaft war, eine ernste blonde Soziologiestudentin, die gerade in Wooster ihr Examen gemacht hatte, mit einer Omabrille und den wohlgeformten Beinen einer Tennisspielerin, einer mädchenhaften Liebe zu James Taylor und Dan Fogelberg und, in ihrem Zimmer, einer Zederntruhe voll pastellfarbener Pullover und einem Regal nackter Trollpuppen mit neonfarbigem Haar, damals an etwas geglaubt – an Glück, an das Gute im Menschen, an die unerschöpflichen Möglichkeiten des Lebens – und ihre jetzige Enttäuschung sei kein Urteil über die Welt, sondern über ihn und ihr gemeinsames Leben. Falls es in dem Zimmer kein Bügeleisen gab, würde er die Rezeption anrufen und es, wenn nötig, selbst holen. Sie mochten Montag früh pleite sein und die Scheidung einreichen, doch er würde nie aufhören, Vorsorge für ihr Glück zu tragen, auch wenn das völlig unmöglich schien.

Marion wandte sich wieder ihrem Krimi zu, hielt ihn in den von der Dachkonsole herabfallenden Lichtstrahl. Sie las zwei oder drei davon pro Woche, sodass der Stapel zerfledderter, vergilbter Taschenbücher auf ihrem Nachttisch schrumpfte, während der auf dem Marmortisch neben der Haustür wuchs, bis es Zeit wurde, alles an der Bücherbörse einzutauschen. «Ich lese», sagte sie, wenn sich seine Hand unter der Decke näherte, und dann zog er sie zurück.

Auf der anderen Seite des Gangs hielten sich die beiden Biker in flackernder Bildfolge umklammert wie zwei auf die Erde zustürzende Fallschirmspringer, und Art wurde sich des Abstands bewusst, der ihn von Marion trennte. Er ließ die Hand von der Sporttasche gleiten und legte sie auf ihren in Blue Jeans gehüllten Schenkel, eine Geste aus Middle-School-Zeiten. Er knetete das weiche Fleisch ihres Beins, strich darüber, tätschelte es. Es war schon wochenlang her, dass sie zum letzten Mal miteinander geschlafen hatten, und es war eine Enttäuschung gewesen, von ihrer Seite her oberflächlich, von seiner handwerklich routiniert. Er hatte sie dazu überreden müssen, hatte sich ihrer beider Ekstase vorgestellt, ihre Vertrautheit, hatte sich ausgemalt, wie die liebliche Fülle ihres Körpers alle Sorgen aus seinen Gedanken verscheuchen würde, doch plötzlich war es ihm wie Arbeit vorgekommen, und er hatte sich bemüht, es zu Ende zu bringen, hatte sich widerwillig das zu stark geschminkte Mädchen vor Augen geführt, das in den Morgennachrichten die Verkehrsmeldungen bekanntgab. In der kommenden Nacht, die tosenden Wasserfälle unter ihrem Fenster, würde er beweisen, dass seine Liebe zu ihr so stark war wie eh und je, obwohl sie beide ein Alter erreicht hatten, in dem die Leidenschaft mitunter abflaute. Merkte sie es denn nicht? Das Geld, das Haus, all das spielte keine Rolle. Seit sie sich kannten, mit Ausnahme jener wenigen qualvollen Monate, die er schon lange bereute, war sie alles, was er wollte. So kitschig es auch klingen mochte, er konnte es mit aufrichtigem Gesichtsausdruck sagen: Solange sie einander hatten, waren sie reich.

Marion hielt seine Hand fest, bedeckte sie mit ihrer eigenen und las weiter. Wenn er sich im Urlaub auf nichts konzentrieren musste, dürstete er immer nach Aufmerksamkeit, genau wie er ihr seit dem Verlust seines Arbeitsplatzes den ganzen Herbst durchs Haus gefolgt war. Er war eifrig – eigentlich sogar übereifrig –, und normalerweise konnte sie ihn mit einer Liste kleiner Aufgaben auf andere Gedanken bringen. Sie übertrug ihm die Verantwortung für das Laub und kontrollierte ihn heimlich vom Badezimmerfenster aus, wie sie es früher bei Emma und Jeremy getan hatte, froh, eine Stunde für sich zu haben. Eines ihrer Bedenken im Hinblick auf dieses Wochenende war, wie viel Zeit sie allein verbringen würden. Zu Hause konnte sie Besorgungen machen oder das Abendessen zubereiten, sich auf Facebook herumtreiben, fernsehen oder sich im Bett hinter ihrem Krimi verstecken. Hier würde er mehr von ihr wollen, als wäre es tatsächlich eine zweite Hochzeitsreise.

Bei ihr verhielt es sich anders. Mit jedem weiteren Kilometer näherte sie sich wieder dem Ort, an dem sie vor dreißig Jahren ein anderer, vermutlich besserer Mensch gewesen war – zwar naiv und ein bisschen dumm, doch ziemlich unberührt von den großen Sorgen des Lebens, von denen später einige das Resultat ihrer eigenen Entscheidungen sein sollten, weil sie ihre Wünsche über ihre Pflichten stellte, nur um zu erkennen, dass sie sich in allem geirrt hatte, auch darin, wer sie war. Der Gedanke an diese jüngere, untadelige Marion stimmte sie nachdenklich, als müsste sie sich, sobald sie angekommen wären, mit ihr treffen und ihr Bedauern noch einmal ausdrücklich überprüfen.

Das Geld war ihr egal. Sie trauerte um das Haus und bemitleidete Art, doch die Kinder waren ausgezogen, und sie und Art konnten irgendwo anders hinziehen. So schrecklich es auch klingen mochte, insgeheim war sie froh, sich eine kleine Wohnung nehmen und noch einmal von vorn anfangen zu können, zumindest sagte sie sich das, denn manchmal, allein im Auto an einer Ampel oder bei geschlossener Tür auf der Toilette, hatte sie Momente einer tranceartigen Leere, in denen sie ins Nichts starrte und sich auf die Innenseite ihrer Wange biss, als versuchte sie, ein nicht zu bewältigendes Problem zu lösen.

Sie war nicht in ihn verliebt, jedenfalls nicht so, wie sie es von sich erwartete. Sie war auch nicht mehr in Karen verliebt, falls das je so gewesen sein sollte. Sie war in niemanden verliebt, schon gar nicht in sich selbst. Irgendwann, nachdem die Wechseljahre sie ihres körperlichen Verlangens beraubt hatten, war sie zu der Überzeugung gelangt, dass die großen Regungen in ihrem Leben der Vergangenheit angehörten, und sie hatte sich der Trägheit der mittleren Jahre überlassen – anscheinend verfrüht. Während Art die Scheidung als juristische Formalität betrachtete, als zweckmäßigen Schutz für die Vermögenswerte, die ihnen vielleicht noch bleiben würden, hatte sie die Vorstellung von Anfang an ernst genommen, hatte ihre Möglichkeiten und Verpflichtungen abgewogen – letztlich ihr Herz ergründet – und vergeblich versucht, den Geist von Wendy Daigle aus der Gleichung herauszuhalten.

Wie viel einfacher alles wäre, wenn Wendy Daigle nicht mehr leben würde. Aber sie lebte noch. Wider jegliche Gerechtigkeit lebte Wendy Daigle mit ihrem zweiten Mann in Lakewood, gleich auf der anderen Seite von Cleveland, in einem hellbraunen doppelstöckigen Haus in einer Sackgasse, ein Aufstellpool hinten im Garten und in der Einfahrt ein selbstgebautes Eishockeytor. Ihre E-Mail-Adresse und Telefonnummer waren nirgends hinterlegt, doch Marion hatte das Kennzeichen ihres Suburban in winzigen Druckbuchstaben an den unteren Rand der allerletzten Seite ihres alten Adressbuchs geschrieben, wo es ihr gelegentlich ins Gedächtnis rief, für wie dumm Art sie gehalten hatte.

Sie wusste nicht mehr, bis wohin sie gelesen hatte, las denselben Satz noch einmal und rieb seufzend ihre Halsmuskeln.

«Soll ich dir den Nacken massieren?», fragte Art.

«Ich kann bloß nicht mehr sitzen.» Sie setzte sich anders hin, vertiefte sich wieder in ihr Buch und schenkte ihm keine Beachtung mehr.

An diese kleinen Zurückweisungen würde er sich nie gewöhnen. Vor Jahren hatte er sich damit abgefunden, dass er, wie lammfromm er in Zukunft auch sein mochte, gleich einem Mörder immer im Unrecht sein würde, verurteilt durch seine eigene Hand, und doch war er jedes Mal überrascht und verletzt, wenn sie ihn zurückwies. Freundlich vielleicht, aber kategorisch, direkt ins Gesicht, als wäre er ein Bediensteter, dessen Hilfe nicht mehr benötigt wurde. Während er sich sagte, dass er kein Recht darauf hatte, gekränkt zu sein, und sein Blick kurz auf das Bikerpaar fiel und dann weiterhuschte, knallte es vorn, als wäre eine Bombe explodiert – sein erster Gedanke kein Auto, sondern dieses imaginäre Schreckgespenst: Terroristen –, der erdbebenartige Aufprall schleuderte sie nach vorn, schwindelerregend wie auf einer Drehscheibe geriet das Heck ins Rutschen, und als der Fahrer zu stark gegenlenkte, um den Bus wieder geradezuziehen, brach er seitlich aus.

Wahrscheinlichkeit, bei einem Busunglück ums Leben zu kommen:
1:436212

«Stopp!», rief jemand hinter ihnen, und ein Laptop krachte auf den Boden.

Marion suchte Halt bei Art, ihr Buch plötzlich verschwunden, und er streckte die Arme vor, um sich an der Rückenlehne des Vordersitzes abzustützen. Der Fahrer bremste, und die Sporttasche flog über den Gang und prallte den Bikern wie ein fallen gelassener Ball gegen die Schienbeine. Einen Augenblick überlegte Art, ob er sich aus Marions Griff befreien sollte, um sich auf die Tasche zu stürzen, doch er erkannte – ebenso schnell – die Problematik dieser Möglichkeit und wartete starr ab, noch immer auf einen Aufprall gefasst, während der Bus langsamer wurde und schließlich zum Stehen kam.

«Verdammte Scheiße.»

Marion ließ ihn los. «Tut mir leid.»

«Schon gut.»

«Das dürfte wohl nicht Bestandteil des De-Luxe-Angebots gewesen sein.»

«Nein.»

«Alle wohlauf?», fragte vorn eine Frau.

«Nein», antwortete eine ältere Frau in ruhigem Ton.

Die Sporttasche lag im Gang, Reißverschluss geschlossen, auf der Seite. Als er sich vorbeugte, um sie aufzuheben, streckte der Biker die Hand aus, packte sie an einem der Griffe und reichte sie ihm.

«Die müssen’s schaffen.»

Art sah ihn fragend an, aber dann verstand er. «Genau. Danke.»

«Was ham Sie ’n da drin – Backsteine?»

«Ha!»

Draußen wehte kupfern getönter Schnee durch den Lichtschein der hohen Laternen. Sie standen quer auf allen drei Fahrspuren, der zum Stillstand gebrachte Verkehr hinter ihnen ein Durcheinander wie das von Autoscootern am Ende einer Fahrt.

Vorn kümmerte sich der Fahrer um die Frau, der es nicht gut ging. Auf der anderen Seite des Gangs sammelten alle ihre Sachen ein, reckten an den Fenstern die Köpfe und riefen mit ihren Handys an. Allmählich sickerte durch, was passiert war. Es war kein Auto gewesen. Ein U-Haul-Anhänger hatte sich losgerissen und sie gerammt, oder sie hatten ihn gerammt. Überall auf der Straße lagen Kleidungsstücke verstreut. Der Biker kam – nicht gerade hilfreich, fand Art – zu dem Schluss, dass sie eine Weile festsitzen würden.

«Na toll.» Marion hielt ihr Buch am dünnen Einband hoch, die Seiten waren zerknittert. «Keine Ahnung, wie weit ich schon war.»

Während er mit der Tasche dasaß und sie das Buch durchblätterte, dachte er an all die Probleme, die gelöst worden wären, wenn sich der Bus überschlagen hätte und nur er ums Leben gekommen wäre. Eine saubere Lösung. Niemand könnte es als Selbstmord bezeichnen, und Marion bekäme die volle halbe Million von der Versicherung, mehr als genug, um all die Schulden zu bezahlen. Die Versicherung hatte er schon vor einer Ewigkeit abgeschlossen, deshalb würde niemand Verdacht schöpfen. Es stimmte, dass er sich im letzten Jahr öfter seinen eigenen Tod ausgemalt hatte, doch an Selbstmord hatte er bestimmt kein einziges Mal gedacht. Seiner Meinung nach war er eher pragmatisch als depressiv, sodass er auch jetzt den Unfall als verpasste Gelegenheit ansah, als eine Straftat, für deren Ausführung er einfach nicht geschickt oder abgebrüht genug war. Vermutlich fehlte ihm etwas, um so zu denken, mangelte es ihm an Mut oder Redlichkeit. Sein Leben war größtenteils ruhig und gesetzt verlaufen, doch jetzt, wo er auf die Probe gestellt wurde, klammerte er sich an die grässlichsten Lösungen.

Nach einem kurzen Rauschen meldete sich der Fahrer über die Sprechanlage und teilte mit, dass es eine Verzögerung gebe. Er habe bereits die Zentrale verständigt; ein Ersatzbus sei unterwegs. Er entschuldige sich für die Unannehmlichkeiten.

«Genau das, was ich will», sagte Marion, «in einen anderen Bus steigen.»

«Hmp», prustete Art, um ihr zu zeigen, dass der Witz angekommen war und er ihr von Herzen zustimmte. Sie wandte sich wieder ihrem Buch zu. Es war nur eine milde Beschwerde gewesen, ironiegetränkt und berechtigt. Auch er war hungrig und müde. Er verstand, dass sie nicht hier sein wollte, dass das Ganze bloß ein weiterer lächerlicher Vorfall im schlimmsten – vielleicht auch nur im zweitschlimmsten – Jahr ihres gemeinsamen Lebens war, und doch freute er sich, dass sie buchstäblich im Angesicht des Todes, wenn auch vermutlich nur als Reflex, ausgerechnet nach ihm gegriffen und sich an ihm festgehalten hatte.

Wahrscheinlichkeit, dass ein Fahrzeug vom kanadischen Zoll durchsucht wird:
1:384

Die Peace Bridge war beleuchtet wie ein Jahrmarktskarussell, die Gittergerüste erstrahlten in grellem Lila. Unterhalb der Fahrbahn warnten rote Leuchtbaken die Bootsfahrer vor den großen Steinpfeilern; sie färbten den dunklen Fluss, und Marion musste an all das eiskalte Wasser denken, das zu den Fällen unterwegs war. Vielleicht kam es schneller dort an als sie, je nachdem, wie lange sie am Zoll warten mussten. Art hatte angerufen und den Tisch für eine spätere Zeit reservieren lassen, doch nach der Verzögerung und dem Buswechsel war Marion ungeduldig.

Das erste Mal hatten sie die Brücke bei Tag überquert, an einem dunstigen Sonntag im Juni, nur er und sie in seinem alten Corolla, an dessen Seitenfenstern die verschnörkelte Rasiercremeschrift ihrer Freunde angetrocknet war. Just married – es fiel ihr schwer, sich das Gefühl ins Gedächtnis zu rufen, doch sie sah sich in ihrem leichten Lieblingskleid aus weißem Leinen, sah, wie sie dem Zollbeamten ihren Ring zeigte. Bei diesem Gedanken sehnte sie sich nach der Zeit vor dem ganzen Schlamassel zurück, als sie beide noch jünger waren als ihre Kinder jetzt.

Sie hatte beim Jugendamt in Cleveland gearbeitet und ihn auf der Abschiedsparty für einen Kollegen kennengelernt, der genug gehabt hatte vom Drehtüreffekt des Familiengerichts.

Er war dort einer von nur wenigen Männern gewesen und der einzige in einem Anzug, denn er war direkt aus dem Büro gekommen. Großgewachsen, breite Schultern wie ein Footballspieler, aber so schlaksig und schmal wie ein Jugendlicher. Seine Nase war voller Sommersprossen gewesen, sein Haar zimtbraun und für ihren Geschmack ein bisschen zu lang, und von Zeit zu Zeit musste er während ihres Gesprächs den Kopf zur Seite neigen, um sich die Strähnen aus der Stirn zu streichen. Er schrieb Förderanträge für das Children’s Hospital in der Innenstadt. In seinem neuesten Antrag ging es um eine mobile Kinderklinik – eigentlich ein aufgemöbelter Winnebago-Wohnwagen, der in wechselndem Turnus die Viertel der einkommensschwachen Familien besuchen sollte. In dem Bemühen, Marion zu beeindrucken, schwärmte er davon auf eine Weise, als führe er einen Kreuzzug, um die Stadt ins rechte Gleis zu bringen. Sie war nicht so grausam, ihm zu sagen, dass das unmöglich sei. Als er die monatliche Route des Wagens beschrieb und die Namen berüchtigter Wohnsiedlungen aufzählte, in denen sie ihren Klienten regelmäßig Hausbesuche abstattete, machte er eine ausholende Armbewegung, worauf das Bier in flüssigem Bogen aus seinem Becher schwappte und auf den Hartholzboden klatschte. Ehe sie sich bremsen konnte, brach sie in ein jauchzendes Gelächter aus, das im gesamten Zimmer Aufmerksamkeit erregte, und zu ihrem Erstaunen wurde der vor ihr stehende, hoch aufgeschossene Junge im Anzug knallrot wie ein Kobold.

«Schön, dass Sie mich witzig finden.»

«Und dass Sie witzig sind», sagte sie.

Die Zeit der Werbung dauerte über ein Jahr, doch in jenem Augenblick hatte sie sich bereits entschieden – falsch, wie sich herausstellte, zumindest in einem wichtigen Punkt, und deshalb fiel es ihr jetzt, wo sie in diesem Bus festsaßen, umso schwerer, sich das Glücksgefühl ins Gedächtnis zu rufen, das sie damals verspürt hatte. Nicht ihr ganzes Leben war ein Trümmerhaufen. Es gab Zeiten, an die sie immer gern zurückdenken würde, Jahre mit den Kindern, Tage und Stunden mit Art und, ja, trotz des jämmerlichen Endes, mit Karen. Urlaube, außergewöhnliche Begebenheiten. Die Schützlinge, die sie lieben und loszulassen gelernt hatte. Sie dachte nicht daran, sich von Wendy Daigle alles vergiften zu lassen.

GLATTEISGEFAHR AUF DER BRÜCKE, warnte ein Schild, und sie arbeiteten sich die Steigung und weiter bis auf den Brückenbogen hinauf, wo sie kurzzeitig zwischen zwei Staaten schwebten. Der Schnee wirbelte lila durch die Tragwerkstrukturen. Beide hatten sie ein Formular ausgefüllt, auf dem sie erklärten, kein Obst und Gemüse, keine Pflanzen und möglicherweise schädlichen Insekten oder Tiere oder mehr als zehntausend kanadische Dollar einzuführen. Juristisch gesehen, sagte er, dürfe man so viel Geld mitbringen, wie man wolle. Die Straftat sei, es nicht anzugeben. Das Gesetz richte sich gegen Geldwäsche und die Finanzierung von Terrorismus, nicht gegen das, was sie täten. Höchstwahrscheinlich werde man sie sowieso nicht durchsuchen, da sie zu einer Reisegesellschaft gehörten. Seine gute Laune missfiel ihr, als hätte er sich wieder in jenen anderen Menschen verwandelt, der alles Mögliche sagte oder tat, um zu bekommen, was er wollte. Begriff er, wie schwer es war, ihm auch nur ein Wort zu glauben, wenn er so mühelos log?

Auf den Zollhäuschen flatterten angestrahlte Flaggen. Sie hatte diesen Grenzübergang kleiner in Erinnerung, ohne modern aussehenden Glaswürfel in der Mitte, ohne schicken Felsbrunnen. Sie glitten an den Reihen angehaltener Autos vorbei zu einer freien Busspur. Als sie langsam auf die von Betonwänden eingefasste Durchfahrt zurollten, schob er die Tasche unter den Vordersitz und klemmte sie zwischen seinen Füßen ein. Als wüsste er, wie nutzlos das war, zog er stirnrunzelnd eine Clownsgrimasse.

Sie hielten, der Bus gab ein pneumatisches Zischen von sich, und die Kabinenbeleuchtung ging an. Die Tür öffnete sich, ließ ein paar Schneeflocken herein, und ein Zollbeamter, der eine Baseballkappe mit aufgesticktem Goldemblem trug, kam die Stufen herauf. Er sprach mit dem Fahrer, notierte währenddessen etwas auf seinem Klemmbrett und wandte sich dann an die Fahrgäste. Da er den Gang ganz ausfüllte, versperrte er jeglichen Fluchtweg. Alle im Bus verstummten und warteten auf Anweisungen. Marion konnte nicht erkennen, ob er eine Waffe hatte, doch er war in guter körperlicher Verfassung. Sie stellte sich vor, wie er Art zu Boden werfen würde, sah bereits ihr Gepäck durchwühlt, ihr Geld beschlagnahmt. Sie würden es sowieso verlieren, aber nach allem nicht einmal diese Chance zu haben, so gering sie auch sein mochte, kam ihr verkehrt vor. War das seine Begründung für das Ganze? Denn zum ersten Mal konnte sie es verstehen.

«Willkommen in Kanada», sagte der Beamte. «Wir möchten Sie bitten, kurz auszusteigen. Bitte halten Sie Ihre Pässe und die Zollformulare bereit.»

Sie stiegen einer nach dem anderen aus, trotzten einen Augenblick der Kälte und bildeten dann eine Schlangenlinie in einem hell erleuchteten Büro. Hier trugen die Beamten keine Kappen und saßen hinter hohen Tresen wie Bankkassierer.

Einer winkte sie heran und kontrollierte ihre Pässe. «Von wo reisen Sie an?»

Sie ließ Art antworten und nickte bestätigend.

Der Beamte wollte wissen, was der Zweck ihres Besuches sei. In welchem Hotel sie übernachteten. Ob sie etwas zu verzollen hätten.

Sie erwartete, dass Art bei der letzten Antwort ins Stocken geraten würde, doch er schüttelte bloß den Kopf, als erübrige sich die Frage. «Nichts.»

«Einen angenehmen Aufenthalt.» Der Beamte gab ihm ihre beiden Pässe zurück, und sie gingen hinaus und stiegen wieder in den Bus.

Die Tasche war noch da.

«Unglaublich», sagte er. «Sie haben nicht mal unsere Pässe gestempelt.»

«Willst du noch mal zurück?»

«Nein, aber … Ich hätte ganz gern einen kanadischen Stempel gehabt. Ich hab noch keinen.»

«Na, krieg dich mal wieder ein», sagte sie, denn er schien ihr zu selbstgefällig.

«Ich mein ja bloß.»

«Ich auch.»

Sie beließen es bei dem Unentschieden, doch als sie weiterfuhren und die Lichter an ihr vorbeiflitzten, begriff sie, dass sie es tatsächlich durchzogen, dass nichts sie davon abhalten konnte, und sie musste sich eingestehen, dass sie einen geheimen Kitzel verspürte, als wären sie gerade noch einmal davongekommen.

Wahrscheinlichkeit, dass ein amerikanischer Staatsbürger eine American-Express-Karte besitzt:
1:10

Der Fahrer nahm die landschaftlich schöne Strecke, die sich am Fluss entlangschlängelte, und die Stromschnellen vergrößerten die Spannung noch. Auf der amerikanischen Seite glitten gespenstische Scheinwerfer durch die Nacht. Irgendwo auf dem dunklen Wasser, das die beiden Staaten voneinander trennte, schaukelten aufgereihte Bojen, hinter denen jegliche Rettung unwahrscheinlich, wenn nicht ausgeschlossen war. Art behielt diese Information für sich und hielt Ausschau nach den Fällen. Weiter vorn erhob sich ein orangefarbener Lichtkranz über der Stadt, vor dem sich etwas Langes, Schwarzes abzeichnete.

«Ist das da Goat Island?», fragte er.

«Hoffentlich. Ich dreh sonst gleich durch.»

«Muss wohl Goat Island sein», sagte er, denn plötzlich sah er rosafarbenen Sprühnebel aufsteigen, der die Fenster bespritzte und das Licht der Straßenlaternen verschwimmen ließ. Der wogende Fluss schwemmte Eisbrocken an schneebedeckten Felsen vorbei und warf Gischt auf. Neben dem Motorengeräusch des Busses wurde, erst leise, dann immer eindringlicher, ein tieferes Grollen vernehmbar, wie von einer großen Maschine. Das Zittern verwandelte sich in ein gedämpftes Tosen, hüllte sie ein wie der Sprühnebel, vibrierte in seiner Brust, als würde die Erde beben, und im nächsten Augenblick fiel der Fluss steil ab, sodass das berühmte Panorama zum Vorschein kam, anderthalb Kilometer breit, fürs Wochenende in blutrotes Licht getaucht.

Ooooh, sagten alle.

Marion hatte sich zum Fenster gedreht. Er beugte sich hinüber, schmiegte sich an ihren Rücken, wie um einen besseren Blick zu haben, und nahm die Wärme und den Duft ihres Nackens in sich auf. Er überlegte, ob er sie in die Arme schließen sollte, widerstand aber der Versuchung, aus Angst, diesen Augenblick zu verderben. Wenn er liebevoll zu sein versuchte, warf sie ihm oft vor, er wolle bloß fummeln, als wäre er noch ein Teenager. Der Vorwurf schmerzte umso mehr, weil es zumindest teilweise zutraf. Er hatte es schon immer gemocht, sie anzufassen. Seine Leidenschaftlichkeit verstand er als Kompliment, doch irgendwie empfand sie es inzwischen als Last, begehrt zu werden.