Kanton Afrika
Eine Erbauungsschrift
1. Auflage, 2014
ISBN 978-3-905825-78-7, eISBN 978-3-905825-85-5
© Der gesunde Menschenversand, Luzern
Alle Rechte vorbehalten, www.menschenversand.ch
Verlag und Autor danken
Speziellen Dank an Stefan Humbel, der mit einem Mentorat des Kantons Bern gravierend an der Entstehung des Buches beteiligt war.
Lektorat & Korrektorat: Stefan Graber
Collagen: Claudio Bruno, claudiobruno@bluewin.ch
Foto: Franziska Geiser
Gestaltung: hofmann.to, Bildreproduktion: Maurer:Bilden
eBook: mbassador GmbH
Die unfreiwillige Schweizerreise meines Urgrossvaters Immanuel Kämpf, so wie sie bei uns am Familientisch an Weihnachten und zur Freude aller erzählt wird. Begründet wurde diese Tradition von meinem Vorfahren selber. An über vierzig Weihnachtsfeiern hat er vor versammelter Sippe seine erstaunliche Geschichte erzählt. Nach seinem Tod wurde der Brauch fortgeführt, wobei das jeweils älteste Mitglied der Familie in die Rolle des Immanuels schlüpft.
Herkunft
Das Berner Oberland ist ein mit Tannen bewachsener Unsinn. Noch blöder ist es, wenn es schneit. Dann sind alle drinnen und der Charakter platzt heraus. Tektonisch verhöhnt treten wir am Morgen vor das Haus und beschimpfen die Berge. Die Mutter wühlt im barmherzigen Lumpensack aus Spiez und sagt: Kein Pygmäe würde das anziehen! Die Grossmutter grölt: Schickt mehr, sonst werden wir katholisch! Und der Grossvater erklärt: Dem Napoleon haue ich eine runter, falls er noch lebt! Der Vater liegt den ganzen Tag im Stall und schläft. Dazwischen trinkt er Schnaps. Wer ist König von Sardinien? fragt die Mutter. Keine Ahnung, antworte ich, ich bin ja erst fünf. Einmal im Jahr kommen die Verwandten von oberhalb der Baumgrenze. Sie sind dicht behaart und sprechen gut auf Futter an. Draussen ist immer das Wetter. Dem Onkel widerfährt ein Unglück. Zwecks Ergreifung einer Karriere hat er an höchster Stelle um eine Unterredung gebeten. Diese wird ihm schliesslich gewährt. Darauf schreit er monatelange das Wort ZUKUNFT in die Landschaft hinein. Der Tag kommt. Der Onkel glänzt zwar mündlich, hat aber vergessen, seine Hose anzuziehen. So bleibt er Senn. In der Schule hören wir von der vorzeitlichen Faltung, glauben es aber nicht. Dann stirbt der Grossvater. Wir lassen ihn in seinem Sessel. Er stinkt, sagt die Mutter. Nicht mehr als vorher, meint der Vater. Man muss ihn beerdigen, fordert der Pfarrer. Leichen gehören sich selber, erwidert der Vater, der den Grossvater dem Anatomischen Institut in Leipzig verkaufen will. Wir werden ihn zwangsbeerdigen, entscheidet der Pfarrer. Die Mutter schweigt und düpiert eine Kartoffel. Zehn Jahre später stirbt der Vater. Ich erbe eine leere Schnapsflasche. Andere erben Schulden. Dann kommt der Frühling. Es geht bergab, sagt der Pfarrer, bauen wir eine Seilbahn. Die Grossmutter liest die Zukunft, aus vom Blitz erschlagenen Fröschen. Meistens richtig. Im Religionsunterricht lernen wir, wie man einer Heuschreckenplage entgegentritt. Viele aber sterben in Lawinen. Wir üben, wie man das Meer teilt. Viele aber ertrinken im Bergsee. Wir erfahren, wie man einem feurigen Dornbusch lauscht. Viele aber verbrennen bei Hofbränden. Wir stammen alle vom Molch ab, behauptet ein englischer Affe, sagt der Lehrer. Wenn er uns bestrafen will, müssen wir hundert Mal Ich vergeude Kreide an die Tafel schreiben. Jagen oder klagen? fragt die Grossmutter. Meistens beklagen wir uns. Fleisch schärft die Seele, sagt der Grossvater, der plötzlich wieder lebt, aber nur anfallsweise. Das fahle Pferd wird schwer zu braten sein, wirft die Mutter ein. Einmal im Jahr gehen wir nach Olten. Niemand weiss warum.
Auf Schloss Thun
So war das bei uns. Dann kam der Tag, an dem es klopfte. Herein trat die Staatsmacht in Form des Landjägers. Hoher Befehl aus Thun, ich sei arretiert. Die Mutter liess die Kartoffel fallen und klagte: Der Bub ist ach so jung und der Vater ach schon tot. Doch sämtlicher Tumult half nichts, ich musste nach Thun hinab. Zum Abschied steckte mir die Mutter unter Tränen ein Fläschchen Gletschermilch zu. Hämisch tirilierende Vögel säumten meinen Weg. Die Sonne versank im Kanton Freiburg. Ich ahnte Schlimmes. Auf Schloss Thun übergab mich der Landjäger dem Kerkermeister, der seinen einäugigen Schergen herbeipfiff. Dieser riss mir die Kleider vom Leib, zündete sie an und schien grundsätzlich verdrossen. Der Zyklop steckte mich in gestreifte Lumpen und zerrte mich Fackel fuchtelnd in ein feuchtes Verlies. Ich setzte mich und begann zu schmoren.
Da war ich nun, wo Heulen und Zähneklappern herrscht. Einmal am Tag kam ein Napf mit Brei in die Zelle geflogen. Beim Aufprall sickerte die Hälfte in den Lehmboden. Das war auch so gemeint. Nach drei Wochen wurde ich einem missmutigen Schöffen vorgeführt. Dieser sass mit speckblassem Gesicht in seiner Amtsstube und stopfte gelangweilt einen schwarzen Schwan mit einem weissen aus. Nach einer Weile fragte er nach meiner Aufzucht. Froh darüber, mich endlich äussern zu können, vollführte ich einen Bückling und hob an: In dieser unserer Zeit, von welcher man hofft, es sei die letzte, sah ich mich, Immanuel Traugott Gotthold Theophil Kämpf, in einer warmen Sturmnacht in die Welt gestellt. Zum Klang der bimmelnden Glocke stiess ich zur Christenheit und gedachte, mich als ein ihr würdiges Glied zu erweisen. Obwohl mich meine peinerfüllte Mutter am liebsten in Bausch und Bogen in die Welt geworfen hätte, entstieg ich ihr, als ein eher ansässiges Gemüt, nun nicht gerade in Siebenmeilenstiefeln–
Weiter kam ich nicht, schon schleifte mich der Zyklop ins Verlies zurück.
Einige Wochen später prügelte mich mein Wärter in den Hof hinaus. Was kam jetzt? In einer Ecke befand sich ein Unterstand mit einer Kuh. Dort wollte mir der Zyklop etwas bedeuten. Mit grober Pantomimik führte er mir seine Rückenschmerzen vor Augen. Ich sollte die Kuh für ihn melken. Ich tat das und überreichte ihm den Kessel, den er gierig leer trank. Er strich sich den weissen Schaum vom Maul und zwinkerte mir zu, wie nur Zyklopen es können. Nach zwei Wochen liess er mich beim Melken allein. Ich erkundete den Hof, die Mauern waren hoch und die Türen verriegelt. Im Unterstand der Kuh befand sich ein Blasbalg. Mich durchfuhr eine Idee. Ich melkte schnell. Dann setzte ich den Blasbalg ans Euter und begann zu pumpen. Der Kuh war vorerst nichts anzumerken, doch allmählich schwoll sie zu einer Kugel an. Ich kraulte sie, damit sie nicht muhte. Und dann! Wie erhofft stieg die Kuh in die Höhe. Ich klammerte mich an ein Hinterbein und wir hoben ab. Endlich dem Kerker entronnen! Ich jubilierte und pumpte. Bald waren wir auf der Höhe der Mauern und noch immer unentdeckt. Ich sah Thun von oben, mir hüpfte das Herz. Wem Gott will rechte Gunst erweisen, den schickt er auf Reisen. Erst als wir schon hoch über dem Schloss schwebten, kam der Zyklop zurück und schlug Alarm. Ein Wächter schoss mit einer Büchse, verfehlte uns aber. Glücklicherweise wurden wir von einem Lüftchen erfasst und in Richtung See getragen. Langsam trieben wir gegen Spiez, wo uns eine starke Böe zu den Gipfeln hinaufzog. Die Luft wurde dünner, der Nebel dichter und wir stiegen immer weiter. Durch die Schwaden hindurch sah ich schroffe Felsen und windzerzaustes Strauchwerk. Ich empfahl meine Seele dem Herrgott und fragte mich, wie er es wohl aufnehmen möchte, wenn ich sogleich derart unverstorben vor ihn treten würde.
Im Wallis
Zur letzten Posaune