ÖSTERREICHISCHE JUGENDBUCH-BIBLIOTHEK
ÖSTERREICHISCHE JUGENDBUCH-BIBLIOTHEK
Der Tag an dem Anton nicht da war
von Edith Scheiber-Wicke
1. digitale Auflage, 2014
www.ggverlag.at
ISBN E-Book 978-3-7074-1715-9
ISBN Print 978-3-7074-1587-2
In der aktuell gültigen Rechtschreibung.
Illustrationen: Carola Holland
©2013 G&G Verlagsgesellschaft mbH, Wien
Alle Rechte vorbehalten.
Der Tag, an dem Anton nicht da war
Anton wünscht sich einen Hund
Anton und seine Katze
Anton und der Wiederlan
In Grauland
Ein Idol namens Silberlinger
Anton und die Gäste
Anton und die B-Sprache
Der Pelzmantel
Das UFO
Der Baum
Donald
Wawawalter
Das Gespenst
Das Geburtstagsessen
Anton und die Zuhörerin
Der dicke Dieter
Rollentausch
Anton im Theater
Anton und die Möwe
Nie wieder!
Heiratspläne
Anton ist im Bild
Anton trifft sich
Anton erwachte an diesem Morgen mit einem unwirklichen Gefühl. Weil er aber noch zu klein war, um es für ein unwirkliches Gefühl zu halten, hielt er es für Bauchweh und stand auf.
In der Küche stand seine Mutter und rührte Milch unter die Haferflocken.
„Guten Morgen“, sagte Anton.
„Wo Anton heute bleibt?“, sagte seine Mutter.
„Ich bin doch da“, sagte Anton.
„Er wird zu spät in die Schule kommen“, sagte seine Mutter, und ging, um ihn aufzuwecken.
Inzwischen aß Anton seine Haferflocken, die dabei nicht weniger wurden. Anton fand das nicht weiter verwunderlich. Andere Dinge, die er täglich erlebte, schienen ihm oft verwunderlicher.
Anton ging in die Schule. Zwei Häuser weiter traf er den blonden Thomas mit den abstehenden Ohren, der ihn immer schubste und „Na, du!“ zu ihm sagte. Der blonde Thomas mit den abstehenden Ohren schubste Anton heute nicht. Er sagte nicht einmal „Na, du!“ zu ihm.
Das fand Anton sehr verwunderlich.
In der Klasse setzte sich Anton auf seinen Platz links vom Mittelgang, zweite Reihe. Er sah zu Sibylle hinüber. Sie saß rechts vom Mittelgang, vierte Reihe, und beachtete ihn wie immer gar nicht. Überhaupt nicht.
Als der Lehrer kam, zertrat er unabsichtlich ein Stück Kreide, das absichtlich dort lag, und fragte: „Wer fehlt?“
„Anton!“, brüllte die ganze Klasse.
Anton stand auf. „Bitte, ich bin aber da“, sagte er und merkte, dass niemand ihn hörte.
„Weiß jemand, ob er krank ist?“, fragte der Lehrer.
„Nein!“, brüllten alle. Ein paar lachten ohne Grund.
„Ich könnte bei ihm zu Hause fragen“, sagte Sibylle in der vierten Reihe rechts vom Mittelgang und wurde rot.
Das unwirkliche Gefühl in Anton verstärkte sich.
Nach der Schule ging Anton nach Hause.
Frau Ternozwil oder so ähnlich – Anton konnte sich ihren Namen nie merken – war da und kochte Spaghetti. Seine Mutter war nicht da. Sie arbeitete und kam erst abends nach Hause.
Frau Gernodil oder so ähnlich brummelte vor sich hin.
„Wo Anton bloß bleibt. Da kocht man für das Kind, und dann kommt es nicht nach Hause.“
Anton aß gern Spaghetti.
Daher sagte er so laut wie möglich:
„Da bin ich, Frau Zernodrill!“
„Das muss ich seiner Mutter sagen“, grollte Frau Dernogrill oder so ähnlich und räumte die Spaghetti in den Kühlschrank.
Anton ging spazieren.
Er ging in den Park und sah den Blättern zu, wie sie sich vom Wind treiben ließen.
Ein Mann setzte sich neben ihn auf die Parkbank.
Der Mann hatte einen sehr schäbigen Anzug an und einen sehr schön frisierten Pudel bei sich.
Irgendwie passten Mann und Pudel nicht zusammen.
Der Mann nahm ein Blatt Papier aus der Tasche und begann zu schreiben. „Werte Dame“, schrieb er mühsam und sprach jedes Wort mit, „wenn Sie Ihren Liebling wiedersehen wollen, müssen Sie schon was springen lassen.“
Anton wusste nicht, was es bedeutete, etwas springen zu lassen, aber der Mann gefiel ihm nicht.
Anton vertraute auf seine Unsichtbarkeit, nahm den Pudel unter den Arm und ging weg. Der Mann auf der Parkbank blieb mit weit aufgerissenen Augen wie gelähmt sitzen und weigerte sich zu glauben, was er sah.
Anton ging aufs Wachzimmer. Zwei Polizisten saßen im trüben Licht einer Glühbirne und schrieben. Einer sagte:
„Ein kleiner Bub ist abgängig, heißt Anton.“
Der andere sagte: „Und ein grauer Pudel, heißt Daisy.“
Bei Nennung des Namens riss sich der Pudel von Anton los, sprang dem Polizisten auf den Schoß und schleckte ihm begeistert das Gesicht.
„Wenn das nicht Daisy ist!“, rief der Polizist und versuchte der Hundezunge auszuweichen.
Anton sagte: „Bitte sehr, ich bin nicht abgängig, ich bin nur irgendwie nicht da.“
„Na, dann werden wir einmal die Pudelbesitzerin anrufen“, sagte der Polizist und streichelte Daisy.
Anton ging langsam nach Hause.
Zu Hause standen seine Mutter und sein Vater nebeneinander in der Küche. Das war wieder sehr verwunderlich. Sein Vater kam sonst nur jeden zweiten Sonntag, um Anton für ein paar Stunden abzuholen.
Anton setzte sich auf den Sessel zwischen seinen Eltern und hörte zu.
„Wo er nur sein kann“, sagte seine Mutter und hatte ein ganz kleines Gesicht vor Kummer.
„Es ist ihm nichts passiert“, sagte sein Vater, „ich weiß es.“
Anton wollte nicht mehr länger zuhören. Wenn er im Schlaf unsichtbar geworden war, würde er vielleicht auch im Schlaf wieder sichtbar werden. Anton legte sich ins Bett und schlief sofort ein.
Er wachte davon auf, dass seine Mutter ihn rüttelte.
„Wo warst du denn?“, sagte sie und versuchte streng zu wirken.
„Ich war da, es hat mich nur niemand gesehen“, sagte Anton und erwartete nicht, dass seine Mutter es glaubte.
Aber es geschah wieder etwas sehr Merkwürdiges.
Seine Mutter sagte nur „Ich verstehe“ und dann – mit einem erleichterten Aufseufzen: „Ich werde nächstes Mal genauer schauen.“
Dann aß Anton Milch mit Haferflocken, war froh, dass er wieder sichtbar war, und dachte an Sibylle in der vierten Reihe rechts vom Mittelgang.
„Ich möchte so gern einen Hund haben“, sagte Anton beim Mittagessen. Er sagte das fast täglich beim Mittagessen. Übrigens auch beim Abendessen.
Und beim Frühstück. Und dazwischen.
„Gut“, sagte seine Mutter.
„Aber warum nicht …“, setzte Anton an.
Dann verschluckte er sich an der Gemüsesuppe.
Als er fertig gehustet hatte, forschte Anton: „Was meinst du mit ‚gut‘?“
„Ich meine, dass ich einverstanden bin.“
„Einverstanden womit?“, fragte Anton zur Sicherheit.
„Einverstanden damit, dass wir unser Leben in Zukunft mit jemandem teilen, der vermutlich Flöhe nach Hause bringt, den Briefträger beißt und meine Wohnungsschlüssel im Garten vergräbt.“
Anton stieß kein Freudengeheul aus. Freude macht bisweilen sprachlos. Die Nachspeise ließ er stehen, obwohl es Vanillepudding war. Mit Himbeersaft.
Freude macht bisweilen erstaunlich satt.
Anton ging in sein Zimmer und holte ein dickes Buch unter dem Bett hervor.
Wichtige Dinge bewahrte Anton immer unter dem Bett auf. „Der beste Freund des Menschen“ stand auf der Titelseite. Und Anton blätterte.
„Der Dobermann ist ein wetterfester Gebrauchshund“ stand da. Und Anton wunderte sich. Er wollte seinen Hund lieb haben, nicht gebrauchen. „Dänische Doggen erreichen eine Schulterhöhe bis zu 85 cm“, las Anton auf einer anderen Seite. Anton dachte an Thomas mit den abstehenden Ohren. Kaum anzunehmen, dass der ihn noch einmal schubsen würde, mit der dänischen Dogge daneben. Aber vielleicht hatte Sibylle, vierte Reihe rechts vom Mittelgang, Angst vor so großen Hunden. Vielleicht wollte sie lieber einen ungarischen Hirtenhund oder einen Pudel oder einen Rauhaardackel.
Hm.
Anton beschloss, spazieren zu gehen.
Im Stiegenhaus begegnete ihm wieder die Katze, die ihm schon ein paar Mal aufgefallen war.
Sie war mager, struppig, schmutziggrau, hatte einen spitzen Kopf und hungrige Augen.
So eine hässliche kleine Katze, dachte Anton und stellte ihr eine Schüssel Milch hin.
Im Park betrachtete Anton prüfend einen blonden Cockerspaniel, einen gepunkteten Dalmatiner und eine lustige Mischung aus Dackel und Pudel.
Anton fand, sein Hund müsse etwas ganz Besonderes sein.
Im Stiegenhaus saß die magere Katze und miaute. Anton stellte fest, dass sie vorne X- und hinten O-Beine hatte, und holte ein Stück Käse für sie.
Beim Abendessen redete Anton ausschließlich über Hunde. Er würde seinem Hund beibringen, wie man an der Leine ging. Dass man bei roter Fußgänger-Ampel stehen bleiben musste. Und dass man keine Katzen jagen durfte.
Dabei fiel ihm die kleine Katze ein. „Die Leute, denen sie gehört, müssten sie besser füttern“, sagte er mit dem neu erwachten Verantwortungsbewusstsein des zukünftigen Tierbesitzers.
„Sie sieht aus, als gehörte sie niemandem“, sagte seine Mutter.
Am nächsten Morgen saß die Katze wieder vor Antons Wohnungstür. Sie wirkte noch dünner und miaute nicht. Sie sah Anton nur an. Anton ging zurück und stellte ihr den Rest Frühstücksmüsli vor die Tür. Er beschloss, demnächst herauszufinden, wem sie gehörte.
In der Schule erweiterte Anton nach fachmännischen Gesprächen die Liste seiner Wunschhunde noch um Huskie, Golden Retriever und Portugiesischer Wasserhund.
Zu Mittag saß die struppige kleine Katze vor seiner Tür. Frau Ternozwill oder so ähnlich werkte in der Küche.
„Eine Verantwortungslosigkeit ist das“, brummte sie. Anton war sich keiner Schuld bewusst und fragte: „Was denn?“
„Na, das mit der Katze“, murrte Frau Gernodill oder so ähnlich. „Die Kinder von Gaulmanns haben eine Katze vom Land mitgebracht.“
„Das ist aber nett“, sagte Anton.
„Das ist gar nicht nett“, sagte Frau Ternogrill,
„denn jetzt gefällt sie ihnen nicht mehr“
„Das ist aber gemein“, sagte Anton.
„Das ist gar nicht gemein“, widersprach Frau Zwernodrill – sie widersprach Anton grundsätzlich –, „so sind Kinder eben.“
So sind Kinder nicht, dachte Anton empört.
Aber er sagte es nicht. Immerhin wusste er jetzt, woher die kleine Katze vor seiner Tür kam.
Am Abend fragte Antons Mutter: „Na, wird unser neuer Hausgenosse langhaarig, dickfellig, borstig, seidig, lockig, blond, dunkel oder kariert?“
Anton sagte: „Hast du die Katze gesehen?“
„Ja“, sagte seine Mutter, „sie sitzt vor unserer Tür. Ausgerechnet. Man muss das Tierheim anrufen.“
Nach längerer Pause sagte Anton: „Sie ist ziemlich hässlich, nicht wahr?“