Das Nachleben
des Totalitarismus in Osteuropa
Aus dem Englischen
von Andrea Stumpf
C.H.Beck
Die Jahrzehnte kommunistischer Herrschaft in den osteuropäischen Ländern haben in praktisch jeder Familie Fragen aufgeworfen, die nach dem Fall des Eisernen Vorhangs irgendwie beantwortet werden müssen. Diese «posttraumatischen» Störungen in Ländern und Gesellschaften, die nach ihrer Identität suchen, sind das Thema dieses Buchs. Es ist eine Reise in die Seelenlandschaften der Menschen und die Summe einer zwanzigjährigen Beschäftigung. Marci Shore spürt den Geistern des Kommunismus im gegenwärtigen Osteuropa nach, vor allem in Polen, Tschechien, der Slowakei und Rumänien. Sie interessiert sich für das, was Geschichte aus den Menschen und ihren Leben gemacht hat. Sie hat Menschen in Prag, Krakau, Warschau, Vilnius, Kiew, Moskau, Bukarest besucht, aber auch in der Provinz und in den jeweiligen Enklaven in New York, Jerusalem und Wien. Das Buch ist von hoher literarischer Qualität, geradezu betörend schön geschrieben. Es atmet eine tiefe Humanität, und man spürt, dass die Ich-Erzählerin eine ungewöhnlich kluge und sympathische Frau ist; sie wirkt wie ein Medium zwischen den porträtierten Menschen und dem Leser, durch das hindurch man sich sehr gut in die jeweilige Situation hineinversetzen kann, von der sie berichtet.
Marci Shore, 1972 geboren, ist Historikerin und lehrt als Professorin an der Yale University. Für ihr erstes Buch, Caviar and Ashes. A Warsaw Generation’s Life and Death in Marxism, 1918–1968, wurde sie vielfach ausgezeichnet, unter anderem mit dem «Fraenkel Prize in Contemporary History» und dem «National Jewish Book Award». Marci Shore ist verheiratet mit Timothy Snyder (Bloodlands).
Vorbemerkung
Vorwort
Der Geschmack von Asche
Eine Falte in der Zeit
Wahrheit
«Haare sind Abfall»
«Alles, was ich über den Menschen weiß, habe ich in den Lagern gelernt»
«Es war nur eine kleine Revolution»
Pornographie in Prag
«Der Mensch ist ziemlich pervers»
Vernunft und Gewissen
Ein galizischer Sommer
«Denk nach, ob ich recht hatte oder nicht»
Die andere Seite des Stalinismus
Die Lokomotive der Geschichte
Friedhöfe
Zerbrochene Familien
Der ewig wandernde Jude
Die Toten und die Lebenden
«Aber nicht in den Öfen»
Kinder der Revolution
Der Geschmack von Kaviar
Akten
«Alles war so hässlich»
Unerwiderte Liebe
Ein Bühnenstar
Lustration
Gottessuche
Tragödie und Romanze
Danksagung
Historische Personen
Dieses Buch handelt von geschichtlichen Ereignissen. Dennoch habe ich zum Schutz der Privatsphäre die Namen (und in einem Fall einen kennzeichnenden Beruf) vieler der hier Genannten geändert, so es keine Personen des öffentlichen Lebens sind.
Osteuropa ist anders. Es ist Europa, nur in höherem Maße. Hier leben und sterben die Menschen, nur in höherem Maße. Auf diesen zwischen dem Westen und Russland gelegenen Ländern lastet die Vergangenheit spürbar und drückend. Und Geschichte kann gnadenlos sein: Durch eine ihrer Launen gingen hier, als Einfluss und Besatzung Nazideutschlands von der Vorherrschaft der Sowjetunion abgelöst wurden, Zweiter Weltkrieg und Kommunismus ineinander über und verbanden sich zu untrennbaren historischen Traumata.
Als ich 1993 das erste Mal dorthin kam, wusste ich so gut wie nichts über Osteuropa. Im Sommer davor hatte ich inmitten des bunten Treibens bei einem Greatful-Dead-Konzert in North Carolina auf einer Wiese gesessen, zwischen lauter Fans, die Haare flochten, Bagels verkauften und Marihuana rauchten, und hatte Václav Havels Essays gelesen, die ursprünglich in unter der Hand verbreiteten Samisdat-Ausgaben erschienen waren. Ich war fasziniert von der abenteuerlichen Romanze der auf den ersten Blick fehllosen Samtenen Revolution und von dem Dramatiker und Exhäftling, der Philosophenpräsident wurde, in einer prachtvollen Burg lebte und Frank Zappa zu einem seiner Berater ernannte. Havel wirkte so großmütig, so liebend gegenüber der Welt, so gut.
Ich ging nach Osteuropa, weil ich eine Geschichte mit gutem Ende hören wollte. Ich wollte erfahren, wie die Philosophen an die Macht kamen und das Volk befreit wurde. Ich wollte die antikommunistischen Dissidenten der siebziger und achtziger Jahre verstehen, die keine Angst hatten, «den Herrschenden die Wahrheit ins Gesicht zu sagen». Doch dann stellte ich fest, dass ich immer weiter in der Geschichte zurückgehen musste: Wollte ich die Dissidenten verstehen, musste ich ihre Vorgänger verstehen, marxistische Revisionisten, die einen demokratischeren Sozialismus forderten; wollte ich die marxistischen Revisionisten der sechziger Jahre verstehen, musste ich die Stalinisten der fünfziger Jahre verstehen; wollte ich den Stalinismus verstehen, musste ich den Zweiten Weltkrieg und den Holocaust verstehen; und um den Krieg zu verstehen, musste ich die Wirtschaftskrise und den Faschismus der dreißiger und die schwindelerregenden, alles auf den Kopf stellenden Möglichkeiten der zwanziger Jahre verstehen. Während dieses Buch also in der Zeit voranschreitet, schreitet es auch zurück, von den achtziger Jahren zu den Jahren gleich nach dem Ersten Weltkrieg. Dreh- und Angelpunkt aber sind die Revolutionen von 1989, die dem Kommunismus ein Ende setzten und mich nach Europa führten.
Jedes historische Drama vollzieht sich im Leben Einzelner. Das Stadium des Postkommunismus, das den Revolutionen von 1989 folgte, war eine Zeit verwirrender Freiheit: Plötzlich öffneten sich den Menschen alle möglichen Türen, und sie konnten alle möglichen neuen Rollen annehmen. Unvermittelt und fast zufällig fanden sie sich in Machtpositionen wieder. In diesem Stadium kam es zu einer Entfremdung zwischen den Generationen, und das Lebensalter bedeutete 1989 auf einmal sehr viel. Von seinen Anfängen im neunzehnten Jahrhundert an stellte sich der Kommunismus immer auch als ein Generationenkonflikt dar, eine Freud’sche Familiengeschichte, in der jede Generation die Vätergeneration umbrachte. Der Sturz des Kommunismus beendete nicht das Schweigen der Eltern, und er zerstreute auch nicht die Schuldgefühle, indem die Verbrechen in die früherer Generationen eingereiht wurden, vielmehr wurde die Forderung nach einer Abrechnung mit der Vergangenheit dringlicher. Sie warf beunruhigende Fragen auf: Konnte die vom Totalitarismus beinahe ausgelöschte Grenze zwischen öffentlich und privat wieder errichtet werden? Ließen sich das Persönliche und das Politische wieder auseinanderdividieren? Mit das Gewalttätigste am Totalitarismus war, dass er die Privatsphäre zum Verschwinden brachte. Darin unterschied sich der totalitäre Staat von den rein autoritären oder monarchischen Vorläufern: Er wollte wissen, was Liebende im Bett zueinander sagten, das kennzeichnete ihn, darauf baute er. War es möglich, die menschliche Würde auf dem Weg der Wahrheitsfindung wiederherzustellen, auch wenn man dabei erneut durch alte Schlüssellöcher linsen musste?
Kurz nachdem der polnische Dichter Czesław Miłosz 1951 in den Westen übergelaufen war, schrieb er: «Die Menschen des Westens, und besonders die Amerikaner, sind in den Augen der Osteuropäer naiv und nicht ernst zu nehmen, gerade deshalb, weil sie nicht die lehrreiche Erfahrung gemacht haben, dass ihre Urteile und Denkgewohnheiten relativ sind.» Ein halbes Jahrhundert lang trafen Menschen in der Osthälfte des europäischen Kontinents in oft schwierigen Situationen Entscheidungen; die meisten konnten sich nicht vorstellen, dass der Kommunismus zu ihren Lebzeiten enden könnte, und viele dachten nicht, dass sie einmal in einer Welt, in der völlig andere Regeln herrschten, für diese Entscheidungen zur Rechenschaft gezogen werden würden. Dieses Buch erzählt eine Geschichte über die auch hässlichen Seiten des Sturzes des Kommunismus, über das Fortdauern der Vergangenheit in der Gegenwart. Nach 1989 waren der Fähigkeit, sich selbst neu zu erfinden, Grenzen gesetzt, schließlich konnte niemand das schon gelebte Leben verändern. Freiheit bedeutete, befreit zu sein, und es bedeutete zugleich, exponiert zu sein. Das ist auch eine Geschichte über die Wechselwirkung zwischen historischem Schicksal und individuellen Entscheidungen. Es gab Situationen in der Geschichte, in denen keine Entscheidung unschuldig war, in denen jede bedeutsame Handlung ein Betrug an jemandem oder etwas war, in dem alle zu Gebote stehenden Wahlmöglichkeiten Leid verursachten. Nichtsdestoweniger musste man Entscheidungen treffen. Im Osteuropa des zwanzigsten Jahrhunderts war das Tragische heimisch.
Das Leben der Osteuropäer nach dem Kommunismus offenbart den Zwang, Entscheidungen zu treffen, die Allgegenwart von Schuld und die Unmöglichkeit, einen Schlussstrich zu ziehen. Auf den folgenden Seiten werden diese Dilemmata vor allem an einem Extrem gezeigt: den Stalinisten und dem Leben ihrer Kinder und Enkel. Gezeigt werden sie aber auch an dem Leben der ehemaligen Dissidenten und ehemaligen Stalinisten, der Dichter und Politiker, Juden und Nichtjuden, Zionisten und Kommunisten, Alten und Jungen, Brüder und Schwestern, Ehemänner und Ehefrauen, Geliebten und Freunde, jener, die blieben, und jener, die gingen, jener, die sich umbrachten, die sich neu erfanden oder die einfach weiterlebten.
Ich kam zu einer Zeit nach Osteuropa, als die Archive aus kommunistischer Zeit geöffnet wurden. Eine solche Archivarbeit, bei der man seitenweise vom Leben anderer liest, dringt tief in die Privatsphäre ein. Man wühlt in Dingen, die nicht für die Augen der Öffentlichkeit bestimmt waren. Ich musste oft an Margaret Atwoods dystopischen Roman Der Report der Magd denken, der das Leben einer Frau als Reproduktionssklavin in einer Welt von Angst und Schrecken erzählt, in der die «Augen», die Geheimpolizei, alles sehen. Im letzten Kapitel, das lange nach den grauenvollen Ereignissen spielt, sitzen Historiker in entspannter Atmosphäre in einem Vortragssaal und versuchen eine längst vergangene totalitäre Hölle zu verstehen. Sie sind sich bewusst, dass ihre Quellen lückenhaft sind und viele Fragen offenlassen. Sie sind sich bewusst, dass «die Vergangenheit ein großes Dunkel ist und mit Echos gefüllt». Sie sind sich auch bewusst, dass Menschen widersprüchliche Motive haben können – Kalkül und Gefühl gehen dabei oft Hand in Hand. «Wir sollten Vorsicht walten lassen, ehe wir … moralisch verurteilen», sagt der Historiker, der einen Vortrag über den kürzlich aufgetauchten Bericht der Magd hält. «Sicherlich haben wir inzwischen gelernt, dass solche Urteile notwendigerweise kulturspezifisch sind.» Die Historiker am Schluss von Margaret Atwoods Roman verhalten sich völlig korrekt, aber für den Leser ist ihre wissenschaftliche Distanz doch etwas unheimlich.
Als Historikerin im postkommunistischen Osteuropa habe ich mich oft auf verstörende Weise in das letzte Kapitel von Margaret Atwoods Roman versetzt gefühlt. Die Distanz wird durch Mitleid abgeschwächt, aber dieses Mitleid entsteht aus Voyeurismus. Das Begreifen des Vergangenen ist also selbst unauflöslich mit Schuld verknüpft, insofern Geschichtsschreibung es erforderlich macht, dass man sich geistig in Zeiten und an Orte versetzt, die man nicht erlebt hat, und das geht nicht, ohne dass man dem anderen Gewalt antut und sich gleichzeitig mit ihm identifiziert. Dieses Buch legt den ambivalenten Prozess beim Niederschreiben von Geschichte bloß. Genauso zeigt es, so hoffe ich, was es bedeutet, zu verstehen.
Im April 1995, zwei Tage vor dem Gedenkgottesdienst, den Amanda für Oskar abhalten ließ, saß ich mit ihr in einem Prager Café. Es war spät. Der Frühling war kalt in diesem Jahr. Wir saßen im dunklen, verrauchten Obergeschoss und aßen Eis. Amanda bestand darauf, mich einzuladen, weil sie, wie sie sagte, «jetzt Erbin» sei. Ich erzählte ihr von meiner Schülerin, einem klugen Mädchen, dessen hübsches, keckes Gesicht von kinnlangen braunen Haaren eingerahmt war. In einem Aufsatz schrieb sie in ausgezeichnetem Englisch von dem Jungen, der einmal ihre Hand gehalten und sie «Schatz» genannt habe. Eines Sommertags fuhr er in das Häuschen der Familie auf dem Land. Nach seiner Rückkehr gestand er ihr, er habe mit einem älteren Mädchen geschlafen. Die Tränen und Zigaretten meiner Schülerin – viel zu beißend und bitter für eine Vierzehnjährige. Der letzte Satz ihres Aufsatzes lautete: «Ich glaube, das Leben kann ziemlich grausam sein.» Am liebsten hätte ich daruntergeschrieben: Aber du glaubst gar nicht, wie viel schlimmer es wird!
Amanda aber, die Künstlerin aus Neuengland, deren tschechischer Ehemann sich gerade umgebracht hatte, Amanda also sagte zu mir: «Nein. Schlimmer wird’s nicht.»
Und da glaubte ich es.
Zwei Tage darauf ging ich gemeinsam mit Amanda zu der katholischen Messe für Oskar, Oskar, der fünfundzwanzig Jahre auf die Rückkehr nach Prag gewartet hatte, nur um festzustellen, dass er dort nicht mehr heimisch war. In der Kirche, die sich hinter dem Altstädter Ring duckte, als wollte sie sich verstecken, empfing ich zum ersten Mal die heilige Kommunion, obwohl ich keine Katholikin war und keine Christin und nicht einmal an Gott glaubte.
Später saßen wir in der Wohnung von Oskars Schwester. Sie war eine matronenhafte, vorzeitig gealterte Frau, ganz anders als der Bruder, der stilbewusste, weltgewandte Arzt, der noch im mittleren Alter ein sehr attraktiver Mann gewesen war. Schwester und Schwager wohnten in einem der oberen Stockwerke eines der vielen gesichtslosen grauen Plattenbauten. Im Zuge sozialistischer Siedlungsprojekte waren Tausende identischer Wohnungen für die moderne Kleinfamilie geschaffen worden. Die Aura des Spießigen lebte in diesen heruntergekommenen Wohnungen aus kommunistischer Zeit fort. Auf dem alten Holztisch von Oskars Schwester standen Essen und Wein, gegen den Rotwein in Böhmischen Gläsern hob sich Amandas schönes silbergraues Haar scharf ab. Ein ästhetischer Gegensatz in mehrerlei Hinsicht: Amanda, die Künstlerin aus Massachusetts, in der spießigen kommunistischen Wohnung.
Oskars Schwager schenkte den Wein ein. Amandas und Oskars Freunde, eine Frau namens Korina und ihr Ehemann, waren zur Beerdigung aus Paris angereist. Sie waren beide Wissenschaftler, jung und gutaussehend, interessiert an einem Gespräch. Stockend übersetzte ich für Oskars Schwester und Schwager.
Stunden vergingen. Gleich würde es Mitternacht sein. Amanda konnte nur noch an eins denken: Es war der erste Mai, der Tag der Liebe für die Tschechen. «Ein Abend spät – der erste Mai –/Ein Abendmai – der Liebe Zeit./ Wo Föhren Düfte streuen weit/das Täubchen ruft zur Lieb herbei». Diese Verse von Karel Hynek Mácha, dem bedeutendsten romantischen Dichter tschechischer Sprache, hatten es verhindert, dass die Kommunisten sich des ersten Mais als Tags der Arbeit ganz bemächtigen konnten.
Es war der erste Mai, und Amanda wollte Oskar etwas schenken.
Wir gingen in die Küche.
«Bitte sie um eine Schere», sagte Amanda und drehte sich Oskars trauriger Schwester zu.
Ich zögerte. Ich wollte sie nicht fragen, bestimmt würde sie der amerikanischen Schwägerin, die sie kaum kannte, in einem solchen Moment keine Schere in die Hand geben wollen. Amanda blieb ihr fremd, ein unergründliches Wesen aus einer anderen, dekadenten Welt, mit der sie nicht dieselbe Sprache teilte, mit der sie nichts teilte außer Oskar, der jetzt tot war.
Amanda bestand darauf.
«Warum?», fragte Oskars Schwester.
Ich sagte nichts.
«Warum?», fragte sie mich wieder.
Ich zuckte die Achseln, lächelte verlegen, Oskars Schwester holte die Schere. Ich hielt Amandas Hand, und Korina, die Wissenschaftlerin, die aus Paris gekommen war, um sich von Oskar zu verabschieden, nahm die Schere. Amanda schloss die Augen. Korina fing an zu schneiden. Dann hielt sie Amandas langen, silbernen Pferdeschwanz in der Hand. Wunderschön, die Farbe schimmernder Asche.
Wir verließen die Küche und gingen zurück in das kleine Wohnzimmer, wo die Weingläser noch immer auf dem Tisch standen. Ich sah zu, wie Korina sich auf das Parkett kniete und den Arm nach dem Porzellangefäß ausstreckte. Sie steckte einen Finger in die Urne und schmeckte an Oskars Asche.
Im nächsten Moment war Amanda fort. Sie war aus der Wohnung geflohen und die Treppe hinunter. Als ich sie unten auf der dunklen Prager Straße fand, war ihr Kleid schon durchnässt, der Sturm riss an dem geisterhaften silbernen Pferdeschwanz in ihrer Hand. Korina, ihr Ehemann und ich folgten ihr, liefen betrunken durch den Prager Regen, und Amanda umklammerte ihren Pferdeschwanz, mittlerweile grau von der Nässe.
Eines Morgens im April 1989 sah ich die Schlagzeile: Abbie Hoffman hatte sich umgebracht. Er hatte für die Bürgerrechte gekämpft und gegen den Vietnamkrieg. Er hatte Dollarscheine vom Dach der New Yorker Börse geworfen und vor dem Pentagon eine Séance abgehalten, um die bösen Geister daraus zu vertreiben. Als Abbie Hoffman und sieben Freunde 1968 nach Demonstrationen gegen den Vietnamkrieg während des Parteitags der Demokraten in Chicago wegen Verschwörung und Aufruf zum Aufruhr unter Anklage standen, erschien er in Richterrobe vor Gericht. Sein Anwalt rief Allen Ginsberg als Zeugen auf, damit er zur Verteidigung der Freunde aus seinen Werken vortrug. Die Kriegsgegner trafen auf keinen verständnisvollen Richter; er verwarnte die Angeklagten und ihre Verteidiger mehr als zweihundert Mal wegen Missachtung des Gerichts. «Sie sind eine shande far di goyim», erklärte Abbie Hoffman. Sie beschämen uns vor den Gojim.
«Demokratie ist nichts, woran man glaubt oder seinen Hut aufhängt, es ist etwas, das man tut», von diesem Leitsatz ließ Abbie Hoffman nicht ab. Die einzig richtige Reaktion auf gesellschaftliches Unrecht war seiner Überzeugung nach moralisches Aufbegehren. Ich war fünfzehn, als ich Abbie Hoffmans Steal This Book in einer verstaubten College-Bibliothek entdeckte. Mittlerweile, 1987, war sein einstiger Mitstreiter Tom Hayden in den offiziellen Politikbetrieb gewechselt und Jerry Rubin hatte seine «Pig for President»-Kampagne zugunsten eines Wall-Street-Jobs aufgegeben. Abbie Hoffman dagegen hielt an seinem bodenständigen Idealismus fest. Am Delaware River harrte er aus und kämpfte hartnäckig gegen den Bau der Pumpanlage eines Kernkraftwerks. Bis Abbie Hoffman zwanzig Jahre nach dem Gerichtsverfahren in Chicago, als er in einem umgebauten Truthahnstall lebte und von einer regionalen Umweltgruppe ein symbolisches Gehalt bekam, plötzlich aufgab.
Der Selbstmord des Mannes, der auch dann noch um eine bessere Welt rang, als er nicht mehr mit dem Zeitgeist konform ging, berührte mich sehr. In jenem Sommer, in dem ich gerade mein drittes Highschool-Jahr beendet hatte, fuhr ich zwei Stunden zu einer öffentlichen Gedenkveranstaltung für Abbie Hoffman im Washington Crossing Park, unweit der sich verbürgerlichenden Enklave der alternden Jugendkultur in New Hope, Pennsylvania, wo ich einmal ein Paar Ohrringe mit dem Friedenszeichen gekauft hatte. Die Parkaufsicht war nicht erfreut gewesen; die Leiterin der Behörde glaubte, dass dieser Mann keine Ehrung verdiene. Die für die Organisation zuständigen Umweltschützer ließen sich davon nicht abschrecken, vielleicht freuten sie sich sogar darüber, jedenfalls drohten sie mit einer Klage auf Grundlage des 1. Zusatzartikels der Verfassung der USA. Die Parkaufsicht lenkte ein. Die Versammlung wurde «Steal This Picnic» getauft. Auf dem Programmzettel standen einige Zitate von Abbie Hoffman, die die Organisatoren besonders schätzten: «Der erste Satz der Verfassung beginnt nicht mit: ‹Wir, die Elektrizitätswerke von Philadelphia›.» «Der Mensch muss an erster Stelle stehen, wenn die Demokratie überleben soll.» Allen Ginsberg las auf dem Picknick seine Gedichte, Richie Havens spielte Gitarre, und Bobby Seale von den Black Panthers verkaufte sein Kochbuch, Barbeque’n with Bobby, um, wie er erklärte, Geld für Haftkautionen zu sammeln.
Die Trauernden trugen Batik-T-Shirts und rot-weiß-blaue Anstecker, auf denen stand: «Abbie lebt!» Dann mischten sich Abgase in den Patchouli-Geruch, als Vietnam-Veteranen in schwarzem Leder auf Harley-Davidsons den Park stürmten, die Motoren aufheulen ließen und riefen: «Linke Kommunistensau!» und «Scheiß auf Sozen-Abbie!»
Auch die Veteranen auf Motorrädern würden bald ein Anachronismus sein, die letzten Tage des Kalten Kriegs hatten begonnen. Michail Gorbatschow war in der Sowjetunion schon an der Macht. Im April, ebendem Monat, in dem der amerikanische Revolutionär Abbie Hoffman starb, setzten sich dort Regimegegner und Kommunisten gemeinsam an einen runden Tisch und bereiteten Wahlen vor. Im November desselben Jahres fiel die Berliner Mauer. Im Verlauf der nächsten zehn Tage begann in der Tschechoslowakei die Samtene Revolution. Im Monat darauf gingen im rumänischen Bukarest auf einer Massenkundgebung für die Diktatoren Nicolae und Elena Ceauşescu die Jubelrufe plötzlich in Buhrufe über. Am Weihnachtstag richtete ein Erschießungskommando die Ceauşescus hin. Vier Tage später, am 29. Dezember 1989, wurde Václav Havel Präsident der Tschechoslowakei.
Der Kommunismus, wie die Amerikaner ihn kannten, gehörte der Vergangenheit an.
Damals wusste ich sehr wenig über den Kommunismus.
«Proletarier aller Länder, vereinigt euch!» Mit diesen Worten beschlossen Karl Marx und Friedrich Engels 1848 das Manifest der Kommunistischen Partei. In naher Zukunft werde sich die ausgebeutete Arbeiterklasse auf der ganzen Welt erheben und ihre Unterdrücker, die Angehörigen der Bourgeoisie, niederwerfen. Zu guter Letzt werde das Privateigentum abgeschafft und der Staat sich zurückziehen. Jeder arbeite gemäß seiner Fähigkeiten und erhalte einen Lohn nach seinen Bedürfnissen. Alle lebten in einer gerechten, friedlichen und glücklichen Welt.
Das Kommunistische Manifest war nicht nur ein politisches Programm, sondern auch eine Geschichtsphilosophie und eine Prophezeiung. Die Geschichte werde sich zwangsläufig in diese Richtung bewegen. Der Feudalismus sei vom Kapitalismus abgelöst worden, und der Kapitalismus wiederum werde dem Kommunismus Platz machen – sobald die Arbeiterklasse die ihr zugedachte revolutionäre Rolle begreife. Daran führe kein Weg vorbei. «Das Sein bestimmt das Bewusstsein», behauptete Marx. Entscheidend sei nämlich die konkrete Stellung eines Menschen innerhalb der gesellschaftlichen Ordnung – ob jemand Fabrikarbeiter oder Fabrikbesitzer war, ausgebeuteter Angestellter oder ausbeutender Unternehmer. Davon leite sich das Bewusstsein oder Denken eines Menschen ab, es folge auf logische Weise dem konkreten Dasein. Jahrzehnte vergingen, das neunzehnte Jahrhundert steuerte seinem Ende entgegen, und nach wie vor war in den meisten Teilen Europas die Arbeiterklasse recht klein. Darüber hinaus schienen die Arbeiter sich Zeit damit zu lassen, ein Klassenbewusstsein im Marx’schen Sinne zu entwickeln.
Dann kam der Erste Weltkrieg, und Europa ging in Flammen auf. Im März 1917 war es in Petrograd, der Hauptstadt des Russischen Reichs, sehr dunkel und sehr kalt. In der von zweieinhalb Jahren Krieg ausgebluteten Stadt führte der Hunger zu Streiks, Demonstrationen und Meutereien unter den zaristischen Truppen. Da er die öffentliche Ordnung nicht aufrechterhalten konnte, dankte Nikolaus II. ab. Die neue provisorische Regierung stellte eine Miliz auf dem Land auf, wogegen die Bauern revoltierten, indem sie das Land in Besitz nahmen und kein Getreide mehr lieferten. In den Städten kam es zu Nahrungsmittelknappheit. Die desillusionierte Bevölkerung radikalisierte sich.
Zu dieser Zeit befand sich der revolutionäre Lenin in der Schweiz – vermutlich der Ort in Europa, an dem man sich während des Krieges am vernünftigsten aufhielt. Lenin aber wollte nur eines, nämlich nach Russland zurückkehren. Als er im April 1917 in dem erschöpften, ausgehungerten Petrograd eintraf, stellten er und die anderen Bolschewiken fest, wie er sagte, «dass die Macht auf der Straße lag, und wir nahmen sie auf». Angesichts der anarchistischen Verhältnisse wollten die Bolschewiken keine Kompromisse eingehen und beschlossen zu handeln. Lenin, Kind des rückständigen Russlands, wollte nicht warten, bis der Feudalismus sich zum Industriekapitalismus entwickelte und im Proletariat ein Klassenbewusstsein entstand. Das dauerte ihm zu lange, er war ungeduldig.
Als im November 1917 Lenin und die Bolschewiken den Winterpalast in Petrogard stürmten, führten sie eine Arbeiterrevolution in einem Land der Bauern an. Das Proletariat, in dessen Namen die Bolschewiken aufbegehrten, war bislang noch metaphysischer Art und musste erst entstehen. Diese Beschleunigung der Geschichte im trägen Russland würde die Regel nur einen Moment lang aussetzen, so Lenins Überzeugung, als er im März 1918 einen Separatfrieden mit Deutschland schloss. Die proletarische Weltrevolution stehe praktisch vor der Tür.
Das war ein Irrtum. Stattdessen endete der Erste Weltkrieg mit dem Niedergang von vier Reichen: dem Osmanischen Reich, dem zaristischen Russland, dem Habsburger und dem Deutschen Reich. Am Verhandlungstisch in Versailles saßen die Siegermächte – Franzosen, Briten und Amerikaner – und zeichneten eine neue Karte von Osteuropa. Sie bildeten Nationalstaaten, für die sie eine demokratische Staatsform vorsahen. Mit Ausnahme der Tschechoslowakei waren die neuen Staaten allerdings nur kurze Zeit demokratisch. Bald schon verlor der Liberalismus an Attraktivität und fiel einer Polarisierung zum Opfer. Die Rechte und die Linke radikalisierten sich immer mehr, und das Zentrum «verdampfte», um einen Begriff von Marx zu gebrauchen.
Im ehemaligen Russischen Reich waren in der Zwischenzeit eine Reihe von Bürgerkriegen mit dem Sieg der Bolschewiken zu Ende gegangen. Gerade als die Bolschewiken im Dezember 1922 die Sowjetunion gründeten, erkrankte Lenin. Sein früher Tod im Jahr 1924 führte zu einem Machtkampf zwischen Josef Stalin und Leo Trotzki, den Stalin für sich entschied. Er kollektivierte die Landwirtschaft und baute die Industrie auf – zu einem außerordentlich hohen Preis für die Bevölkerung. Während Stalin Getreide zwangsrequirieren ließ, um die Industrialisierung zu fördern, verhungerten Millionen von Bauern. Menschen wurden verrückt vor Hunger, und es kam auf dem Land zu Kannibalismus. Das rührte Stalin nicht. Die Sowjetunion musste aufholen, zum Westen, zur Geschichte.
Der Sozialismus, so erklärte Stalin in den dreißiger Jahren, sei siegreich – fast, wenigstens. Er warnte jedoch davor, dass gerade jetzt, da die Vollendung des Sozialismus in greifbare Nähe gerückt sei, der Feind umso heimtückischer werde. Angesichts des bevorstehenden endgültigen Siegs des Sozialismus nehme der Klassenkampf an Heftigkeit zu. In seiner Verzweiflung ziehe sich der Feind zurück und maskiere sich. Er könne überall sein – auch in den Rängen der Kommunistischen Partei, auch im eigenen Bett. So kam es, dass die Sowjetunion auf den Terror verfiel. Es gab nächtliche Verhaftungen. Falsche Geständnisse wurden durch Folter erpresst. In den Gefängnissen wurden Hinrichtungen vollzogen. Schuld verbreitete sich wie eine Epidemie. Jeder wurde gleichzeitig unendlich mächtig und unendlich angreifbar; jeder konnte jeden verraten – und damit jederzeit zum Henker des Nachbarn werden.
Die dreißiger Jahre des zwanzigsten Jahrhunderts waren in ganz Europa eine finstere Zeit. Nachdem Adolf Hitler 1933 die Macht erlangt hatte, festigte er während der Jahre des stalinistischen Terrors seine Position. Als das «Dritte Reich» 1939 den Zweiten Weltkrieg anzettelte, fand sich Osteuropa zwischen Hitler und Stalin wieder – schlimmer ging es nicht. Zunächst marschierten Nazideutschland und die Sowjetunion kurz hintereinander in Polen ein. Dann hintergingen die Nationalsozialisten ihren Verbündeten und griffen im Juni 1941 die Sowjetunion an. Zu dieser Zeit begannen die Deutschen mit der systematischen Ermordung der Juden in Osteuropa. Später wendete sich das Blatt, und die Sowjets kehrten nach Osteuropa zurück. Größtenteils blieben sie auch dort. Die Jahre zwischen 1945 und 1948 waren gekennzeichnet durch wechselnde Koalitionen und einen sich ausbreitenden Totalitarismus. Schließlich wurden Albanien, Bulgarien, die Tschechoslowakei, Ungarn, Polen, Rumänien und Jugoslawien kommunistisch – wie auch der nordöstliche Teil Deutschlands, die Sowjetische Besatzungszone. Viele Osteuropäer hätten nicht sagen können, ob sie den Krieg gewonnen oder verloren hatten. Denn nach dem Krieg kam der Stalinismus. Die kommunistischen Parteien Osteuropas übernahmen in den neuen Satellitenstaaten der Sowjetunion das kommunistische Wirtschaftssystem und besannen sich auf die stalinistischen Terrormaßnahmen aus den dreißiger Jahren: Massenverhaftungen, Folter, Schauprozesse, Hinrichtungen.
Stalin war ein langes Leben beschieden. In Warschau lebte in den neunziger Jahren noch ein alter Trotzkist namens Ludwik Haas, der siebzehn Jahre in Stalins Gulag verbracht hatte – weil er an die falsche Art von Sozialismus glaubte. Wie so viele andere hatte Ludwik Haas unendlich gelitten, aber er hatte überlebt. Ein deformierter Finger war ein Andenken an die Zeit im Gulag.
«Ich wusste, dass Stalin nicht ewig leben konnte», sagte er.
Und das stimmte. Selbst Stalin konnte nicht ewig leben. Er starb im März 1953. Es dauerte drei Jahre, bis Stalins Nachfolger Nikita Chruschtschow seinen Vorgänger offen kritisierte. In seinem «Geheimreferat» vom Februar 1956 räumte Chruschtschow ein, dass es unter Stalin zu «Exzessen» gekommen sei.
Mit diesem sehr zurückhaltenden Eingeständnis stalinistischer Verbrechen ging der Stalinismus zu Ende. Damit verbunden waren der Sturz einiger Kommunisten und der Aufstieg – oder die Rehabilitation – anderer. In Polen wurde der national gesinnte Kommunist Władysław Gomułka in aller Stille aus dem Hausarrest entlassen und zum neuen Führer der kommunistischen Polnischen Vereinigten Arbeiterpartei ernannt. In Ungarn trieb man die Entstalinisierung entschlossener voran. Der ungarische Premier Imre Nagy wollte den Sozialismus beibehalten, allerdings in einer demokratischen Fassung. Damit ging er zu weit. Nachdem er ein Mehrparteiensystem und eine unabhängige Außenpolitik verkündet hatte, fuhren sowjetische Panzer auf und setzten der ungarischen Revolution ein Ende. Häuser wurden geplündert und niedergebrannt, Tausende Ungarn umgebracht oder ins Gefängnis gesteckt. In den Jahren nach dem Blutvergießen wusste die von der Sowjetunion gebilligte Regierung, dass sie in der Bevölkerung keinen guten Stand hatte. Und so wurden Kompromisse gemacht. Die Partei behielt ihr Machtmonopol, ließ dafür aber vom Terror ab. Das Volk stellte die Autorität des Staates nicht infrage, und im Gegenzug wurde ihm eine begrenzte Privatsphäre zugebilligt. Wer sich nicht offen auflehnte, wurde von der Partei für hinlänglich loyal erachtet. Den Lebensstandard hob man durch maßvolle wirtschaftliche Reformen. Das war der «Gulasch-Kommunismus», und schon bald wurde Ungarn zu der «lustigsten Baracke im sowjetischen Lager».
Ungarn hatte offenbar seine Lektion gelernt. Andere sowjetische Satellitenstaaten nicht. Zwölf Jahre später, 1968, unternahm die Tschechoslowakei unter Alexander Dubček den nächsten Versuch, einen demokratischeren Sozialismus zu verwirklichen: eine gemischte Wirtschaftsordnung, demokratische Verfahren innerhalb der Kommunistischen Partei, Redefreiheit. Dubček und seine Unterstützer hatten Imre Nagys fatalen Fehltritt nicht vergessen, und so wurde beschlossen, dass es keine Parteien außer der kommunistischen geben und die Tschechoslowakei ein treues Mitglied des Warschauer Pakts bleiben sollte. Es half nichts, die Geschichte wiederholte sich. Hundert Jahre zuvor hatte Marx geschrieben: «Hegel bemerkte irgendwo, dass alle großen weltgeschichtlichen Tatsachen und Personen sich sozusagen zweimal ereignen. Er hat vergessen hinzuzufügen: das eine Mal als Tragödie, das andere Mal als Farce.» In diesem Fall allerdings wiederholte sich die Geschichte auch als Tragödie. Sowjetische Panzer – offiziell die des Warschauer Pakts – besetzten die Straßen Prags wie zwölf Jahre zuvor die Budapests. Damit waren die Hoffnungen auf einen «Sozialismus mit menschlichem Antlitz» vom Tisch. Allerdings erlebte dieses Jahr auch seine Farce. Im Frühling des Jahres 1968 beschuldigte die Polnische Vereinigte Arbeiterpartei die protestierenden Studenten der «zionistischen Konspiration» und nutzte die gegen die Zensur gerichteten Demonstrationen als Vorwand, eine antisemitische Kampagne loszutreten. Die Kommunisten verbreiteten die hanebüchene Unterstellung, nazistische Zionisten hätten sich gegen Polen verschworen. Dreizehntausend Juden – viele Holocaust-Überlebende und überzeugte Kommunisten, die als polnische Bürger ihrem Heimatland tief verbunden waren – tauschten ihre polnischen Ausweise gegen Ausreisevisa ein.
Die desillusionierenden Geschehnisse im Jahr 1968 waren der Anfang vom Ende des europäischen Marxismus.
Ein Ergebnis der Entspannungspolitik während des Kalten Kriegs war 1975 eine Konferenz auf finnischem Boden, wo Vertreter des Ost- und des Westblocks die Schlussakte von Helsinki unterzeichneten. Die Sowjetunion erkaufte sich die westliche Anerkennung der «Unverletzlichkeit der Grenzen» durch eine Garantie der Menschenrechte. Die Unterzeichner versprachen, die Grundfreiheiten, unter anderem die Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit, zu achten. Viele dachten, dass die Unterschriften der kommunistischen Regierungen auf den Dokumenten von rein symbolischer Bedeutung waren. Sie sollten recht behalten. Allerdings erhielten die West- und Osteuropäer dadurch immerhin eine neue Sprache der Menschenrechte, die an die Stelle des Marxismus trat. Und das sollte in den folgenden Jahren von großer Bedeutung werden.
Als die polnischen Studenten 1968 gegen die Zensurmaßnahmen auf die Straße gingen, wurden sie von der Mehrheit der Arbeiter, besonders den älteren, nicht unterstützt. Als dann zwei Jahre später die polnischen Arbeiter gegen die Preiserhöhungen demonstrierten, zahlten die Studenten ihnen das heim und blieben den Demonstrationen fern. Erst 1976 ergriffen die Intellektuellen die Partei der Arbeiter und bildeten das Komitee zur Verteidigung der Arbeiter. Bald darauf wurde der Erzbischof von Krakau, Karol Wojtyła, zum Papst gewählt. 1979 stattete Johannes Paul II. Polen seinen ersten Auslandsbesuch als Papst ab. Eine Million Menschen kamen, um ihn zu sehen.
«Ich lasse hier meine Person beiseite», sagte Papst Johannes Paul II. zu seinen Landsleuten, «muss mir aber dennoch zusammen mit euch allen die Frage nach den Gründen stellen, warum gerade im Jahr 1978 … auf den Bischofssitz des hl. Petrus ein Sohn polnischer Nation, polnischer Erde, berufen wurde. Von Petrus und den übrigen Aposteln forderte Christus, sie müssten seine ‹Zeugen sein in Jerusalem, in ganz Judäa und Samaria und bis an die Grenzen der Erde›. Haben wir mit Bezug auf diese Worte Christi nicht das Recht zu folgern, dass Polen in unserer Zeit das Land eines besonders verantwortungsvollen Zeugnisses wurde?»
Ein Jahr darauf, im Sommer 1980, fingen polnische Arbeiter an zu streiken, zuerst auf den Ostseewerften, dann im ganzen Land. Als Mitglieder der Regierung in die Hafenstadt Danzig fuhren, reisten auch Intellektuelle aus Warschau an, um die Arbeiter in den Verhandlungen mit der Regierung zu unterstützen. Von allen Ländern des Ostblocks fanden allein in Polen Intellektuelle und Arbeiter in einer Massenbewegung zusammen. So kam es in der Folge des Besuchs von Papst Johannes Paul II. und im Geist des Komitees der Verteidigung der Arbeiter zur Gründung der Solidarność. Die Solidarność war etwas Besonderes. Sie war nicht nur eine Gewerkschaft, sie war eine das ganze Land einschließende Erfahrung in Sachen Zivilgesellschaft. Es war ein Name, der einen echten Inhalt verkörperte: Linke und Rechte, Marxisten und Katholiken, Intellektuelle und Arbeiter – zusammen etwa zehn Millionen Leute – vereinten sich darunter gegen ein repressives Regime. «Die Geschichte hat uns gelehrt», so das Programm der Solidarność, «dass es kein Brot ohne Freiheit gibt.»
Die Anführer der Solidarność begriffen ihre Revolution als «sich selbst beschränkend», das heißt, sie würde nicht zu weit gehen. Sie wollten das gesellschaftliche Eigentum an Produktionsmitteln nicht angreifen, die führende Rolle der Partei im Staat nicht infrage stellen und keine sowjetische Intervention provozieren. Aber wie schon Imre Nagy in Ungarn und Alexander Dubček in der Tschechoslowakei verrechnete sich auch die Solidarność in Polen und überschätzte, bis zu welchem Maß die kommunistische Regierung – und die Sowjetunion – derartige Unabhängigkeitsbestrebungen zu tolerieren bereit war. Dieses Mal jedoch fuhren keine sowjetischen Panzer auf. Vielmehr verlangte der sowjetische Regierungschef Leonid Breschnew von der polnischen Regierung, dass sie das Problem selbst löste. Am 13. Dezember 1981 rief der polnische Ministerpräsident General Wojciech Jaruzelski das Kriegsrecht aus. Die Solidarność wurde in den Untergrund getrieben und die Anführer verhaftet.
Nach 1968 gab es überall im Ostblock Oppositionsbewegungen gegen die Regierungen, wenngleich sie weniger umfassend als die polnische waren. In der Tschechoslowakei entstand aus der Menschenrechtspetition Charta 77 eine Bewegung, die sich wie die Solidarność auf Samisdat gründete, also die Verbreitung kritischer Schriften im Selbstverlag. Einer der Unterzeichner der Charta, der katholische Dissident Václav Benda, beschrieb sie als eine «Parallel-Polis», eine zweite Gesellschaft im Schatten der offiziellen, eine in den Untergrund gezwungene, wachsende Zivilgesellschaft.
Diese Parallel-Polis entwickelte sich nach 1968 in verschiedenem Maße und in unterschiedlicher Form in Ungarn, Polen und der Tschechoslowakei, aber nicht in Rumänien. Rumäniens kommunistischer Diktator Nicolae Ceauşescu entzog sich der Sowjetherrschaft, aber nur um das Land zu einem Stalinismus nationalistischer und dynastischer Prägung zurückzuführen. Zur Steigerung des Bevölkerungswachstums schrieb Ceauşescu gynäkologische Untersuchungen vor und erließ drakonische Gesetze gegen Abtreibung. Er befahl eine Industrialisierung um jeden Preis, nahm Auslandskredite auf und zahlte sie auf Kosten seines Volkes zurück. Es herrschte Energie- und Nahrungsmittelknappheit, Brot wurde rationiert. Im Winter froren die Menschen. Krankenhäuser wurden zu wenig beheizt, und die Säuglingssterblichkeit war hoch. Ceauşescus Geheimdienst Securitate war allgegenwärtig. Die Lebensbedingungen waren schlimmer und die Repressionen härter als in allen anderen Ländern des Warschauer Pakts, was auch am Fehlen einer vergleichbaren Bewegung wie der Solidarność und der Charta 77 lag. Ceauşescus Neostalinismus war mindestens so sehr eine Tragödie wie eine Farce: Ceauşescu, ein extravaganter, besessener und größenwahnsinniger Mann, war von einer unersättlichen Ruhmsucht geplagt. Der Conducător, das Genie der Karpaten, der Hirte und Retter der Nation und das Gewissen der Welt, ließ für sich und seine Frau in Bukarest einen riesigen Palast errichten, während das rumänische Volk hungerte.
«Wir sind 22 Millionen Menschen, die in der Einbildung eines Verrückten leben», schrieb der rumänische Romancier Alexandru Ivasiuc.
An dem Tag im Dezember 1989, als Fallschirmjäger die Ceauşescus gefangen nahmen, war Nicolae in einem dunklen Dreiteiler gekleidet, der sein schönes weißes Haar hervorhob. Elena trug einen langen gelben Mantel und ein Seidenkopftuch, das sie nach Art der Bäuerinnen unter dem Kinn geknotet hatte. Lose Strähnen hatten sich aus dem Haarknoten gelöst und fielen ihr um die lange Nase. Nicolae und Elena Ceauşescu saßen während ihres Schnellverfahrens händchenhaltend auf zwei kleinen Schulstühlen.
«Sie besaßen Paläste», sagte der Ankläger.
«Nein, wir besaßen keine Paläste, die Paläste gehörten dem Volk», erwiderte Nicolae Ceauşescu.
Es war ein sehr kurzer Prozess. Nach der Urteilsverkündung fesselten Fallschirmjäger den Ceauşescus die Hände hinter dem Rücken und führten sie hinaus.
Die Regierungen Ungarns und Polens wurden 1989 nach friedlichen, wenn auch angestrengten Verhandlungen abgelöst. Die neue ungarische Regierung öffnete die Grenze zu Österreich. Rasch reisten DDR-Bürger über Ungarn nach Österreich aus und von dort in die Bundesrepublik Deutschland. Die fassungslose Staatsmacht der DDR beschloss daraufhin, die Grenze in Berlin zu öffnen. Seit 1961 stand die Berliner Mauer für ein durch den Eisernen Vorhang geteiltes Europa. Ostdeutsche waren in ihrer Verzweiflung durch Erdtunnel gekrochen, um auf die andere Seite zu kommen. Über der Erde hatten ostdeutsche Grenzsoldaten Menschen erschossen, die sie bei dem Versuch ertappten, über die Mauer zu klettern. Dann fiel am 9. November 1989 die Mauer.
Zwei Jahre später gab es keine Sowjetunion mehr.
Die Revolutionen des Jahres 1989 breiteten sich von Polen über Ungarn, Ostdeutschland, die Tschechoslowakei und Bulgarien bis nach Rumänien aus. Sie waren wie eine Falte in der Zeit: Die scheinbar so lange angehaltene Zeit machte plötzlich einen Sprung nach vorne. Für viele Millionen Osteuropäer brachte das Ende des Kommunismus unzählige Wohltaten – an erster Stelle eine Freiheit, von der die große Mehrheit nicht gedacht hätte, dass sie sie noch erleben würde. Doch das Ende des Kommunismus bestätigte auch Freuds Warnung vor der Wiederkehr des Verdrängten. Für Freud war das Unbewusste eine dunkle psychische Kammer, in die alles verbannt wurde, was für das Bewusstsein verstörend war. Während der jahrzehntelangen kommunistischen Herrschaft besaßen die Staatsarchive in diesen Ländern eine ähnliche Funktion. Freud machte sich keine Illusionen darüber, dass es nicht Leid verursachte, wenn der Inhalt der Seelenkammer ans Licht des Bewusstseins gezerrt wurde. Dasselbe galt für die Öffnung der kommunistischen Staatsarchive. «Ein Gespenst geht in Europa um – das Gespenst des Kommunismus», schrieben Marx und Engels 1848. Anderthalb Jahrhunderte später ist der Kommunismus zwar kein Gespenst mehr, das kommen wird, aber nach wie vor geht er als Gespenst der Vergangenheit um.
Im Februar 1990 besuchte Václav Havel, der neue Präsident der postkommunistischen Tschechoslowakei, Washington, um dort seine erste Rede zu halten.
«Das Bewusstsein bedingt das Sein», erklärte Havel dem amerikanischen Kongress. «Und nicht andersherum, wie die Marxisten behaupten.»
Keiner wusste, was das bedeuten sollte, aber es klang gut.
«Wenn ich so reden könnte», sagte ein Journalist, «dann würde ich für den Posten Gottes kandidieren.»
Im Juni 1993 fuhr ich zu Recherchen für meine Abschlussarbeit nach Prag. Die Frauen trugen kleine Hunde in großen Handtaschen herum, und in der U-Bahn fuhren die Rolltreppen beunruhigend schnell. Neben dem U-Bahnhof Hradčany plärrten aus den Lautsprechern vor einem Café Dolly Parton und Kenny Rogers «Islands in the Stream», dann kam B.J. Thomas, der «Raindrops Keep Falling on My Head» sang. Ein paar Meter weiter führten kopfsteingepflasterte Stufen zu der Burg hoch.
Die Prager Burg thronte auf einem Hügel über der Moldau, die mächtigen, nicht sehr hohen Gebäude waren in blassen Rosa- und Grautönen gestrichen und öffneten sich zu großen Innenhöfen. Beherrscht wurde dieser Ort nicht von dem leuchtenden Neoklassizismus des Neuen Königlichen Palastes, sondern der dunklen Neogotik des Veitsdoms mit seinen Buntglasfenstern und Wasserspeiern. Das Burgareal stellte eine eigene, verzauberte Welt dar, mit gewundenen kleinen Straßen, von denen eine zu dem Goldenen Gässchen aus der Frührenaissance führte, gesäumt von himmelblauen, sonnengelben und tiefroten Häusern, winzigen, wie für Elfen gebauten Behausungen. Es war ein märchenhafter Ort. Jenseits der Burgmauern aber, auf den Straßen, war die Tschechoslowakei keine Märchenwelt – zumindest nicht nur. Das Prag des Sommers 1993 war eine Stadt, in der die überkommenen Regeln ihre Geltung verloren hatten. Und noch wusste niemand, wie die neuen Regeln aussehen würden. Das Ende des Kommunismus hatte einem nackten Manchesterkapitalismus Platz gemacht. Der freie Markt wurde buchstäblich als frei von Verantwortung und nahezu frei von Beschränkungen begriffen, ein Selbstbedienungsmarkt.
Ich lernte Martina kennen, eine Sozialpsychologin in den Dreißigern. Da sie einige Zeit an amerikanischen Universitäten verbracht hatte, sprach sie gut Englisch. Der Sturz des Kommunismus eröffnete ihr die Möglichkeit, eine akademische Laufbahn in den USA einzuschlagen. Was die tschechische Gesellschaft betraf, war sie sowohl stolz als auch kritisch. Jahrelang waren die Leute mit relativer Stabilität und niedrigen Preisen ruhig gehalten worden. Sie waren eingelullt worden und sich dessen die ganze Zeit über bewusst gewesen. Martina brachte mir eine Redewendung aus der kommunistischen Ära bei: «Wir tun so, als würden wir arbeiten, und sie tun so, als würden sie uns dafür bezahlen.» Den Übergang zum Kapitalismus beschrieb sie als den Umzug von einem Zoo in einen Dschungel. Mit dem Niedergang des Unterdrückungsstaates hatte sich das Verbrechen rasend schnell verbreitet. Immer mehr Frauen waren zur Prostitution gezwungen. Neofaschistische Skinheads machten die Straßen unsicher. Darüber hinaus waren mafiöse kommunistische Gruppen nach wie vor mächtig, und was die Tschechen «Lustration» nannten, hatte das Land in eine moralische Krise gestürzt.
Das lateinischstämmige Wort «Lustration» bedeutet so viel wie «Reinigung». Gemeint waren eine politische Überprüfung und eine Befreiung des öffentlichen Lebens von den ehemaligen kommunistischen Kolaborateuren. Letzteres bezog sich insbesondere auf die Zuarbeiter des Geheimdienstes – sie machten einen großen Anteil der Bevölkerung aus, wie die tschechischen Bürger nach der Samtenen Revolution erfuhren, als ein vormaliger Dissident namens Petr Cibulka beschloss, ein geheimes Mitarbeiterverzeichnis der Geheimpolizei publik zu machen.
«Möchten Sie wirklich wissen», fragte Martina, «ob Ihr Nachbar, womöglich auch Ihr Freund oder Liebhaber, ein Spitzel war?»
Einige Tage darauf fuhr ich nach Bratislava, der Hauptstadt der neuerdings unabhängigen Slowakei. Während sich Deutschland 1989 wiedervereinigt hatte, hatte die Tschechoslowakei sich geteilt. Als ich im Sommer in Prag ankam, hatte sie schon nicht mehr existiert. Seit dem 1. Januar 1993 waren die Tschechische Republik und die Slowakei zwei unabhängige Länder. In dieser Situation lernte ich Miloš kennen, der einige Jahre zuvor an der Comenius-Universität in Bratislava Physik studiert hatte. Er war kein besonders fleißiger Student gewesen und wurde auch kein Physiker. Stattdessen kandidierte er als Mitglied der Bewegung für eine demokratische Slowakei, einer nationalistisch-populistischen Partei unter der Führung des demagogischen Vladimír Mečiar, für das Parlament. Unverhofft errang Miloš einen Sitz. Nur wenige Monate später kam es im Januar 1993 zur «samtenen Teilung», und die Tschechoslowakei gehörte der Vergangenheit an. Es hatte kein Referendum gegeben. Miloš erklärte mir, dass man unmöglich eines hätte abhalten lassen können. Ein Referendum unter allen tschechoslowakischen Bürgern wäre ungerecht gewesen, weil es in der Tschechoslowakei doppelt so viele Tschechen wie Slowaken gab, so dass die Slowaken ohne weiteres hätten überstimmt werden können. Und ein Referendum ausschließlich unter den Slowaken wäre unfair gewesen, denn wenn die Slowaken für eine Trennung gestimmt hätten, hätte die tschechische Repulik als legitimer Nachfolgestaat der Tschechoslowakei deren internationale Rechtsansprüche geltend machen können. Viele Leute bezweifelten, dass die Tschechen oder Slowaken für eine Teilung gestimmt hätten, hätten sie denn die Wahl gehabt. Stattdessen übernahmen Vladimír Mečiar und sein tschechisches Gegenüber Václav Klaus die Verhandlungen über die Auflösung der Tschechoslowakei. Im Sommer 1993 wurde die gerade unabhängige Slowakei in den Europarat in Straßburg aufgenommen, der sich für die Integration Europas und die Förderung der Demokratie einsetzt. Miloš, ein gutaussehender und fröhlicher Mann ohne größere politische Erfahrung, wurde der slowakische Repräsentant im Europarat. Jetzt suchte er einen Englischlehrer.
Vor dem Europarat musste Miloš Reden in englischer Sprache halten. Er sprach ein wenig Englisch, mehr oder weniger unter Absehung der Grammatikregeln, was ihn aber nicht weiter störte. Er war charmant und ein begnadeter Kommunikator. Ich versuchte, ihm die englischen Zeiten zu erklären. Er lachte – es seien zu viele, für so viele Zeiten hätte er doch gar keine Verwendung, bestimmt wären sie auch gar nicht nötig. Ich half ihm beim Überarbeiten seiner Reden, aber irgendwann verlor er immer die Lust und wollte lieber in eine Bar gehen und etwas trinken. So ernst müsse man das Ganze nicht nehmen.
Auch wenn Bratislava den Eindruck eines Provinznestes machte, gab es an jeder Ecke eine Bar. Die Hauptstadt der Slowakei war längst nicht so aufregend wie Prag, aber sie hatte ihren Reiz. Der Hauptplatz mit dem runden Brunnen in der Mitte war gesäumt von manieristischen und Jugendstilhäusern, die in Pastellfarben gestrichen waren. An den gewundenen Straßen der Altstadt reihten sich die Straßencafés und Weinkeller.