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Biografie

Geboren wurde Daniela Knor am 30.10.1972 in Mainz, wo sie auch aufgewachsen ist. Beim Studium hat sie zunächst mit Anglistik, Ethnologie und Vorund Frühgeschichte begonnen, dann aber auf ein Fernstudium in Geschichte, Neuerer deutscher Literaturwissenschaft und Psychologie umgesattelt, weil es sie kurzzeitig an die Mosel und anschließend nach Regensburg verschlagen hat.

In Regensburg lebt sie mit ihrem Mann, zwei Pferden und etlichen Hühnern immer noch. Sie haben dort einen kleinen Bauernhof mit Obstanbau gepachtet, der es ihnen auch ermöglicht die Pferde in Eigenregie zu halten.

Mit dem Schreiben von Fantasy-Romanen hat Daniela schon während der Schulzeit begonnen (manchmal auch in langweiligen Unterrichtsstunden). Außer den DSA-Romanen gab es bis jetzt keine Veröffentlichungen, aber mittlerweile ist die Schriftstellerei schon zu einer Hauptbeschäftigung geworden. Wenn ihr neben dem Schreiben, dem Obstbaubetrieb und den Pferden noch Zeit bleibt, liest sie viel und spielt gelegentlich in einer DSA-Spielrunde.

Daniela Knor

Roter Fluss

Ein Roman in der Welt von
Das Schwarze Auge
©

Originalausgabe

Impressum

Ulisses Spiele
Band 85

Titelbild: Swen Papenbrock
Redaktion & Lektorat: Catherine Beck
Kartenentwurf: Ralf Hlawatsch
E-Book-Gestaltung: Michael Mingers

Copyright © 2014 by Ulisses Spiele GmbH, Waldems.DAS SCHWARZE AUGE, AVENTURIEN, DERE, MYRANOR, RIESLAND, THARUN und UTHURIA sind eingetragene Marken der Significant GbR.

Titel und Inhalte dieses Werkes sind urheberrechtlich geschützt.

Der Nachdruck, auch auszugsweise, die Bearbeitung, Verarbeitung, Verbreitung und Vervielfältigung des Werkes in jedweder Form, insbesondere die Vervielfältigung auf photomechanischem, elektronischem oder ähnlichem Weg, sind nur mit schriftlicher Genehmigung der Ulisses Spiele GmbH, Waldems, gestattet.

Print-ISBN 3-89064-514-3 (vergriffen)
E-Book-ISBN 9783868898873

Danksagung

Gewidmet meinen Eltern,

weil sie mich immer so genommen haben, wie ich bin.

Für ihre Hilfe und ihr Vertrauen danke ich Catherine Beck, Thomas Römer und Florian Don-Schauen.

Michelle und Ragnar Schwefel sowie Oliver Steiger danke ich für ihre Hilfe beim Eintauchen in die Welt der Thorwaler.

Danke, Torsten, dass Du mir beim Schreiben den Rücken freihältst.

And special thanks to Iron Maiden for inspiration.

Besonders bedanken möchte ich mich bei allen Lesern, die mir Feedback gegeben haben. Weitere Informationen zu meinen Romanen findet Ihr im Netz unter:

http://www.daniela-knor.de.vu

»Was die Walwut ist, willst du wissen? Wie soll ich das einer Fremden erklären? Ein Feuer ist sie, das in unserem Innern brennt, entfacht von Swafnirs göttlichem Funken. Wie der Gottwal wider die weltvernichtende Seeschlange streitet, tobt der Walwütige wider seine Feinde und kennt dabei weder Gnade noch Furcht. Einen jeden von uns kann in Zeiten großer Bedrängnis dieser heilige Zorn überkommen, doch gibt es auch die Kinder Swafnirs, in denen die Flamme heißer lodert. Abseits ihrer Sippen müssen sie in Einsamkeit leben und die Gesellschaft von Menschen meiden. Hüte dich, jenen Auserwählten zu begegnen! Denn ein falscher Blick mag genügen, um ihren Blutrausch zu wecken.«

Swafnirgeweihter Atli Fregursson im Gespräch mit einer Garether Händlerin

Personen

Die Garsvidra-Sippe

Hjalgar Herjulfssongenannt Diarskadir‹, Walwütiger

JorunHjalgars Kindheitsgefährtin

Aigur Beornssongenannt Skrajaröter‹, Hersir der GarsvidraSippe

Thure RagnarssonAigurs bester Freund

MaradaSchiffbauerin aus Myrburg

AskirWaisenkind vom Egilshof in Veidsgard

Aran RuhmkünderSkalde in Hragisheim

Röngvald JadrassonSippenmitglied aus Myrburg

HengistDorfältester in Hragisheim

FrenjaHjalgars Mutter

Laske AtlissonHjalgars Onkel

Weitere Thorwaler

Sveidis KarvasdottirHetfrau von Myrburg

Kjaska SkaldensangSwafnirgeweihte in Myrburg

Garheltjunge Freiwillige in der Myrburger Garde

Yngvar BjarnissonEhemann von Sveidis

Karven Walseglerein Swafnirgeweihter, Hjalgars Ziehvater

Bewohner Myrburgs mittelreichischer Abstammung

Sivas DeriakDieb und Geschäftemacher

Thorfinna TannrothWirtin im Brauhaus

Ektor SandeggerBürgermeister

Thilia HesochSprecherin der Kaufleute

Volkar SchertlerHauptmann der Stadtwache

Fianna TannrothTochter von Thorfinna

TravinianTraviageweihter

Jannein Gardist

Jobelteeine Magd

Irmingard HesochEnkelin von Thilia Hesoch

Bei den Orks

Sachrak AshaiHäuptling der Truanzhai

Raszech MorkhazakHäuptling der Zholochai

Dralalangjährige Sklavin

Hinrika VilnheimerGefangene

Jarra VilnheimerGefangene

Udhjane LiskowGefangene aus Vindthorn

AmitaGefangene

WibkeGefangene

Weitere Personen

Lysmina BerianBauerntochter aus Veidsgard

Gorwin EichhafnerPraiosgeweihter aus Andergast

Eyvin BerianTochter von Lysmina Berian

Prolog

Bodirtal, 35 Meilen südwestlich von Myrburg [ab 805 BF Phexcaer], 578 BF

Schwerelos schwebte ein Sturmfalke am wolkenlosen Himmel über dem weiten Tal. Tief unter ihm schlängelte sich der Fluss wie ein schimmerndes Band durch Auen und in herbstlicher Farbenpracht leuchtende Haine. Bewaldete Hänge strebten in der Ferne schneebedeckten Gipfeln entgegen. Unter den schräg einfallenden Strahlen der Nachmittagssonne warfen die Bäume lange Schatten, in denen der Raubvogel eine Bewegung erspähte. Den warmen Aufwinden zum Trotz segelte er in einem mühelosen Bogen hinab, um seine Kreise niedriger über dem bunten Laub zu ziehen.

Unter seinem scharfen Blick sprang ein Junge zwischen den Stämmen hervor, stolperte, fiel der Länge nach ins Gras, wälzte sich auf den Rücken und blieb lachend liegen.

Welke Stängel mischten sich in die rötlich blonden Haare, aber das beachtete Hjalgar Herjulfsson genauso wenig wie den Falken, der als schwarzer Umriss hoch über ihm dahinglitt. Für einen Zwölfjährigen war der Junge ungewöhnlich groß und breitschultrig, und dies galt ebenso für das gleichaltrige Mädchen, das sich triumphierend über ihm aufbaute.

»Ha, ich hab‘ doch gleich gesagt, dass ich gewinne!«, prahlte Jorun grinsend, bevor sie mit wehenden roten Locken über ihren Freund hinwegsetzte.

Blitzschnell griff Hjalgar nach oben und packte ihren Knöchel. Mit einem atemlosen Japser landete auch Jorun auf der mit gelbem Laub gesprenkelten Wiese.

»Denkste!«, tönte Hjalgar fröhlich, während beide sich aufrappelten, um ihr Wettrennen fortzusetzen.

»Na, warte!«, drohte das Mädchen lachend und stob hinter ihm her. »Du arbeitest mit fiesen Tricks!«

»Lauft nicht zu weit weg, Kinder!«, rief Hjalgars Mutter ihnen nach, doch das überhörten die beiden Wildfänge in ihrem Eifer.

Die rundliche Thorwalerin konnte nur den Kopf schütteln, aber sie lächelte dabei. Sie schaffte es nie, ihrem Sohn ernsthaft böse zu sein. Zu sehr erinnerten seine verschmitzten blauen Augen sie an ihren Mann Herjulf, der so jung bei Swafnir auf See geblieben war. Nicht einmal Laske, Herjulfs Bruder, sah dem Verstorbenen so ähnlich wie der kleine Hjalgar.

»Ich weiß noch, wie du und Herjulf damals auf unserem Hof miteinander herumgetobt seid«, behauptete Laske und stellte seine schwere Kiepe neben den Haselsträuchern ab. »Mein Bruder hat es scheinbar gar nicht nötig, dass wir sein Andenken in Liedern über seine Taten bewahren. Er lebt einfach in seinem Jungen weiter.«

Seine Schwägerin blinzelte die Tränen weg, die bei dieser Vorstellung in ihr aufstiegen. Noch immer erinnerte sie sich gut an den Tag, als der große Mann mit betretener Miene zu ihr gekommen war, um ihr von Herjulfs Tod zu berichten. Sie wusste, dass Laske insgeheim mit dem Schicksal haderte, weil der Sturm nicht ihn, sondern den jüngeren Bruder von Bord gespült und in das kalte Wellengrab gerissen hatte. Aber die unergründlichen Mächte, die die Geschicke der Menschen lenkten, nahmen auf solche Gefühle keine Rücksicht, und so galt es, das Leben anzunehmen, wie es kam.

Frenja verscheuchte die düsteren Gedanken, während sie ihre unter der Last knarzende Trage neben Laskes stellte. Die Kinder hatten sich ihren Spaß redlich verdient, nachdem sie stundenlang fleißig Nüsse aufgesammelt und von den Zweigen gepflückt hatten. Nicht wenige waren dabei auch in ihre nimmersatten Mägen gewandert, aber die beiden durften sich dennoch rühmen, einen stattlichen Beitrag zu den Wintervorräten der Sippe geleistet zu haben.

Hjalgar hatte seine Mutter und seinen Onkel, die sich daran machten, ihre Kiepen zur Gänze zu füllen, bereits vergessen. Eifrig bahnte er sich seinen Weg durch die das Ufer überwuchernden Kräuter, von denen ihn einige sogar überragten, und stürmte der alten Esche entgegen, die Jorun zum Ziel des Wettlaufs bestimmt hatte. Mit empörtem Quäken flatterte eine Entenfamilie vor ihm auf den sicheren Fluss hinaus, aber der Junge ließ sich davon nicht ablenken. Seine ausgestreckte Hand berührte die rissige Rinde nur einen Wimpernschlag vor den Fingern seiner Freundin.

»Erster«, stieß er außer Puste hervor.

»Du hast geschummelt«, beschwerte sich Jorun schnaufend.

»Nur ein bisschen«, verteidigte sich Hjalgar schelmisch. Für mehr fehlte ihm noch immer die Luft. Jorun setzte sich zwischen den Wurzeln der Esche nieder, um wieder zu Atem zu kommen, und ihr Freund folgte nur zu gern ihrem Beispiel. An den Stamm des mächtigen Baumes gelehnt verloren sie sich eine Weile im Anblick des vermeintlich ruhig dahinfließenden Wassers, das in Wahrheit aus unzähligen, kleinen Wirbeln und Wogen immer neue Muster entstehen ließ.

»Aigur hat gesagt, wenn er die Ottajara abgelegt hat, will er mit mir unter die Birkenzweige gehen«, platzte das Mädchen plötzlich heraus.

Hjalgar verschlug es vor Überraschung die Sprache. Im Langhaus seiner Familie schliefen alle, Knechte und Mägde, Kinder und Greise, Bauer und Bäuerin im selben Raum. Er ahnte, was junge Paare taten, wenn sie sich im Frühling in einen Birkenhain begaben. Aber das gehörte zu den Geheimnissen der Erwachsenen, mit denen er noch nichts zu tun hatte. Schon dass Jorun es erwähnte, war ihm furchtbar peinlich. Die Worte des drei Jahre älteren Jungen ärgerten ihn deshalb doppelt.

Aigur weiß ganz genau, dass Jorun meine Freundin ist, dachte er zornig. Immer will er alles haben, was mir gehört.

Ein Teil von ihm nahm immer noch wahr, dass Jorun weitergesprochen hatte, doch die Bedeutung ihrer Sätze drang nicht in sein Bewusstsein vor. Die Laute verhallten, wurden von dem rötlichen Schleier verschluckt, der sich vor seinen Augen über die Welt legte. Mit einem Mal nahm der Fluss die Farbe von Rost an, als hätten die Herbststürme bereits den Staub der Orkschädelsteppe hineingewaschen.

»Hjalgar?«

Ein Schauder lief ihm über den Rücken und er schüttelte sich, während sich sein Blick wieder klärte.

»Hjalgar!«, wiederholte das Mädchen verwirrt und enttäuscht.

»Was hast du gesagt?«, erkundigte sich der Junge benommen.

Jorun verdrehte die Augen. »Ich will lieber mit dir unter die Birkenzweige gehen, wenn ich groß bin«, erklärte sie ungeduldig.

»Oh«, machte Hjalgar nur und nickte verlegen. Das Mädchen schien damit zufrieden zu sein.

»Aigur ist ganz schön sauer deswegen«, eröffnete sie ihm lächelnd. »Er will dich verprügeln, wenn wir nach Hause kommen.«

»Pah, der macht sich bestimmt jetzt schon die Hosen voll«, höhnte Hjalgar wie ein alter Haudegen.

Er war erleichtert, sich dem Thema wieder gewachsen zu fühlen, doch seine gute Laune hatte sich vollends verflüchtigt. Es erfüllte ihn zwar mit Stolz, dass Jorun sich schließlich für ihn entschieden hatte, obwohl Aigur ein Enkel des Sippenoberhauptes war und eines Tages vielleicht sogar die Familie anführen würde. Dennoch nahm er die angedrohte Schlägerei mit dem älteren Jungen bei weitem nicht so auf die leichte Schulter, wie er das seine Freundin glauben ließ. Für Jorun dagegen war die Welt wieder in Ordnung, nachdem sie Hjalgar ihr belastendes Geheimnis erzählt hatte. Sie sprang auf und sprühte vor Tatendrang.

»Komm, lass uns etwas spielen!«, schlug sie vor, mit den Augen bereits nach dem passenden Platz für ein aufregendes Abenteuer suchend.

Während ihr Freund ohne rechte Begeisterung aufstand, steuerte sie auf einen von Brombeerranken eingewachsenen, umgestürzten Baumstamm zu.

»Das ist der Verteidigungswall um mein Dorf«, beschloss sie. »Und du bist der böse Ork, der uns angreift.«

Hjalgar runzelte die Stirn.

»Warum muss eigentlich immer ich der Ork sein?«, beschwerte er sich.

»Weil Orkfrauen nicht kämpfen«, erwiderte Jorun schlicht.

Der Junge konnte an dieser ebenso einfachen wie zwingenden Logik nicht rütteln. Er fühlte sich in die Enge gedrängt und blickte noch finsterer drein. In seinen Ohren rauschte es leise, obwohl kein Wind durch die Bäume strich.

»Ich will trotzdem kein Ork sein«, beharrte er.

Das Mädchen hatte sich hinter seiner symbolischen Mauer breitbeinig aufgestellt und schwang begeistert eine imaginäre Streitaxt. »Sei kein Spielverderber!«, forderte sie. »Zu den Waffen, Leute! Die Schwarzpelze greifen an!«

»Ich bin kein Spielverderber«, protestierte Hjalgar, während er widerwillig gegen die dornige Bastion anrannte.

»Bist du doch.« Das Mädchen wehrte seine Attacke mit dem Unterarm ab, an dem es in seiner Vorstellung einen Rundschild trug. Hjalgar wich hastig der eingebildeten Axt aus. »Alle Jungs spielen Orks, wenn ich das will. Sogar Aigur.«

Aigur schon wieder! Ich will nicht, dass sie mit Aigur spielt, ärgerte sich der Junge. Eine rote Woge schwappte von innen gegen seine Augen und nahm ihm für einen Moment die Sicht. Er sah Joruns Faust nicht kommen, die schmerzhaft auf seinem Ohr landete und seine Welt in noch tieferes Purpur tauchte.

***

Frenja und Laske hörten das helle Kampfgeschrei der Kinder, während sie weiter Nüsse in ihre Tragen häuften.

»Ich glaube, die beiden werden eines Tages als berühmte Kämpen von den Skalden besungen werden«, meinte Hjalgars Onkel zuversichtlich. »Sie haben jetzt schon Mut für zehn.«

Seine Schwägerin lächelte. »Dann werden die Gegner aber brav zu uns kommen müssen, denn Jorun zieht es gar nicht in die Fremde. Sie verteidigt nur ihren Hof, und Hjalgar sieht das scheinbar ähnlich.«

»So einen Überfall sollten wir nicht leichtfertig herbeireden«, tadelte Laske und berührte hastig den schützenden Stahl seines Schwertes.

Auch Frenja legte eilig die Fingerspitzen auf das kühle Blatt des Skraja genannten Beils, das in ihrem Gürtel steckte, und hoffte, dass das Eisen alle bösen Geister bannen mochte, die ihre unbedachten Worte gehört hatten.

»Es wird spät«, stellte sie fest. »Wir sollten uns bald auf den Rückweg ...« Sie brach ihren Satz ab und lauschte.

»Was ist da los?«, fragte Laske ebenso beunruhigt.

In die Stimmen der Kinder hatte sich Wut gemischt. Auf die Entfernung waren ihre Rufe nicht zu verstehen, aber als Jorun plötzlich angstvoll aufschrie, rannten Frenja und Laske sofort zum Ufer und rissen im Laufen ihre Waffen hervor. Nicht umsonst hatten ihre Vorfahren alle Siedlungen des Bodirtals als Wehrdörfer angelegt. Die Orks vom Stamm der Zholochai betrachteten die Gegend noch immer als ihr Land, auf dem menschliche Siedler unerwünschte Eindringlinge waren.

Die unerwartet eingetretene Stille spornte Frenja noch mehr an. Gütige Ifirn, lass den Kindern nichts zugestoßen sein!, betete sie und wappnete sich, auch der größten Übermacht zu trotzen, um ihren Sohn zu retten.

Doch als sie Hjalgar im Ufergestrüpp erblickte, konnte sie keinen Feind ausmachen. Eine dunkle Ahnung erfasste sie, verlangsamte ihre Schritte. Jorun lag reglos am Boden, aber Frenja konnte die Augen nicht von ihrem Sohn abwenden. Der Junge stand einfach nur da und starrte vor sich hin. Sein Körper erbebte unter einem heftigen Zittern, das nicht aufhören wollte. Trotzdem umklammerten seine Finger einen faustgroßen Stein.

Laske warf sich neben dem bleichen Mädchen auf die Knie und suchte fieberhaft nach Lebenszeichen. Blut rann durch die roten Locken, um in Erde und Moos zu versickern. Der Thorwaler richtete sich auf. Frenja las aus seinem ungläubigen Blick, dass es keine Hoffnung gab. Ihr Herz füllte sich mit Grauen.

»Was hast du getan?«

Laskes Stimme klang vor Entsetzen und Zorn brüchig. Frenja fühlte sich so gelähmt wie ihr Sohn, der keine Antwort gab. Das Schweigen fachte die Wut des Mannes weiter an. Er sprang auf und packte den Jungen bei den Schultern, um ihn kräftig zu schütteln.

»Was hast du dir nur dabei gedacht, du Wahnsinniger?«, brüllte er. »Hast du völlig ... ?«

Er verstummte, als er merkte, dass Hjalgar noch immer einen Punkt in der Ferne fixierte und seinen Onkel nicht einmal bemerkte. Widerstrebend ließ er von dem Jungen ab.

»Es ist die Walwut«, murmelte er. »Die Swafskari.«

»Ja«, hauchte Frenja. »Natürlich. Das muss es sein. Du kennst Hjalgar. Er hätte doch nie ...« Ihr fehlten die Worte für das Schreckliche, das gerade geschehen war.

»Bei allen Trollen! Wir hätten es wissen müssen«, warf Laske sich vor. »Deshalb konnte er damals den viel älteren Nachbarsjungen besiegen.« »Niemand war dabei. Wie hätten wir das ahnen sollen?«, verteidigte sich Frenja.

»Ich weiß es nicht. Auf jeden Fall müssen wir es sofort unserem Diar [thorwalsch für ›Geweihter‹ oder ›Priester‹] sagen. Er muss den Jungen in seine Obhut nehmen«, beschloss ihr Schwager.

Frenjas Augen weiteten sich. »Nein, das darfst du nicht tun. Sie werden mir Hjalgar wegnehmen«, heulte sie auf.

»Er ist doch alles, was mir von Herjulf geblieben ist.«

»Du kannst kein totes Mädchen geheim halten, Frenja«, erwiderte Laske barsch. »Nimm wieder Vernunft an!«

»Wir könnten sagen, dass es ein Unfall war«, bedrängte sie ihn. »Dass sie unglücklich von einem Baum gefallen ist. Er ist doch kein Monster! Bitte! Nimm ihn mir nicht weg! Warum reißt du mir nicht gleich das Herz heraus?«

Der große Mann wand sich angesichts der Verzweiflung in ihrem Blick, doch er fühlte die tiefe Verpflichtung gegenüber der Sippe, die stets vor allem anderen kommen musste.

»Bei Swafnirs mächtiger Fluke! Was du vorschlägst, ist schändlich, und das weißt du«, hielt er ihr entgegen. »Wie viele seiner Freunde sollen sterben, bevor dein Gewissen dich zur Wahrheit treibt? Er ist ein Kind Swafnirs und muss den Weg des Gottwals gehen.«

Frenja senkte ergeben den Kopf, doch ihre Hände legten sich wie von selbst vor ihr Gesicht und sie schluchzte laut auf, schluchzte all den Kummer über den Tod des Mädchens und den nahen Verlust ihres Sohnes hinaus.

Hjalgar stand wie angewurzelt dort, wo seine Mutter ihn gefunden hatte. Das Zittern war vergangen, aber noch immer krampften sich seine Finger um den kantigen Stein. Die untergehende Sonne tauchte Jorun in warmes rötliches Licht. Ihre Locken loderten wie die Flammen eines heimeligen Herdfeuers.

Jorun. Jorun ist tot. Wie kam dieser Stein in meine Hand? Jorun, ich wollte das nicht! Wie kam der Stein in meine Hand? Wie?

1. Kapitel

Myrburg, Anfang Rondra 597 BF

Die schäbige Hütte, deren First sich unter der Last des verwitterten Strohdaches bedenklich durchbog, stand klein und verloren außerhalb der Stadtmauer. Der Schatten der Verteidigungsanlage reichte schon fast bis an die verlassene Behausung heran, als Hjalgar Herjulfsson sein Packtier davor anband. Neben dem fast zwei Schritt großen Mann wirkte das Muli allerdings eher wie ein zwergwüchsiger Esel.

Der Thorwaler hatte zunächst erwogen, sein Langohr dem in der Wand eingelassenen Ring anzuvertrauen, überlegte es sich angesichts des bröckelnden Mörtels jedoch anders.

Am Ende stürzt die ganze Mauer ein, wenn Askanje ihren Sturschädel ins Halfter stemmt, befürchtete er. Und das wird sie bestimmt, wenn ihr das fressbare Grünzeug ausgeht.

Hjalgar knotete stattdessen einen langen Strick um den Stamm einer jungen Buche und war gespannt, in welchem Zustand er Seil, Baum und Muli am nächsten Morgen vorfinden würde.

Wahrscheinlich wird mich das dumme Vieh heute Nacht aus dem Schlaf schreien, weil es die Leine um den Stamm gewickelt hat und sich nicht selbst befreien kann. Warum musste mir auch dieser elende Schwachsinn mit Nuianna passieren? Die wusste immer, dass sie einfach nur umzudrehen brauchte.

Mit geübten Handgriffen löste Hjalgar den Gurt und nahm dem Maulesel den Packsattel ab. Er legte die schwere Last außerhalb von Askanjes Reichweite ins Gras, um das Tier noch zu tränken, bevor er an sich selbst denken konnte.

Der Brunnen neben der Hütte war mit einem Gitter abgedeckt, damit kein Wild hineinstürzte und das Wasser vergiftete. Hjalgar hob den Rost mühelos zur Seite, obwohl sein Körper – anders als bei den meisten Thorwalern der Gegend, die zu gern ihrem selbst gebrauten Bier zusprachen und im langen, verschneiten Winter zu viel herumsaßen – die kräftige Statur vermissen ließ. Das Leben in der Wildnis hatte ihn stattdessen drahtig gemacht.

Verglichen mit dem Zustand der kleinen Hütte sah der Eimer, den Hjalgar nun in den dunklen Schacht hinabwarf, erstaunlich neu aus.

Ob irgendjemand gelegentlich hierher gekommen ist und sich darüber gewundert hat?, fragte sich der Thorwaler und blickte dabei zur Stadtmauer von Myrburg hinüber.

Gegen die tief stehende Sonne sah er die Wächter als schwarze Gestalten auf dem Wehrgang entlangschlendern. Hinter ihnen überragten nur die Türme des Alten Kastells und der Zollturm die Zinnen. Hjalgar wusste, dass die Wachposten ihn gesehen hatten, als er sich zwischen den Feldern und kargen Weiden der Stadt näherte. Er machte sich nicht die Mühe, sich zu verbergen, was selbst mit Hilfe der dichten Weißdornhecken und der niedrigen Steinwälle, mit denen die Wiesen umzäunt waren, für einen Wanderer mit Packtier ein unmögliches Unterfangen dargestellt hätte.

Sollen sie mich doch sehen! Sollen sie denken, was sie wollen!, grollte er. Es geht sie kaum etwas an, ob ich hier übernachte oder nicht. Solange ich nicht durchs Tor marschiere, übertrete ich kein Gesetz.

Heftig zerrte er an dem Seil, an dem der nun volle Eimer hing. Einst hatte der Erbauer des Brunnens eine Winde angebracht, um sich die Arbeit zu erleichtern, aber die Kurbel war seit langem festgerostet. Auch die hölzernen Bestandteile des Mechanismus wirkten nicht mehr Vertrauen erweckend, sodass Hjalgar den kleinen Kübel lieber mit reiner Muskelkraft über den Rand hievte. Zum Glück bewirkte der nahe Fluss einen hohen Grundwasserspiegel. Hjalgar füllte zunächst seine eigenen Vorräte auf, bevor er den Eimer zu Askanje trug. Das Muli soff in langen Zügen, zu denen seine langen Ohren im Takt wippten. So schnell wie der Behälter sich leerte, musste das Tier noch immer großen Durst haben.

»Auch das noch«, schimpfte der Thorwaler vor sich hin.

»Das muss das Stroh in deinem Kopf sein, das sich so voll saugt.«

Missmutig schaffte er Askanje Nachschub heran.

»Da, du Plagegeist! Das muss aber jetzt für die Nacht reichen«, stellte er klar.

Der Maulesel nahm einen Schluck, dann juckte es ihn plötzlich unter dem Halfter. Hjalgar griff hastig nach dem Eimer, doch Askanje hatte bereits versucht, sich an der Kante zu schubbern, sodass das Gefäß kippte und sein Inhalt sich über den Boden ergoss.

»Du selten verblödetes Vieh!«, fuhr der Thorwaler das unbeeindruckte Tier an.

Er spürte ein vertrautes Kribbeln im Nacken, als die Wut in seinen Adern aufkochte. Schnell brachte er einige Schritte zwischen sich und das Muli. Die heiße Welle brandete durch seinen Körper wie ein unerwarteter Fieberschub.

Es ist kalt, redete Hjalgar sich ein. Es schneit. Wirbelnde Flocken tanzen im Wind um mich her. Alles erstarrt zu Eis. Auch ich. Ich sollte Winterschlaf halten. Wie ein voll gefressener, träger Bär. Träge, müde. Da ist eine Höhle im Schnee. In die ziehe ich mich zurück. Langsam atmen! Lang – sam.

Hjalgar tauchte aus seiner leichten Trance auf. Er atmete viel schneller, als er erwartet hatte, und konzentrierte sich noch einen Augenblick darauf, bis sich auch sein Herzschlag wieder beruhigte.

Das war knapp. Ich muss besser aufpassen. Es ist nur ein gedankenloses Tier, sagte er sich. Warum werde ich nicht endlich gleichgültiger? Was macht es schon, ob ich einen Eimer mehr oder weniger aus dem Brunnen ziehe? Jedenfalls ist es nicht wert, dass ich deshalb im Winter hungern muss. Er setzte dem Maulesel neues Wasser vor und wartete Askanjes weitere Faxen gar nicht erst ab. Stattdessen wuchtete er den schwer beladenen Packsattel durch die Tür der unverschlossenen Hütte. Ein muffiger Geruch nach Moder und Mäusedreck schlug ihm entgegen. Durch die kleinen, mit Tierhaut bespannten Fenster drang nur spärliches Licht in die verlassene Behausung, die aus einem einzigen Raum bestand.

Hjalgar ließ die Tür offen, um frische Luft hereinzulassen, während er misstrauisch nach Anzeichen für andere Besucher Ausschau hielt, die vielleicht herumgeschnüffelt hatten. Viel gab es nicht, was die Neugier eines Myrburgers wecken konnte. Nachdem die letzte Bewohnerin der Hütte – eine alte Imkerin, von der auch gemunkelt wurde, sie sei eine Hexe gewesen – gestorben war, hatten flinke Hände alles verschwinden lassen, was vom Hausrat noch brauchbar erschien. Nur ein paar Kräuterbüschel, von denen niemand gewusst hatte, wozu sie verwendet werden konnten, hingen noch fahl und eingestaubt von den Dachbalken herab. Gegenüber der Tür stand ein windschiefer Tisch, neben dem zur Rechten nur Platz für eine Sitzbank blieb, die zugleich als Truhe diente. Links des Eingangs stand eine weitere Kiste, so massig und schwer, dass sie nicht verschleppt worden war.

Der Thorwaler setzte seine Habe auf dem freien Platz zwischen dieser Truhe und der Feuerstelle ab, wo nichts als ein Schemel lag, dem das dritte Bein fehlte. Dahinter nahm das Bett die gesamte Breite der Hütte ein, auch wenn man nur noch anhand der Abmessungen erraten konnte, dass es sich bei dem drei Spann hohen Podest um die Schlafstelle gehandelt haben musste. Der hohle Raum darunter hatte die Bienenkörbe der Imkerin beherbergt und war aus dem Innern der Hütte heraus nicht zugänglich.

Keine neue Asche auf dem Herd, stellte Hjalgar fest. Auch sonst sieht alles unverändert aus. Wahrscheinlich sind nicht einmal Kinder hier gewesen. Obwohl die im Sommer immer gekommen sind.

Er rollte seine Decke auf den alten Brettern aus, auf denen einst die Matratze gelegen hatte, und warf seinen Umhang aus gewalkter, dunkelgrüner Wolle dazu. Als Kopfkissen musste seine zusammengefaltete Ersatztunika herhalten.

Ich könnte erst einmal etwas essen, überlegte Hjalgar, während er ein Bündel Antilopenfelle auf den wackligen Tisch klatschte. Der alte Halunke taucht bestimmt nicht auf, bevor es stockfinster ist.

Das Podest knarrte protestierend unter dem Gewicht, als der Thorwaler sich setzte, um in Ruhe eine kalte Trappenkeule abzunagen. Gänzlich ohne Gewürze schmeckte das Fleisch ausgesprochen fad, aber Hjalgar spülte die trockenen Bissen achtlos mit Wasser hinunter. Er hatte schon schlechter gegessen. In der weiten Steppe durfte er ohnehin nicht wählerisch sein, wenn er überleben wollte. Mit der Dämmerung kroch die Dunkelheit aus ihren Ecken und eroberte unaufhaltsam den ganzen Raum. Hjalgar schloss nun doch die Tür, die sich von innen durch einen Riegel sichern ließ.

Jetzt müssen ungebetene Gäste sich wenigstens mit entsprechendem Lärm ankündigen, wenn sie einbrechen wollen.

Er rechnete zwar nicht mit weiterem Besuch außer Sivas Deriak, aber in der Nähe einer Stadt musste er zumindest darauf gefasst sein, dass die Nächte nicht so einsam blieben wie erhofft.

Ich wünschte, es käme jemand. Irgendeiner, der von der Mauer aus gesehen hat, dass ich hier bin, und es sich nicht verkneifen kann, mir einen Vortrag über die Gesetze zu halten. Dann könnte ich wenigstens einem von diesen selbstgerechten Heuchlern die Fresse polieren. Mit herzlichen Grüßen an den Hersir.

Hjalgar atmete tief durch.

Aufpassen, Junge! Du steigerst dich in deinen Hass. Das kann übel ausgehen, wenn Deriak aufkreuzt. Anstatt ein Feuer zu entfachen und seine Waren auf dem Tisch auszubreiten, blieb der Thorwaler in der abendlichen Stille sitzen, um seine Gedanken in friedlichere Bahnen zu lenken. Andere Swafnirkinder hatten ihm erzählt, dass sie sich schöne Erinnerungen ins Gedächtnis riefen oder sich ihre Familien vorstellten, wenn die Walwut sie zu packen drohte. Doch Hjalgar tat sich schwer mit diesen Ratschlägen. Seine Sippe bedeutete ihm nichts mehr, seit sie ihn verstoßen hatte, und damit waren auch die fröhlichen Erlebnisse seiner Jugend nur noch schale, verblasste Bilder, die er nicht mehr sehen wollte.

Ein leises Rumpeln unter dem festgestampften Lehmboden holte Hjalgar abrupt zurück in die Gegenwart. Er lauschte abwartend in die Dunkelheit, bis gedämpftes Klopfen zu ihm herauf drang. Erst nachdem das vereinbarte Signal ertönt war, erhob sich der Thorwaler und stemmte sich gegen die massive Eichentruhe, um sie zur Seite zu schieben. Darunter kam eine Falltür zum Vorschein, in die ein eiserner Griff eingelassen war. Verglichen mit dem Gewicht der großen Kiste kam Hjalgar der Widerstand beim Öffnen der Klappe lächerlich vor, obwohl sich Lehm in die Scharniere gesetzt und sie schwergängig gemacht hatte. Rötlicher Staub rieselte in den Schacht hinab, der sich im Boden der Hütte auftat.

»Verdammter Dreck!«, fluchte Sivas Deriak. »Ich vergesse jedes Mal wieder, dass das Zeug mir entgegenkommt, wenn ich nicht weiter hinten im Gang warte.«

Er reichte hustend und spuckend eine Laterne herauf, mit der Hjalgar ihm leuchtete, während er die steile Stiege nach unten verschwand, um kurz darauf mit einem prall gefüllten Sack über der Schulter wieder nach oben zu steigen. Der Thorwaler nahm ihm die Last ab und stellte sie zur Seite. Sivas wieselte ein zweites Mal hinunter.

»Setz‘ die Lampe ab! Du wirst beide Hände brauchen«, ächzte er, als er mit einer länglichen Kiste wieder in Sicht kam. Hjalgar befolgte seine Anweisung, hatte allerdings sehr viel weniger Mühe mit dem Kasten, dessen Kanten mit Eisen verstärkt waren.

»So, eine Ladung noch«, kündete Sivas an und brachte eine weitere, deutlich kürzere und leichtere Kiste zum Vorschein, die der Thorwaler ebenfalls entgegennahm, damit der Neuankömmling ungehindert über den Rand des Schachts klettern konnte.

Sivas Deriak war selbst für mittelreichische Verhältnisse ein kleiner, schmächtiger Mann, den man neben dem hoch gewachsenen Hjalgar von weitem für ein Kind halten konnte. Aus der Nähe betrachtet ließen die grau melierten, dunklen Haare und sein an den Spitzen ein wenig gezwirbelter Schnurrbart jedoch keinen Zweifel an seinem Alter aufkommen. Darauf deutete auch die unübersehbare Rundung hin, die sich unter seinem Gürtel abzeichnete, obwohl er ansonsten schlank geblieben war. Die längliche Gesichtsform wurde noch dadurch betont, dass seine grünbraunen Augen zu nah bei der schmalen Nase standen.

»Phex zum Gruß, mein Freund«, begann er, während er den roten Staub von seinen unauffällig gehaltenen Kleidern klopfte. »Pünktlich wie immer. Nach dir sollte man einen Kalender ausrichten.«

Hjalgar setzte weder eine freundliche Miene auf, noch erwiderte er den Gruß, was seinen Besucher aber offenbar nicht störte.

»Soll seit neuestem eine Menge Ärger mit Orks geben«, fuhr Sivas fort. »War sicher nicht ganz einfach, hierher zu kommen.«

»Nicht schwieriger als sonst«, meinte der Thorwaler gleichmütig.

»Ich sehe schon, du bist gewohnt gesprächig«, bemerkte der Myrburger grinsend. »Kommen wir also zum Geschäft.«

Er stellte die Laterne auf den Tisch und löste die Verschnürung des Pelzbündels, um es aufzurollen. Prüfend strich er über das dichte, weiche Winterfell eines Weißbocks.

»Schöne Ware«, lobte er. »Völlig ohne Gelbstich, soweit ich das bei dieser Beleuchtung erkennen kann. Sind die alle so?«

»Nein, nur zwei«, antwortete Hjalgar wahrheitsgemäß. Es wäre ihm nie in den Sinn gekommen, Sivas zu belügen. Auch wenn er nichts von dem zwielichtigen Händler hielt, hätte er sich mit einem Betrug nur ins eigene Fleisch geschnitten. Sie wussten beide, dass sie füreinander unersetzlich waren, und bemühten sich deshalb stets um gerechte Bedingungen. Hjalgar interessierte nicht einmal, ob Deriak ihn im Grunde ebenso wenig schätzte wie er ihn.

Was andere von ihm dachten, spielte für ihn schon lange keine Rolle mehr.

»Schade«, bedauerte Sivas. »Aber die Qualität ist trotzdem erstaunlich.« Er hatte das Fell gewendet, um die Gerbung zu beurteilen. »Wie schaffen die es, dass ich nie ein Einschussloch sehe?«

»Sie legen im Winter Schlingen auf den Wildwechseln aus«, erklärte der Thorwaler. »Dann müssen sie sich nicht lange in der Kälte herumtreiben, um Beute zu machen.«

»Für Weißböcke?«, wunderte sich der Myrburger. »Ich dachte, das macht man nur mit Geflügel und Hasen.«

»Man kann jedes Tier mit einer Schlinge fangen. Sie muss nur stabil genug sein«, behauptete Hjalgar.

»Gelegentlich sollen ja auch Menschen in Schlingen enden«, versetzte Sivas achselzuckend, worauf der Thorwaler ihn scharf musterte.

»He, keine Sorge! Das kann mir genauso gut passieren wie dir«, versicherte der Händler hastig. »Ich bin kein Jäger und wollte meine Unwissenheit nur mit einem Scherz überspielen. War wohl nicht besonders witzig; ich seh‘s ein.«

Besorgt blickte er zu Hjalgars grimmiger Miene auf. Sivas hatte schon in vielen brenzligen Situationen gesteckt, in denen er stets die nötige Gelassenheit bewahren konnte, doch wenn sich die rötlichen Brauen dieses Mannes drohend zusammenzogen, trat ihm stets kalter Schweiß auf die Stirn.

Es lag nicht an der beeindruckenden Größe seines Gegenübers. In Myrburg liefen ihm täglich hünenhaftere Thorwaler über den Weg, die ihn alle um mehr als Haupteslänge überragten. Etliche von ihnen trugen mit ihren Tätowierungen und gefärbten Strähnen auch ein deutlich martialischeres Auftreten zur Schau als Hjalgar, der sich nur den Vollbart zu zwei kurzen Zöpfen geflochten hatte, während er seine Haare einfach ungebändigt lang wachsen ließ.

Was Deriak so nervös machte, waren viel mehr die Gerüchte, die er über seinen Geschäftspartner gehört hatte. Unter den mittelreichischen Siedlern erzählte man sich eine Menge wilder Geschichten über die Swafnirkinder und ihren unberechenbaren Blutrausch, der wohl auch jeden vernünftigen Hautbildstecher davon abhielt, einem wie Hjalgar mit Nadeln zu Leibe zu rücken. Aber was von Herjulfsson gemunkelt wurde, ging weit darüber hinaus. Wenn Sivas versuchte, Erkundigungen einzuziehen, wurde in den Tavernen viel spekuliert, doch jene Thorwaler, die Bescheid wussten, schwiegen sich darüber aus und benahmen sich so, als ob ein Mann namens Hjalgar nicht existierte.

»Wahrscheinlich ist es nicht besonders firungefällig, Antilopen auf diese Art zur Strecke zu bringen«, sagte Hjalgar. »Aber das hat Orks wohl noch nie gestört.«

Sivas stieß erleichtert die angehaltene Luft aus.

»Kaum«, stimmte er rasch zu. »Und uns soll es recht sein, wenn es schöne Pelze liefert.« Fahrig legte er die Felle wieder zusammen. »Was hast du noch für mich?«

Der Thorwaler ging neben dem Packsattel in die Hocke, um ein weiteres Bündel loszuschnallen, das der Händler neugierig öffnete. »Die sind von Yarugh Draash. In letzter Zeit beweist er seinen Mut am liebsten, indem er die Biester durch einen Kehlbiss tötet.«

Schnell schluckte Sivas das ungläubige ›Ach ja?‹ herunter, das ihm auf der Zunge lag. Er legte keinen Wert darauf, mit Hjalgars großer Faust Bekanntschaft zu schließen, geschweige denn mit dem Hjalsmesser in seinem Gürtel.

»Ich bin immer wieder fasziniert, was sich diese Wilden einfallen lassen, um ihrem Ruf gerecht zu werden«, erwiderte er stattdessen und begutachtete die drei großen, zotteligen Wolfspelze.

Wie der Orkhäuptling seine Hauer in den Hals eines geifernden Raubtiers schlug, stellte er sich lieber nicht zu genau vor. Die Felle würden zweifellos Abnehmer finden.

»Da werden den Bodir runter wieder einige mit Heldentaten protzen, die sie nicht begangen haben«, vermutete er amüsiert.

Hjalgar nickte nur ernst, bevor er sich wieder seinem Gepäck zuwandte. Er knotete einen grob gearbeiteten Lederbeutel vom Sattel und reichte ihn dem Händler. Obwohl Sivas das hohe Gewicht erwartet hatte, sank sein Arm sichtbar nach unten, bevor er genug Kraft aufbrachte, um es zu halten.

»Du trägst ein kleines Vermögen in Gold so nachlässig auf deinem Muli herum?«, wunderte er sich. »Was machst du, wenn das Tier nun abhaut und auf Nimmerwiedersehen verschwindet?«

»Maulesel neigen nicht dazu, sich mit deiner Barschaft aus dem Staub zu machen«, meinte der Thorwaler. »Das tun nur Menschen.«

Wie wahr, dachte Sivas selbstgefällig und runzelte dann doch die Stirn. Weiß dieser Kerl irgendetwas über meine Vergangenheit?

»Und wenn dich nun jemand überfällt, das Muli schnappt und wegzerrt, während du mit seinen Kumpanen kämpfen musst?«, gab er zu bedenken. »Entweder töte ich meine Gegner und hole mir das Tier zurück, oder sie töten mich und hätten das Gold dann auch, wenn ich es am Leib getragen hätte. Wo ist da der Unterschied?«

»Hm, ich denke, das ist ein bisschen komplizierter, aber ich will mich ganz gewiss nicht mit dir streiten«, betonte Sivas. »Es geht mich ja auch gar nichts an.«

»Das wohl«, bestätigte Hjalgar nachdrücklich.

Der Händler wog den Beutel mit Goldklumpen abschätzend in der Hand.

»Was würden die Leute dafür geben, zu erfahren, wo die Schwarzpelze das her haben«, sinnierte er. »Wahrscheinlich sogar ihr Leben.«

»Tote können mit Gold nicht mehr allzu viel anfangen. Aber die Orks freuen sich bestimmt über ein paar Opfer mehr, mit denen sie vor ihren Kameraden prahlen können«, vermutete Hjalgar.

»Du musst es wissen.«

Sivas ließ die dicke Börse unter seinem Wams verschwinden, sodass sein Bauch sich nun über den Gürtel zu wölben schien. Dann krempelte er den alten Getreidesack, den er mitgebracht hatte, ein Stück auf, damit der Thorwaler einen Blick hineinwerfen konnte. »Ich glaube, ich hab‘ an alles gedacht«, sagte er hoffnungsvoll. »Dinkelmehl, Grieß, Schiffsbrot, Käse ... Nein, den riechst du nicht.« Der Händler erinnerte sich angewidert daran, wie der Gestank des Echten Bodirstein durch das ganze Haus geweht war, bis er die thorwalsche Spezialität dick genug verpackt hatte.

»Holzfisch und Räucheraal.«

»Der ist meiner Nase nicht entgangen«, behauptete Hjalgar.

»Zufrieden?«, erkundigte sich Sivas, obwohl der Thorwaler sich gar nicht die Mühe machte, die einzelnen Vorräte zu überprüfen.

»Sieht reichlich aus«, meinte Hjalgar nur.

»Gut. Hier habe ich eine Auswahl an Beuteln mit echtem Hesindigo von den Waldinseln«, erläuterte der Händler, während er die kleinere Kiste öffnete, die mit bunten Stoffsäckchen gefüllt war. »Das Zeug ist natürlich gestreckt, damit deine Kunden für ihr Gold auch etwas in der Hand haben. Aber das weißt du ja. In den Roten ist Purpur. Jedenfalls die billige Lotos-Variante. Du hast gesagt, dass sie darauf besonders scharf sind. Darunter findest du noch ein paar Flaschen Fusel. Das heißt, eine ist echtes Premer Feuer. Die ist natürlich für dich.« Sivas klappte den Deckel wieder zu und machte sich als nächstes am Verschluss des großen, länglichen Kastens zu schaffen. »Und jetzt kommt das Beste«, kündigte er mit echtem Stolz in der Stimme an.

Unter einer dünnen Strohschicht zog er einen in Stoff eingeschlagenen Gegenstand hervor, den er ehrfürchtig enthüllte. Polierter Stahl glänzte im Licht der Laterne auf. Hjalgar packte das in seiner schmucklosen Schlichtheit dennoch elegante Schwert beim Griff und prüfte die Schärfe der Klinge.

»Echte Zwergenarbeit«, beteuerte Sivas, dem nicht ganz wohl dabei war, eine Waffe in der Hand des Thorwalers zu sehen. Doch die Situation ergab sich nicht zum ersten Mal und bislang hatte der Händler nie etwas befürchten müssen. »Kommt oben vom Hjaldorpass, hinter Felssteyn. Die stellen da nicht viele Fragen.«

Hjalgar ließ das Schwert spielerisch durch die Luft sausen.

»Wie viele sind es?«, wollte er wissen.

»Zehn Stück.«

»Die Orks werden ihre Freude daran haben«, meinte er nüchtern und gab Sivas die Waffe zurück.