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Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg, Juli 2014

Copyright © 2014 by Rowohlt Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg

Karte auf Seite 8-9 der Printausgabe © Peter Palm

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Umschlaggestaltung any.way, Cathrin Günther

(Abbildung: akg-images/Erich Lessing)

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ISBN 978-3-644-51621-2

www.rowohlt.de

ISBN 978-3-644-51621-2

Im Gedenken

an Wilhelmine Meyer

Aus Snorris Königsbuch I

Kühneren Jarl wir kennen keinen unter des Mondes Steg.

Hoch fliegt im Ansehen der Mäster von Odins Vogel.

Und es laben sich die Raben am Fleisch der Leichen!

Herbst–Winter 965

1.

Am Abend sah Ospak den Raben wieder.

Seit dem Morgen verfolgte der Vogel die beiden Schiffe, die zwischen der Küste und den Inseln nach Süden fuhren: ein großes, breites Handelsschiff, die knörr, sowie ein gut einhundert Fuß langes, schmales langskip – ein Langschiff mit niedrigen Bordwänden, hoch aufgezogenen Steven und vierzig Riemenpaaren. An Bord der Schiffe waren achtzig Männer, die meisten stammten aus dem Rogaland, und sie waren mit Schwertern, Äxten, Messern und Speeren bewaffnet. Der König hatte Ospak bei der Auswahl der Mannschaft freie Hand gelassen. Nur die besten Seeleute hatte er mitgenommen – erfahrene Rogaländer, aber auch einige dänische Söldner, die ihr Handwerk verstanden: nicht nur die Seefahrt, sondern auch das Kämpfen und Töten.

Ospak stand am Ruder des Handelsschiffs. Er war ein hochgewachsener Mann mit breiten Schultern und vernarbtem Gesicht. Seine Miene war finster und steif wie eine Frostnacht, sein Bart zu zwei Zöpfen geflochten.

Sein Blick war auf den schwarzen Punkt gerichtet, der sich aus Richtung einer der Inseln den Schiffen näherte. Er glitt über die vom rötlichen Abendlicht gefluteten Wellenkämme dahin wie ein Bote des Todes.

«Verdammter Vogel!», knurrte Ospak.

Er spuckte aus. Aber eine Böe trieb die Spucke zurück vor Ospaks Stiefel.

Der Vogel war so nah herangekommen, dass seine

Irgendetwas stimmte nicht. Niemals zuvor hatte Ospak einen Raben so weit vor der Küste gesehen. Dabei kannte er alle Fjorde und Buchten am Nordweg von Lidandisnes im Süden bis hinauf in den Norden zu den Ländern, in denen das Eis niemals wich und wo die Stämme der Terfinnen und Samen lebten.

In den Felsformationen las Ospak wie die Munkis, die Christen, in ihren Büchern.

Vom hohen Norden aus hatten sich die Seeleute vor fünf Tagen auf den Rückweg gemacht und nun die unteren Ausläufer des Halogalands erreicht. Ihr Ziel war der Hof Ögvaldsnes im Rogaland, auf dem König Harald Eiriksson, genannt gráfeldr, Graufell, mit seiner Sippe lebte.

Die Schiffsladung bestand aus Walrosshäuten, Rentierfleisch, Federn und Otterfellen – und aus dem, was unter den Planken zu Ospaks Füßen versteckt war. Nur er wusste davon. Niemand sonst durfte es sehen. So lautete der Befehl des Königs, und Ospak würde ihn ausführen. Würde die geheime Ladung abliefern, um den Rest des Lohns zu bekommen, den Lohn für sein Schweigen.

Er rief einen der Männer, die das Rahsegel im Wind hielten, zu sich. Der Kerl hieß Kjallak, ein Mann mittleren Alters mit wettergegerbter Haut, die sich über den Wangenknochen spannte. Nachdem er Kjallak das Ruder übergeben hatte, ging Ospak zu einem der mit Steinen gefüllten Eimer, die unterhalb der Bordwand standen. Die Steine dienten zum Beschweren der Schiffe, wurden bei einem Angriff aber auch zur Verteidigung genutzt. Ospak wählte einen faustgroßen Stein aus und richtete sich wieder auf.

Komm schon, dachte er. Komm näher, verfluchter Vogel!

Nicht weit von der Knörr entfernt segelte der Rabe über die aufblitzenden Wellenkämme dahin.

Ospak kannte keine Furcht. Er hatte viele Kämpfe ausgetragen. Nicht ohne Grund hatte der König ihn mit der Führung der Reise betraut, von der offenbar viel abhing. Was genau das war, wusste Ospak nicht, und er wollte es auch gar nicht wissen. Er kümmerte sich um seine Angelegenheiten, und die betrafen ausschließlich das Geld, das der König ihm versprochen hatte. Und diesen aufdringlichen Vogel, der Ospak unruhig machte.

Er hob den Stein.

«Den triffst du nicht …», hörte er Kjallak sagen.

Ospak richtete seine Konzentration auf den Raben.

«… aber solltest du ihn doch treffen, bezahl ich deine nächste Hure!»

«Halt den Mund!», knurrte Ospak und holte aus.

Der Stein schoss auf den Raben zu, verfehlte ihn jedoch um Haaresbreite, als der Vogel die Flügel durchschlug und sich in die Höhe schwang. Der Stein platschte ins Wasser.

Kjallak lachte kurz, verstummte aber sofort wieder.

Der Rabe schwang sich im steilen Flug höher und höher hinauf, als wollte er in den Wolken verschwinden, die der Wind vom offenen Meer über die Inseln und das Land trieb.

Mit einem Mal musste Ospak an den Göttervater Odin denken und an die beiden Raben, Hugin und Munin, die Odin berichteten, was auf der Welt vor sich ging. Ein Schauer lief ihm über den Rücken. Was, wenn dieser Rabe einer von Odins Boten war? Wenn Ospak zu weit gegangen war und sich den Zorn des Allvaters zugezogen hatte?

Beim Gedanken an Odins Raben beschlichen ihn jedoch leise Zweifel.

Der Vogel tauchte in eine Wolke ein, die sich grau und schwer am Himmel ballte. Ospak wollte sich abwenden, um das Ruder wieder zu übernehmen, als er den Vogel zurückkommen sah. Und wie er zurückkam! Im Sturzflug schoss er mit angelegten Flügeln vom Himmel herab wie Gungnir, Odins Speer. Schnell kam er näher und näher …

Unwillkürlich hob Ospak die Hände.

Kjallak stöhnte laut auf, auch die anderen Männer an Bord waren nun auf den Raben aufmerksam geworden. Sie drehten die Köpfe und riefen laut durcheinander. Jemand musste eines der Seile losgelassen haben. Das Segel drehte sich und schlug hart im Wind.

Ospak hatte nur Augen für das, was vom Himmel auf ihn herabstürzte. Den Kopf tief in den Nacken gelegt, starrte er fassungslos nach oben.

«Was soll das?», hörte er Kjallaks verwirrte Stimme. «Was soll …»

Und dann griff der Rabe an. Jagte mit angelegten Flügeln auf Ospak zu, der den Schnabel wie eine Lanzenspitze auf sich zurasen sah. Er stieß einen Schrei aus und streckte die Hände hoch, um den Angriff abzuwehren oder zumindest den Aufschlag zu dämpfen.

Doch im letzten Moment spannte der Rabe seine Flügel auf

Ospak atmete aus. «Das Vieh hätte ich gerupft wie ein Huhn …», sagte er zu Kjallak, als ihm mit einem Mal die Worte im Halse stecken blieben.

Hinter der Insel kamen zwei Schiffe hervor, Drachenschiffe, dreki, deren Vordersteven mit holzgeschnitzten Drachenhäuptern gekrönt waren. Ihre Segel waren dunkel, und sie näherten sich schnell.

 

Ospak rief die Männer zu den Waffen. Er hatte in all den Jahren, in denen er den Nordweg bereiste, mehrere Angriffe von Seeräubern abgewehrt, und das würde er auch dieses Mal tun. Diese Narren hatten ja keine Ahnung, mit wem sie sich anlegten.

Auch auf dem Langschiff, das der König ihnen zum Schutz mitgegeben hatte, machten sich die Männer kampfbereit. Ospaks Herz trommelte vor Aufregung. Er würde die Dreckskerle dorthin schicken, wo sie hingehörten: in die Tiefen des Meeres.

Er schätzte, dass die beiden Drachenschiffe mit kaum mehr als sechzig Männern besetzt waren, also gut zwanzig weniger, als er bei sich hatte. Aber das war nur das eine, das ihn siegessicher machte. Das andere war die Schlagkraft seiner Mannschaft. Seeräuber waren zwar wilde Kerle, die gnadenlos kämpften und töteten. Aber es waren meist verwahrloste, hungrige Burschen, die aus der Not heraus handelten und häufig mit schlechten Waffen ausgerüstet waren. Normalerweise überfielen diese Bastarde ungeschützte Händler und hielten sich von Kriegsschiffen fern.

Nur Verrückte wie diese hier wagten es, in Unterzahl eine hochgerüstete Truppe anzugreifen, und Ospak musste bei dem Gedanken, wie er mit diesen lebensmüden Kerlen kurzen Prozess machen würde, grinsen.

Er rief den Männern auf dem Langschiff zu, das Segel einzuholen und längsseits zur Knörr zu kommen, auf der ebenfalls das Segel eingeholt wurde. Dann richteten sie die Schiffe so aus, dass die Inseln und die Angreifer vor ihnen und das Festland hinter ihnen war. Als die beiden Schiffe nebeneinanderlagen, band man die Vordersteven mit Seilen aneinander. Die Schiffe bildeten nun eine Einheit, an der sich die Seeräuber die Zähne ausbeißen sollten.

Ospaks Männer setzten Helme auf, nahmen Schilde von den Bordwänden und Äxte, Schwerter und Speere zur Hand. Sie waren bereit zum Töten.

Mit Schild und Beil bewaffnet, stapfte Ospak nach vorn in den Bug. Er sah, dass die Angreifer noch etwa zehn Schiffslängen entfernt waren. Einige seiner Krieger hatten Steine in den Händen und lachten, als sie auf die anderen Schiffe zeigten.

Auch die Angreifer holten ihre Segel ein. Die Fahrt der Drachenschiffe verlangsamte sich, bis sie schließlich nur noch in den Wellen dümpelten.

«Die haben die Hosen voll», bemerkte Kjallak, der, gerüstet mit Speer, Schild und Helm, neben Ospak getreten war.

«Dann greifen wir sie an!», rief ein Mann. «Lasst uns die Bastarde aufschlitzen!»

Gelächter wurde laut.

«Ruhe!», brüllte Ospak.

Da war etwas, das ihm merkwürdig vorkam. Die Seeräuber mochten nicht die hellsten Köpfe sein. Aber so dumm, dass sie

Die Wikinger hatten inzwischen die Riemen ausgelegt, ruderten aber nicht und machten auch sonst keine Anstalten, sich weiter zu nähern. Sie schienen auf etwas zu warten, und je länger sie das taten, desto unruhiger wurde Ospak.

Sie belauern uns, dachte er.

Er drehte sich um und schätzte die Entfernung zum Festland ab. Noch gut eine halbe Meile, aber die Strömung drückte sie unaufhörlich gegen die Küste, deren zerklüftete Felshänge steil aus dem Wasser ragten.

Ospak beschloss zu handeln. Er wollte gerade den Befehl geben, die Seile an den Steven wieder zu lösen, um die Seeräuber anzugreifen, als er sah, wie die Riemen der Drachenschiffe ins Wasser tauchten.

Dann war plötzlich der Rabe wieder da. Ospak hatte ihn in der Aufregung vollkommen vergessen. Der Vogel erhob sich von einem der Drachenschiffe und kam zu Ospaks Schiffen herübergeflogen. Er kreiste um die Masten und ließ eine Ladung Kot regnen, die einem Mann ins Gesicht klatschte.

«Schicken wir die Bastarde in die Hölle», knurrte Kjallak.

Ospak reagierte nicht. Er beobachtete, wie der Rabe zu einem der Drachenschiffe zurückflog und auf der Schulter eines Mannes am Vordersteven landete. Der Dreki war auf gut drei, vier Schiffslängen herangekommen. Ospak starrte den Kerl mit dem Raben an, und mit einem Mal löste sich seine Gewissheit über einen sicheren Sieg in Nichts auf.

Allmächtiger! Nun wusste er, mit welchem Feind er es zu tun hatte!

Schweißperlen traten auf seine Stirn. Als er sie wegwischte, fiel ihm ein, dass er es im Überschwang nicht für nötig gehalten hatte, seinen Helm aufzusetzen.

Ospak war diesem Feind niemals zuvor begegnet. Aber er kannte die Geschichten über ihn. Jeder Mann im Norden hatte von ihm gehört und gab die Geschichten weiter – die Schauergeschichten vom dunklen Krieger, dem Jarl von Hladir, der die alten Götter anbetete und mit bösen Mächten im Bunde stand.

Ospak griff nach dem Kreuz auf seiner Brust. Nun verstand er, warum der Rabe ihn so nervös gemacht hatte, und er fragte sich, warum er nicht gleich stutzig geworden war. In den Geschichten über den Jarl wurde auch über den Vogel gesprochen. Den Höllenvogel!

Der Jarl stand regungslos am Steven, die rechte Hand am Drachenkopf. Er hatte den dunklen Mantel hinter das Schwert zurückgeschlagen, das in einer Scheide steckte und von dessen Klinge an den Feuern zwischen Raumsdal, Sogn und dem Rogaland voller Ehrfurcht gesprochen wurde.

Der Jarl war der Erzfeind des Königs! Seit vielen Jahren bekämpften sich die Familien der Throender, zu denen der Jarl gehörte, und jene des Königs. In den Ländern des Nordens gab es kaum eine Sippe, die keine Opfer aus den Kämpfen zu beklagen hatte.

Eine Böe jagte über das Wasser und peitschte die schäumenden Wellen. Der Wind fuhr ins schwarze Haar des Jarls und wirbelte es durcheinander. Ospak spürte kühle, feuchte Gischt auf seinem Gesicht.

«Macht euch bereit!», flüsterte er heiser.

Kjallak drehte sich zu ihm um. «Was hast du gesagt?»

Ospak streckte den Rücken durch, ballte die Fäuste und rief: «Macht euch bereit, den Hundesöhnen die Kehlen durchzuschneiden!»

Die Männer johlten und hämmerten mit Beilen und Schwertgriffen gegen ihre Schilde. Außer Ospak schien niemand den Jarl

Die Wikinger zogen die Riemen nicht voll durch und legten beim Rudern längere Pausen ein. Es schien, als würde der Jarl noch immer auf etwas warten.

Da wurde Ospak mit einem Mal klar, was das war. Er wirbelte herum – und tatsächlich: Von achtern hatte sich ein drittes Drachenschiff genähert, das mit weiteren dreißig oder vierzig Männern besetzt war. Damit waren die Angreifer nicht nur in der Überzahl – unter den Feinden waren auch noch jede Menge Bogenschützen.

Sie waren dem Jarl in die Falle gegangen! Natürlich griff der Kerl nicht unüberlegt an oder überließ das Schicksal dem Zufall. Er war ein gottverdammter Krieger.

Aber auch Ospak war ein Krieger.

Rasch schickte er einen Teil seiner Männer auf die Hinterschiffe, damit sie mit ihren Schilden die Pfeile abwehrten. Doch der Dreki hatte bereits beigedreht, und gut zwei Dutzend Krieger spannten die Bögen und schossen. Die Pfeile erhoben sich in die Luft, senkten sich auf dem höchsten Punkt ihrer Flugbahn und prasselten kurz darauf als tödlicher Hagelschauer auf die Knörr und das Langschiff.

Ospak sah einen Mann, dessen Hals von einem Pfeil durchbohrt worden war. Blut schoss aus der Wunde. Er taumelte über das Langschiff, rempelte andere Männer an, stieß mit den Beinen gegen die Bordwand und kippte in die Fluten.

Wieder und wieder hagelte es Pfeile, bis die Planken rutschig vom Blut geworden waren.

Und dann griff der Jarl an. Ein gewaltiger Ruck ging durch die Schiffe, als sie von einem Dreki gerammt wurden. Planken krachten und knirschten.

Ospak wankte, stieß gegen einen Mann, der auf dem Deck lag,

Überall wurde gekämpft. Ospaks Männer wehrten sich erbittert gegen die Feinde, die johlend und brüllend über die Bordwände sprangen. Die Luft war erfüllt von Schreien.

Ospak sah, wie Kjallak mit der Streitaxt einen Wikinger niederstreckte. Gleich darauf bedrängten ihn zwei andere Krieger. Kjallak holte aus, doch der Axthieb ging ins Leere. Da bohrte ihm einer der Angreifer eine Schwertklinge tief ins Fleisch, drehte sie und riss sie, begleitet von einem Blutschwall, wieder aus der Wunde. Kjallak biss die Zähne zusammen und schlug erneut zu. Die Axt traf nur den Helm eines Angreifers. Wieder blitzte eine Schwertklinge auf. Kjallak wankte, und ein Wikinger schlug ihm mit einem Beil den Kopf ab.

Dann tauchte der Jarl auf, und es schien, als würde die Luft zu knistern beginnen. Der Jarl war eine stattliche Erscheinung und größer, als Ospak ihn sich vorgestellt hatte. Er trug einen einfachen Helm, unter dem das schwarze Haar hervorschaute. Seine Miene war wie versteinert, und in dem Gesicht mit den ausgeprägten Wangenknochen wuchs ein kurzer dunkler Bart.

Der Jarl trat über Kjallaks Leiche hinweg, und als ihm zwei Rogaländer entgegenstürmten, rammte er einem Mann den Schildbuckel ins Gesicht. Den anderen ließ er ins Leere laufen, packte ihn von hinten und stieß ihn über Bord.

Ospak musste sich von dem Anblick losreißen, als plötzlich ein Wikinger vor ihm stand. Der Kerl war jung, vielleicht siebzehn oder achtzehn Jahre. Er lachte und nannte Ospak einen Krötenschiss. Er war mit einem kurzen Speer bewaffnet, der eher zum Zustoßen als zum Werfen geeignet war. Damit stieß er nach Ospak, der den Angriff mit dem Schild abwehrte. In den Augen

Nun war Ospak dreißig, aber er hatte nichts von seiner Kraft verloren. Er wehrte einen weiteren Stoß mit dem Schild ab, sprang dann vor und hackte dem Angreifer das Beil in den Hals. Der Schlag trennte dem Wikinger den halben Kopf ab. Blut spritzte in Ospaks Gesicht.

Er sah sich gerade nach einem neuen Gegner um, als ihn plötzlich etwas Hartes am Hinterkopf traf.

Wo ist mein verdammter Helm!, dachte er noch, bevor die Welt um ihn herum schwarz wurde.

 

Ospak tauchte aus tiefer Bewusstlosigkeit auf. Er lag auf dem Rücken und blinzelte in den dunkler gewordenen Himmel. Schmerzen wüteten in seinem Schädel wie Hammerschläge. Er spürte einen Tropfen seine Wange hinunterlaufen. Hörte die Geräusche von Schritten auf den Planken und raues Gelächter.

Der Kampf war vorüber.

Etwas drückte auf seinen Brustkorb. Ihm stockte der Atem. Auf seiner Brust saß der Rabe. Der graue Schnabel war nur eine Handbreit von seinem Gesicht entfernt. Als der Rabe bemerkte, dass Ospak wach war, stellten sich seine Kopffedern auf. Der Schnabel öffnete sich, und er schrie: krag-krag-krag. Die Laute klangen in Ospaks Ohren wie das Brüllen des Höllenfeuers.

Er versuchte, eine Hand zu heben, um den Vogel wegzustoßen. Aber er konnte seine Arme nicht bewegen, sie lagen unter seinem Rücken. Seine Hände waren gefesselt. Sie hatten ihn also am Leben gelassen und gefangen genommen. Aber warum?

Der Rabe krächzte erneut. Schwere Schritte näherten sich.

Zwei Männer tauchten in Ospaks Sichtfeld auf und knieten

Der andere Mann war der Jarl.

Der Rabe erhob sich mit einem Flügelschlag und ließ sich auf der Schulter des Jarls nieder.

Ospak hörte den Alten meckernde Laute ausstoßen, die entfernt nach Lachen klangen, bevor er auf Ospaks Brust zeigte.

In der Hand des Jarls blitzte eine Messerklinge auf.

«Tötet … tötet mich nicht», stieß Ospak aus. «Tötet mich nicht … nicht so …»

«Er will mit dem Schwert in der Hand sterben!», sagte der Alte. «Weißt du, Rogaländer, das wollen alle Männer. Einigen, die es verdient haben, ist es vergönnt, anderen nicht. Sieh mich an. Ich bin älter geworden als alle anderen Männer, die ich jemals gekannt habe. Aber Odin hat mich noch nicht bei sich aufgenommen. Er hat mich immer davonkommen lassen, obwohl ich mich danach sehne, mit den Einherjar, den auserwählten Kriegern, in Walhall zu feiern, anstatt hier unten dünnen Brei zu schlürfen. Aber …»

Er hob die rechte Hand, in der er ein Schwert hielt. «Aber offenbar soll ich noch ein paar von euch töten.»

Er zeigte wieder auf Ospaks Brust. Der Jarl schnitt mit dem Messer das Lederband durch, nahm das Kreuz und betrachtete es kurz, bevor er es ins Wasser warf.

Irgendwo auf dem Schiff wurden Stimmen laut. Offenbar stritten sich einige Wikinger um Münzen, Waffen, Kettenhemden und andere Wertsachen, die sie ihren Opfern abgenommen hatten. Ospak fragte sich, wie viele Rogaländer und Dänen wohl noch am Leben waren. Oder war er der Einzige? Was hatten sie mit ihm vor?

Der Jarl hielt noch immer das Messer über Ospak. Die Klinge war etwa so lang wie eine Hand und der Griff aus Geweih gefertigt.

«Wo sind sie?», fragte der Jarl leise.

Im ersten Moment verstand Ospak nicht, was er meinte. Dann wurde es ihm schlagartig bewusst. Aber das war unmöglich! Vollkommen unmöglich! Der Jarl konnte nichts davon wissen.

Ospak war vorsichtig gewesen. Er hatte sogar die beiden samischen Händler getötet, die ihm dabei geholfen hatten, im Schutz der Nacht die Sachen unter den Planken beim Steuerruder der Knörr zu verstecken. Ihre Leichen hatte Ospak zu den Felsen über einer Bucht geschleppt und in einen tiefen Spalt geworfen. Er hatte das alles haargenau geplant und sich keinen einzigen Fehler erlaubt.

Dennoch schien der Jarl zu wissen, dass dieses Schiff die Walrosshäute und Otterfelle nur als Vorwand geladen hatte.

«Was … meint Ihr?»

«Psst! Du weißt, wovon ich spreche, Ospak Ofeigsson.»

«Ihr kennt mich?»

«Wo?»

Das Messer näherte sich Ospaks Kehle.

Den Glauben an den Christengott hatte er spätestens in dem Moment aufgegeben, als der ihn in diese hinterhältige Falle hatte fahren lassen. Jetzt brauchte er Odin und die alten Götter.

«Weißt du, wer ich bin?», fragte der Jarl mit gedämpfter Stimme.

«Ja.» Die Schmerzen hämmerten gegen Ospaks Schädeldecke.

Ospak spürte, wie der Druck des Messers auf seinem Hals stärker wurde.

2.

Schreie wiesen ihnen die Richtung durchs Unterholz.

Äste knackten unter Bischof Poppos Füßen und denen seines Begleiters, eines hünenhaften Mannes, der Skammkill hieß. Durch das bunt verfärbte Blätterkleid der Bäume fielen Sonnenstrahlen und bohrten sich durch Nebelschwaden, die über dem Waldboden waberten. Es war der zwanzigste Tag des Monats october im Jahre des Herrn 965, und der Herbst hatte Einzug in die dänische Mark gehalten.

Bischof Poppo und Skammkill, der mit einer Streitaxt bewaffnet war, schritten zügig voran und näherten sich der Quelle der Schreie, dieser sündigen Lustschreie – dieser dämonischen Lautäußerungen fleischlicher Gelüste.

Obwohl sich der Bischof bei dem Gedanken an diese Gelüste ekelte, ergriff ihn pure Lebenskraft, und er spürte das Blut in seinen Adern pulsieren. Gleich würde es beginnen! Gleich würde er wieder die Welt säubern von allem Übel, von den Plagen, mit denen der Teufel die Menschheit verdarb.

Vor ihnen öffnete sich das Dickicht. Sie traten auf eine Lichtung, auf der eine windschiefe Hütte stand. Die Bretterwände waren morsch, das Dach war an mehreren Stellen eingefallen. Zu der Hütte führte ein Pfad durch schulterhohe Brennnesseln und Brombeergestrüpp. Der einsame Ort lag fernab aller Wege. Es war ein guter Ort, um Sünden zu begehen – und ein guter Ort, um diese Sünden zu sühnen. Schon einmal war Poppo dem Sünder hierher gefolgt, hatte ihn damals aber nur beobachtet.

Poppo tastete nach dem Kruzifix, einer aus Silber gefertigten Figur des gekreuzigten Heilands, die er zwischen Daumen und Zeigefinger drehte, bis sich sein Herzschlag beruhigte. Er atmete tief und gleichmäßig und hörte Skammkill einen Laut ausstoßen, der wie das Grollen eines nahenden Gewitters klang.

Der Mann war eine Kreatur, die der Herrgott mit so viel Kraft gesegnet, wie er sie mit Hässlichkeit geschlagen hatte. Zwischen breiten Schultern ragte ein bleicher Schädel hervor, und auf dem Gesicht zogen sich tiefe Falten von den Wangenknochen an Mund und Nase entlang bis an das vorspringende Kinn. Unter der Haut an den Schläfen wanden sich blaue Adern. Den rasierten Schädel zierte ein Haarstreifen, den der Hüne jeden Morgen mit Schafsfett einschmierte, bis die Haare abstanden wie ein Hahnenkamm.

Er war einst ein friesischer Sklave gewesen. Der Bischof hatte ihn vor einigen Jahren gekauft, weil man von ihm sagte, sein Griff sei so hart, dass sich das Fleisch von den Knochen löse, wo er hinlange. Poppo hatte ihm die beste Ausbildung zuteilwerden lassen. Skammkill hatte Gottes Segen empfangen und das Kämpfen erlernt. Viel Zeit und Geld hatte es den Bischof gekostet, um sich die Kraft des Mannes zunutze machen zu können. Um ihn abzurichten wie einen Bluthund.

Es war Zeit, die Bestie wieder einmal von der Kette zu lassen!

Poppo hob die rechte Hand, woraufhin sich der Hüne die Streitaxt über die Schulter legte und seinem Herrn durch das Gestrüpp folgte. Vor der Hütte blieben sie stehen. Schreie und Stöhnen drangen aus der Öffnung, die irgendwann einmal mit einer Tür versehen gewesen war.

Poppo wies seinen Gefährten an, vor der Hütte zu warten. Dann strich er seine Kutte glatt, richtete das Kruzifix mittig auf seiner Brust aus und trat mit einem Lächeln ein.

Der Bischof räusperte sich, bis die junge Frau den Kopf hob. Sie schien eher noch ein Mädchen zu sein, kaum älter als vierzehn Jahre. Als sie den Bischof sah, erstarrte ein Schrei auf ihren Lippen.

«Weiter!», hörte Poppo den Mann keuchen. «Mach weiter! Ich bin gleich …»

Doch das Mädchen begann zu wimmern, woraufhin der Mann innehielt und den Kopf drehte. Poppo genoss es, wie sich der Ausdruck auf dem Gesicht des Mannes verwandelte. Eben noch glühte das Gesicht vor Erregung, bevor es von Erstaunen zu Wut wechselte.

Der Mann rückte von dem Mädchen ab und zog seine Hose aus den Kniekehlen hoch, um sein Gemächt zu verbergen.

«Was fällt Euch ein?», stieß er aus.

Während er sich nach Gürtel und Schwert bückte und beides anlegte, verdeckte das Mädchen seine Blöße unter der Tunika. Dann kroch es an die hinterste Wand, gegen die es sich mit angezogenen Beinen kauerte.

Poppo lächelte.

«Was wollt Ihr?», fragte der Mann. Er reckte den Kopf, um an Poppo vorbei zur Tür zu schauen, wohl um festzustellen, ob dort noch weitere Männer waren.

«Ich habe Euch etwas Wichtiges mitzuteilen, Markgraf Herimann», sagte Poppo.

«Leider duldet es keinen Aufschub!»

«Dann redet und geht! Lasst mich allein!»

«Allein?», echote der Bischof mit Blick auf das verängstigte Mädchen. «Sagt, weiß Euer Eheweib von Eurer Liebschaft?»

«Das geht Euch nichts an!»

Der Bischof betrachtete die Fingernägel seiner linken Hand, als seien sie für irgendetwas wichtig. «Als geistliches Oberhaupt dieses Bistums geht es mich sehr wohl etwas an. Ich bin für Euer Seelenheil verantwortlich. Daher bereitet es mir Sorgen, wenn Ihr Euch versündigt.»

Der Graf knurrte in seinen gestutzten Bart, widersprach aber nicht.

«Ist das Weib überhaupt getauft?», fragte Poppo.

«Wollt Ihr Geld? Schweigegeld?»

Poppo setzte eine entrüstete Miene auf. «Ihr leistet Abbitte, indem Ihr einen Diener Gottes bestecht? Oh, mein lieber Markgraf – ich fürchte, Eure Lage verschlechtert sich mit jedem Wort.»

Der Graf nahm den Mantel und warf ihn über seine Schultern. «Sagt endlich, was Ihr zu sagen habt!»

«Ihr möchtet schon gehen?»

«Wollt Ihr mich daran hindern?»

Poppo schüttelte den Kopf. «Ich bin nur ein bescheidener Mann, der sein Heil in Gebeten und dem Dienst am Herrn sucht.»

«Ach ja? Die Menschen, die Ihr gefoltert und ermordet habt, wüssten ganz andere Sachen über Euch zu berichten. Hätte man mich damals nicht in die Mark geschickt, würdet Ihr noch immer …»

«Ihr nennt es Mord – und ich nenne es die Erfüllung einer heiligen Mission! Wenn die Worte des Herrn auf trockenen Boden fallen, muss man den Boden wässern und düngen, und

Der Graf nahm eine kleine Münze aus dem Beutel an seinem Gürtel und warf sie dem Mädchen hin. Dann machte er einen Schritt in Richtung Tür. Doch Poppo trat ihm in den Weg und schnippte laut mit den Fingern.

Skammkills Gestalt füllte den Türrahmen aus. In der rechten Hand hielt er die Streitaxt, eine gewaltige Waffe mit einem gut drei Fuß langen Stiel.

Der Graf wich zurück und zog sein Schwert eine Handbreit aus der Lederscheide.

«Unsere Unterredung ist noch nicht beendet», sagte Poppo. «Es wäre unhöflich von Euch, mich einfach stehen zu lassen, meint Ihr nicht?»

«Ruft diesen … diesen Kerl da zurück!»

«Skammkill leistet uns ein wenig Gesellschaft. Ich denke, Ihr solltet Euer Schwert auf den Boden legen und mit dem Fuß zu mir herüberschieben.»

Der Graf wirkte verunsichert, machte aber keine Anstalten, der Aufforderung Folge zu leisten.

«Ihr droht mir? Ich bin der Herr der Mark …»

«Und ich Euer Bischof. Wollt Ihr Euch über Gott stellen?»

Herimanns Blick zuckte zwischen Poppo und Skammkill hin und her. Als der Hüne die Axt hob, zog sich der Graf weiter zurück, bis er gegen das Mädchen stieß.

«Ich … weiß nicht, ob sie getauft ist, Bischof.» Seine Stimme zitterte jetzt. «Ja, ich habe mich versündigt, an meinem Eheweib und an Gott. Erlegt mir eine Buße auf, wenn es das ist, was Ihr von mir wollt.»

Poppo setzte ein breites Grinsen auf. Er hatte den Grafen da, wo er ihn haben wollte: mit dem Rücken an der Wand und so von Angst erfüllt, dass sie beinahe zu riechen war. Es bereitete dem

«Ein Vaterunser, oder zwei oder drei?», rief Poppo lachend. «Nein! Bevor ich Gottes Urteil vollziehen werde, habe ich Euch noch eine Nachricht zu überbringen. Eine traurige Nachricht.»

Er bekreuzigte sich. «Brun, der selige Erzbischof von Colonia und Erzkanzler des Reichs, der Bruder des Kaisers und Euer Mentor, Herr Graf – er ist verstorben.»

Herimann schnappte nach Luft. «Brun? Bei Gott – das darf nicht sein!»

Poppo bemühte sich um eine ernste Miene. «Der Herr hat ihn zu sich geholt, am elften Tag dieses Monats. Ich habe erst heute Morgen davon erfahren.»

Der Blick des Grafen flackerte. Ihm war anzusehen, wie es in seinem Kopf arbeitete, während er versuchte zu begreifen, welche Folgen der Tod des Erzbischofs Brun für ihn selbst hatte.

Zum Erzbistum Colonia gehörten auch die dänischen Bistümer. Brun hatte die Verwaltung der Diözesen nach jahrelangem Streit mit Adaldag, dem Erzbischof der Hammaburg, an sich gerissen. Die Lehen boten eine lukrative Einnahmequelle für Bruns ehrgeizige und kostspielige Kirchen- und Kathedralenbauten. Aber hintergründig war es Brun nicht um Reichtümer gegangen, sondern darum, Adaldags und Poppos Missionsarbeit zu behindern. Nachdem der alte Markgraf getötet worden war, hatte Brun Herimann in die dänische Mark gesandt, mit dem Auftrag, die Abgaben einzutreiben – und Poppo auf die Finger zu schauen.

Alles, was er in der Mark aufgebaut hatte, hatte Herimann binnen kurzer Zeit zunichtegemacht: Der Graf ließ die Heiden wieder

Poppo hatte Brun verachtet, so wie er Herimann verachtete. Sie verstanden nichts von der Missionierung der Ungläubigen. Dass man dem Pack den Teufel mit Feuer und Schwert austreiben musste!

Herimanns Blick war jetzt starr auf die Tür gerichtet, sein einziger Fluchtweg. Nun hatte er offenbar verstanden, dass mit Bruns Ableben auch sein eigenes Schicksal besiegelt worden war, und er war klug genug zu wissen, dass es nichts bringen würde, um sein Leben zu betteln.

Poppo hob die rechte Hand und schlug das Kreuz über Herimann. «Ich werde für Eure Seele beten», sagte er und schnippte erneut mit den Fingern.

Skammkill holte aus. Die schwere Axt fuhr durch die Luft. Doch der Graf war schnell. Es gelang ihm, dem Hieb auszuweichen. Die Axt krachte in die Wand. Splitter und Holzstücke fielen auf das schreiende Mädchen. Bevor Skammkill die Waffe befreit hatte, hatte der Graf sein Schwert gezogen und ging zum Gegenangriff über. Aber sein Schlag war zu hektisch ausgeführt. Die Klinge glitt von Skammkills Brünne ab, die er unter dem Mantel trug.

Poppo grinste. Herimann hätte sich lieber gleich von Skammkill den Kopf abschlagen lassen sollen, denn das hätte sein Leiden verkürzt. Nun wurde der Hüne wütend, sehr wütend, und er würde sich nicht damit begnügen, den Markgrafen nur zu töten …

Skammkill riss die Axt aus der Wand. Der Graf, der zum nächsten Gegenschlag ausholen wollte, hielt inne, als er erkannte, dass er nur eine einzige Gelegenheit hatte, mit dem Leben davonzukommen. Er musste fliehen. Doch dafür war es zu spät. Die Axt fuhr nieder, traf aber nicht Herimanns Kopf. Diesen Gefallen tat Skammkill ihm nicht. Er zerschmetterte die rechte Schulter des Grafen und trennte den Arm vom Rumpf ab.

Herimann starrte zunächst ungläubig auf die Stelle, aus der das Blut schoss, dann auf Skammkill, der mit einem zufriedenen Grunzen die Waffe fallen ließ. Schweißperlen glitzerten auf seiner Glatze, und unter seinem keuchenden Atem hob und senkte sich die Brust, die breit wie die eines Ochsen war. Er streckte seine gewaltigen Hände nach Herimann aus, der wie erstarrt dastand. Die Pranken packten ihn und zogen ihn hoch, um ihn gleich darauf mit voller Wucht auf den Boden zu werfen. Dann ließ sich Skammkill mit den Knien voran auf Herimanns Oberkörper fallen. Poppo hörte Knochen brechen, und er hörte die Todesschreie.

Während Skammkill sein Opfer zerfetzte wie ein Raubtier seine Beute, holte Poppo einen Beutel hervor, aus dem er ein Amulett nahm, das er neben der Tür auf den Boden fallen ließ.

Skammkill drosch noch immer auf den Körper ein, der unter jedem Schlag erbebte. Ob der Graf noch lebte, war nicht zu erkennen.

Poppo wollte gerade die Hütte verlassen, um draußen zu warten, als sein Blick auf den abgeschlagenen Arm fiel. Einer Eingebung folgend hob Poppo den Arm auf. Er war überraschend leicht und schlackerte hin und her. Bald würde jedoch die Totenstarre einsetzen. Da hatte Poppo eine Idee und nahm den Arm mit nach draußen.

3.

Klack-klack-klack …

Malina hasste die Geräusche. Sie wehten durch die Halle des Jarlshauses und erinnerten Malina an den Klang mahlender Knochen der Totengötter, während sie vor der Feuerstelle kniete, in der rechten Hand eine kleine Schaufel, in der linken den Eimer. Eine schmutzig graue Wolke wirbelte auf, als sie die Schaufel in das Loch stieß, das in den Lehmboden eingelassen war, und verkohlte Holzreste und Asche in den Eimer schüttete.

Klack-klack-klack …

Sie schaute zu dem Webstuhl, zwei Stützen aus Holz, die an der Wand lehnten und an den oberen Enden durch ein Rundholz, den Tuchbaum, verbunden waren. Vom Tuchbaum hingen Fäden herab, die von Gewichten aus Ton und Stein gestrafft wurden. Vor dem Webstuhl stand, mit dem Rücken zu Malina, die alte Bergljot und schob das Webschwert mit dem Wollfaden durch die Fäden, wobei sich die Gewichte bewegten und gegeneinanderstießen.

Klack-klack-klack …

«Verschütte nichts von der Asche!», sagte Bergljot, ohne ihre Arbeit zu unterbrechen. «Der Boden ist gerade gefegt worden!»

Ja, und von wem?, dachte Malina und verzog das Gesicht. Sie selbst hatte den Morgen damit zugebracht, die Halle sauber zu machen.

Sie schaufelte weiter. Als der Eimer voll war, erhob sie sich, um die Asche nach draußen zu bringen.

«Wenn du damit fertig bist, kümmerst du dich ums Essen!», sagte Bergljot.

Malina wollte zur Tür gehen, doch die Alte rief ihr zu, sie solle stehen bleiben.

Bergljot war vom Webstuhl zurückgetreten. Ihr Rücken war gebeugt und ihr Haar schlohweiß. In ihren Augen blitzte Zorn auf.

«Mach den Mund auf, wenn ich dich etwas frage!», fauchte sie.

Malina hatte keine Frage gehört, ging aber nicht weiter darauf ein. Es hatte keinen Zweck, der Alten zu widersprechen.

«Was möchtest du hören, Bergljot?»

Die Alte spitzte die spröden Lippen. «Du solltest mir danken, dass ich dich nicht längst vom Hof gejagt habe.»

Das Kinderlachen war verklungen. Die vierjährige Aud und ihr elfjähriger Bruder Eirik traten in die Halle. Eiriks Mutter war einst von einem Sachsen getötet worden, und Auds Mutter lebte im Naumudal nördlich von Thrandheim.

Bei einem Stützpfeiler blieben die Kinder in sicherer Entfernung stehen. Sie schienen zu ahnen, was nun wieder geschehen würde.

Lächle, sagte sich Malina. Lach die bösen Gedanken weg, lach gegen Bergljots Hass an. Sie hasst nicht mich – sie hasst das Leben, und das hatte es nicht immer gut mit ihr gemeint.

Aber das hatte es auch mit Malina nicht. Bei den Göttern – nein, das hatte es wirklich nicht! Ihr Vater hatte sie in die Sklaverei verkauft, als sie elf gewesen war, so wie er es mit ihren Schwestern getan hatte. Die Familie, die in einer Siedlung im Slawenland lebte, war arm. Sie bräuchten das Geld und könnten die Mädchen nicht ernähren, hatte der Vater gesagt. Die Brüder waren zu etwas zu gebrauchen, zur Feldarbeit, zum Holzhacken, für die Jagd und

Malina hatte ihren Vater dafür verabscheut, hatte aber auch versucht, ihn zu verstehen. Ihr Vater, dieser grobe und doch manchmal liebevolle Mann. Er hatte ihr ihren Namen gegeben. Malina bedeutete in der Sprache der Slawen «Himbeere», und genauso süß sei sie, hatte er gemeint. Bald darauf hatte er sie verkauft. Sie hatte ihn niemals wiedergesehen, auch ihre Mutter und die Geschwister nicht. Der Mann, dem sie danach gehörte, hatte sie geschlagen, sich an ihr vergangen, und sie hatte ihn getötet, als ihr das Lachen zu vergehen drohte.

Das Lachen gab ihr die Kraft zum Überleben. Es war das Letzte, das ihr noch geblieben war. Es gab ihr Hoffnung und den Mut, weiter auf die Götter zu vertrauen, die ihr eines Tages wohlgesonnen sein würden. Dann würde ihr das bisschen Glück zuteilwerden, nach dem sie sich sehnte. Keinen Hunger zu leiden, Kleidung und ein Platz an einem wärmenden Feuer. Keine Schläge mehr, keine Männer, die sie missbrauchten, die sie behandelten wie Dreck.

Dann hatte sie Hakon gefunden, damals vor vier Jahren in der Stadt Aquisgranum im Sachsenreich. Dorthin hatte sie sich durchgeschlagen und Männer für eine Münze oder eine warme Mahlzeit befriedigt. Sie war eine Hure geworden.

Hakon hatte sie anders behandelt, wie einen Menschen. Er war gut zu ihr, ein Mann, auf den sie sich verlassen konnte, und sie hatte geglaubt, bei ihm das Glück zu finden. Als er sich entschied, sie in seine Heimat mitzunehmen, hatte sie vor Freude geweint.

Das Glück schien zum Greifen nah, doch Hakons Mutter Bergljot hatte es ihr nicht gegönnt. Hatte sie von Anfang an abgelehnt. Was Malina auch tat, es war falsch. An allem gab es etwas auszusetzen: Wenn sie die Kleider wusch, fand die Alte Dreckflecken,

Hakon nahm sie vor der Alten in Schutz. Doch wenn er nicht da war, und das kam häufig vor, ließ Bergljot ihre Wut an Malina aus. Das Gekeife, die ungerechtfertigten Anschuldigungen und Vorwürfe, all das nagte an ihr. Es drohte, sie zu zerfressen und ihr das Lachen zu nehmen.

Die Alte steckte das Webschwert zwischen die Fäden und bewegte sich in Malinas Richtung. Wie ein grimmiges Tier näherte sie sich auf ihren kurzen, dicken Beinen – wie ein Tier, das sein Revier gegen einen Eindringling verteidigen musste.

Malina holte Luft und empfing das Tier mit einem Lächeln, als es sich zischend vor Wut vor ihr aufbaute, mit funkelnden Augen und bebendem Kinn, auf dem sich die weißen Borstenhaare aufrichteten. Malina war nicht groß, doch die Alte war noch einen halben Kopf kleiner. Sie ballte die rechte Hand, an der wie an der linken Hand der Ringfinger fehlte, spreizte den knochigen Zeigefinger ab und richtete ihn wie eine Kralle auf Malina.

«Er hätte dich niemals mitbringen dürfen», fauchte sie. «Du gehörst nicht hierher. Bist keine von uns. Du wirst immer eine Fremde bleiben!»

Malina lächelte, aber ihre Mundwinkel wurden schwerer.

«Grins du nur», schnaubte die Alte. «Mach dich nur über uns lustig. Ihn hast du verzaubert, aber mich täuschst du nicht, du Natter!»

Malina spürte, wie sich ihre Lippen verkrampften.

«Nichts kannst du», fuhr die Alte fort. «Du frisst uns das Essen weg, und unsere Gutmütigkeit dankst du uns mit deiner Faulheit.»

Malinas Verlangen, der Alten zu widersprechen, sie anzuschreien und ihr ihre Boshaftigkeit und Verlogenheit vorzuhalten, wurde immer größer. Malina war kein gewalttätiger Mensch, auch wenn sie in ihrem früheren Leben hatte töten müssen, um zu

Häufig fragte sich Malina, warum sie sich das antat. Warum sie nicht einfach fortging. Die Antwort, die sie sich jedes Mal auf diese Frage gab, war, dass sie Hakon liebte.

Weil er sie liebte.

Aus den Augenwinkeln sah sie die Kinder näher kommen, und aus der Kochnische waren zwei Mägde angelockt vom Geschrei in die Halle getreten.

«Du hast Asche verschüttet», zischte die Alte. Ihr Zeigefinger fuchtelte vor Malinas Gesicht herum.

«Das habe ich nicht getan.»

«Und was ist das?» Die Alte zeigte zu der Feuerstelle, an deren Rand tatsächlich ein wenig Asche lag.

«Sie muss danebengefallen sein. Ich fege sie gleich weg …»

«Du bist eine Schande für den Jarl. Du hast es nicht verdient, dass er dich in unserem Haus leben lässt.»

«Es ist Hakons Haus, und es ist seine Entscheidung. Nur wenn er es verlangt, werde ich gehen.»

«Ha!», keifte die Alte. «Das wird er nicht tun. Du hast ihn verzaubert! Du bringst Unglück über uns alle. Seit du hier bist, fallen die Ernten schlecht aus. Das Vieh war niemals so mager, und du weißt ganz genau, warum in den letzten Jahren die Heringsfänge immer schlechter geworden sind!»

Malina schloss die Augen. Natürlich bin ich auch schuld, dass es im Winter zu kalt und im Sommer zu heiß ist …

«Verschwinde! Hörst du? Verschwinde! Ich kann dich nicht mehr ertragen!»

Die Worte der Alten tropften wie flüssiges Eisen in Malinas

Sie zwang sich, ruhig zu atmen. Und zu lächeln. Langsam öffnete sie die Augen. Vor ihr schwebte das rot angelaufene Gesicht der Alten. Der Zeigefinger wirbelte durch die Luft.

«Verschwinde!»

«Ich gehe jetzt hinaus. Wenn ich den Eimer ausgeleert habe, komme ich zurück, fege die restliche Asche weg und dann …»

«Dann verlässt du unseren Hof!»

«Und dann werde ich den Mägden beim Kochen helfen …»

Ein plötzlicher Schmerz ließ sie zusammenfahren. Die Alte hatte ihr den Zeigefinger gegen die linke Brust gestoßen.

«Er hat etwas Besseres verdient als dich!»

Malina wich einen Schritt zurück. Doch die Alte schnellte vor. Erneut zuckte der Schmerz auf.

«Hör auf damit!», zischte Malina.

«Er soll sich eine Frau nehmen, die eines Jarls würdig ist. Eine Frau, die ihm Kinder schenken kann!»