Rosamunde Pilcher
September
Roman
Aus dem Englischen von Alfred Hans
Rowohlt E-Book
Rosamunde Pilcher wurde 1924 in Lelant/Cornwall geboren, arbeitete zunächst beim Foreign Office und trat während des Zweiten Weltkrieges dem Women´s Royal Naval Service bei. 1946 heiratete sie Graham Pilcher und zog nach Dundee/Schottland, wo sie seither wohnt. Rosamunde Pilcher schreibt seit ihrem fünfzehnten Lebensjahr. Ihre Romane haben sie zu einer der erfolgreichsten Autorinnen der Gegenwart gemacht.
September ist in Schottland ein ganz besonderer Monat ...
Ein Sommer geht zu Ende, der lange, graue Winter hat noch nicht begonnen: September ist die Zeit glänzender Jagdgesellschaften und Bälle. Anlässlich einer großen Party, die Verena Steynton für ihre Tochter veranstaltet, kehrt die bildschöne Pandora nach Strathcroy ins schottische Hochland zurück. Zwanzig Jahre zuvor war die Schwester von Lord Archie Balmerino über Nacht aus ihrem Heimatort verschwunden. Sie ging mit einem rätselhaften Geheimnis, über das bis zum Tag ihrer Rückkehr niemand ein Wort verlor. Am Abend der Festlichkeiten bricht Pandora ihr Schweigen. Und ein tragisches Schicksal nimmt seinen Lauf ...
Die Originalausgabe erschien 1990 unter dem Titel «September» im Verlag St. Martin’s Press, New York.
Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg, September 2014
Copyright © 1991 by Rowohlt Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg
«September» Copyright © 1990 by Robin Pilcher, Fiona Pilcher, Mark Pilcher und Philippa Imrie
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ISBN Printausgabe 978-3-499-26811-3 (Neuausgabe 2014)
ISBN E-Book 978-3-644-21501-6
www.rowohlt.de
ISBN 978-3-644-21501-6
Dienstag, der Dritte
Anfang Mai kam der Frühling endlich auch nach Schottland. Zu lange war der Winter geblieben, nicht bereit, den Griff seiner stählernen Finger zu lockern. Den ganzen April hindurch waren eisige Winde aus Nordwest gekommen und hatten die ersten Blüten von den Wildkirschenbäumen gerissen; die frühen Narzissen waren bräunlich von Frost. Schnee überzuckerte die Gipfel der Berge und lag noch hoch in den kleinen Talkesseln. Die Bauern, die dringend auf neues Viehfutter warteten, brachten mit dem Schlepper ihre letzten Vorräte auf die leeren Felder, wo sich die Rinder in den Schutz der Trockenmauern drängten.
Selbst die Wildgänse, die gewöhnlich schon Ende März fortflogen, ließen sich Zeit mit der Rückkehr zu ihren Nistplätzen in der Arktis. Erst gegen Mitte April waren ihre letzten Züge aufgebrochen und schreiend nordwärts geflogen.
Doch dann hatte das unbeständige Klima des schottischen Hochlands über Nacht ein Einsehen. Der Wind drehte nach Süden. Den Boden bedeckte sprießendes Grün, die wilden Kornelkirschbäume erholten sich und breiteten ihre Äste aus, die über und über mit einem Dunst schneeweißer Blütenblätter bedeckt waren. Mit einem Schlag hielt Farbenpracht Einzug in die Vorgärten: gelber Winterjasmin, lila Krokusse und das satte Blau von Traubenhyazinthen. Vögel sangen, und zum ersten Mal seit dem vergangenen Herbst wärmte die Sonne wieder richtig.
Jeden Morgen, den Gott werden ließ, ob bei Regen oder Sonnenschein, Winter wie Sommer, legte Violet Aird zu Fuß den Weg ins Dorf zurück, um im Supermarkt der Familie Ishak zwei Halbliterflaschen Milch, die Times, kleinere Mengen Lebensmittel und all das einzukaufen, was eine allein lebende ältere Dame in ihrem Haushalt so braucht.
Leicht fiel ihr das nicht, denn der Hinweg führte einen knappen Kilometer steil bergab, zwischen Feldern hindurch, die einst das baumbestandene offene Parkland des Besitzes von Croy gewesen waren, und zurück ging es denselben Weg steil bergauf. Zwar besaß sie ein Auto und hätte ihre Besorgungen ohne weiteres damit erledigen können, doch gehörte es zu ihren Überzeugungen, dass man sich in große Gefahr begibt, den Gebrauch seiner Beine zu verlieren, wenn man mit beginnendem Alter anfängt, für kurze Entfernungen den Wagen zu benutzen.
All die langen Wintermonate hindurch hatte sie bei ihrer Expedition Fellstiefel, Handschuhe, Pullover, eine regendichte Jacke sowie einen Schal getragen und sich eine Wollmütze tief über die Ohren gezogen, an diesem Vormittag ging sie einfach in Tweedrock und Strickjacke und ließ den Kopf unbedeckt. Der Sonnenschein hob ihre Laune, und sie fühlte sich wieder jung und kräftig, da kein dicker Kokon aus mehreren Schichten von Kleidungsstücken sie behinderte. Das erinnerte sie an die Erleichterung, die sie als kleines Mädchen immer dann empfunden hatte, wenn sie die langen schwarzen Wollstrümpfe nicht mehr anzuziehen brauchte, ließ sie an das Behagen denken, mit dem sie die kühle Luft auf ihren bloßen Beinen gespürt hatte.
Der Dorfladen war an diesem Morgen gut besucht, und so dauerte es eine Weile, bis sie an die Reihe kam. Das Warten machte ihr nichts aus, gab es ihr doch Gelegenheit, mit den anderen Kunden zu plaudern, die ihr, zumindest vom Sehen, alle bekannt waren, sich beglückt über das Wetter zu äußern, eine Frau nach dem Befinden ihrer Mutter zu fragen oder zuzusehen, wie ein kleiner Junge, dem die Qual der Wahl ins Gesicht geschrieben stand, lose Bonbons aussuchte, die er von seinem Taschengeld kaufte. Er ließ sich Zeit, und Mrs. Ishak wartete freundlich und geduldig, während er überlegte. Als er sich schließlich entschieden hatte, tat sie die Bonbons in eine kleine Tüte und nahm das Geld.
«Iss nicht alle auf einmal, sonst fallen dir die Zähne aus», mahnte sie ihn. «Guten Morgen, Mrs. Aird.»
«Guten Morgen, Mrs. Ishak. Ist es nicht ein herrlicher Tag?»
«Ich konnte es nicht glauben, als ich gesehen habe, dass die Sonne scheint.» Gewöhnlich war Mrs. Ishak, die es aus Pakistans immerwährendem Sonnenschein in diese nördlichen Breiten verschlagen hatte, in mehrere Strickjacken eingemummelt und hatte ein Paraffinöfchen hinter der Theke, über das sie sich wärmesuchend beugte, sobald es einen ruhigen Augenblick gab. An diesem Morgen aber wirkte sie richtig glücklich. «Wenn es bloß nicht wieder kalt wird.»
«Glaube ich nicht. Jetzt ist Frühling. Ja, vielen Dank, meine Milch und meine Zeitung. Edie braucht Möbelpolitur und eine Rolle Haushaltspapier. Und geben Sie mir doch heute noch ein halbes Dutzend Eier.»
«Wenn Ihnen der Korb zu schwer ist, kann ich Mr. Ishak mit dem Wagen vorbeischicken.»
«Ich schaff es schon, vielen Dank.»
«Sie gehen ziemlich viel zu Fuß.»
Violet lächelte. «Stimmt. Und es tut mir gut.»
Schwer bepackt machte sie sich wieder auf den Weg zurück zu ihrem Haus Pennyburn. Den Gehsteig entlang, an den Reihen niedriger Häuschen vorbei, in deren Fensterscheiben sich die Sonne spiegelte und deren Türen offen standen, damit die frische warme Luft herein konnte. Dann ging es durch das Zufahrtstor von Croy erneut den Hügel hinauf, einen Privatweg entlang, der die rückwärtige Zufahrt zum Herrenhaus bildete. Pennyburn lag inmitten steil abfallender Weideflächen. Ein von gestutzten Buchenhecken gesäumter schmaler Weg führte von der Zufahrt aus dorthin, und es bedeutete für Violet immer eine gewisse Erleichterung, wenn sie diese Abzweigung erreicht hatte, denn von da ab ging es nicht mehr weiter bergauf.
Violet nahm den Korb, der ihr schwer wurde, in die andere Hand und begann zu überlegen, wie sie den Rest des Tages verbringen sollte. Da es einer der Vormittage war, an denen Edie ihr half, brauchte sie selbst nicht im Haus zu bleiben, sondern konnte sich stattdessen im Garten zu schaffen machen. In letzter Zeit war es selbst ihr im Garten zu kalt gewesen, sodass sie ihn vernachlässigt hatte. Ein riesiger Haufen sorgfältig gepflegten Komposts musste schubkarrenweise zum neuen Rosenbeet gebracht und darauf verteilt werden. Der Gedanke daran erfüllte sie mit Befriedigung und Vorfreude. Sie konnte es gar nicht erwarten, sich an die Arbeit zu machen.
Sie beschleunigte den Schritt, sah dann aber fast im selben Augenblick den ihr unbekannten Wagen vor ihrer Haustür. Besuch. Also würde der Garten für den Augenblick warten müssen. Wie ärgerlich. Wer das nur sein mochte? Mit wem würde sie herumsitzen und reden müssen?
Sie trat durch die Tür, die zur Küche führte, ins Haus und sah Edie, die Wasser in den Kessel laufen ließ.
Violet stellte den Korb auf den Tisch und fragte kaum hörbar, wobei sie mit dem Zeigefinger in Richtung Wohnzimmer wies: «Wer ist es?»
Im Flüsterton gab Edie zur Antwort: «Mrs. Steynton. Von Corriehill.»
«Seit wann ist sie da?»
«Gerade erst gekommen. Ich hab ihr gesagt, sie soll im Wohnzimmer warten. Sie möchte ganz kurz was mit Ihnen besprechen.» Edie sprach jetzt mit normaler Stimme weiter. «Ich mach für Sie beide Kaffee und bring ihn dann rein.»
Ohne die Möglichkeit, sich mit einem Vorwand zurückzuziehen oder das Weite zu suchen, stellte sich Violet ihrer Besucherin, die am Fenster des sonnendurchfluteten Wohnzimmers stand und auf den Garten hinaussah. Beim Eintreten der Hausherrin drehte sie sich um.
«Ah, Violet. Es tut mir leid, dass ich Sie so überfalle; es ist mir richtig peinlich. Ich hab Edie gesagt, ich würde später wiederkommen, aber sie hat mir versichert, Sie müssten jeden Augenblick vom Einkaufen zurück sein.»
Verena Steynton war eine hochgewachsene, schlanke Frau um die vierzig, die sich stets untadelig und elegant kleidete. Damit stach sie deutlich von den anderen Frauen am Ort ab, die zumeist viel Arbeit mit der Landwirtschaft und weder Zeit noch Neigung hatten, sich besonders um ihr Äußeres zu kümmern. Verena und ihr Mann Angus lebten noch nicht lange in der Nachbarschaft und wohnten erst seit zehn Jahren auf Corriehill. Angus hatte, der ständigen Hetze müde, mit seinem in London als Börsenmakler erworbenen Vermögen fünfzehn Kilometer von Strathcroy entfernt Corriehill gekauft. Er war mit Frau und Tochter nach Norden gezogen und hatte sich dort nach einer anderen Tätigkeit umgesehen, von der er hoffte, dass sie ihn weniger in Anspruch nehmen würde, einen heruntergekommenen Holzhandel in Relkirk übernommen und im Laufe der Jahre ein einträgliches und blühendes Großunternehmen daraus gemacht.
Verena war Mitarbeiterin einer Organisation, die den Namen Scottish Country Tours trug und es sich angelegen sein ließ, während der Sommermonate Busladungen amerikanischer Touristen durch ganz Schottland zu transportieren und sie als zahlende Gäste in sorgfältig ausgesuchten Privathäusern unterzubringen. Zu diesen Gastgeberinnen gehörte auch Isobel Balmerino, und Violet konnte sich kaum eine erschöpfendere Art vorstellen, etwas Geld zu verdienen, denn die Betreuung der Amerikaner bedeutete durchaus anstrengende Arbeit.
Vom gesellschaftlichen Standpunkt aus hatte sich die Familie Steynton als wahrer Gewinn für die Mitmenschen erwiesen. Sie waren nicht nur umgänglich und liebenswürdig, sondern auch gastfreundlich und stets bereit, Zeit und Mühe auf die Organisation von Feiern, sportlichen Wettbewerben wie Crymkhanas und wohltätigen Veranstaltungen zu verwenden, bei denen es galt, für diese oder jene gute Sache Geld lockerzumachen. Trotzdem ahnte Violet nicht im Entferntesten, was Verena zu ihr geführt haben mochte.
«Schön, dass Sie gewartet haben. Ich hätte Sie ungern verpasst. Edie macht uns rasch Kaffee.»
«Ich hätte vielleicht anrufen sollen, aber ich war gerade auf dem Weg nach Relkirk und hab mir ganz spontan gesagt, es ist doch viel besser, einfach vorbeizukommen und zu sehen, ob Sie da sind. Es macht Ihnen hoffentlich nichts aus?»
«Nicht die Spur», log Violet tapfer. «Nehmen Sie Platz. Es tut mir leid, aber ich habe noch kein Feuer gemacht. Das lässt sich aber schnell …»
«Ich bitte Sie! Wer muss an einem solchen Tag heizen? Ist es nicht herrlich, die Sonne mal wieder zu sehen?»
Sie setzte sich auf das Sofa und schlug ihre langen, eleganten Beine übereinander. Violet ließ sich weniger anmutig in ihrem eigenen behaglichen Sessel nieder.
Sie beschloss, ohne Umschweife zur Sache zu kommen. «Edie hat gesagt, Sie wollten etwas mit mir besprechen.»
«Ich war der Ansicht … eigentlich sind Sie genau der richtige Mensch, mir zu helfen.»
Violets Herz sank. Sie hörte schon, wie man sie im nächsten Augenblick bitten würde, Teewärmer für einen Basar zu stricken, eine Gartenausstellung zu eröffnen oder Eintrittskarten für ein Wohltätigkeitskonzert zu verkaufen.
«Helfen?», fragte sie schwach.
«Nun, weniger Hilfe als Rat. Ich überlege nämlich, ein Fest zu geben, eine Art Ball.»
«Einen Ball?»
«Ja. Für unsere Katy. Sie wird diesen Sommer einundzwanzig.»
«Aber wie könnte ich Ihnen dabei raten? Ich weiß schon gar nicht mehr, wie lange es her ist, dass ich mit so etwas zu tun hatte. Fragen Sie da nicht besser jemanden, der mehr auf dem Laufenden ist? Ich denke dabei an Peggy Ferguson-Crombie oder Isobel Balmerino.»
«Nun, ich dachte … Sie haben so viel Erfahrung. Sie wohnen hier schon länger als jeder andere Mensch, den ich kenne. Ich wollte gern sehen, wie Sie darauf reagieren.»
Violet wusste nicht, was sie denken sollte. Sie war froh, dass Edie mit dem Kaffee kam, während sie nach Worten suchte.
Edie zog sich zurück, und bald darauf hörte man im Obergeschoss den Staubsauger brummen.
Violet goss Kaffee in die Tassen. «Woran denken Sie denn?»
«Nun, Sie wissen schon, schottische Volkstänze: Reel, Strip-the-Willow und dergleichen.»
Violet konnte es sich vorstellen. «Sicher meinen Sie Kassettenmusik von der Stereoanlage und Tanz in der Eingangshalle.»
«Nein, nicht so. Es soll ein richtiges Fest werden, in ganz großem Stil, mit einem großen Tanzzelt auf dem Rasen …»
«Hoffentlich meint Angus, dass er genug Geld dafür hat.»
Verena überhörte den Einwurf, «… und einer richtigen Kapelle. Natürlich nehmen wir auch die Eingangshalle dazu, aber nur zum Sitzen. Und den Salon. Katy will bestimmt für all ihre Londoner Freunde eine Diskothek haben, ohne die scheint es heute ja nicht mehr zu gehen. Die könnte in den Salon kommen. Vielleicht richten wir ihn als eine Art Höhle oder Grotte ein …»
Höhle oder Grotte, dachte Violet. Ganz offensichtlich hatte sich Verena schon tief in die Sache hineingekniet. Freundlich sagte Violet: «Sie scheinen ja schon genaue Vorstellungen zu haben.»
«Und Katy kann all ihre Londoner Freunde und Bekannten einladen … Natürlich müssten wir für sie Übernachtungsmöglichkeiten finden …»
«Haben Sie schon mit Katy über Ihr Vorhaben gesprochen?»
«Nein, Sie sind der erste Mensch, dem ich das anvertraue.»
«Vielleicht möchte sie gar kein Fest.»
«Selbstverständlich will sie. Ihr haben Gesellschaften schon immer gefallen.»
Da sie die Tochter der Steyntons kannte, musste Violet einräumen, dass das wohl stimmte. «Und wann soll die Sache steigen?»
«Ich dachte, im September. Der Termin bietet sich dafür an. Zu der Zeit sind ohnehin viele Leute zur Jagd hier im Norden, und alle haben noch Ferien. Vielleicht wäre der 17. gar nicht schlecht, weil dann die meisten der Kleineren schon wieder im Internat sind.»
«Jetzt haben wir Mai. Bis September ist es noch lange hin.»
«Ich weiß, aber es ist nie zu früh, ein Datum festzulegen und mit den Vorbereitungen zu beginnen. Ich muss das Tanzzelt mieten, jemanden mit der Bewirtung beauftragen, Einladungen drucken lassen …» Dann rückte sie mit einem weiteren Einfall heraus. «Und, Violet, würde es nicht wunderschön aussehen, wenn wir die ganze Auffahrt entlang bis zum Haus Lichterketten anbrächten?»
Es klang alles schrecklich ambitioniert. «Das wird viel Arbeit machen.»
«Halb so schlimm. Die amerikanische Invasion ist bis dahin vorbei, denn nach Ende August kommen keine zahlenden Gäste mehr. Ich kann mich dann richtig auf die Sache konzentrieren. Finden Sie nicht auch, dass es ein guter Plan ist? Überlegen Sie doch nur, wie viele Leute ich damit von meiner Liste streichen kann, die ich hätte längst einladen müssen. Wir können die alle mit einem Schlag abhaken. Unter anderem», fügte sie hinzu, «die Barwells.»
«Ich glaube nicht, dass ich die kenne.»
«Vermutlich nicht. Es sind Geschäftsfreunde von Angus. Wir waren zweimal bei ihnen zum Abendessen eingeladen. Es war so zum Gähnen, dass einem anschließend die Kinnbacken schmerzten. Wir haben die Einladung nie erwidert, einfach, weil uns niemand eingefallen ist, dem wir es zumuten konnten, einen Abend in so unsäglich langweiliger Gesellschaft zu verbringen. Und von der Sorte gibt es noch mehr», sagte sie voll Behagen. «Wenn ich Angus an die erinnere, hat er bestimmt nichts dagegen, ein paar Schecks zu unterschreiben.»
Er tat Violet ein wenig leid. «Wen wollen Sie noch einladen?»
«Ach, alle. Die Millburns, die Ferguson-Crombies, die Buchanan-Wrights, die alte Lady Westerdale und die Brandons. Auch die Staffords. Ihre Kinder sind jetzt erwachsen, die können wir gleich mit einladen. Die Middletons dürften bis dahin aus Hampshire zurück sein, und die Luards aus Gloucestershire. Wir müssen eine Liste machen. Ich werde mir einen Zettel an die Pinnwand in der Küche hängen, und jedes Mal, wenn mir ein Name einfällt, schreibe ich ihn drauf. Und natürlich Sie, Violet. Außerdem Edmund, Virginia und Alexa. Und die Balmerinos. Bestimmt ist Isobel bereit, für einen Teil meiner Gäste eine Abendgesellschaft zu geben.»
Mit einem Mal begann Violet Gefallen an diesem Plan zu finden. Vielleicht war es gar kein schlechter Einfall. Ihre Konzentration ließ nach, ihre Gedanken wandten sich der Vergangenheit zu, vergessenen Ereignissen. Eine Erinnerung führte zur anderen. Ohne darüber nachzudenken, sagte sie mit einem Mal: «Vielleicht sollten Sie auch Pandora eine Einladung schicken», und dann wusste sie beim besten Willen nicht mehr, wie sie auf diesen Vorschlag verfallen war.
«Pandora?»
«Archie Balmerinos Schwester. Bei Gesellschaften fällt einem ganz automatisch Pandora ein. Ach, Sie können sie ja gar nicht kennen.»
«Aber ich habe von ihr gehört. Aus irgendeinem Grund wird ihr Name bei Abendeinladungen immer wieder genannt. Meinen Sie, sie würde kommen? Sie war doch bestimmt seit mehr als zwanzig Jahren nicht mehr daheim?»
«Stimmt. Es war auch nur so ein Einfall. Aber warum sollte man es nicht probieren? Der arme Archie würde davon bestimmt aufblühen. Wenn es irgendwas gibt, das dieses abtrünnige Geschöpf nach Croy zurückbringen könnte, dann die Verlockung eines richtigen Balls.»
«Sie meinen also, ich sollte die Sache in Angriff nehmen, Violet?»
«Ganz und gar, vorausgesetzt, Sie haben die Energie und die Mittel. Ein herrlicher und großzügiger Plan. Es wäre für uns alle ein glänzendes Ereignis, auf das wir uns freuen könnten.»
«Sagen Sie nichts, bis ich Angus rumgekriegt hab.»
«Kein Sterbenswörtchen.»
Verena lächelte zufrieden. Dann kam ihr ein weiterer angenehmer Gedanke. «Außerdem», sagte sie, «liefert mir das einen glänzenden Vorwand, mir ein neues Kleid zu kaufen.»
Solche Schwierigkeiten gab es für Violet nicht. «Ich zieh mein schwarzsamtenes an», erklärte sie.
Donnerstag, der Zwölfte
Die Nacht war kurz, und Noel schlief nicht. Er hatte gehofft, dass er dies eine Mal würde schlafen können. Er war müde. Erschöpft. Drei Tage im für die Jahreszeit heißen New York; Tage, die bis an den Rand mit Besprechungen zum Frühstück, Geschäftsessen zu Mittag, langen Nachmittagen voll heftigen Argumentierens und Diskutierens angefüllt waren, hatten seine Energien aufgezehrt; er hatte zu viel Cola und schwarzen Kaffee getrunken, war auf zu viele Empfänge gegangen, abends zu lange aufgeblieben, zu wenig an die frische Luft gekommen und hatte sich viel zu wenig bewegt.
Jetzt war die Sache unter Dach und Fach. Leicht war es nicht gewesen. Harvey Klein war ein zäher Brocken, und es hatte durchaus Überredungskunst gekostet, ihn davon zu überzeugen, dass die von Noel vorgeschlagene Möglichkeit die beste und eigentlich auch die einzige war, den britischen Markt in die Hand zu bekommen. Die Werbekampagne, deren Entwurf er mit nach New York gebracht hatte, und zu der ein genauer Zeitplan, Mustertexte und Fotos gehörten, war genehmigt und abgesegnet worden. Er hatte den Vertrag in der Tasche und konnte nach London zurückkehren. Nur noch packen, einen letzten Anruf tätigen, Unterlagen und Taschenrechner in den Aktenkoffer stopfen, noch einen Anruf entgegennehmen, nach unten gehen, das Zimmer bezahlen, ein Taxi herbeiwinken und ab zum Kennedy-Flughafen.
Im Abendlicht sah Manhattan feenhaft aus wie immer. Eine Stadt, die nie schlief und in ihrer nassforschen und großzügigen Art alle nur denkbaren Vergnügungen bot.
Bei früheren Besuchen hatte er solche Gelegenheiten bis zur Neige ausgekostet, aber diesmal war es nicht dazu gekommen. So empfand er ein leises Bedauern darüber, dass er mit unerfüllten Wünschen schied, als hole man ihn von einer hinreißenden Party, bevor er auch nur angefangen hatte, sie zu genießen.
Der Taxifahrer setzte ihn vor dem Abfertigungsgebäude der British Airways ab. Noel reihte sich brav in die Schlange ein, wurde abgefertigt, gab seinen Koffer auf, stellte sich in eine weitere Schlange vor der Sicherheitsschleuse und ging schließlich in die Abflughalle. Im zollfreien Laden kaufte er eine Flasche schottischen Whisky und am Zeitungsstand ein Nachrichtenmagazin und eine Fachzeitschrift für Werbeleute. Dann nahm er müde auf einem der Sessel Platz und wartete, dass sein Flug aufgerufen wurde.
Wenborn & Weinburg, die Werbeagentur, für die er arbeitete, hatte ihm die Club-Klasse spendiert, sodass er an seinem Fensterplatz wenigstens die langen Beine ausstrecken konnte. Er zog das Jackett aus und machte es sich gemütlich. Er hätte gern etwas getrunken. Es wäre schön, wenn sich niemand neben ihn setzte, doch schwand diese schwache Hoffnung auch schon dahin, als ein massiger Mann in marineblauem Nadelstreifenanzug den Nachbarsitz belegte, eine Anzahl Gepäckstücke hinter der Klappe des Fachs über ihren Köpfen verstaute und schließlich in den Sessel neben ihm sank.
Der Mann beanspruchte viel Platz. Obwohl es im Flugzeug kühl war, schwitzte er sichtlich. Mit einem seidenen Taschentuch betupfte er sich die Stirn, keuchte und schnaufte, suchte nach seinem Sitzgurt und stieß dabei Noel recht schmerzlich den Ellbogen in die Seite.
«Entschuldigung. Scheint heute Abend voll zu sein.»
Noel wollte mit niemandem reden. Lächelnd nickte er und schlug demonstrativ sein Nachrichtenmagazin auf.
Die Maschine startete. Es gab Cocktails und danach Abendessen. Er hatte keinen Hunger, aß aber trotzdem, um sich die Zeit zu vertreiben. Er hatte sonst nichts zu tun. Der gewaltige Jumbo flog mit monotonem Brummen über den Atlantik. Das Geschirr wurde abgeräumt. Der Film begann. Noel hatte ihn bereits in London gesehen, und so bat er die Stewardess um einen Whisky mit Soda und trank ihn in kleinen Schlucken, wobei er das Glas in der Hand behielt. Die Lichter in der Kabine waren gelöscht, und die Fluggäste richteten sich mit Decken und Kissen für die Nacht ein. Der Dicke neben ihm faltete die Hände über dem Bauch und schnarchte los. Noel schloss die Augen, doch da sie sich anfühlten, als seien sie voll Sand, öffnete er sie wieder. Seine Gedanken jagten einander. Er hatte drei Tage lang unter Hochdruck gearbeitet und sich keine Ruhepause gegönnt. Die Möglichkeit des Vergessens schwand dahin.
Er fragte sich, warum er kein Triumphgefühl darüber empfand, dass er den wertvollen Auftrag bekommen hatte und mit ihm im Sack nach Hause zurückkehrte. Auf das Bild mit dem Sack war er wohl wegen des Firmennamens Saddlebags verfallen, wie Satteltaschen. Saddlebags. Eins jener Wörter, die um so lächerlicher klingen, je öfter man sie sich vorsagt. Aber Saddlebags war in keiner Weise lächerlich, sondern ganz im Gegenteil von größter Bedeutung, nicht nur für Noel Keeling, sondern auch für Wenborn & Weinburg.
Saddlebags. Ein Unternehmen mit Wurzeln im Staat Colorado, von wo aus es sich binnen weniger Jahre mit erstklassigen Lederartikeln für Viehzüchter einen Namen gemacht hatte. Sättel, Lederzeug aller Art, Zügel und Reitstiefel, alles mit dem prestigeträchtigen Markenzeichen eines von einem großen S umschlossenen Hufabdrucks.
Nach bescheidenen Anfängen hatten sich Ruf und Umsatz der Firma im ganzen Land vergrößert, bis sie in Wettbewerb mit allen Konkurrenten trat und sie überflügelte. Sie nahmen andere Artikel mit ins Programm: Koffer, Handtaschen, Modeaccessoires, Schuhe und Stiefel. Alles aus feinstem Leder, Handarbeit, einschließlich der Nähte. Das Markenzeichen Saddlebags wurde zu einem Statussymbol, das es mit Gucci oder Ferragamo aufnehmen konnte und zu dem ein entsprechendes Preisniveau gehörte. Der Ruf verbreitete sich, sodass ausländische Touristen, die ein wahrhaft eindrucksvolles Andenken aus Amerika mit nach Hause bringen wollten, sich für eine Umhängetasche von Saddlebags entschieden oder für einen handgearbeiteten Gürtel mit goldener Schnalle.
Dann kam das Gerücht auf, Saddlebags wolle über ein oder zwei sorgfältig ausgewählte Geschäfte in London auch auf dem britischen Markt tätig werden. Charles Weinburg, Noels Chef, hörte zufällig bei einer privaten Abendgesellschaft in London eine entsprechende Bemerkung und berief am nächsten Morgen Noel, seinen Stellvertreter und Kreativdirektor, zu sich.
«… Ich will diesen Etat auf Biegen und Brechen haben, Noel. Kaum eine Handvoll Menschen hat in diesem Land je von Saddlebags gehört, also braucht die Firma eine Werbekampagne von A bis Z. Ich denke, wir haben die Nase vorn, und ich weiß, dass wir das machen können. Ich habe heute Morgen um fünf mit dem Präsidenten der Firma gesprochen. Der Mann heißt Harvey Klein und sitzt in New York. Er ist mit einer Zusammenkunft einverstanden, möchte aber eine vollständige Präsentation … Druckvorlagen, die Verteilung auf die verschiedenen Medien, flotte Werbesprüche, Farbdoppelseiten, alles. Die Präsentation muss erstklassig sein. Sie haben zwei Wochen Zeit dafür. Sehen Sie zu, dass sich die Leute von der Entwurfsabteilung an die Arbeit machen. Denken Sie sich selbst auch was aus, und sehen Sie um Gottes willen zu, dass Sie einen Fotografen finden, bei dem ein männliches Fotomodell wie ein Mann aussieht und nicht wie eine Schaufensterpuppe. Notfalls besorgen Sie sich einen echten Polo-Spieler. Wenn einer mitmacht, ist mir egal, was wir ihm zahlen müssen …»
Es war nun neun Jahre her, dass Noel Keeling bei Wenborn & Weinburg eingetreten war. Neun Jahre bei ein und demselben Arbeitgeber sind in der Werbebranche eine lange Zeit, und von Zeit zu Zeit wunderte sich Noel selbst über seine außergewöhnliche Firmentreue. Gleichaltrige, die mit ihm zusammen angefangen hatten, waren längst bei anderen Agenturen, sofern sie sich nicht sogar, wie einige Kollegen, selbständig gemacht hatten. Aber Noel war geblieben.
Die Gründe für diese Beständigkeit lagen in erster Linie in seinem Privatleben. Er hatte nach einem oder zwei Jahren durchaus ernsthaft überlegt, ob er die Firma wechseln solle. Er war unruhig, unzufrieden und interessierte sich nicht besonders für seine Arbeit. Er träumte von verlockenden Aufgaben, dachte daran, sich selbständig zu machen, ganz aus der Werbebranche auszuscheiden und sich als Immobilienmakler oder im Warentermingeschäft zu etablieren. Er wusste, dass ihn an der Verwirklichung seiner Pläne, Millionär zu werden, lediglich das fehlende Kapital hinderte. Aber er hatte nun einmal keines, und der Ärger über verpasste Gelegenheiten und ungenutzte Chancen trieb ihn nahezu zur Verzweiflung.
Und dann, vor fünf Jahren, hatten die Dinge eine grundlegende Wende genommen. Er war dreißig, Junggeselle, widmete sich intensiv einer Freundin nach der anderen und wäre nicht im Entferntesten auf den Gedanken gekommen, dieser Zustand des In-den-Tag-hinein-Lebens könne je enden. Doch ganz plötzlich starb seine Mutter, und zum ersten Mal im Leben sah sich Noel im Besitz nicht unbeträchtlicher Mittel.
So unerwartet kam ihr Tod, dass es ihm eine Zeitlang fast unmöglich war, den kalten Tatsachen ins Auge zu sehen und sich einzugestehen, dass sie für immer gegangen war. Zwar hatte er sie auf eine distanzierte und unsentimentale Weise stets gern gehabt, aber im Wesentlichen in ihr eine nie versiegende Quelle für Mahlzeiten, saubere Kleidung, ein behagliches Bett und, wenn es nötig war, auch Aufmunterung gesehen. Außerdem hatte er respektiert, dass sie ihren eigenen Kopf hatte, und zu schätzen gewusst, dass sie sich niemals in sein Privatleben als Erwachsener eingemischt hatte. Doch zugleich hatte ihn ihr von ihm als überspannt empfundenes Verhalten geärgert. Am schlimmsten war ihre Gewohnheit, sich mit den verkommensten Typen zu umgeben. Alle Welt war ihr Freund, doch Noel sah in den Menschen, die sie als ihre Freunde bezeichnete, einen Haufen übler Nassauer. Sie nahm seine zynische Haltung nicht zur Kenntnis, und so sammelten sich alte Jungfern ohne Anhang, alleinstehende Witwen, brotlose Künstler und arbeitslose Schauspieler um sie wie Motten um eine Kerzenflamme. Er betrachtete ihre jedermann gegenüber an den Tag gelegte Großzügigkeit als unüberlegt und selbstsüchtig, denn für die Dinge im Leben, die Noel als vorrangig ansah, schien nie Geld da zu sein.
Diese Großzügigkeit, mit der sie gab, ohne nachzudenken, spiegelte sich auch in ihrem Testament. So hinterließ sie einem jungen Mann, der mit der Familie nichts zu tun und den sie unter ihre Fittiche genommen hatte, weil sie ihm helfen wollte, aus welchem Grund auch immer, einen ansehnlichen Betrag.
Für Noel war das ein herber Schlag. Tief in seinen Empfindungen sowie seinem Geldbeutel getroffen, verzehrte ihn ein ohnmächtiger Zorn. Es war sinnlos, zu wüten, denn seine Mutter war nicht mehr da. Er konnte sich mit ihr nicht auseinandersetzen, ihr keine mangelnde Treue der Familie gegenüber vorwerfen und sie fragen, was zum Teufel sie sich dabei eigentlich gedacht habe. Sie hatte sich seinem Zugriff entzogen. Er stellte sich vor, wie sie seinem Zorn unerreichbar, jenseits einer tiefen Kluft oder eines unüberwindlichen Flusses saß, inmitten von Sonnenschein, Feldern, Bäumen. Wahrscheinlich lachte sie auf ihre sanfte Weise über ihren Sohn, der Anflug eines belustigten Lächelns lag um ihre Augen, und wie stets war sie von seinen Forderungen und Vorwürfen unbeeindruckt.
Da es nur noch zwei Schwestern gab, denen er Kummer bereiten konnte, kehrte er der Familie den Rücken und konzentrierte sich auf das einzige beständige Element, das ihm im Leben geblieben war, seine Arbeit. Eigentlich eher zu seiner Überraschung und zum Erstaunen seiner Vorgesetzten entdeckte er, gerade rechtzeitig, dass ihn die Werbung nicht nur interessierte, sondern er auf diesem Gebiet sogar Besonderes zu leisten vermochte. Bis die Nachlassangelegenheiten seiner Mutter geregelt waren und er seinen Anteil auf der Bank in Sicherheit gebracht hatte, waren all seine jugendlichen Phantasievorstellungen von gewaltigen Spieleinsätzen und schnellem Gewinn auf immer zerstoben. Außerdem begriff er, dass es einen grundsätzlichen Unterschied machte, ob man mit dem unter Umständen vorhandenen Vermögen anderer Geld verdiente oder sich von seinem eigenen Geld trennte. Er entwickelte seinem Bankkonto gegenüber Beschützerinstinkte, als handle es sich dabei um ein Kind, und er war nicht bereit, dessen Sicherheit aufs Spiel zu setzen. So kaufte er ein vergleichsweise bescheidenes neues Auto und streckte vorsichtig seine Fühler aus, um zu erkunden, wo er künftig leben wolle …
Das Leben ging weiter. Doch die Jugend war vorüber, und alles hatte sich geändert. Während er sich allmählich damit abfand, merkte er, dass er nicht imstande war, den Groll gegen seine Mutter aufrechtzuerhalten. Es war viel zu erschöpfend, sinnlose Vorhaltungen mit sich herumzuschleppen. Schließlich musste er sich eingestehen, dass er gar nicht so schlecht gefahren war. Außerdem fehlte sie ihm. Während der letzten Jahre hatte er sie, die in den Tiefen der Grafschaft Gloucestershire hauste, nur selten gesehen, aber immerhin war sie da gewesen. Er hatte sie anrufen und zu ihr fahren können, wenn er Londons heiße Straßen im Sommer nicht länger ertragen zu können glaubte, auch wenn es eine lange Fahrt gewesen war. Es hatte ihr nie etwas ausgemacht, ob er allein kam oder über das Wochenende ein halbes Dutzend Freunde mitbrachte. Sie hatte für alle Platz, hieß jeden freundlich willkommen und versorgte ihre Gäste glänzend. Jeder konnte tun und lassen, was ihm passte. Es gab flackernde Kaminfeuer, duftende Blumen, ein warmes Bad, behagliche Betten, erstklassige Weine und eine ungezwungene Unterhaltung.
Alles dahingegangen. Haus und Garten waren an Fremde verkauft. Der warme Duft der Küche und das angenehme Gefühl, dass sich jemand um alles kümmerte und man selbst nicht die kleinste Entscheidung zu treffen brauchte. Dahingegangen war auch der einzige Mensch auf der Welt, dem gegenüber er sich nie hatte verstellen oder als etwas erscheinen müssen, was er nicht war. So aufreizend und kapriziös sie ihm erschienen war, das Leben ohne sie kam ihm vor wie eins, in dessen Mitte sich ein gewaltiges Loch auftat.
Alles schien so lange her zu sein. Eine andere Welt. Er hatte seinen Whisky ausgetrunken und starrte in die Dunkelheit hinaus. Ihm fiel ein, wie er als kleiner Junge Masern hatte und ihm die Nächte der Krankheit so lang vorgekommen waren wie ein Leben. Jede Minute hatte eine Stunde gedauert, und die Morgendämmerung war eine Ewigkeit entfernt gewesen.
Jetzt, dreißig Jahre später, sah er den Himmel heller werden, die Sonne glitt hinter dem trügerischen Wolkenhorizont herauf, alles wurde rosa, und das Licht schmerzte in den Augen. Er sah in die Dämmerung, er musste nicht mehr versuchen einzuschlafen. Um ihn herum regten sich Menschen. Die Kabinenbesatzung brachte Orangensaft und dampfend heiße Tücher. Während er sich damit über das Gesicht wischte, spürte er die Stoppeln an seinem Kinn. Andere Männer machten sich mit ihrem Rasierzeug auf den Weg zur Toilette – Noel blieb, wie er war.
Drei Stunden später war er daheim. Müde, ungewaschen und zerknittert stieg er aus dem Taxi und entlohnte den Fahrer. Die Morgenluft war nach New Yorks Schwüle himmlisch kühl, und leichter Nieselregen fiel. Die Bäume am Pembroke Square grünten, die Gehsteige waren nass. Er roch die Frische in der Luft, blieb, als das Taxi davonfuhr, einen Augenblick lang stehen und überlegte, ob er den Tag nicht allein verbringen, sich ein wenig erholen sollte. Ein Nickerchen machen, einen langen Spaziergang. Aber es gab Arbeit. Die Firma wartete, sein Chef. Er nahm Koffer und Aktenkoffer, ging die kleine Treppe zum Eingang des Gebäudes hinab und schloss die Tür zu seiner Wohnung auf.
Da im hinteren Teil Fenstertüren auf einen winzigen Innenhof gingen, seinen Anteil am Garten des großen Hauses, wurde sie als Gartenwohnung bezeichnet. Abends bekam sie Sonne, doch zu dieser frühen Stunde lag der Innenhof im Schatten, und die Katze von oben hatte es sich in einem seiner Liegestühle bequem gemacht, vermutlich hatte sie die Nacht darin verbracht.
Die Wohnung war nicht groß, aber geräumig. Wohnzimmer, Schlafzimmer mit Doppelbett, eine kleine Küche und ein Bad. Übernachtungsbesuch musste mit dem Klappsofa vorliebnehmen, ein schwierig zu handhabendes Möbel, das sich in eine Doppelliege verwandeln ließ, wenn man die Sache entschlossen anging. Mrs. Muspratt, seine Putzfrau, war wohl da gewesen, alles war sauber und ordentlich. Doch die Räume wirkten stickig und dumpf.
Er öffnete die Fenstertüren und verscheuchte die Katze. Im Schlafzimmer öffnete er den Reißverschluss des Koffers und nahm seinen Waschbeutel heraus. Während er sich auszog, ließ er die schmutzigen und zerknautschten Kleidungsstücke zu Boden fallen. Im Bad putzte er sich die Zähne, nahm eine brühheiße Dusche und rasierte sich. Was er jetzt mehr als alles andere brauchte, war ein starker Kaffee. Barfuß tappte er im Morgenmantel in die Küche, ließ Wasser in den elektrischen Kessel laufen, schaltete ihn ein und löffelte Kaffeepulver in seinen Filtertopf. Allein schon der Geruch war köstlich und herzerquickend. Während der Kaffee durchlief, holte er die Post herein, setzte sich an den Küchentisch und sah die Umschläge durch. Nichts schien besonders dringend. Dann fiel sein Blick auf eine grellbunte Ansichtskarte aus Gibraltar. Er drehte sie um. Sie war in London abgestempelt und kam von der Frau Hugh Penningtons, eines Schulfreundes, der in der Ovington Street wohnte.
«Noel, ich habe immer wieder versucht, Dich anzurufen. Wenn wir nichts von Dir hören, erwarten wir Dich am 13. um 19 Uhr 30 zum Dinner. Wir werden zu acht sein. Straßenanzug.
Liebe Grüße, Delia.»
Er seufzte. Heute Abend also. Wenn wir nichts von dir hören. Na schön, vielleicht hatte er bis dahin ja seine Energien wieder beisammen. Außerdem wäre es unterhaltsamer als fernsehen. Er ließ die Karte auf den Tisch fallen, stand schwerfällig auf und goss sich den Kaffee ein.
Den größten Teil des Tages im Büro eingesperrt, hatte Noel nichts vom Leben außerhalb mitbekommen. Als er schließlich hinausging und im Schneckentempo des Stoßverkehrs heimwärts fuhr, sah er, dass eine Brise den Regen vom Vormittag fortgeblasen hatte. Es war ein vollkommener Maiabend. Er befand sich jetzt im Stadium jenseits der Erschöpfung, in dem alles hell und klar und merkwürdig körperlos ist und die Aussicht auf Schlaf so fern scheint wie der Tod. Stattdessen erneut unter die Dusche, umziehen und ein kräftigender Schluck. Den Wagen würde er stehen lassen und zu Fuß zu den Penningtons gehen. Die frische Luft und die Bewegung würden seinen Appetit für das köstliche Mahl, das ihn gewiss erwartete, anregen. Er konnte sich kaum erinnern, wann er sich zuletzt zu Tisch gesetzt und etwas gegessen hatte, das kein belegtes Brot war.
Zu Fuß zu gehen war ein guter Einfall gewesen. Er schlenderte durch belaubte Nebenstraßen, vorbei an Reihenhäusern und Gärten, in denen Magnolien aufbrachen und Glyzinien an den Fassaden teurer Londoner Häuser emporrankten. Er bog in die Brompton Road ein, überquerte sie am Michelin-Gebäude und ging zur Walton Street weiter. Dort verlangsamte er den Schritt vor den verlockenden Schaufenstern einer Kunstgalerie, die Gemälde und Drucke mit Sportmotiven verkaufte und zugleich Muster exquisiter Innendekoration zeigte. Schon seit einer Weile stach ihm ein Thorburn ins Auge. Er blieb länger stehen, als er beabsichtigt hatte, und betrachtete das Bild. Vielleicht würde er am nächsten Morgen bei den Leuten anrufen und sich nach dem Preis erkundigen. Nach einer Weile ging er weiter.
Als er in der Ovington Street eintraf, war es fünf Minuten nach halb acht. Zu beiden Seiten der Straße standen die Wagen der Anwohner dicht geparkt, und einige größere Kinder fuhren mit ihren Rädern auf der Fahrbahn hin und her. Das Haus der Penningtons lag etwa in der Mitte der Häuserzeile. Auf dem Weg dorthin kam ihm auf seiner Seite des Gehsteigs eine junge Frau mit einem kleinen weißen Scottish Terrier an der Leine entgegen. Vermutlich war sie auf dem Weg zum Briefkasten, denn sie hielt einen Brief in der Hand. Er musterte sie flüchtig. Sie war weder hochgewachsen noch besonders schlank, trug Jeans und ein graues Sweatshirt, und ihr Haar hatte die Farbe exquisitester Orangenmarmelade. Eigentlich entsprach sie in keiner Weise Noels Typ, dennoch sah er ihr nach, weil ihm irgendetwas an ihr bekannt vorkam und er nicht recht wusste, wo er sie schon einmal gesehen haben mochte. Vielleicht bei irgendeiner Einladung. Die Haarfarbe hätte ihm auffallen müssen …
Er war vom Gehen müde und merkte, dass er dringend etwas zu trinken brauchte. Angesichts der Genüsse, die ihn erwarteten, wandte er seine Gedanken von der jungen Frau ab, ging die Stufen zur Haustür empor und drückte der Form halber auf den Klingelknopf. Dann drehte er den Türknauf, bereit, mit einem Gruß auf den Lippen einzutreten. ‹Hallo. Delia, da bin ich.›
Aber nichts geschah. Die Tür blieb fest geschlossen. Sonderbar und ungewöhnlich. Da Delia wusste, dass er kommen würde, hätte sie die Tür bestimmt nicht abgeschlossen. Er klingelte erneut und wartete.
Weiterhin Stille. Nichts rührte sich. Sie mussten da sein. Aber er wusste bereits mit erschreckender Gewissheit, dass niemand an die Tür kommen würde. Die verdammten Penningtons waren nicht zu Hause.
«Hallo.»
Unter ihm stand auf dem Gehsteig die pummelige junge Frau mit ihrem Hund, vom Briefkasten zurück.
«Hallo.»
«Wollen Sie zu den Penningtons?»
«Ich bin zum Abendessen eingeladen.»
«Sie sind nicht da. Ich hab sie mit dem Auto wegfahren sehen.»
In trübsinnigem Schweigen verdaute Noel diese unwillkommene Bestätigung dessen, was er bereits wusste. Enttäuscht und im Stich gelassen, empfand er der jungen Frau gegenüber schlechte Laune, wie das so ist, wenn uns jemand etwas Unangenehmes mitteilt. Ihm kam der Gedanke, dass im Mittelalter das Leben von Boten wohl kein Zuckerlecken gewesen war. Immerhin bestand die große Wahrscheinlichkeit, dass man plötzlich keinen Kopf mehr hatte oder als menschliche Kanonenkugel für irgendein riesiges Katapult ausersehen wurde.
Er wartete, dass sie ging. Sie tat nichts dergleichen. Mist, dachte er. Dann steckte er schicksalsergeben die Hände in die Taschen und ging die Vortreppe hinab zu ihr.
Sie biss sich auf die Lippe. «So ein Ärger. Es ist wirklich schlimm, wenn einem so was passiert.»
«Ich habe keine Ahnung, was da schiefgegangen sein kann.»
«Noch schlimmer ist es», sagte sie mit dem Ton eines Menschen, der entschlossen ist, das Positive zu sehen, «wenn man am falschen Tag kommt und einen kein Mensch erwartet. Das ist mir mal passiert. Es war entsetzlich peinlich. Ich hatte einfach den Tag verwechselt.»
Es nützte nichts. «Ich vermute, Sie glauben, dass ich den Tag verwechselt habe.»
«Es passiert leicht.»
«Diesmal nicht. Ich habe die Postkarte heute Morgen bekommen. Der Dreizehnte.»
Sie sagte: «Aber heute ist der Zwölfte.»
«Ist es nicht.» Er war seiner Sache sicher. «Es ist der Dreizehnte.»
«Es tut mir wirklich leid, aber heute ist der Zwölfte. Donnerstag, der zwölfte Mai.» Ihre Stimme klang, als ob sie sich entschuldigen wolle, weil das Versehen ihre Schuld sei. «Der Dreizehnte ist morgen.»
Schritt für Schritt vollzog sein benommenes Gehirn die Berechnung nach. Dienstag, Mittwoch … Der Teufel soll sie holen, sie hat recht. Die Tage waren ineinander verlaufen, und irgendwo hatte er die Übersicht verloren. Er kam sich entsetzlich töricht vor und suchte deshalb sofort Entschuldigungen für seine eigene Dummheit.
«Ich hatte zu tun. War in New York. Die ganze Zeit im Flugzeug. Bin heute Morgen zurückgekommen. Die Zeitverschiebung nimmt einen entsetzlich mit. Das Gehirn wird einem ganz matschig.»
Sie machte ein mitfühlendes Gesicht. Ihr Hund schnüffelte an seiner Hose herum, und er trat beiseite, weil er nicht wollte, dass das Tier sein Bein an ihm hob. Ihr Haar wirkte im abendlichen Sonnenlicht verblüffend. Sie hatte mit grünlichen Pünktchen durchsetzte graue Augen und eine milchweiße Haut, sanft wie ein Pfirsich.
Irgendwo? Aber wo?
Er runzelte die Stirn. «Sind wir uns nicht schon mal begegnet?»
Sie lächelte. «Doch, ja. Vor etwa einem halben Jahr. Bei einer Cocktailgesellschaft. Die Hathaways in der Lincoln Street. Aber da waren irrsinnig viele Leute, und deswegen ist es verständlich, wenn Sie sich nicht erinnern.»
Er erinnerte sich tatsächlich nicht. Auf keinen Fall war sie die Art Frau, die ihm besonders auffallen würde, mit der er ein Gespräch führen oder zusammen sein wollte. Außerdem war er mit Vanessa dort gewesen und hatte den größten Teil des Abends mit dem Versuch verbracht, ihr auf der Spur zu bleiben und sie davon abzuhalten, sich mit einem anderen zum Abendessen zu verabreden.
Er sagte: «Wie sonderbar. Es tut mir leid. Wirklich bemerkenswert, dass Sie sich an mich erinnern.»
«Nun, ich habe Sie eigentlich noch mal gesehen.» Sein Herz sank, denn er fürchtete eines weiteren Fauxpas überführt zu werden. «Sie arbeiten für die Werbeagentur Wenborn und Weinburg, nicht wahr? Für die hab ich vor etwa sechs Wochen einen Direktoriums-Lunch gemacht. Wahrscheinlich haben Sie mich nicht bemerkt, denn ich hatte einen weißen Overall an und habe Platten rumgereicht. Auf Leute, die kochen und servieren, achtet nie jemand. Es ist ein merkwürdiges Gefühl, so, als wäre man unsichtbar.»
Inzwischen etwas freundlicher, fragte er sie nach ihrem Namen.
«Alexa Aird.»
«Noel Keeling.»
«Ich weiß. Ich kannte den Namen noch von der Einladung bei den Hathaways, und für den Lunch musste ich die Sitzordnung machen und die Namen der Gäste auf die Tischkarten schreiben.»
Noel ließ seine Gedanken zu jenem Tag zurückkehren und erinnerte sich recht genau an die Mahlzeit, die sie zubereitet hatte. Räucherlachs, ein erstklassig gegrilltes Filetsteak, Kressesalat und Limonensorbet. Beim bloßen Gedanken an diese Köstlichkeiten lief ihm das Wasser im Munde zusammen. Dabei kam ihm zu Bewusstsein, dass er entsetzlichen Hunger hatte.
«Für wen arbeiten Sie?»
«Auf eigene Rechnung. Ich bin selbständig.» Sie sagte das mit einem gewissen Stolz. Noel hoffte, dass sie jetzt nicht die Geschichte ihres beruflichen Werdegangs auspacken würde. Sich den anzuhören wäre über seine Kräfte gegangen. Er musste etwas essen, vor allem aber etwas trinken. Er musste irgendeine Ausrede finden, um sich verabschieden zu können und sie loszuwerden. Gerade, als er den Mund öffnete, um damit anzufangen, sagte sie: «Sie haben wohl keine Zeit, mitzukommen und mit mir was zu trinken?»
Die Einladung kam so unerwartet, dass er nicht sogleich antwortete. Er sah sie an, bemerkte ihren besorgten Blick und begriff, dass sie in Wirklichkeit äußerst schüchtern war und der Vorschlag sie wohl große Überwindung gekostet hatte. Außerdem war er nicht sicher, ob die Einladung für die nächste Kneipe galt oder er in irgendeine heruntergekommene Dachwohnung mitgeschleppt werden sollte, in der sie zusammen mit mehreren Kolleginnen hauste, von denen sich eine garantiert gerade die Haare gewaschen hatte.
Es hatte keinen Sinn, sich vorzeitig festzulegen. «Wo?», fragte er vorsichtig.
«Ich wohne zwei Häuser neben den Penningtons. Und Sie sehen aus wie jemand, der einen Schluck brauchen kann.»
Er warf sein Misstrauen über Bord. «Stimmt.»
«Nichts ist schlimmer, als zur falschen Zeit am falschen Ort anzukommen und zu wissen, dass man selbst schuld ist.»
Zwar hätte man das auch taktvoller sagen können, aber sie schien ein warmherziger Mensch zu sein. «Das ist wirklich sehr freundlich von Ihnen.» Er entschied sich, ihr Angebot anzunehmen.
Das Haus sah dem der Penningtons zum Verwechseln ähnlich, nur dass die Haustür nicht schwarz war, sondern dunkelblau und daneben in einem Kübel ein Lorbeerbäumchen stand. Die junge Frau ging ihm voraus, schloss auf, und er folgte ihr ins Haus. Sie schloss die Tür hinter ihnen und bückte sich dann, um die Leine ihres kleinen Hundes zu lösen. Dieser machte sich unverzüglich daran, aus einem gleich neben der Treppe stehenden Napf mit der Aufschrift DOG reichlich Wasser zu schlappen.
Sie sagte: «Das macht er immer so, wenn er reinkommt. Wahrscheinlich glaubt er, dass er einen schrecklich langen Spaziergang gemacht hat.»
«Wie heißt er?»
«Larry.»
Der Hund füllte mit seinem lauten Schlappen die Stille, denn zum ersten Mal im Leben wusste Noel Keeling nicht, was er sagen sollte.