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Denis Johnson

Ein gerader Rauch

Roman

Aus dem Englischen von Bettina Abarbanell und Robin Detje

 

Noch einmal für H.P.

und all jene, die

1963

NEUN­ZEHN­HUNDERT­DREIUNDSECHZIG

In der Nacht um 3 : 00 Uhr war Präsident Kennedy ermordet worden. Seaman Houston und die beiden anderen Matrosen schliefen, als die ersten Meldungen um die Welt gingen. Es gab ein einziges kleines Nachtlokal auf der Insel, einen baufälligen Club mit großen, rotierenden Ventilatoren an der Decke, einem Tresen und einem Flipperautomaten; die zwei Marines, die den Club betrieben, hatten sie geweckt und ihnen erzählt, was dem Präsidenten zugestoßen war. Die beiden Marines setzten sich zu den drei Matrosen auf die Kojen in der für durchreisende Soldaten bestimmten Wellblechhütte, schauten zu, wie Wasser von der Klimaanlage in eine Kaffeedose tropfte, und tranken Bier. Die Radiostation des Armed Forces Network in Subic Bay blieb die ganze Nacht auf Sendung, brachte Berichte über den unbegreiflichen Mord.

Jetzt war es später Vormittag, und Seaman Apprentice William Houston jun. fühlte sich allmählich wieder nüchtern, als er mit einem geborgten Kleinkalibergewehr durch den Dschungel von Grande Island pirschte. Angeblich liefen ein paar Wildschweine hier in dem militärischen Inselurlaubsort herum, der alles war, was er von den Philippinen bisher gesehen hatte. Er wusste nicht, was er von diesem Land halten sollte. Er wollte nur ein bisschen im Dschungel jagen. Angeblich liefen ein paar Wildschweine hier herum.

Er trat vorsichtig auf, wegen der Schlangen und weil er möglichst leise sein wollte, um die Wildschweine hören zu können, bevor sie ihn angriffen. Er merkte, dass seine Nerven zum Zerreißen gespannt waren. Von allen Seiten kamen die zehntausend Geräusche des Dschungels, dazu das Schreien der Möwen und die ferne Brandung, und wenn er wie angewurzelt stehenblieb und einen Augenblick lang lauschte, hörte er auch den Puls in seinem heißen Fleisch kichern und das Knistern des Schweißes in seinen Ohren. Sobald er nur ein paar Sekunden länger reglos verharrte, spürten die Insekten ihn auf und heulten ihm um den Kopf.

Er lehnte das Gewehr an eine verkümmerte Bananenstaude und nahm das Stirnband ab, um es auszuwringen und sich das Gesicht abzuwischen, blieb dann, mit dem Tuch nach den Moskitos schlagend, eine Weile stehen und kratzte sich gedankenverloren im Schritt. Ganz in der Nähe schien eine Möwe einen Streit mit sich selber auszutragen, eine Reihe entrüsteter Kreischlaute, unterbrochen von tieferen Protestschreien, die wie hah! hah! hah! klangen. Und etwas, das sich von einem Baum zum anderen bewegte, geriet Seaman Houston in den Blick.

Er schaute unverwandt auf die Stelle, wo er es zwischen den Ästen eines Gummibaums gesehen hatte, und griff, ohne die Blickrichtung zu ändern, nach dem Gewehr. Da bewegte es sich wieder. Jetzt erkannte er, dass es eine Art Affe war, kaum größer als ein Chihuahua. Nicht gerade ein Wildschwein, doch immerhin bot es sich zur Beobachtung an, wie es sich dort mit der linken Hand und beiden Füßen an den Baumstamm klammerte und in wütender Hast an der dünnen Rinde schabte. Seaman Houston nahm den mageren Rücken des Affen ins Visier. Er richtete das Gewehr ein wenig höher und nahm den Kopf des Affen ins Visier. Ohne an etwas Bestimmtes zu denken, drückte er ab.

Der Affe wurde flach gegen den Baum geklatscht, wobei er enthusiastisch Arme und Beine ausbreitete, griff dann mit beiden Händen nach hinten, als wollte er sich am Rücken kratzen, und fiel zu Boden. Voller Entsetzen beobachtete Seaman Houston, wie er sich dort wand. Der Affe stemmte sich hoch, indem er einen Arm auf den Boden stützte, und lehnte sich wie jemand, der von einer schweren Arbeit ausruht, mit ausgestreckten Beinen an den Stamm.

Seaman Houston trat widerstrebend ein paar Schritte näher und sah, aus der Entfernung von wenigen Metern, dass das Fell des Affen glänzend war und im Schatten hennafarben, im Licht hellblond schimmerte, je nachdem, wie sich die Blätter über ihm bewegten. Der Affe schaute von einer Seite zur anderen, sein Atem ging in großen, raschen Stößen, sein Bauch blähte sich bei jedem Atemzug gewaltig auf wie ein Ballon. Die Kugel hatte ihn weit unten getroffen und war aus dem Unterleib wieder ausgetreten.

Seaman Houston spürte, wie es ihm selbst den Magen zerriss. «Herrgott nochmal!», schrie er den Affen an, als ob der an seinem beklemmenden, abscheulichen Zustand etwas ändern könnte. Er glaubte, sein Kopf würde explodieren, wenn der Vormittag weiter so in den Dschungel hinein brannte und die Möwen weiter so kreischten und der Affe weiter so aufmerksam seine Umgebung betrachtete, den Kopf und die schwarzen Augen hin und her bewegend, als folgte er dem Verlauf einer Unterhaltung, einer Diskussion, einem Streitgespräch, das der Dschungel – der Morgen – der Moment – mit sich selber führte. Seaman Houston ging zu dem Affen hin, legte das Gewehr neben ihm ab und hob das Tier hoch, indem er ihm eine Hand unter das Hinterteil schob und seinen Kopf in die andere bettete. Fasziniert, dann angewidert bemerkte er, dass der Affe weinte. Sein Atem ging schluchzend, und Tränen quollen ihm aus den Augen, wenn er blinzelte. Er schaute hierhin und dorthin und schien an Houston nicht mehr interessiert als an allem, was er sonst vielleicht noch sah. «He», sagte Houston, doch das Tier hörte ihn wohl nicht.

Während er den Affen in den Händen hielt, blieb dessen Herz stehen. Houston schüttelte ihn, doch er wusste, es war vergebens. Er hatte das Gefühl, alles sei allein seine Schuld, und da niemand in der Nähe war, erlaubte er sich zu weinen wie ein Kind. Er war achtzehn Jahre alt.

 

Als er zum Club unten am Wasser zurückkehrte, sah Houston, dass ein Schwarm hellvioletter Quallen an den grauen Strand geschwemmt worden war, Hunderte, jede einzelne ungefähr so groß wie eine Menschenhand, durchscheinend und in der Sonne schrumpelnd. Der kleine Inselhafen lag verlassen da. Außer der Fähre vom Marinestützpunkt auf der anderen Seite der Subic Bay kam nie ein Boot hierher.

Nur wenige Meter weiter säumten ein paar Bambushütten den Sandstreifen unter den palastartigen Bäumen, die kleine, purpurne Blüten auf die Dächer rieseln ließen. Aus einer der Hütten drangen die Schreie eines sich liebenden Paars, eine Hure, nahm Seaman Houston an, und irgendein Matrose. Houston hockte sich in den Schatten und lauschte, bis er sie nicht mehr gickeln, nicht mehr stöhnen hörte und eine Eidechse vom Dachvorsprung der Hütte zu rufen begann – ein kurzes Trällern zum Auftakt, dann eine Folge von harten, abgehackten Gluckslauten – gek-ko, gek-ko, gek-ko

Nach einer Weile kam der Mann heraus, ein Mann in den Vierzigern mit Bürstenschnitt, ein zusammengeknotetes weißes Handtuch unter dem Bauch und eine Zigarette zwischen den Schneidezähnen, stand, das Handtuch an der Hüfte festhaltend, breitbeinig da und fixierte ein wenig schwankend einen nahen, aber unsichtbaren Gegenstand. Ein Offizier wahrscheinlich. Er nahm die Zigarette zwischen Daumen und Zeigefinger, zog daran und umnebelte sich das Gesicht. «Wieder eine Mission erfüllt.»

In der Hütte nebenan ging die Tür auf, und eine Filipina, nackt, die Hand vor der Scham, sagte: «Er hat gar nicht Lust.»

Der Offizier rief: «He, Lucky.»

Ein kleiner Asiat erschien in der Tür, vollständig bekleidet, in Tarnuniform.

«Haben Sie ihr nicht hübsch die Zeit vertrieben?»

Der Kleine sagte: «Könnte vielleicht Pech bringen.»

«Karma», sagte der Offizier.

«Könnte vielleicht sein.»

Der Offizier wandte sich an Houston: «Was suchen Sie hier, Bier?»

Houston hatte längst abhauen wollen. Jetzt merkte er, dass er einfach nicht mehr daran gedacht hatte zu gehen und dass der Mann mit ihm sprach. Mit der freien Hand warf der Mann die Zigarette weg und schlängelte den Handtuchschurz beiseite. Zu Houston sagte er – und schickte dabei einen fast senkrechten Strahl zu Boden, der auf der Erde schäumte und die Kippe zerstörte –: «Wenn Sie was Interessantes sehen, lassen Sie’s mich wissen.»

Houston kam sich wie ein Depp vor und verschwand im Club. Drinnen spielten zwei junge Filipinas in hellen, geblümten Kleidern Flipper und redeten, während die großen Ventilatoren über ihnen im Kreis herumwirbelten, dermaßen schnell, dass Houston schwindelig wurde. Sam, einer der beiden Marines, stand hinter dem Tresen. «Sei still, Mann, still», sagte er. Er hob die Hand, in der er gerade einen Bratenwender hielt.

«Was hab ich denn gesagt?», fragte Houston.

«’tschuldigung.» Sam neigte den Kopf zum Radio und konzentrierte sich darauf wie ein Blinder. «Sie haben den Kerl.»

«Das haben sie schon vor dem Frühstück gesagt. Das wissen wir doch schon.»

«Es gibt aber was Neues.»

«Na dann», sagte Houston.

Er trank ein bisschen Eiswasser und versuchte zuzuhören, aber er hatte jetzt solche Kopfschmerzen, dass er nicht ein einziges Wort verstand.

Nach einer Weile kam der Offizier herein, in einem riesigen Hawaiihemd und begleitet von dem jungen Asiaten.

«Colonel, sie haben ihn», berichtete Sam dem Offizier. «Er heißt Oswald.»

Der Colonel sagte: «Was ist das denn für ein Name?», über den Namen des Mörders anscheinend genauso entrüstet wie über dessen grausame Tat.

«Gottverdammtes Arschloch», sagte Sam.

«So ein Arschloch», sagte der Colonel. «Ich hoffe, sie schießen ihm die Eier weg. Ich hoffe, sie schießen ihm eine Kugel in den Arsch.» Er wischte sich ohne alle Verlegenheit die Tränen weg und sagte: «Oswald, ist das sein Vorname oder sein Nachname?»

Erst hatte er diesen Offizier auf den Boden pissen sehen, dachte Houston, und jetzt sah er ihn weinen.

Zu dem jungen Asiaten sagte Sam: «Sir, wir sind ja wahnsinnig gastfreundlich. Aber philippinisches Militär bedienen wir eigentlich nicht.»

«Lucky kommt aus Vietnam», sagte der Colonel.

«Vietnam. Haste dich verlaufen?»

«Nein, nicht verlaufen», sagte der Mann.

«Dieser junge Mann hier», sagte der Colonel, «ist schon Flugzeugpilot. Er ist Captain der südvietnamesischen Luftstreitkräfte.»

Sam fragte den jungen Captain: «Also, ist da drüben nun Krieg oder was? Krieg? – Baller-baller-baller.» Er ahmte eine Maschinenpistole nach, indem er beide Hände aneinanderlegte und sie rüttelte. «Ja? Nein?»

Der Captain wandte sich von dem Amerikaner ab, bildete Sätze im Kopf, übte sie, wandte sich wieder zu ihm um und sagte: «Ich weiß nicht, ist Krieg. Menge Leute tot.»

«Das reicht», stimmte der Colonel ihm zu. «Das zählt.»

«Und wieso biste hier?»

«Ich mache Helikopterausbildung», sagte der Captain.

«Siehst kaum alt genug aus, um Dreirad zu fahren», sagte Sam. «Wie alt bist du?»

«Zweiundzwanzig Jahre.»

«Ich besorg dem kleinen Schlitzauge jetzt ein Bier. Wie wär’s mit San Miguel? Macht’s dir was aus, dass ich dich Schlitzauge genannt habe? Ist eine schlechte Angewohnheit.»

«Nennen Sie ihn Lucky», sagte der Colonel. «Lucky, der Mann gibt einen aus. Was nehmen Sie?»

Der junge Asiat runzelte die Stirn, stellte geheimnisvolle Überlegungen in seinem Inneren an und sagte: «Ich mag Lucky Lager.»

«Und was für Zigaretten rauchen Sie?», fragte der Colonel.

«Ich mag die Lucky Strike», sagte er, und alle lachten.

Plötzlich schaute Sam den jungen Matrosen Houston an, als erkenne er ihn jetzt erst wieder, und fragte: «Wo ist mein Gewehr?»

Einen Herzschlag lang hatte Houston keine Ahnung, was Sam meinte. Dann sagte er: «Scheiße.»

«Wo ist es?» Sam wirkte nicht sonderlich interessiert, bloß neugierig.

«Scheiße», sagte Houston. «Ich hole es.»

Er musste zurück in den Dschungel. Es war dort noch genauso heiß wie vorher, genauso feucht. Die gleichen Tiere machten die gleichen Geräusche, und die ganze Lage war noch genauso schlimm, er war weit von den Orten seiner Erinnerung entfernt, er hatte noch zwei Jahre bei der Navy vor sich, und der Präsident, der Präsident seines Landes, war immer noch tot – doch der Affe, der war weg. Sams Gewehr lag im Unterholz, wie Houston es hatte liegenlassen, aber der Affe war nicht mehr da. Irgendetwas hatte ihn weggeschafft.

Houston hatte damit gerechnet, ihn noch einmal zu sehen; deshalb war er erleichtert, dass er in den Club zurückkonnte, ohne sich anschauen zu müssen, was er getan hatte. Und doch begriff er, ohne große Unruhe oder Beklemmung, dass ihm dieser Anblick nicht ewig erspart bleiben würde.

 

Seaman Houston wurde einmal befördert und dann degradiert. Er bekam, wenn auch flüchtig, ein paar der bedeutenden Hauptstädte Südostasiens zu sehen, lief durch schwüle Nächte, in denen Straßenlaternen in der schalen Brise zitterten, und blieb doch nie lange genug an Land, um seine Seefestigkeit zu verlieren – nur so lange, bis er, verwirrt, die Gesichter flimmern sah und das leidvolle Gelächter hörte. Als sein erstes Jahr zu Ende war, meldete er sich freiwillig zu einem zweiten, verzaubert vor allem von der Möglichkeit, sein Schicksal durch seine bloße Unterschrift selbst zu bestimmen.

Houston hatte zwei jüngere Brüder. Der ältere, James, meldete sich zur Infanterie und wurde nach Vietnam geschickt, und eines Abends, kurz bevor Houstons zweites Jahr bei der Navy um war, nahm er einen Zug vom Marinestützpunkt in Yokosuka, Japan, in die Stadt Yokohama, wo er und James sich in der Peanut Bar verabredet hatten. Das war 1967, mehr als drei Jahre nach der Ermordung John F. Kennedys.

Houston kam sich wie ein Riese vor, als er in der Bahn über die pechschwarzen Haarschöpfe hinwegblickte. Die kleinen japanischen Passagiere starrten ihn humorlos, mitleidlos, schamlos an, bis er das Gefühl hatte, ihm würde der Hals umgedreht. Er stieg aus und orientierte sich im späten Nieselregen an den nassen Straßenbahnspuren, die ihn direkt zur Peanut Bar führten. Er freute sich darauf, etwas auf Englisch zu sagen.

Die Peanut Bar war groß und überfüllt von Seeleuten und blankgescheuert aussehenden Jungs der Handelsmarine, und das Stimmengewirr drang ihm in den Kopf und der Rauch in die Lungen.

Er entdeckte James in der Nähe der Bühne und ging, die Hand zur Begrüßung ausgestreckt, zu ihm hin. «Ich verlasse Yokosuka, Mann! Ich bin wieder auf einem Schiff!», war das Erste, was er sagte.

Die Band – ein Quartett japanischer Beatles-Imitatoren in grellweißen Anzügen mit Fransen – übertönte ihn. James, in Zivil, saß an einem kleinen Tisch und starrte sie an, nahm nichts als dieses Spektakel wahr, und Bill feuerte eine Erdnuss auf seinen offenen Mund.

James wies auf die Darsteller. «Das ist ja wohl lächerlich.» Er musste schreien, um sich auch nur annähernd verständlich zu machen.

«Was soll ich sagen. Wir sind hier nicht in Phoenix.»

«Fast so lächerlich wie du im Matrosenanzug.»

«Die haben mich vor zwei Jahren entlassen, und dann hab ich mich nochmal verpflichtet. Ich weiß nicht – ich hab’s einfach getan.»

«Warst du besoffen?»

«Ziemlich besoffen, ja.»

Überrascht stellte Bill Houston fest, dass sein Bruder kein kleiner Junge mehr war. James hatte einen Boxerhaarschnitt, der seinen Kiefer breit und kräftig wirken ließ, und saß aufrecht da, ohne Gezappel. Selbst in Zivil sah er aus wie ein Soldat.

Sie bestellten Bier im Krug und waren sich einig, dass ihnen Japan, abgesehen von ein paar merkwürdigen Dingen wie der Peanut Bar, gefiel – obwohl James bisher nur sechs Stunden zwischen Flügen im Land verbracht hatte und schon am nächsten Morgen wieder in ein Flugzeug nach Vietnam steigen würde –, oder zumindest waren sie sich einig, dass sie beide die Japaner mochten. «Ich schwör’s dir», sagte Bill, als die Band Pause machte und sie ihre eigenen Stimmen wieder hören konnten, «diese Japsen haben alles genau abgezirkelt. In den Tropen dagegen – nichts als Scheiße, Mann. Die haben da alle fetten gekochten Brei in der Birne.»

«Das hab ich auch gehört. Ich werd’s ja sehen.»

«Und die Gefechte?»

«Was ist damit?»

«Was hörst du darüber?»

«Hauptsächlich, dass du auf Bäume schießt und dass die Bäume zurückschießen.»

«Nein, im Ernst. Ist es richtig schlimm?»

«Ich werd’s ja sehen.»

«Hast du Schiss?»

«Bei den Übungen hab ich mit angesehen, wie einer von den Jungs aus Versehen einen anderen angeschossen hat.»

«Ehrlich?»

«In den Arsch, ob du’s glaubst oder nicht. War bloß ein Versehen.»

Bill Houston sagte: «Ich hab in Honolulu miterlebt, wie einer einen anderen umgelegt hat.»

«Wie – im Streit?»

«Na ja, die eine Arschgeige schuldete der anderen Geld.»

«In einer Kneipe oder was?»

«Nein. Nicht in der Kneipe. Der eine ist hinten um das Wohnhaus des anderen rumgegangen und hat ihn ans Fenster gerufen. Wir kommen an dem Haus vorbei, da sagt er: ‹Warte mal, ich muss mit jemandem reden, der Typ schuldet mir was.› Sie haben eine Minute geredet, und dann hat der, mit dem ich unterwegs war, den anderen erschossen. Hält seine Waffe direkt ans Fliegengitter, Mann, und peng, ein Schuss, einfach so. Fünfundvierziger Automatik. Der andere ist quasi rückwärts in seine Wohnung gefallen.»

«Quatsch.»

«Nein. Kein Quatsch.»

«Im Ernst? Du warst dabei?»

«Wir sind nur so rumgelaufen. Ich hatte doch keine Ahnung, dass er jemanden umbringen würde.»

«Was hast du dann gemacht?»

«Ich hab mir fast die Hosen vollgeschissen. Er dreht sich um, steckt die Waffe unters Hemd und sagt: ‹He, lass uns irgendwo ein Bier trinken gehen.› Als wenn der Vorfall ausradiert gewesen wäre.»

«Und was war dein Kommentar zu der ganzen Sache?»

«Ich dachte mir irgendwie, ich sag besser gar nichts dazu.»

«Klar – ich meine, Scheiße, was soll man da auch sagen.»

«Aber ich hab mich natürlich gefragt, wie er das findet, dass ich jetzt sein Zeuge bin. Deshalb bin ich auch nicht an Bord gegangen. Er war in unserer Mannschaft. Wenn ich mit ihm ausgelaufen wäre, hätte ich acht Wochen lang kein einziges Mal beide Augen gleichzeitig zugetan.»

Die Brüder tranken aus ihren Humpen und suchten, jeder in seinen eigenen Gedanken, nach einem Gesprächsthema. «Als der Kerl in den Arsch geschossen wurde», sagte James, «hatte er erst mal einen Schock.»

«Scheiße. Wie alt bist du?»

«Ich?»

«Ja.»

«Fast achtzehn», sagte James.

«Die Army hat dich genommen, obwohl du erst siebzehn bist?»

«Nee. Ich hab gelogen.»

«Hast du Angst?»

«Ja. Nicht dauernd.»

«Nicht dauernd?»

«Ich hab noch keine Gefechte gesehen. Will ich aber. Ich will sehen, wie es wirklich ist, die richtige, echte Scheiße. Das will ich einfach.»

«Mann, du hast sie ja nicht mehr alle.»

Die Band fing mit einem Stück von den Kinks, You Really Got Me, wieder an zu spielen:

 

You really got me –

You really got me –

You really got me –

 

Binnen kurzem gerieten die beiden Brüder in einen Streit um nichts, und Bill Houston kippte jemandem am nächsten Tisch einen Krug Bier in den Schoß – einer jungen Japanerin, die ihre Schultern krümmte und traurig und gedemütigt aussah. Sie saß mit einer Freundin und noch zwei Amerikanern zusammen, zwei Jungs, die nicht wussten, wie sie reagieren sollten.

Das Bier tropfte von der Tischkante, während James ungeschickt den leeren Krug wieder hinstellte und sagte: «So läuft das eben manchmal. Ist einfach so.»

Das junge Mädchen machte keinerlei Anstalten, sich herzurichten. Sie starrte in ihren Schoß.

«Was ist eigentlich mit uns los», fragte James seinen Bruder, «sind wir total krank oder was? Jedes Mal, wenn wir uns treffen, passiert irgendwas Schlimmes.»

«Ich weiß.»

«Irgendwas Krankes.»

«Was Krankes, Beschissenes, ich weiß. Weil wir verwandt sind.»

«Blutsverwandt.»

«Die ganze Scheiße bedeutet mir inzwischen nichts mehr.»

«Irgendwas muss sie dir ja wohl noch bedeuten», widersprach James, «warum hättest du deinen Hintern sonst nach Yokohama geschleppt, um mich hier zu treffen?»

«Ja», sagte Bill, «in der Peanut Bar.»

«Der Peanut Bar!»

«Und warum hab ich mein Schiff verpasst?»

«Du hast dein Schiff verpasst?», fragte James.

«Ich hätte heute Nachmittag um vier an Bord sein sollen.»

«Du hast es verpasst?»

«Vielleicht ist es ja noch da. Aber ich denk mal, es ist inzwischen ausgelaufen.»

Bill Houston spürte, wie ihm die Tränen in die Augen schossen und es ihm die Kehle zuschnürte vor jäher Rührung über sein Leben und dieses Land, wo alle links fuhren.

James sagte: «Ich hab dich nie gemocht.»

«Ich weiß. Ich dich auch nicht.»

«Ich dich auch nicht.»

«Für mich warst du schon immer ein kleinpimmeliges Arschloch», sagte Bill.

«Ich hab dich immer gehasst», sagte sein Bruder.

«Gott, es tut mir leid», sagte Bill Houston zu der Japanerin. Er rupfte ein paar Scheine aus seinem Portemonnaie und warf sie auf den nassen Tisch, hundert Yen oder tausend Yen, er konnte es nicht erkennen.

«Dies ist mein letztes Jahr bei der Navy», erklärte er dem Mädchen. Er hätte ihr noch mehr gegeben, aber sein Portemonnaie war leer. «Ich bin über dieses Meer gekommen und gestorben. Man könnte genauso gut meine Knochen zurückbringen. Ich bin ein anderer Mensch.»

Am Nachmittag jenes Novembertages 1963, einen Tag nach der Ermordung John F. Kennedys, ging Captain Nguyen Minh, der junge Pilot der vietnamesischen Luftstreitkräfte, nicht weit vom Ufer Grande Islands mit Maske und Schnorchel tauchen. Das war seine neu entdeckte Leidenschaft. Sie kam dem Vergnügen nahe, das die Vögel haben mussten, wenn sie aus eigenen Kräften über eine Landschaft glitten, ja wirklich flogen, was etwas anderes war, als eine Maschine zu steuern. Die an seine Füße geschnallten schwimmhäutigen Flossen gaben ihm ordentlich Schub, als er über einen großen Schwarm Papageienfische hinwegschoss, die Nahrung an einem Riff suchten, wobei ihre unzähligen kleinen Mäuler auf die Korallen prasselten wie ein Regenschauer. Amerikanische Marinesoldaten tauchten gerne, mit oder ohne Gerät, und hatten überall die Korallen zerstört und die Fische verschreckt, sodass der gesamte Schwarm im Nu verschwand, als Minh näher heranschwamm.

Er war kein großartiger Schwimmer, und da niemand bei ihm war, konnte er all die Angst zulassen, die er tatsächlich empfand.

Die ganze letzte Nacht war er mit der Prostituierten zusammen gewesen, die der Colonel für ihn bezahlt hatte. Das Mädchen hatte auf dem Boden geschlafen und er im Bett. Er hatte sie nicht gewollt. Diese Filipinos waren ihm nicht geheuer.

Heute dann, am späten Vormittag, waren sie in den Club gegangen und hatten erfahren, dass der Präsident der Vereinigten Staaten, Präsident John Fitzgerald Kennedy, ermordet worden war. Die beiden Filipinas waren noch bei ihnen gewesen, und jede von ihnen nahm einen der massiven Arme des Colonels und hielt ihn fest, wie um ihn am Erdboden zu vertäuen, während er seine Verblüffung und Trauer unter Kontrolle brachte. Sie saßen den ganzen Vormittag am Tisch und hörten Nachrichten. «Um Gottes willen», sagte der Colonel. «Um Gottes willen.» Zum Nachmittag hin ging es dem Colonel besser, und das Bier floss und floss. Minh versuchte, nicht so viel zu trinken, doch er wollte höflich sein, und ihm wurde sehr schwindelig. Die Mädchen gingen weg, sie kamen wieder, der Ventilator kreiste an der Decke. Ein blutjunger amerikanischer Marinesoldat gesellte sich zu ihnen, und jemand fragte Minh, ob irgendwo in Vietnam tatsächlich Krieg geführt werde.

An diesem Abend wollte der Colonel Mädchen tauschen, und Minh beschloss, sich zu fügen wie in der Nacht davor, um es dem Colonel recht zu machen und ihm zu zeigen, dass er ihm aufrichtig dankbar war. Ohnehin gab er diesem zweiten Mädchen den Vorzug. Es war hübscher, fand er, und sprach besser Englisch. Aber das Mädchen bat ihn, die Klimaanlage einzuschalten. Ihm war es lieber, wenn sie aus blieb. Er konnte nichts hören, wenn die Klimaanlage lief. Er wollte die Fenster offen haben. Er mochte das Geräusch der ans Fliegengitter flatternden Insekten. Solche Gitter gab es im Haus seiner Familie im Mekong-Delta nicht, ja nicht einmal im Haus seines Onkels in Saigon.

«Was willst du?», fragte das Mädchen. Sie behandelte ihn sehr von oben herab.

«Ich weiß nicht», sagte er. «Zieh dich aus.»

Sie zogen sich beide aus und legten sich in der Dunkelheit Seite an Seite aufs Doppelbett, sonst taten sie nichts. Ein paar Türen weiter hörte er einen amerikanischen Matrosen laut mit einem seiner Freunde reden, vielleicht erzählte er eine Geschichte. Minh verstand kein Wort, obwohl er sein Englisch für ganz passabel hielt.

«Der Colonel hat einen Großen.» Das Mädchen streichelte seinen Penis. «Ist er dein Freund?»

Minh sagte: «Ich weiß nicht.»

«Du weißt nicht, ist er dein Freund? Warum bist du mit ihm zusammen?»

«Ich weiß nicht.»

«Wann hast du ihn erstes Mal getroffen?»

«Vor ein oder zwei Wochen.»

«Wer ist er?», fragte sie.

Minh sagte: «Ich weiß nicht.» Damit sie aufhörte, zwischen seinen Beinen herumzufummeln, drückte er sie an sich.

«Willst du nur schubbern?», fragte sie.

«Was bedeutet das?», fragte er.

«Nur schubbern», sagte sie. Sie stand auf und machte das Fenster zu. Dann hielt sie die Handfläche vor die Klimaanlage, ohne die Tasten zu berühren. «Gib mir ma’ ’ne Zigarette», sagte sie.

«Nein. Ich habe keine Zigarette», sagte er.

Sie warf sich ihr Kleid über den Kopf und schlüpfte in die Sandalen. Unterwäsche trug sie nicht. «Gib mir ma’ ’n paar Quarter», sagte sie.

«Was bedeutet das?», fragte er.

«Was bedeutet das?», sagte sie. «Was bedeutet das? Gib mir ma’ ’n paar Quarter. Gib mir ma’ ’n paar Quarter.»

«Ist das Geld?», fragte er. «Wie viel ist das?»

«Gib mir ma’ ’n paar Quarter», sagte sie. «Ich will gucken, ob er mir Zigarette verkauft. Ich will zwei Schachteln Zigarette – eine Schachtel für mich, eine Schachtel für meine Cousine. Zwei Schachteln.»

«Der Colonel kann das machen», sagte er.

«Einmal Winnsten. Einmal Lucky Strike.»

«Entschuldige. Es ist kalt heute Nacht», sagte er. Er stand auf und zog sich an.

Er trat vor die Tür. Hinter sich hörte er die kleinen Geräusche der jungen Frau, die drinnen mit ihrer Handtasche hantierte, sie auf den Tisch stellte. Sie klatschte und rieb sich die Hände, und ein Hauch Parfüm zog aus dem offenen Fenster an ihm vorbei. Er atmete ihn ein. Ihm dröhnten die Ohren, und Tränen trübten seinen Blick. Er räusperte sich, um ein pelziges Gefühl in seinem Hals loszuwerden, ließ den Kopf hängen, spuckte zwischen seine Füße. Er vermisste sein Heimatland.

Als er zu den Luftstreitkräften gekommen und dann zur Offiziersausbildung nach Da Nang geschickt worden war, mit gerade mal siebzehn, hatte er mehrere Wochen lang jede Nacht in seinem Bett geweint. Er flog jetzt seit fast drei Jahren Kampfflugzeuge; seit er neunzehn war. Vor zwei Monaten war er zweiundzwanzig geworden, und er konnte damit rechnen, immer weiter Einsätze zu fliegen, bis zu jenem einen, der ihn töten würde.

Später saß er draußen auf der Veranda auf einem Liegestuhl, vornübergebeugt, die Unterarme auf den Knien, rauchend – er hatte in Wahrheit doch eine Schachtel Luckys –, als der Colonel mit beiden Mädchen im Arm aus dem Club zurückkam. Minhs Begleiterin hielt eine Schachtel in der Hand und winkte fröhlich damit.

«Sie haben also heute die salzigen Tiefen erforscht.»

Minh wusste nicht genau, was der Colonel meinte. Er sagte: «Ja.»

«Waren Sie schon mal in einem der Tunnel da unten?», fragte der Colonel.

«Was ist das? – Tunnel.»

«Tunnel», sagte der Colonel. «Ganz Vietnam ist untertunnelt. Waren Sie in so einem Ding schon mal drin?»

«Noch nicht. Ich glaube nicht.»

«Ich auch nicht, Junge», sagte der Colonel. «Ich frage mich, was da unten wohl ist.»

«Ich weiß nicht.»

«Keiner weiß das», sagte der Colonel.

«Die Kader benutzen die Tunnel», sagte Minh. «Die Vietminh.»

Schon schien der Colonel wieder um seinen Präsidenten zu trauern, denn er sagte: «Diese Welt spuckt einen schönen Mann aus, als wäre er Gift.»

Wie Minh festgestellt hatte, konnte man eine ganze Weile mit dem Colonel reden, ohne zu merken, dass er betrunken war.

Er hatte den Colonel erst vor ein paar Tagen kennengelernt, eines Morgens draußen vor dem Hubschrauberhangar am Subic-Stützpunkt, und seitdem suchten sie beide fortwährend die Gesellschaft des anderen. Der Colonel war ihm nicht vorgestellt worden – der Colonel hatte sich selbst vorgestellt – und schien offiziell nichts mit ihm zu tun zu haben. Sie waren zusammen mit Dutzenden anderen durchreisenden Offizieren in einem Lager kaserniert, das ursprünglich, so der Colonel, der amerikanische Nachrichtendienst errichtet und dann rasch wieder verlassen hatte.

Minh wusste, dass der Colonel einer war, an den er sich halten konnte. Minh hatte die Angewohnheit, Situationen und Menschen daraufhin anzuschauen, ob sie Glück oder Unglück verhießen. Er trank Lucky Lager, er rauchte Lucky Strikes. Der Colonel nannte ihn «Lucky».

«John F. Kennedy war ein schöner Mann», sagte der Colonel. «Das ist es, was ihn umgebracht hat.»