Cet ouvrage a bénéficié du soutien des programmes d‘aide à la publication de l‘Institut français / Dieses Buch erscheint im Rahmen des Förderprogrammes des Institut français Paris.
Titel der Originalausgabe:
L’émpreinte à Crusoé
© 2012 Éditions Gallimard, Paris
Lektorat: Angelika Andruchowicz
© 2014 Verlag Das Wunderhorn GmbH
Rohrbacher Straße 18
D-69115 Heidelberg
www.wunderhorn.de
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Gestaltung: Ingrid Sauer, Cyan, Ehrle und Sauer GmbH, Heidelberg
Umschlaggestaltung: Leonard Keidel
Umschlagabbildung: © Mario Cravo Neto
ISBN 978-3-88423-459-4
Roman nach Robinson Crusoe
Aus dem Französischen
von Beate Thill
Gewidmet Seiner Durchlaucht
Comte Guillaume Pigeard de Gurbert,
einfach so, vorbehaltlos,
aber ohne eine Philosophie.
P. C.
Ich glaube, es ist unmöglich, getreu nach dem Leben Entzücken und Jubel der Seele zu beschreiben, wenn sie, so kann ich wohl sagen, aus dem Grabe zurückgeholt worden ist.
Daniel Defoe, Robinson Crusoe1
Meine Einsamkeit greift nicht nur die Verständlichkeit der Dinge an. Sie untergräbt ihre Existenz selbst.
Michel Tournier, Freitag oder Im Schoß des Pazifiks2
So ist Werden ausgelöscht und verschollen der Untergang.
Parmenides, Vom Wesen des Seienden3
Wir wollen also vom Eingeständnis der Unverständlichkeit ausgehen.
Victor Segalen
Es gibt kein Hinterland. Man kann nicht hinter sein Gesicht zurücktreten.
Édouard Glissant
Das Inventar der Wirklichkeit – welch kolossale Aufgabe.
Frantz Fanon
Tagebuch des Kapitäns
1. Der Idiot
Tagebuch des Kapitäns
2. Das kleine Ich
Tagebuch des Kapitäns
3. Der Künstler
Tagebuch des Kapitäns
Aus der Werkstatt
22. Juli – im Jahre des Heils 1659. – Diese Reisen in die Neue Welt halten für mich immer Überraschungen bereit, obwohl ich weiß Gott in den letzten zwanzig Jahren viele unternommen habe. Beim ersten Morgengrauen trafen wir auf ein Meer blauer, glitzernder Algen, mit einem rosigen Schimmer, der sich auch auf den Himmel und den Stoff der tief hängenden Wolken übertrug. Nach dem Sturm, den wir gerade überstanden hatten, war dies, als ob wir nun in die Welt eines heiteren Feenmärchens kämen, in dem die Wirklichkeit leicht zu zittern begann …
Der Wind war schwach, dennoch habe ich das Segel ein wenig räffen lassen, damit die Mannschaft diesen höchst beeindruckenden Moment miterleben konnte. Alle hingen an der Reling, einige sind an den Tauen hinaufgeklettert oder haben sich auf dem Ausguck zusammengedrängt, und in staunendem, fast religiösem Schweigen haben wir dieses Wunder betrachtet, das unser Schiff sehr sacht durchschnitt …
Wir werden Santo Domingo und danach Brasilien wohl in absehbarer Zeit erreichen, im Schiffsbauch ist es ruhig, keine Schreie, nur der schreckliche Gestank, den ich ein weiteres Mal mit einem Guss heißen Essigs und stark riechender Kräuter bekämpfen ließ.
Herr, ich wurde wiedergeboren in jenem Jahr, ich wusste nicht, welches es war, auf meiner vergessenen Insel zur Stunde der Tagundnachtgleiche, wahrscheinlich genau in dem Moment, als ich das Gefühl hatte, mich zwischen zwei Lichtmassen zu schieben: eine ging vom Lodern des Ozeans aus und die andere bestand in dem erbarmungslosen Gleißen des Strandes; was sich da zwischen den beiden vordrängte, war nicht so sehr mein Körper, mein Sonnenschirm, meine Fetzen aus Tierhäuten, meine klappernde Muskete, auch nicht der Säbel, der mir am Ende meines Gehänges an das Bein schlug; nein, es war ein körperlicher und geistiger Hochmut, das Ergebnis einer Einsamkeit von zwanzig Jahren, in denen ich trotz allem das Unglück hatte niederzwingen können;
ich war wieder zu diesem Teil der Insel gegangen, da ich seit einiger Zeit das Gefühl hatte, außer Gefahr zu sein; ich glaubte, das letzte Stadium an Ordnung und Organisation erlangt zu haben, von dem mich nichts mehr zurückwerfen konnte; ich hatte die Dämonen des Blutes, des Fleisches und des Geistes besänftigt, Ängste gezähmt und auch jene Rückfälle überwunden, in denen ich mich so manches Mal gesuhlt hatte wie diese fleckigen Kröten dort unten im Mangrovensumpf; aber wichtiger war: Ich hatte mir die Gabe der Sprache bewahrt; sogar die Fähigkeit zu schreiben; und wenn auch das merkwürdige Büchlein, das ich aus der gestrandeten alten Fregatte geborgen hatte, nie zu meinem klaren Verständnis gelangte, so war ich doch dabei geblieben, es Tag für Tag aufzuschlagen, mit Lust darin zu blättern, regelmäßig darin zu lesen, sowie den liturgischen Brauch zu üben, einige seiner verrätselten Sätze, meist in zufälliger Auswahl, abzuschreiben;
sehr lange war ich nicht mehr dort gewesen, an jenem Ort, wo ich zur Herbst-Tagundnachtgleiche Land berührt und, noch ohne es zu wissen, eine endlose Tragödie ganz ohne Zeugen eröffnet hatte; indem ich den Strand vergaß, ließ ich auf meine Weise die Hoffnung auf ein Entkommen von dieser Insel fahren, fast wie den Schluchzer einer möglichen Rückkehr, so formte sich mein Wille, diese Insel, meine Einsamkeit, meine Verzweiflung, meine Selbstvergessenheit und meine Tränen hinzunehmen, und mir daraus mit viel Arbeit, Ordnung und Vernunft das Material für mein Schicksal zu bereiten; sobald ich konnte, habe ich jenen bitteren Jahren also den Rücken gekehrt, vertan mit dem Spähen nach einem Segel auf dem salzigen Metall, das den Horizont zulötete; diese ersten Jahre waren ohne Leben gewesen, nur davon erfüllt, auf einen Besuch hoffend hin und her zu laufen, und ihn zugleich zu fürchten aus Angst vor den eingeborenen Kannibalen der Gegend; dann habe ich eines Tages dieses Ufer verlassen, einfach so, ohne vorherige Überlegung, zunächst, um mich von diesem Strand und seinem vergeblichen Warten zu entfernen; dann, um das Innere der Insel zu erkunden und sie endlich einmal am Kragen zu packen; aus Sorge, nicht wieder der anfänglichen Furcht zu verfallen, hatte ich diesen Ort von meinen Äckern und Weiden gestrichen und aus meinem großen Zivilisationswerk entfernt; ich ging nicht mehr hin; kam nicht einmal in die Nähe, stieß ihn einfach zurück in seine niedere Wildheit; doch nun, in dem neuen Stolz, in dieser Befreiung, die mir endlich ein erschwindeltes Glück schenkte, konnte ich mit dem Schritt eines Großen Herrn zurückkehren, ungetrübten Sinns, ohne Furcht, nur mit der Befriedigung, in einem einzigen Blick den dramatischen Ort des Beginns und die Herrlichkeit zu erfassen, die ich mit eigener Leistung errungen hatte;
nach all den Jahren kann ich sagen, da war ich glücklich, ohne vergebliche Hoffnungsduselei, ohne räudiges Bereuen, einfach makellos in meiner souveränen Macht über dieses Fleckchen Erde; ich schaute heiter in die Zukunft; der Gedanke, hier zu sterben, schreckte mich nicht mehr; dabei erinnerte ich mich noch gut, dass diese Aussicht zu meinen ständigen Ängsten gehörte; denn auf dieser Insel hinzuscheiden, hätte meine Leiche den roten Ameisen und haarigen Krabben ausgeliefert, die ich so verabscheute; die Vorstellung von meiner zerfledderten Leiche hatte mich immer mit dem Gefühl niedergedrückt, vollends verflucht zu sein; daher schuf ich als eine meiner erhabenen Gründungsstätten einen Friedhof – hochtrabend dem »Gedenken des Menschlichen« geweiht; ich habe ihn auf einem Hügel aus Felsblöcken in einer windigen Einöde angelegt, dürr und von der Sonne geröstet, wo kein Wurm überlebte, daher von Natur aus unzugänglich für all die Eiterbeulen, welche Kadaver bearbeiten; genau da hatte ich mir ein Loch gegraben, es mit durchsichtigem Baumwollzeug ausgekleidet, daneben hatte ich außerdem eine Brustwehr aus geflochtenem Holz befestigt und mit einem Haufen Steine gefüllt; wenn ich mich in meiner Gruft ausstreckte, konnte ich bequem meine Beerdigung verfügen, indem ich mit einer Liane einen einfachen Mechanismus in Gang setzte; die Steine würden mich dann für alle Ewigkeit begraben, während ein Mast mit einer wehenden Leine an der Spitze allen vier Himmelsrichtungen den Ort meiner Bestattung anzeigte; im Fuß meines Grabkreuzes war ein Schriftstück versteckt zu meiner Person und dem Unglück, das mir widerfahren war;
von da an wachte ich über das geringste Absinken meiner Lebenskräfte vom Biss des Fiebers oder anderen heimtückischen Schwächungen meines Körpers und meines Geistes; beim geringsten Verdacht hielt ich mich in der Nähe meines Grabes auf, bis ich wieder gesund war, doch bereit, mich hineinzulegen, falls die krumme und eisige Spitze der großen Sense sich auf mich richtete; ich durchlebte so manche verzweifelten Momente, in denen ich zu gerne unverzüglich Schluss gemacht hätte, aber der Gedanke, meine Seele in solcher Einsamkeit auszuhauchen, so weit entfernt von allem, was möglich ist, gab mir den Mut weiterzuleben; an diesem Tag hatte ich jedoch vergessen, wo sich dieses Grab befand; ich hatte keine Angst mehr davor, hier zu sterben; ein ansehnlicher Teil der Insel war inzwischen zu meinem Werk geworden, ein schönes Kunstwerk, zu dem mein Tod würdevoll beigetragen hätte, trotz des üblen Treibens der Aasfresser; das Leben eines Menschen hat nur einen Sinn, wenn er es mit dem höchst möglichen Anspruch lebt: weder ein Tier zu sein, noch einer jener Wilden, die die Welt unsicher machen; das war mir gelungen; ich war zum Begründer einer Zivilisation geworden; jetzt, auf dem Strand des Beginns, wollte ich dies verkünden, im Angesicht der Drachen des Lichts und dieser Insel, dieses Ungeheuers grüner Macht;
kaum zu diesem Ausgangspunkt zurückgekehrt, ging mir die Frage nach meiner Herkunft durch den Sinn: ich wusste immer noch nicht, wie ich hier gelandet war, noch wann und warum; ich hatte mir vorgestellt, ich wäre ein Überlebender jenes zerschellten Schiffes, das ich zwischen den Kiefern der Riffe gefunden hatte, nur wenige Kabellängen entfernt von dem Ort, wo ich aufwachte; diese Fregatte habe ich erkundet und geplündert wie eine orientalische Höhle, wie eine Chronik der westlichen Welt, eine Reliquie der gesamten Menschheit, und sie hat mir das Material für den Beginn geliefert oder den Wiederbeginn; aber ich mochte lange die Hinterlassenschaften durchsuchen – Bücher, Pergamente, Register, die über die Jahre zu Staub zerfielen –, ich fand keinerlei Hinweise darauf, was ich hier sollte, warum ich hier war, woher ich kam und vor allem, wer ich war;
da war jene spannende Zeit gewesen, als ich die Fregatte durchwühlte; es stellte sich heraus, das Wrack war reich an Werkzeug, Waffen, Abbildungen und verschiedensten Gerätschaften, so dass es mir bald zum Tabernakel einer höchst erstrebenswerten Welt wurde, mit der ich meine Vorstellungen lange mästen konnte; das Wasser hatte das Wrack zu drei Vierteln überschwemmt; Sand füllte die unteren Teile aus; die Laderäume blieben unzugänglich, aber wo ich nach Belieben stöbern konnte – bis ein plötzlicher Sturm das Wrack in einen verborgenen Winkel der Zeit beförderte –, habe ich genügend gefunden für den … Wiederbeginn einer Zivilisation … ja, wirklich, ein ganzes Zusammenspiel von Verhaltensweisen, Wertvorstellungen und Körperhaltungen habe ich von diesen abertausend Dingen hergeleitet; zuerst hatte ich, um meine Herkunft festzustellen, gegen sie eine wahre Inquisition betrieben, hatte auf jedem einzelnen von ihnen Hinweise, Namen, Orte, Kennzeichen einer Abstammung gesucht; doch ich konnte nichts entdecken, was sich völlig eindeutig auf mich bezogen hätte; daraufhin stieß ich in meiner köperlichen und seelischen Verzweiflung auf ein Köfferchen zur Geisterbeschwörung und Wahrsagerei; es war randvoll mit Kristallkugeln, eng mit Formeln beschriebenen Papierstreifen für Seancen, Karten, Würfeln, Kaurimuscheln, Zauberstäben, Liebestränken, Puder, Fläschchen und einem Haufen Hokuspokus, dessen richtigen Gebrauch ich nie herausfand; nach den Anweisungen eines vom Wasser zerfetzten Folianten streifte ich mir einige Kleidungsstücke über, die sich an Bord befanden, den Umständen entsprechend mussten sie ja von verstorbenen Seelen stammen; ich hatte ein großes weißes Tuch dazugetan, das ich aus dem vorderen Back geholt hatte, eine Art Leichentuch, es hatte wohl dazu gedient, bei den Bestattungen auf hoher See die Leichen über Bord zu werfen; davor hatte ich zehn Tage lang nur ungesäuertes Schwarzbrot gegessen, etwas aufgeweicht und voller Salz; ich hatte auf einem Teppich toter Krebse geschlafen; hatte vom Leichenfleisch fette Würmer verschlungen; hatte Weihrauch entzündet und um mich herum recht komplizierte Muster aus Vogelknochen ausgebreitet; dann rief ich die Toten, Geister, Gespenster herbei, die ganz ohne Zweifel in dieser finsteren Fregatte spuken mussten; nachdem ich ihnen, verpackt in spontan erfundene Zaubersprüche, eine Reihe Fragen gestellt hatte, war ich ganz Ohr für ihre Zeichen und Ratschläge; doch es kam nur ein schauriges Schweigen, manchmal ein Gruftgeruch, und der Gedanke drängte sich auf, dass ich mich sehr weit jenseits jeglicher Realität befand, in einer Weltgegend, wo die mächtigen Toten einer Chance nicht die kleinste Ritze ließen;
die einzige Möglichkeit, die ich zu erkennen glaubte (wie ein Riss in einer blinden Mauer), ging von dem Gehänge aus, das ich beim Erwachen verschlungen zwischen meinen Beinen fand; es hatte sich um ein Stück vom Bug gewickelt, mich angebunden und damit unverhofft eine Boje geschaffen; dieser Zufall hatte mich wohl vor den malmenden Riffen und vor manchem Treibgut geschützt, durch das ich gewirbelt sein musste, bevor ich ohnmächtig und ohne Gedächtnis in die Gischt des Strandes gespült wurde; da auch die Toten schwiegen, war ich gezwungen, mich nur an dieses Gehänge zu halten und an ihm festzuklammern;
auf einem der verzierten Riemen des Gehänges stand etwas geschrieben; ein Besitzsiegel, eine Kalligraphie in rotem Ocker; ein Name, der Name eines Mannes; da ich keinen Einzigen von der Schiffsbesatzung gefunden hatte, weder in den Gängen, noch in den Kabinen, noch in den Löchern der Brücke, und da in den darauffolgenden Tagen nur einige Leichen – halb aufgefressen, halb verwest – von den Stürmen an den Strand geworfen wurden, an denen jedoch nichts mehr zu erkennen war, weder was ihre Identität noch ihre Menschlichkeit betraf, war ich tatsächlich als einzig überlebendes Wesen in der Lage, den Namen eines Mannes zu tragen; angesichts der gähnenden Leere meines Gedächtnisses ging ich dazu über, mich selbst zu benennen: wie? … natürlich der Inschrift ohne Herkunft und Titel folgend: Robinson Crusoe;
diese Inschrift war während der zwanzig Jahre ein Behältnis, das es zu füllen galt; das geschah nicht, um meine Identität zu behaupten, eher aus dem Willen zu existieren, wie wenn man einen Weg wählt auf der furchteinflößenden Karte dieser Insel; ich gurgelte den Namen viele Male, weinend, brüllend, kotzend, lächelnd, manchmal im Halbschlaf, in Anfällen von Irrsinn oder süßer Melancholie; diesen Namen sagte ich mir wieder einmal an jenem Morgen, aber in einer natürlichen, ruhigen Heiterkeit, die zu meinem Geisteszustand passte: ich heiße Robinson Crusoe und ich bin der Herr über diesen Ort;
das Geheimnis meiner Herkunft hatte mich ziemlich lange gequält, aber die Schrecken meines Überlebens gewannen schnell die Oberhand; ich war sogar ein wenig überrascht, dass diese Frage wieder hochkam, als ich nur einfach zum Ort des Anfangs pilgern wollte; in jenem Loch, das mir als Gedächtnis diente, verunsicherte mich noch etwas anderes, wie es mich stets bei allen meinen Selbstbefragungen verunsichert hatte; es waren nicht die Einzelheiten meiner Herkunft, auch nicht, ob sie vielleicht falsch waren; vielmehr fühlte ich meinen Ursprung mit etwas Unerträglichem verbunden, mit einem unermesslichen Schmerz, und dieser bildete (viel mehr noch als der Wunsch nach irgendeiner Abstammung) die Stelle, wo die Vergangenheit unlesbar in mir geschrieben stand: Ich trug den Schmerz in mir, ohne zu wissen, woher er kam, auch wenn ich mir unentwegt einredete, dass die Herkunft nicht wichtig war – wichtig war nur, ich war Robinson Crusoe, der einzige Herrscher nach Gott und Herr über diese Insel;
mein neuer, durch zwanzig Jahre des Überlebens gefestigter Adel, war also in dieser Gravur enthalten: zwei Worte, ein Name, nicht mehr als eine Spur und ohne Wappen; ich sagte mir, es sei schön, sich von einem fehlenden Ursprung herzuleiten; das stand dieser Majestät ohne Zuschauer gut an, die ich bekleidete; der Gravur verdankte ich, dass alles, was ich geworden war, nur von mir emporstieg, aus mir entsprang, ohne Abstammung, ohne Ahnen, und das erste Stadium dieser Geburt zu mir selbst war wohl genau in dem Moment vollendet, in dem ich als Schiffbrüchiger auf diesem verwünschten Strand erwachte;
mein Erwachen … dieser Schmerz … ein Riss in meinem Bewusstsein war plötzlich zu einer brüllenden Fackel geworden; ich blickte mich um, ohne zu begreifen, wo ich war, schon hatte die furchtbare Realität dieser Insel das Weiß meiner Wahrnehmungen besudelt: dies sollte bei mir jahrelang für ein mehr oder weniger lebhaftes Grauen sorgen, mal mehr, mal weniger deutlich spürbar; aber, Herr, wir wollen zu dem Moment zurückkehren, als ich auf Land traf …
ich kam zu mir, verstört, schwindelig, ganz fiebrig und voller Elend, unfähig zu begreifen, wo ich war; die Sonne ging irgendwo unter, in Gluten, die sich aufgrund meiner Verwirrung in den Schein einer Schmiede verwandelten, oben auf dem pflanzlichen Ungeheuer, das diese Insel darstellte; mich erfasste das Grauen bei dem Gedanken, es hätte mich vielleicht an einen dieser Orte verschlagen, die so sehr gefürchtet sind bei den ältesten Seeleuten, in denen Tausende Schiffe mitsamt ihren Besatzungen für immer verschwinden; ich riss die Augen auf, aber ich verfügte über keinerlei Anhaltspunkte, alles war fremd, nein, mehr als das, tot für jede vertraute Bedeutung; ich musste Blick und Geist voneinander trennen, um dem, was ich wahrnahm, einen Anschein von Verständlichkeit zu verleihen; der Schrecken vervielfachte die kleinste Regung der Blätter, das kleinste Gleiten der Meerestiere oder das vermischte Geschrei unsichtbarer Insekten und bizarrer Vögel ins Grauenvolle; meine entgeisterten Augen verwandelten jede Form in einen grinsenden Vampir, jede Spitze wurde zu einem Hauer, jede Krümmung geriet zu einer Klaue; was keine Gestalt hatte, wurde zu einem dämonischen Gebräu oder einem glibberigen, gefräßigen Gewimmel; das vor mir aufgebäumte Meer, das mit seiner sauren Gischt an mir leckte, war nur noch ein kollernder Bauch, der verdaute, was der letzte Sturm übriggelassen hatte; die Luft war geschwängert von dem Modergeruch toter Algen, der die Orkane mit einer Aureole umgibt, und ihnen noch lange nachhängt, ein Geruch, passend zur vollkommenen Verzweiflung;
ich flüchtete auf einen Baum und krümmte mich auf dem dünnsten Zweig zusammen, an der äußersten Spitze, die noch mein Gewicht tragen konnte; ich hielt dem Himmel meinen Rücken hin und richtete mein ganzes Bewusstsein auf die Bedrohungen am Erdboden, prüfte jedes Blatt, suchte im Kleinsten nach dem Vorhandensein einer erleuchteten Pupille, während sich die hereinbrechende Nacht ausbreitete; ich verbrachte sie ganz mit Wachen, Zittern, Kotzen, spürte die Berührung von Drachen und ich weiß nicht welchen Gekreuchs in der Art von Golems oder Loas; bei Sonnenaufgang fand ich mich völlig erschöpft vor Müdigkeit und Ängsten quer an den ziemlich sich biegenden Zweig geklammert, und wäre fast von den zehn Metern Höhe hinuntergefallen, auf die mich das Grauen wie von allen Teufeln verfolgt hinaufgejagt hatte;
mein erster Morgen war dem Abschreiten dieses Strandes gewidmet, ängstlichen Schrittes, schüchternen, verzweifelten Schrittes; da ich mich fiebrig fühlte, hatte ich mir ein Gebräu aus Rum und Tabak bereitet, das ich mehrere Minuten schlürfte, womit ich mir dann den Leib einrieb, bevor ich mich irgendwo für die Nacht verkroch; ich kehrte der Insel den Rücken, da sie mich nicht interessierte; sie erschien mir zugleich tot und bedrohlich, entvölkert und wimmelnd vor Leben; ich suchte sie zu vergessen, um mich nur dem Anblick des Meeres zu widmen, in der Hoffnung auf das geheimnisvolle Schiff, das mich hergebracht hatte; so vergingen die Tage; einer wie der andere, ich weiß nicht wie viele Tage, wie viele Wochen, mit dem Pflügen des Sandes während meines pharaonischen Wartens, fröstelnd vor Hunger, knisternd vor Durst; am Ende meiner Kräfte verschlang ich Muscheln oder zarte Algen, nicht ohne sie mit frommer Zunge zu desinfizieren, kurz bevor ich sie schluckte; aus Furcht, nicht an der richtigen Stelle zu sein, lief ich von dem Punkt, an dem ich erwacht war, dreißig Ellen weit zur einen und anderen Seite; diese besessene Vermessung hinterließ am Ende im Sand eine Furche von mehreren Daumen Tiefe; sie legte eine Grenze zwischen die Gischt und die Insel, und strahlte so viele Ängste aus, dass die Krabben wegliefen; die Riesenschildkröten, die zum Eierlegen herkamen, eine abrupte Wende vollführten, wenn sie an sie stießen; aber das verzweifelte Hin und Her dehnte sich in die Länge, bis es mich auf einen vorgelagerten Hügel führte, von dem aus ich plötzlich die Fregatte entdeckte: wie eine Stadt ruhte sie zwischen scharfen Riffen, bereits alt und verwittert, aus ihr stiegen seufzend Gerüche auf, die nach Aussagen der ältesten Seeleute das Erscheinen echter Geisterschiffe ankündigen; meine Erleichterung war also von kurzer Dauer; es konnte nur dieses Schiff gewesen sein, das mich an diesen verwünschten Ort gebracht hatte, und doch schien es schon seit tausend Jahren dazuliegen; seine Segel hingen trostlos am Mast und sein deprimiertes Tauwerk sah aus wie Spinnweben, durchlöchert von vorzeitlichen Winden; ich war im Sand auf die Knie gesunken, in völliger Verzweiflung, aber mehr noch in eine Spirale von Unmöglichkeiten geraten, und mein geistiges Gleichgewicht taumelte da hinein;
diese tiefe Verständnislosigkeit rührte von zwei entgegengesetzten Eindrücken: auf der einen Seite das Rätsel, wie es mich an einen solchen Ort verschlagen konnte; auf der anderen Seite das Gefühl, schon seit einer Ewigkeit hier zu sein, wie der Sand oder die Krebse; die Verunsicherung, dass ich hierher gehörte und auch wieder nicht, von außen bedroht war und von innen gebeutelt, sollte am tiefsten Grund meines dramatischen Daseins auf dieser hoffnungslosen Insel immer bestehen bleiben; kein Vogel, kein Gewürm, kein Blatt, keine Frucht, kein einziges gewöhnliches Ding war mir vertraut; jedes Detail war ein Schrei tödlicher Feindseligkeit; der Himmel war ein Deckel und das Meer eine Mauer, all das vermengte sich ohne Ende, bis es zu einem Gefängnis wurde, dessen unsichtbarer Zugriff gleichsam an jeder Fiber meines Fleisches haftete;
sehr bald wappnete ich mich gegen die feindselige Macht; ich ging daran, mir einen annehmbaren Unterschlupf zu schaffen, indem ich eine Grotte herrichtete; sie lag in einem Geröllfeld aus großen vulkanischen Brocken, eingebettet in das Wurzelwerk dreier Banyanbäume; anschließend verbrachte ich Wochen damit, alles dort anzuhäufen, was ich von der Fregatte hatte bergen können, bevor sie plötzlich verschwand; um meine notdürftige Behausung herum baute ich Zäune aus Bambus, mit dornigen Zweigen verstärkt, um die blutgierigen Raubtiere fernzuhalten, die sich nach meiner Vorstellung dort herumtrieben; Tag für Tag verbesserte ich meine Sicherungen, entfernte mich aber nicht zu weit von dem Strand und von bestimmten Büschen, deren trockenes Holz in Feuer und Flamme gesetzt werden sollte, sobald ein Segel am Horizont auftauchte; zu diesem Zweck legte ich Zunder neben jedem Busch bereit, ein bisschen Kanonenpulver und einen Feuerstein; ich gelangte zu der Fregatte auf einem Floß aus gummihaltigem Holz, vertäut mit Lianen, deren geflochtene Seile in trockenem Zustand Hanf glichen; ich verteilte darauf so viel Ladung wie nur möglich, dann ruderte ich mit großen Schlägen zurück ans Ufer, um möglichst rasch dem Sog der Riffe zu entkommen; ich hörte erst bei völliger Dunkelheit auf, und noch vor Tagesanbruch begann ich wieder; manchmal saß ich auf der Fregatte fest: Haiflossen zogen durch die Passage; oder aber große Rochen mit schwarzen Flügeln, die wie Teufel aussahen, lungerten ohne Grund im Gewässer bei dem Wrack herum; ich wartete ab, bis die Plagegeister sich getrollt hatten, um meine Beute in Sicherheit zu bringen; am Ende zog sie sich wie ein echter Trödelladen den ganzen Strand entlang: Taue, Stücke von Segeln, Kreuzäxte, Hämmer, Nägel, Hobel, Mützen, Kettenenden, Säbel, Harpunen, Pulverfässer, Kalfathämmer, Karabiner, Pistolen, Ölkannen, Hängematten, Zelt aus festem Tuch, Schnüre, Nadeln, Fässer mit Schiffszwieback, Meißel, Rumfässer, Seziermesser, Flaschen mit verschiedenen Getreidekörnern, Salzfässer, Gabeln, Stiefel, Kniehosen, Metalltruhen, Kästen und Koffer mit Vorhängeschlössern … diese Anhäufung von Gegenständen beruhigte mich ungemein, als bildeten sie zwischen mir und der Insel einen wohltuenden Wall; ich wurde nicht müde, sie in wildem Eifer herüberzubringen, mit Lust zusammenzutragen, um anschließend ihre barocke Ausbreitung über gut zehn Meter zu betrachten, während ich sie Stück für Stück in meinem Kopf aufzählte … Ahlen, Teekannen, Zuckerdosen, Schwämme, Schlüsselbunde, Winkel, Fernrohr, Suppenschüsseln, Schmuckkästchen, Geschirr und Küchengeräte, Bürsten, kleine Kugeln, Scheren, flache Feilen, Armbrüste, Gewehre, Kistchen, runde Feilen, Dosen mit Angelblei, Teller und Töpfe, Kruzifix …;
aber während der unentwegten Überfahrten und ersten Festungsanlagen ging ich auch daran, mir innerlich eine Rüstung zu schmieden, die möglichst menschlich war: Das eine Auge in der Erwartung eines Segels auf den Horizont gerichtet, stellte ich mir einen Vater vor, eine Mutter, Geschwister, ein Dorf irgendwo auf der Welt, ich ersann mir Völker von Vorfahren, die mir diesen Trödelladen vererbt hatten, ich bevölkerte die Gegend um den Strand mit einer Menge Dämonen meiner Sippe und Göttern meines Stammes, den Hütern meiner Wiege …; auf dieser Grundlage begann ich, meinen Namen Robinson Crusoe zu bewohnen und in ihm meinen Platz zu sichern; die vom Wrack geborgenen Gegenstände bescherten meinen Vorstellungen einen westlichen Einschlag, ich war Fürst, Kastilier, Ritter, Würdenträger einer Tafelrunde, Führer von Legionen; ich bewegte mich zwischen Schlössern und Gärten von Adelshäusern, durchschritt weite, mit Samt ausgeschlagene Säle; streifte auf schmierigem Pflaster durch Gassen im schummrigen Licht der Öllampen; kam an Weizenfeldern entlang, die am Fuße hoher Festungsmauern endlos wogten …; aber aus den Löchern meines Gedächtnisses stiegen fremdartige Bilder: Massen dunkler Wälder triefend vor Moos, Städte mit Erdhäusern in einer Aureole aus Asche und Jasmin, Sanddünen bis in den Schlund der Unendlichkeit, Klippen voll schwarzer Vögel, die mit aschebedeckten Flügeln schlagen, oder aber Rufe von Frauen, in denen sich Todestrauer und Freudengesang mischen …; hinzu kamen viele Merkwürdigkeiten, die aus meiner innersten Substanz aufzusteigen schienen – die Ankunft eines Schakals bringt Götter in Verlegenheit … schwarzweiße Eidechsen weben Stoffe … Zwillinge in einer Kalebasse voller Hirse … Armbänder von Priestern klappern um eine gehörnte Maske … – aber sie waren so unvereinbar mit allem anderen, was ich heraufbeschwor, dass ich sie als Erinnerungsreste einem prahlerischen Seemann zurechnete, den ich wohl einmal getroffen hatte; denn wenn ich meine von den Gegenständen abgeleiteten Vorstellungen und meine dunklen Erinnerungen zusammenbrachte, ergab das nur Chaos: jede Möglichkeit, meine wahre Herkunft zu klären, entschwand;
wie auch immer, die Trugbilder erwiesen sich nicht als sehr beständig; wenn ich mich der feindlichen Macht dieser Insel und ihrer Umgebung entgegenstellte, wurde mir mitunter so schwach, dass ich für meine Person das Fehlen einer Herkunft einräumte; jeden Halt verlierend, sah ich mich dann als Krebs, als Tintenfisch in seinem Loch, als Tintenfischchen in einer Brut von Tintenfischen; ich ertappte mich dabei, wie ich den Kröterich gab, in den Luftblasen eines Sumpfs; aber das Schlimmste trat am tiefsten Punkt der Abwesenheit des Ich ein: Mein Blick blieb dann nirgendwo haften, er erfasste gerade noch den Lichtschein um die Dinge, die mich umgaben; ich begann zu schnüffeln, zu grunzen und die Ohren für die Umgebung zu spitzen; in diesen Momenten hatte ich beim Gehen den Mund aufgesperrt, so dass mir der Geifer herunterlief, und es war mir am wohlsten, wenn meine Hände neben meinen Füßen mitgaloppierten; ich kam da wieder heraus (wer weiß wie!), und um mir einen Rest Menschlichkeit zu bewahren, kehrte ich zu meinem Faselfieber zurück, das lange Jahre meinen Geist beherrschen sollte; ich fand einfach nichts Besseres, als mir meine eigene Geschichte auszudenken, meinen Ursprung in eine Legende zu legen; ich schrieb sie mir auf die verwaschenen Seiten eines dicken, aus der Fregatte geretteten Registers, mit dem Gefühl, sie mir anzueignen, wann ich wollte griffbereit; sicher stammte diese Legende aus einem oder zwei großen Büchern, die irgendwo in meinem Geist verborgen lagen; Bücher, die schon von anderen geschrieben waren, und die ich nur wiederschreiben, zerschreiben musste, indem ich den Raum zwischen den Sätzen, zwischen den Worten und dem, was sie bezeichneten, erweiterte und sie dann mit dem füllte, was ich wurde, ohne es wirklich zu wissen, und wonach ich strebte, ohne jedoch in der Lage zu sein, es zu sagen;
während der ersten Jahre der Geburt zu mir selbst hatte ich mich also immer als der Zivilisierte ausdrücken wollen, der ich zu sein glaubte, und mit Wort oder Schrift den Menschen geheiligt, der zu werden ich mich anstrengte; in allen Ecken der Insel waren Worte, Sätze, Verse aus dem Büchlein angebracht, die anzeigten, hinwiesen, bezeichneten, erinnerten, exorzierten, etikettierten, planten, wiederholten, heraufbeschworen …: Garten der Lüste … Gefährten der unsterblichen Wagenlenkerinnen … Weg des Willens … Würde … Richtig ist, dass Seiendes ist … Platz der Erinnerung … Mut … Friedenskapelle … So bleibt einzig noch übrig die Rede von dem Weg, dass ist … Harmonie und Mut … Basilika der Rückkehr … Also muss es entweder ganz und gar sein oder nicht … Gebete … Arche der göttlichen Fügungen …; ich setzte sie für meinen Überlebenswillen ein, nicht nur, um mir in dieser trüben Einsamkeit, die nur das Grunzen förderte, die Sprache zu bewahren, sondern vor allem in der Absicht, koste es, was es wolle, die Schrift zu retten, die – mehr noch als die Sprache – hier vollkommen unnütz war;
aber bald war mir bewusst, dass die Einsamkeit trotz alledem meine Worte angriff, mein inneres Sprechen verfälschte, mein Schreiben verwirrte, da es sich nie an jemanden richtete; man kann sagen, durch diese Gefängnisinsel wurde ich dazu gebracht, eine ungeheure Vielzahl an Zeichen und Symbolen aufzustellen, hinter denen ich mich nach Belieben bewegte und die ich mit ebenso großer Freiheit deutete; Kreuze und Dreiecke, Kreise mit einem Punkt, Buchstaben und Ziffern schüttelte ich aus dem Ärmel, um meine Wohnstätten auszukleiden und meine gewohnten Wege zu schmücken; das alles diente mir dazu, mein inneres Gleichgewicht zu stützen und zugleich eine verständliche Landschaft zu schaffen; die Hartnäckigkeit, mit der ich mir den »Ausdruck« bewahrte, stellte für mich das Wesentliche des wahren Menschen dar; ich hatte es so angefangen, ohne nachzudenken, aber diese Eingebung erwies sich als wertvoll; ich wusste nun, dass man sich mit dem »Ausdruck« selbst entwirft, dass man sich mit ihm aufrechterhält; darüber war ich recht glücklich;
ganz am Anfang jeden Ursprungs steht das Wort; im Laufe dieser zwanzig Jahre entdeckte ich diesen Satz allmählich neu; schon bald hatte ich das recht naive Bewusstsein, mir mein eigenes Schöpfungswort zu erfinden, völlig frei, wenn mit ihm wohl auch eine wachsende Fassungslosigkeit einherging, was ich eigentlich ausdrücken konnte oder wollte; aber der »Ausdruck« hat nicht die Aufgabe, verständlich zu sein (genau wie die Literatur, nehme ich an) – er dient zunächst dazu, die innere Autorität dessen aufzubauen, der ihn prägt; aus diesem Grund übte ich während dieser zwanzig Jahre eine Schrift der Luft und der Materie, ich zeichnete den Boden mit ihr, ich machte sie zu Pollen im Wind, tätowierte die Haut des Regens, die Rinde der Zimtbäume und die Helligkeit der Vollmondnächte, bevölkerte mit ihr meine Albträume und meine fieberhaften Schlaflosigkeiten; zu meinen stabilsten Zeiten begnügte ich mich damit, diese Schrift in meine verwaschenen Bücher niederzuschreiben, der Sinn verdichtete sich manchmal derart, dass das Geschriebene zu Zeichen wurde, sie waren die einzigen Wegmarken für meinen Geist, der sein Fundament sicherte;
dieser glühende Eifer, »sich auszudrücken«, fügte sich in meine weiter reichende Ausübung der Rituale ein; das Menschliche kommt nicht ohne Rituale aus, und selbst wenn viele Tiere gleichfalls so manche Ritualisierungen kennen, kein menschlicher Geist geht seinem Elend entgegen, ohne Rituale als Krücken zuhilfe zu nehmen; aber die Rituale, die ich ins Werk setzte, waren keinesfalls von der niederen Brut wie die dunklen Zeremonien, die manche Wilden veranstalten; jeder Sonnenaufgang während dieser beiden Jahrzehnte brachte bei mir einen strahlendhellen, geregelten Mechanismus in Gang; beim Erwachen grüßte ich zuerst den Tagesanbruch, indem ich mit ausgebreiteten Armen einen der rätselhaften Sätze des Büchleins deklamierte:
… wenn schleuniger sich sputeten die Sonnenmädchen, mich voranzufahren, hinter sich das Haus der Nacht, dem Lichte zu, und von den Häuptern mit Händen die Schleier aufschlugen …
anschließend läutete ich die Glocke, wovon meine Zicklein und meine indischen Ratten geweckt wurden, meine Papageien und mein restlicher Tierbestand aus dem Häuschen gerieten; danach bereitete ich mir, als Herr und gleichzeitig als Diener, mit Gesten, die zu Perücke und Handschuhen gepasst hätten, mein Eröffnungsmahl, Käse, Corossolfrucht, Weizenfladen und Ziegenmilch, dazu Kuchen aus Maniokmehl; ließ mich unter meinem großen Kapokbaum nieder, statt an einem Esstisch auf zusammengezimmerten Planken; für mich war es jedesmal ein Entzücken, die gestickten Tischtücher, das asiatische Porzellan, das gepunzte Besteck, die Karaffen aus Aubagneglas mit Regenwasser, sowie ein ganzes Protokoll von Geräten aus Silber hervorzuholen, einzig um mir die Frauenhände vorzustellen, die das einmal berührt hatten; nach dieser Mahlzeit schritt ich zur Hissung meiner kleinen Flagge, sie war ebenfalls mit lauter Sätzen vollgeschrieben, deren Sinn ich nicht eindeutig hätte festlegen können; darauf folgte die Lektüre der Verfassung, ich hatte sie schon vor längerer Zeit aufgesetzt – dieser Text feierte so viele wichtige Grundregeln, dass ihre tägliche Verkündigung einen Schutzwall zwischen mir und der Insel errichtete; gleich nach der Verfassung kamen einige Lehrsätze an die Reihe – wie etwa »Immer das Kinn über dem Schlüsselbein halten«, »Den Mund nicht offenstehen lassen«, »Gegessen wird am Tisch und auf einem Stuhl sitzend«, »Den Rücken hält man gerade, senkrecht zur Sonne«, »Man furzt nicht, die Befriedigung des Furzens gebührt nur dem Tier«, »Man soll sich ständig beobachten und zureden, das stützt die Wirbelsäule« … – oder von der Art wie: »Es gibt einen Gott«, »Der Teufel kann auch schön sein«, »Es gibt immer Grund zur Freude!«, »Denk jedesmal über Ehre nach, wenn du eine rote Frucht siehst«, »Denk jedesmal über Würde nach, wenn du eine gelbe Frucht siehst«, »Da die Welt rund ist, kommt jede abdriftige Insel einmal irgendwo an« …; ich zitierte auch einige Absätze aus meinem Strafgesetzbuch, drei aus meinem Bürgerlichen Gesetzbuch, sechs aus meinem Handelsgesetzbuch; ich ergänzte ein paar Einträge auf meinem Katasterplan und sagte mir laut die Bürgerpflichten her, auf die ich bei jedem Neumond schwören musste …; unmöglich, Ihnen alles vorzutragen; die unüberschaubare Vielzahl war ihr eigentlicher Zweck; die Verordnungen waren zahlreicher als die Angelegenheiten, die sie wirksam regelten; außerdem betrafen eine Menge Verfahrensweisen die Tiere, Weiden, Felder, die Ausbesserungsarbeiten, die Zeiten für das Schreiben und das Lesen in dem Büchlein … ein Gerüst streng festgelegter Handlungen, sie haben mein trauriges Dasein einer Mensch-Insel auf dieser Gefängnisinsel aufgehellt; meine Rituale nahmen Tag für Tag zu, bis sie den gesamten Raum meines Gehirns, aber auch die gesamte Insel eingenommen hatten; da sie hinter ihrer Autorität verschwand, stellte sich die Insel meinem Bewusstsein als gerade eben gezähmt dar …;