Zsolnay E-Book

 

Henning Mankell

 

Die flüsternden Seelen

 

Aus dem Schwedischen von Verena Reichel

 

Paul Zsolnay Verlag

 

Die Originalausgabe erschien erstmals 1998 unter dem Titel Berättelse på tidens strand bei Ordfront in Stockholm.

 

 

ISBN 978-3-552-05702-9

© Henning Mankell 1998

Alle Rechte der deutschsprachigen Ausgabe

© Paul Zsolnay Verlag Wien 2007/2014

Satz: Filmsatz Schröter GmbH, München

Schutzumschlaggestaltung: Peter-Andreas Hassiepen, München, unter Verwendung eines Fotos © mauritius images/Photo Altoés collection

 

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Datenkonvertierung E-Book:

Kreutzfeldt digital, Hamburg

 

 

 

Für Eva

 

 

 

»Ich wurde unter lebenden Menschen geboren.

Ich bin ein Mensch. Ich habe geliebt.

Ich bin geliebt worden.«

 

BERNADETTE NTAKIRUTINKA, 60 JAHRE.

 

Die Antwort einer Hutu-Frau auf die Frage, warum sie während

des Völkermords in Ruanda Nachbarn versteckte, die Tutsis waren.

VORBEMERKUNG

An diesem Text habe ich bald fünfundzwanzig Jahre gearbeitet. Jetzt mache ich den Punkt, der immer provisorisch ist. Und ich begreife, daß die lange Zeit eine Erklärung dafür ist, warum das Buch schließlich so kurz werden konnte.

PROLOG

Der Quälgeist und der Zauberer

1.

In Afrika habe ich etwas entdeckt, das eigentlich keine Entdeckung sein sollte. Etwas, das die größte aller Selbstverständlichkeiten sein sollte.

Aber trotzdem bedurfte es einer immer besser gerüsteten geistigen und körperlichen Expedition, die periodisch während mehr als fünfundzwanzig Jahren stattgefunden hat, um mich im Ernst begreifen zu lassen, daß alle Menschen tatsächlich miteinander verwandt sind.

Die Hautfarbe, die Sprachen, die Art, wie wir Götter anbeten oder unser Frühstück machen, Dummheiten betrachten oder Kunst schaffen, unsere Kleider waschen und unsere Toten beerdigen, sind Grenzen, die genau diese Tatsache nicht überschatten können.

 

Alle Menschen sind verwandt.

Wir gehören zur selben Familie.

2.

Irgendwohin ist er unterwegs. Er birgt ein Geheimnis.

So bin ich Afrika begegnet, einmal vor fünfundzwanzig Jahren. Es war das erste Signal, welches das afrikanische Echolot an mein Bewußtsein zurücksendete. Der erste Versuch, einen Abdruck von der Begegnung mit dem schwarzen Kontinent herzustellen.

Nach all meinen Erlebnissen, die sich im Laufe der Jahre angesammelt haben, wie ein Fluß, ohne Kanten oder Kapitelüberschriften. Die Erlebnisse erscheinen mir oft wie poetische Instrumente. Das eine geht gleitend in das andere über.

Aber es gab auch einen Anfang.

 

1955. Bei Anbruch des Frühlings, beim Eisgang, stand ich am nördlichen Ufer des Ljusnan. Ich war sechs oder sieben Jahre alt. Die Baumstämme, die vorbeiglitten, unterwegs von den Abholzungsstellen im Norden, auf ihrer langen Reise zum Meer, verwandelten sich vor meinen Augen in Krokodile. Der Ljusnan wurde zum Kongofluß, der durch meine Kindheit strömt. Die Phantasie war ein entscheidendes Mittel, um Hütten zu bauen. Aber auch dazu, Strategien zu entwickeln, bei denen es ums Überleben ging.

Dann dauerte es in Wirklichkeit noch siebzehn Jahre, ehe ich zum erstenmal nach Afrika kam.

1972. Ich stieg aus dem Flugzeug. Die Morgendämmerung schaukelte auf den unsichtbaren Wellenkämmen des Ozeans. Eine lange Reise lag hinter mir. Das Flugzeug floß aus meinen Poren. Unterhalb der Treppe warteten die Wärme und die Stille.

Jetzt, fünfundzwanzig Jahre später, habe ich dazugelernt. In Afrika gibt es immer diese Stille, in der Tiefe des Lärms, der zum Leben gehört. Die Flugzeugtreppe hinunterzugehen, das war, als steige man in einen Vulkan hinunter, ohne Sicherungsseil, ohne Wiederkehr. Es war, wie nach Hause an einen Ort zu kommen, an dem ich noch nie gewesen war. Ich erinnere mich an meine Ankunft, als sei sie noch immer eine Fata Morgana. Etwas, was vielleicht noch nicht geschehen ist.

 

Und das erste, was ich sehe, ist genau dies:

Afrika ist ein schwarzer Mann. Er lächelt, und sein Mantel scheint von den Winden über dem Ozean gewebt zu sein.

 

Die zweite Erinnerung ist die an einen Geier, der kopfüber in einem Baum hängt. Kinder, die ihn peitschen, und rote Erde, die aufwirbelt. Der Geier lebt noch, seine Flügel flattern in einem Krampf. Ein letzter Gruß, ein verzweifeltes Flehen um Gnade.

Der Geier kennt die Menschen.

Kinder, die einen sterbenden Vogel peitschen, die rote Erde, die aufwirbelt.

Kinder, die sich selber peitschen.

 

In einem Notizbuch, das jetzt sehr zerfleddert ist, sehe ich, daß ich folgendes geschrieben habe:

»In der afrikanischen Nacht ist der Tag immer anwesend. Wie der Geruch von Holzkohlefeuern und Armut.

Wer sagt, daß Armut einen Geruch hat?

Meist ist es der Reichtum, der stinkt.

In der Ohnmacht, der Kränkung, dem Hunger ist meistens trotzdem ein Lichtstrahl anwesend. Weiße Asche, die nach Würde riecht.«

»Weiße Asche, die nach Würde riecht.« Das Bild erscheint heute undeutlich und schwebend. Aber ich verstehe, was ich damit meinte.

Ich meine das heute noch.

 

Einmal, auf einer meiner ersten Reisen nach Afrika, in ein ostafrikanisches Land, erzählte mir jemand folgende Geschichte: Lange stand ein Klavier verlassen am Hafen, wo man hin und wieder eine Haifischflosse in dem trüben Wasser sehen konnte. Ein Mann war geflüchtet. Einer der früheren europäischen Kolonialisten. Und er hatte das Klavier hinterlassen.

Eines Nachts begann das Klavier zu spielen. Die Nachtwächter kauerten sich vor Entsetzen zusammen.

In der Morgendämmerung, als sie sich endlich hinwagten, fanden sie eine erschreckte Ratte zwischen den Saiten.

In der nächsten Nacht verbrannten sie das Klavier. Die Nachtwächter wollten nicht erinnert werden.

Einst hatte ein weißer Mann mit fetten Fingern an dem Klavier gesessen. Tagsüber hatte er die gequält, die seinen Tee pflückten. Abends hatte er Musik gespielt, die verzaubern konnte.

Daran wollten sie nicht mehr erinnert werden. An diesen unfaßbaren Menschen, der teils ein Quälgeist, teils ein musikalischer Zauberer war. Also verbrannten sie das verlassene Klavier.

Am folgenden Tag fiel Regen. Die Asche war bald verschwunden. Aber die Erinnerung an die Teeblätter, die in den Handflächen brannten, war noch da.

Und die Musik schwebte weiterhin über ihren Köpfen wie ein Schwarm spielender Nachtvögel.

Auf diesen ersten Reisen begann ich auch zu verstehen, was Freiheit war. Freiheit war, eine Erinnerung zu befreien. Freiheit war, seinen eigenen Traum zu befreien. Freiheit, als sie schließlich kam, bestand aus marschierenden Guerillasoldaten in verschlissenen Uniformen, die sich plötzlich kurz vor den Toren der Stadt befanden. Sie öffneten alle inneren Gefängnisse, die verschlossenen Räume in den Menschen, die jetzt ihre Ankunft erwarteten. Heraus wankten aufgestaute Träume, mager und bleich, gequält und stumm. Alle diese Erinnerungen, die plötzlich die Sonne erblickten, Erinnerungen, die die Luft in die Lungen zogen, all diese unterernährten Gedanken, die sich wie verlassene Nestlinge benahmen. Die aber noch immer am Leben waren.

Als die Freiheit kam, war es, als hätte man ein Leintuch zur Seite gezogen. Dort war die Erde. Jedes Ackerstück war ein befreiter Traum.

 

Und die Europäer?

Sie verschwanden über die Meere.

Oder blieben da mit ihren rostigen Rosenscheren und begannen vielleicht zu ahnen, daß ihr Leben ein Gefängniswärterleben gewesen war.

Sie waren mit heiligen Aufträgen oder blutiger Verachtung gekommen. Im Angesicht der Freiheit sahen sie jetzt sich selbst.

 

Das Gesicht des Kolonialisten.

Ein Gesicht aus Gift. Mit einem unheilbaren Riß.

Das Gesicht Europas.

Der Quälgeist und der Zauberer.

3.

Der europäische Kolonialismus in Afrika kann mit einem zusammengesetzten Begriff beschrieben werden: Ausübung von Macht.

Diese Machtausübung hat viele Namen. Der geläufigste Deckmantel war, daß man Zivilisation und Christentum unter den Heiden verbreiten wolle. Dies sollte dadurch geschehen, daß Afrika in die kapitalistische Ökonomie eingebunden wurde. In die Gemeinschaft der Raubtiere. Aber nie durfte es die Bedingungen selbst bestimmen.

Die Instrumente waren die üblichen. Schwert, Bibel, das lügnerische Traktat.

Im Lauf der Jahre verwandelte sich das Schwert in ein Maschinengewehr. Die Bibel blieb die Bibel, bekam aber einen Anhang von Geboten, welche der Internationale Währungsfond und die Weltbank an die Tore der armen Welt nagelten. Das lügnerische Traktat blieb, was es war. Verräterisch. Zu nichts verpflichtend.

Der Sklavenhandel hörte auf. Es gab bessere Möglichkeiten, sich an Menschen zu vergreifen und sie auszuplündern, als sie mit Ketten und Halseisen zu versehen.

Doch was die Heerführer, die Gouverneure und die lokalen Beamten nicht begriffen, oder jedenfalls viel zu spät, war, daß die ganze Zeit eine schleichende Verwandlung vor sich ging.

 

Die Geschichte der Befreiung Afrikas handelt davon, wie diese Macht sich langsam in Ohnmacht verwandelte.

Aus der Ohnmacht gab es dann nur einen einzigen Weg hinaus.

Er war lang.

Aber er führte zu jener ersten Befreiung. Bei der es sich darum handelte, das Recht, selbständig zu denken, zurückzuerobern.

 

Von diesem Punkt an führte ein anderer Weg hinaus.

Sein Ende hat noch niemand gesehen.

4.

Die Macht hat viele Gesichter. Hier sind zwei davon.

Zwei Fotografien.

 

Das erste Bild:

Elf Missionare irgendwo in Westafrika.

1860er Jahre.

 

Die Missionare.

Sieben Männer und vier Frauen

vor ihrem Haus.

Die Frauen sitzen,

die Männer stehen.

 

Alle sind ernst.

Oder sind ihre Gesichter Zeichen?

Für eine schleichende Unsicherheit?

 

Das Bild redet und schweigt zugleich.

 

Die Landschaft parkartig,

das Bild hätte irgendwo in England aufgenommen sein können.

 

Im Hintergrund,

vor dem Haus auf einem hohen Altan

befinden sich die Dienstboten.

Sie nehmen an dem Bild teil.

 

Langsam bewegen sie sich auf den Betrachter zu.

Ihre Gesichter damals,

als das Bild in den 1860er Jahren aufgenommen wurde,

sind noch unscharf.

 

Sie nehmen am Hintergrund des Bildes teil.

 

Es dauert hundert Jahre, bis sie in den Vordergrund des Bildes kommen.

 

Irgendwie passen die beiden Gruppen zueinander.

Die ernsten Gesichter der Missionare,

dieser Ernst, der schon ihre Unsicherheit ahnen läßt,

die Ohnmacht des Auftrags,

verblaßt langsam.

 

Das Bild redet und schweigt zugleich.

 

Irgendwo ist da auch ein Fotograf.

Er steht dicht neben mir.

 

Das Bild zeigt eine Macht, die auf dem Weg ist,

aufgegeben zu werden.

 

Einer der schwarzen Diener im Hintergrund steht

breitbeinig da.

Die Füße lachen.

 

Im Obergeschoß steht ein Fenster offen.

 

Plötzlich, als ich das Bild betrachte,

ist es, als würde eine unsichtbare Hand das Fenster schließen.

 

Das Bild erlischt langsam.

 

Und ist weg.

 

Das zweite Bild der Macht:

 

Cecil Rhodes

an den Matapos Hills.

 

Er sitzt mitten in der Wildnis an einem Tisch.

Neben ihm steht ein junger Sekretär.

Im Hintergrund ein Wagen.

Vor dem Wagen ein schwarzer Diener.

Er hält ein Tablett

und trägt eine weiße Serviette über dem rechten Arm.

 

Das Bild muß spät am Nachmittag aufgenommen worden sein.

Direkt vor der kurzen afrikanischen Dämmerung.

 

Cecil Rhodes hat sein Lager aufgeschlagen.

Obwohl sie sich weit draußen in der Wildnis befinden,

hat er sich schon zum Essen umgezogen.

 

Jeden Abend wird in der Wildnis das Ritz Hotel

aufgebaut.

 

Cecil Rhodes macht den Eindruck großer Müdigkeit.

Es sind die 1890er Jahre.

In wenigen Jahren wird er genau an dieser Stelle

beerdigt werden.

Vielleicht wurde das Bild deshalb aufgenommen?

 

Cecil Rhodes hat sich entschieden:

Hier will ich mein Grab haben.

 

Der Sekretär ist sehr jung.

Einer von Cecil Rhodes jungen Männern.

Er sieht aus, als wäre er am liebsten nicht dabei.

Das Gesicht aufgedunsen, der Schnurrbart wirkt

angeklebt.

 

Cecil Rhodes wollte eine Straße vom Kap bis nach

Kairo erschaffen.

In seinem Testament träumte er von einer englischen

Weltherrschaft.

 

Darüber wird er beim Essen mit dem Sekretär reden.

 

Der Diener serviert.

 

Das Bild sagt:

Die Macht ist noch immer unbesiegbar.

 

Dann kommt die Nacht.

Rasch.

Erzählung am Strand der Zeit

5.

In einer Nacht außerhalb von Umbeluzi bot ein Mann den Vorübergehenden seine Augen dar. Er hieß Felisberto, und sein Lächeln glänzte in der tropischen Dunkelheit.

Er streckte seine Hände aus, aber nicht, um zu bekommen, sondern um zu geben. Ein Mann, der die ganze Zeit unerreichbar schien, aber trotzdem ganz nah.

So empfing er mich und ließ mich sein Gesicht sehen.

In einem Märchen ganz ohne Worte erzählte dieser Mann, der so alt war, daß er vielleicht schon tot war, die Geschichte, von der ich erst im nachhinein begriff, daß es meine eigene war, das Märchen von mir selbst.

Vielleicht ist Afrika das Ich aller, ein Ursprung und ein Traum?

In Afrika sah ich nie jemanden auf einen Bus warten, von dem keiner wußte, ob er kommen würde. Die Reise unternahm man trotzdem, entlang unsichtbarer innerer Wege, in Fahrzeugen, die an bunte Insekten erinnerten.

Als der Bus schließlich doch kam, war man wieder da und machte entzückt diese Reise aufs neue, in einer Wirklichkeit, in der auch ich existierte.

In Afrika sah ich nie jemanden aus Trauer weinen, ohne daß da auch ein Haß glühte.

Ein Lächeln war immer zu haben, kostete nichts, wurde mit einer Großzügigkeit verschenkt, die ich nicht für möglich gehalten hätte.

In Afrika lernte ich, daß man eine Heimkehr an einen Ort erleben kann, an dem man nie zuvor gewesen ist.

Neben den großen Flüssen, Sambesi, Kongo und Rovuma, sah ich auch immer das dunkle Wasser des Ljusnan.

Flüsse sind wie Geschwister, getrennt, aber doch aus derselben Quelle geboren.

In Afrika findet man schließlich seine eigene Identität, wenn man zu der heimlichen Unterströmung vorgedrungen ist, die alle Quellen verbindet.

In Afrika wandte sich das Leben zur Erde, zu den schon Toten, damit die Zukunft sichtbar wurde.

Die Menschen ritzten Karten und Erinnerungen in ihre Haut, und sie lächelten, als wüßten sie, daß Blicke die eigentliche Sprache sind.

In Afrika sah man verwundert diese Weißen an, die Angst vor der Angst selbst zu haben schienen.

Diese ernsten Männer, die in endlosen Karawanen hinauszogen und bereit waren, Menschen zu unterwerfen, die nicht einmal wußten, daß es zur Freiheit ein Gegenteil gibt.

Die Weißen schleppten ihre Teegeschirre in den Dschungel hinaus, und in der Dämmerung nahmen sie ein Bad, zogen sich um und ließen sich dann an gedeckten Tischen nieder.

Die Träger hockten in einigem Abstand an ihren Feuern.

Jenseits der bevorstehenden Zeitalter.

 

In Afrika begegnete ich Menschen, die mich an die Alten erinnerten. Diejenigen, die in einem norrländischen Marktflecken im Altersheim wohnten. Diejenigen, die längst tot waren, die ich aber als Kind gesehen hatte.

Sie spielten leichthin mit ihren letzten Atemzügen, wie Federn auf einem unsichtbaren Wind treibend.

Zu sterben, das war, als kehre man nach einem Ausflug zurück. Zu dem Leben, das es da gab, dem Leben unter den schon Toten.

In Afrika hörte man immer Gelächter, das in der Nacht abhob und den Himmel mit flatternden Flügeln erfüllte.

In Afrika war der Mensch plötzlich da, ausgebrochen aus den kalten Zeiten der Ideologie, genau wie er gemeint war.

In Afrika ist das Leben noch möglich.

Der alte Mann in der Dunkelheit außerhalb von Umbeluzi erzählte das mit seinem Schweigen. Indem ich sein Gesicht sah, konnte ich die flüsternde Stimme des Kontinents hören. Eine rauhe Stimme, aber auch das Wimmern eines Neugeborenen und der lockende Laut einer jungen Frau.

 

Dies war die Geschichte, die Felisberto erzählte:

– Als vernünftige Menschen, die wir sind, haben ich und meine Verwandtschaft immer gewußt, daß wir unseren Ursprung mit allen anderen teilen. Wir stammen aus einem eigentümlichen Wald, in dem die Bäume die Wurzeln nach oben reckten, das Gras Stimmen hatte und die Wellen Falten auf der schönen Haut des Meeres waren. Aber dieser Ursprung liegt weit zurück, so weit, daß wir, die wir heute leben, diese Landschaft in unseren Träumen nur mit größter Anstrengung heraufbeschwören können. Daß Gott, nachdem er viel Mühe darauf verwendet hatte, gelbe und rote oder braune Menschen zu erschaffen, nur noch schwarz und weiß übrig und außerdem vermutlich die ganze Arbeit satt hatte, ist ein anderes dieser uralten Geheimnisse, die von Generation zu Generation gewandert sind.

 

Die älteste Verwandte, die wir noch gekannt haben, war eine Frau namens Samima. Sie lebte, bis sie 312 Jahre alt war, aß nur einmal im Monat und starb, als sie in einem plötzlich aufflammenden Wutanfall auf einen Baum kletterte, um dem Himmel näher zu kommen und von dort aus ihre schweigenden Götter anzurufen und zu fragen, warum gerade sie so unsinnig lange leben mußte. Die Anstrengung war zu groß. Sie fiel vom Baum und sagte nie mehr etwas.

 

Von Samima stammen alle ab, die jetzt leben oder tot oder noch nicht geboren sind, diejenigen, die meine Familie bilden. Von Samima wird erzählt, daß sie einen weißen Streifen auf ihrer Haut hatte, der sich von einer Fessel bis hinauf zum Haaransatz zog. Viele ihrer Nachkommen haben den gleichen weißen Streifen mitbekommen. Anfangs wurde er als Samimas spezielle Gabe betrachtet. Wer mit dem weißen Streifen geboren wurde, sollte aufbrechen und die Familie über Berge und Flußläufe führen, zu Böden, die fruchtbarer waren und von saftigerem Gras bedeckt für unser Vieh. Aber irgendwann in den Zeitläuften wurde ein Junge geboren, an dessen Namen ich mich gerade nicht erinnere. Mag sein, er hieß Monasse. Er vergriff sich in seiner Jugend an einer Frau, die einem anderen Mann versprochen war, und wurde getötet, was nicht mehr als recht und billig war. Von da an haben wir den weißen Streifen so gedeutet, daß Samima von Fall zu Fall entscheidet, ob er Glück verheißt oder eine Warnung ist, daß wir ihrer und all der anderen, die vor uns diese Welt verlassen haben, nicht oft genug gedenken.

 

Heute besteht die Familie aus Menschen aller Altersstufen. Aber gerade in diesem Zweig gibt es keinen, der den weißen Streifen hat. Jedesmal, wenn ein neues Kind geboren wird, beugen sich alle über die gebärende Frau, um zu sehen, ob der weiße Streifen wiedergekehrt ist. Da es jetzt schon lange her ist, daß jemand Samimas Zeichen trug, gebären die Frauen in einem so rasenden Tempo – wir haben noch nie etwas Derartiges erlebt. Aber noch immer warten wir darauf, daß Samima wieder zu uns spricht. Die Familie ist heute sehr groß.

Da wir immer für Eindrücke von außerhalb empfänglich waren, habe ich Brüder, Schwestern, Cousinen und Onkel, die braun, weiß, schwarz sind wie ich, oder in anderen eigentümlichen Farbkombinationen. Ein Cousin meines ältesten Onkels Teofilio hat einen Sohn, dessen zweite Tochter eine grünliche Haut besitzt und Augen, die in allen Farben des Regenbogens schimmern. Ich selbst habe einen Halbbruder, der mit einer Frau zusammenlebt, deren Vater Chinese war und deren Mutter von einem finnischen Schiff kam, das hier an der Küste gestrandet ist. Sie hat erzählt, daß ihr Vater ursprünglich aus einem Gebirge stammte, das sie Kaukasus nannte. Und ihre Mutter soll aus Indien gewesen sein, aber von einer griechischen Mutter geboren, die in der Türkei einen argentinischen Archäologen getroffen hatte. Wir sind, kurz gesagt, eine buntgemischte Familie. Unter ihnen, kann ich dir erzählen, ist auch die arme Peina, meine Cousine. Sie wurde mit gelähmten Beinen geboren, hat aber trotzdem in ihrem Leben erstaunliche Entdeckungsreisen gemacht. Dann gibt es noch Belina, die eine schöne Frau ist, aber leider in der Stadt auf Abwege geraten. Wir sprechen nicht laut darüber, was sie eigentlich macht. Aber sie ist trotz allem eine Tochter der Cousine meiner zweiten Frau.

Einer der Söhne meines jüngeren Bruders heißt Lukas. Er ist nach Europa ausgewandert, und leider hat man nie mehr etwas von ihm gehört. Doch geschieht es dann und wann, daß ein Vogel vor der Hütte meines Bruders eine Goldmünze fallen läßt. Er behauptet, der Vogel sei von Lukas geschickt. Für die Goldmünze kauft er dann Wein, den er mit uns allen teilt. Wir trinken auf Samima und auf Lukas und auf das Mädchen, dessen Augen schimmern wie ein Regenbogen.

 

Die Älteste in der Familie ist Sakina. Wenn man meiner Frau Deolinda glauben darf, die immer spürt, wenn jemand sterben wird, ist jetzt Sakina an der Reihe. Sie wird bald sterben, da ihr Mann, der schon tot ist, ständig immer ungeduldiger nach ihr ruft. Und da bin auch ich, Felisberto, der also mit Deolinda verheiratet ist und erst als fünftes Kind, nach dem vierten Jungen Roberto, eine Tochter bekam, die wir nie anders als Be nennen, obwohl sie Lucy heißt. Aber da gibt es noch andere. Nicht zuletzt meinen Cousin Mulalene, der bei Pater Raul gearbeitet hat, welcher von seinem ständigen Streit mit seinen Nachbarn und mit Gott verrückt geworden ist. Mit wem oder welchen er am meisten Probleme hatte, weiß ich nicht, das hat Mulalene nie erklären können.

 

Das also ist meine Familie. Viele Geschwister zu haben, viele Brüder, viele Schwestern, viele Vorfahren, das heißt, viele Geschichten zu erzählen zu haben, viele Geschichten zum Zuhören. Viele Erinnerungen zu teilen, viele, die dich eines Tages am Grab beweinen werden, viele, mit denen du lachen kannst, wenn es dir im Leben gut ergangen ist. Und abgesehen von Mulalene, der nervös davon geworden ist, bei Pater Raul zu arbeiten, sind wir alle guten Muts, obwohl die meisten von uns arm sind, vielleicht mit Ausnahme von Lukas, der dann und wann seinen Vogel mit Geld schickt. Samima schläft mit offenen Augen in der Erde. Sie wacht über uns, manchmal mit einem Lächeln, manchmal mit Wut. Und ich habe dir dies erzählt, aus keinem anderen Grund, als daß du dir die Zeit genommen hast zuzuhören ...

6.

Aus dem Nichts der Nacht kam plötzlich ein Falter und setzte sich auf die Schulter des Alten. Er saugte sich dort fest, wo die Tätowierung ihre geheimnisvolle Kerbe hinterlassen hatte, und war auf seiner Haut kaum zu sehen. Als das Feuer aufflackerte, sah ich etwas Weißes auf der Rückseite der aufgeklappten, noch zitternden Flügel. Es erinnerte mich an etwas, doch ich kam nicht gleich darauf, an was.

Dann sah ich, daß es eine Margerite war.

Der Alte, der schon jetzt, obwohl die Nacht noch jung war, meinen Gedanken folgen zu können schien, kratzte sich an der Stirn. Dann nieste er. Plötzlich und kräftig. Der Falter verschwand in der Dunkelheit.

Aber hin und wieder, obwohl es lange her ist, seit ich mit dem Alten am Feuer saß, kann ich noch das ferne Rauschen von Flügeln hören.

Der Alte schnaubte und schlug mit der Hand auf die Erde, wütend, als gäbe es dort einen unsichtbaren Feind.

Dann erzählte er von Pater Raul. Über das, was Mulalene gesagt hatte:

– Und all diese Priester, die herkamen und an unseren Stränden an Land gingen. Bleich und besessen, mit wäßrigen Augen und schlechten Zähnen. Diese Männer, die so stark in ihrem Glauben brannten, daß sie sich selbst zu verzehren schienen. Sie gingen an unseren Stränden an Land, weil sie unsere Dämonen vertreiben, unsere Götter vernichten, unsere Tänze verbieten, die Freude hemmen und unsere Füße in Schuhe stecken wollten. All diese Männer, die Bleichen und Besessenen, die im Namen ihres guten Willens hergekommen waren, um uns von dem Bösen zu erlösen, das offenbar wir selber waren. Ich habe sie gesehen, habe gesehen, wie ihre bleichen Gesichter uns mit der verächtlichen Liebe betrachtet haben, die böse Menschen manchmal ihren Kindern erweisen.

Ich habe sie gesehen, gehört. Aber haben sie uns gehört? Sie haben auf den Geistern unserer Ahnen herumgetrampelt und sie Dämonen genannt. Außerdem behaupteten sie, es gebe sie gar nicht. Sie selbst aber kamen mit einem bärtigen Mann hierher, der offenbar zu wenig zu essen bekommen hatte, da er sehr mager war. Und er war an zwei gekreuzte Bretter genagelt. Wie kann man seine Götter so behandeln? So dachten wir. Nur grausame Menschen nageln ihre Götter an Holzlatten. Daß man manchmal hart gegen seine Feinde vorgehen muß, kann man ja verstehen. Aber gegen seine Götter?

Sie kamen mit ihren bleichen Worten daher und ermahnten uns zu glauben. Sie beschrieben ein Paradies, das in etwa an das Leben erinnerte, das wir führten. Weshalb sie, als sie verstanden, wie wir dachten, dieses Paradies sofort woandershin verlegten. In eine andere Welt.

Darauf dachten wir, das Paradies sei also dasselbe wie die Welt unserer Ahnen. Aber da hatten wir schon gelernt, nichts zu sagen. Sonst würden sie das Paradies vielleicht wieder woandershin verlegen? Auf einen fernen Stern oder hinter die hohen Berge, von denen wir bisweilen gehört hatten, monatelange Wanderungen von dem Ort entfernt, an dem wir lebten.

Außerdem hatten wir gelernt, daß der Glaube belohnt wurde. Wenn man sich gut verhielt, zur Kirche ging, sich nur eine Ehefrau hielt, sich nie an dem Branntwein berauschte, den wir aus Wurzeln und auserwählten Blättern gewannen, wurde man zuweilen sogar mit einem Fahrrad belohnt.

Wir lernten zu schweigen.

Unsere Götter behielten wir für uns und beteten nur insgeheim zu ihnen, wenn die bleichen Männer mit ihren noch bleicheren Frauen, die das Harmonium traten wie Soldaten marschieren, unter den weißen Netzen schliefen, welche das Fieber der Mücken fernhielten.

Es waren meist keine bösen Menschen. Wir wunderten uns nur über all das, woran sie selber glaubten. Wir dachten, sie hätten anders werden können, wären sie nicht in Ländern geboren, in denen die Blässe verwurzelt war. Diese Blässe, welche die Angst färbt, sie deutlich macht, obwohl sie von dicken Schichten des Glaubens verborgen ist.

Sie kamen mit ihren Bibeln und sagten, wir sollten jubeln. Sie ließen uns Kirchen bauen, erzählten von eigentümlichen Wundern, von Babylon und Abraham. Aber nie etwas von Samima. Und wir saßen die ganze Zeit da und betrachteten den angenagelten Mann. Den Gott der gekreuzten Bretter.

Wie konnte man einen Gott so schlecht behandeln?

Sie kamen und wollten uns etwas geben, indem sie uns etwas nahmen. Dahinter standen die unsichtbaren Kanonen, die von tausend fremden Schiffen auf unseren Kontinent gerichtet waren.

Wir lernten als erstes, nichts zu sagen. Wir lernten, daß Weiße Geheimnissen mißtrauten. Wir lernten zu warten und leisteten erst Widerstand, als die Zeit reif war.

 

Unter diesen Priestern befand sich auch Pater Raul, bei dem Mulalene viele lange Jahre gedient hat. Er wohnte in einer Stadt, die in einem Tal zwischen hohen Bergen lag, die in den Himmel aufragen.

Ich selbst habe die Stadt einmal besucht, vor sehr langer Zeit.

Ich war spätabends angekommen, als sich die Dunkelheit schon herabgesenkt hatte. Was ich dort tun wollte, außer meinen Cousin zu treffen, weiß ich nicht mehr. Vermutlich gab es dort eine Frau, die ich einmal gesehen und zu begehren begonnen hatte. Das war also, bevor ich Deolinda getroffen und bei Dom Estefano und seiner Frau Elvira zu arbeiten begonnen habe. Damals bestand die Stadt kaum aus mehr als einem Haufen Schuppen entlang einem staubigen Weg, ein Pfad, der scheinbar ohne Sinn und Ziel getrampelt worden war. Aber dort verliefen die Wege der alten Karawanen, dort seufzten noch Sklaven, die tief in den Bergen geholt und zu den wartenden Schiffen gebracht wurden, die alle den Namen »Untergang« trugen.

Ich kam in die Stadt, um nach dieser Frau zu suchen, die, wie ich hoffte, ein Teil unserer Familie werden würde. Da ich nicht wußte, wo mein Cousin wohnte, legte ich mich an der Hauswand schlafen, wo ich durch die Wand andere Schlafende hören konnte. Auf diese Weise war ich nicht allein, obwohl ich im Rinnstein schlief.

In der Morgendämmerung erwachte ich, weil ein Mann schrie. Ich wußte, schon bevor ich die Augen aufschlug, daß es ein Verrückter war, einer, der seine inneren Geister nicht zu beherrschen vermochte. Oder war er vielleicht den bösen Absichten von jemand anderem ausgeliefert?

Ich schlug die Augen auf. Ohne es zu merken, war ich an einem Ort eingeschlafen, wo schwarze Männer tagsüber Autos reparierten. Sie schlugen mit schweren Schlägen auf heißes Blech, und das Dröhnen stieg zum Himmel auf.

Gegenüber lag eine Kirche, ein kleines, unbedeutendes Gebäude, kaum größer als ein indisches Handelshaus. Und dort an der Tür sah ich Pater Raul, einen kleinen, kahlen Mann, der gegen alle und alles schrie und fuchtelte. Die Männer mit ihren Hämmern hörten auf, ihre Bleche zu schlagen, und verzogen sich unter einen schattigen Baum. Ich folgte ihnen und erfuhr, daß der Mann, der schrie, Pater Raul war. Er war immer dagewesen, seit tausend Jahren oder zehn. Manchmal schien er den Lärm nicht mehr zu ertragen, der unvermeidlich ist, wenn man auf Blech klopft. Dann konnte ihn ein plötzlicher Wahnsinn überfallen. Aber es ging vorüber. Diejenigen, die arbeiteten, machten nur eine Pause im Schatten, während sie darauf warteten, daß Pater Raul sich mit seinen Dämonen versöhnte. Wenn Pater Raul wieder in seine Kirche verschwunden war, nahmen sie das Hämmern wieder auf, bis der Wahnsinn wieder ausbrach.

Sie wußten auch zu erzählen, daß er dann und wann bei besonders schweren Anfällen die Kirchenbänke in den Staub der Straße warf. Dann mußten sie ihre Hämmer nehmen und alles reparieren, was kaputtgegangen war, und die Bänke wieder hineintragen.

 

Ich blieb eine Zeitlang, ohne je die Frau zu finden, die ich suchte. Allein sah ich zu den merkwürdigen Bergen hin, die die Stadt umgaben, die sich noch nicht entschieden zu haben schien, ob sie wachsen oder im Staub versinken wollte. Ich saß im Schatten, aß Mangos mit faserigem Fleisch und fragte mich, was die Form der Berge zu erzählen hatte.

Einer der Männer, die in der Autowerkstatt arbeiteten, sein Name war José, glaubte felsenfest, daß diese Berge von einem Volk aus dem Stein gehauen worden seien, das vor langer Zeit hier gelebt hatte, lange noch bevor die Karawanen der Sklaven durch diese Gegend zu ziehen begonnen hatten. Er meinte einen höheren Zweck der Berge zu erahnen, eine Botschaft, die wir noch nicht hatten deuten können. Für mich gab es keinen Grund, nicht an das zu glauben, was er sagte.

Aber mein Cousin, der gute Mulalene, hatte jeden Tag die Aufgabe, Wasser, Holz und zwei frisch geschlachtete Hühner zu Pater Rauls einfacher Wohnung hinter dem Gotteshaus zu tragen. Ich begleitete ihn oft dorthin und lernte auf diese Weise den Mann kennen, der an dem Morgen, an dem ich in der Stadt angekommen war, so laut geschrien hatte.

Er war übers Meer gekommen, jung und glühend, von seiner Kirche zum Missionieren ausgesandt. Sein Auftrag war es, sich zu Fuß zu fernen Außenposten zu begeben, denen noch die Worte und die Auslegung der Bibel fehlten. Er war ganz jung und mit brennendem Geist übers Meer gekommen. Schon am dritten Tag war er schwer erkrankt, an Fiebern, die verheerend rasten, mit triefenden Beulen, die in Mund und Augen explodierten. Man hielt ihn für tot, als plötzlich etwas geschah. Er hatte sich vom Bett erhoben, Gott gedankt und die lange Reise fortgesetzt. Er war zu dem Dorf gekommen, das damals die Stadt war, und hatte sich über die lustig tanzende Sittenlosigkeit entsetzt, die er jetzt vertreiben würde. Lange war das Feuer, das er in sich trug, am Leben gehalten worden.

Aber etwas hatte langsam an ihm zu nagen begonnen, ein Zweifel, wie eine Gewitterfront in weiter Ferne, von der man bis zuletzt glaubt, daß sie nicht ankommen wird. Viele Jahre lang war er jeden Morgen aufgewacht und hatte gesehen, daß die Front sich näherte. Der Zweifel, erst nur eine Luftspiegelung, die man leicht übersehen konnte, war gewachsen und größer geworden.

Er hatte ganz einfach angefangen zu glauben, daß alles falsch war. Nicht nur, daß er ausgesandt war, um die Lehre des fremden Gottes zu verbreiten. Sondern der Glauben an sich. Denn jeden Tag schien er ein Leben zu sehen, das überhaupt nichts von dem brauchte, was er zu bieten hatte. Er sah diese Menschen an, die ihm in all ihrer einfachen Freude mit Respekt begegneten, seinen Worten lauschten und seine Choräle sangen. Und sich vor allem freuten, wenn sie ein Fahrrad oder ein altes Paar Stiefel bekamen.

Pater Raul fühlte, wie ein Schweigen sich in ihm ausbreitete, so wie das Meer sich in Erwartung der Gewitterfront beruhigt hatte, die früher oder später auch ihn erreichen würde. Da hatte ihn ein Schwindel übermannt, ein Gefühl, daß alles verloren war, die Hoffnung, die letzte, alles. Ein Schwindel, der machte, daß er einem bodenlosen Abgrund in sich selbst entgegensank. Ein Schwindel, als wisse er nicht, wo er war, oder ob alles ein Versehen war, ein ausgebrannter Motor in einem verlassenen Traktor, eine Haut ohne Körper. Er sah, wie die Kinder die trockene Erde peitschten, als bestraften sie sie dafür, daß sie ihnen in den Jahren, in denen der Regen ausblieb, nicht genug Nahrung gab.

Nach neunundzwanzig Jahren und zehn Monaten bekam er seinen ersten Anfall.

Eines Morgens lief er nach einer schlaflosen Nacht aus seiner Kirche und verschwand in Richtung der Berge. Er suchte einen Gipfel, auf dem er alle Zweifel herausschreien konnte, die er mit sich trug. Still, in einiger Entfernung folgte man ihm und trug ihn zurück, nachdem er von Dornengestrüpp und Verzweiflung zerrissen worden war. Auf einer Bahre aus Blättern trug man ihn zurück, wie eine abgenommene Jesusgestalt, die von einem inneren Kreuz befreit worden war.

 

Nach diesem Ereignis hatte er genauso weitergemacht wie bisher. Aber der Glauben war fort. Alles, was er jetzt begehrte, war ein wenig Stille, wenn das Gehämmer auf dem Blech ihn zum Wahnsinn trieb. Einen Gott gab es nicht mehr.

Hingegen hatte er begonnen, die Geister zu spüren, die ihn umschwebten. Er hatte langsam seinem Zweifel den Rücken gekehrt und sich dem Alltag genähert, den er so lange verleugnet hatte.

Mein Cousin sagte einmal, als wir aus der Kirche gingen:

– Er hätte ein guter Medizinmann werden können, vielleicht sogar ein Zauberer. Aber leider fehlt ihm der rechte Glaube. Niemand, der übers Meer hierhergekommen ist, versteht, wie die Welt eigentlich beschaffen ist.

 

Der Alte verstummte und nieste wieder, als müsse er sich selbst von Dämonen in seinem Inneren befreien.

– Er war nicht der Schlimmste. Ob er noch lebt, weiß ich nicht. Aber ich erinnere mich an sein Lachen, seine Einsamkeit. Ich erinnere mich an seine erhobenen Arme zu einem Himmel, der keine Antwort gab. Und ich erinnere mich, wie die Männer die Hämmer fallen ließen und sich zum Warten in den Schatten setzten.

Der Alte stocherte nachdenklich in der Glut.

– Er war der einsamste Mensch, der mir je begegnet ist, sagte er schließlich. Er war so ohne Götter, daß er sich selbst verloren hatte.

Irgendwo in der Ferne ertönten Trommeln und das trokkene Geräusch von einem Ast, der zertreten wurde. Der Alte schien in ein heimliches Gebet zu versinken, als meinte er, Pater Raul bräuchte seinen Trost.

Gerade seinen, keines anderen Trost.

7.

Der Alte schlief ein. Die lange Nacht schien kein Ende zu finden.

Aus den Schatten tauchte plötzlich ein anderer Mann auf und ging mit leisen Schritten zum Feuer.

Sein Lächeln war groß, seine Augen blitzten. Er gab mir die Hand und sagte:

– Ich bin der vierte Sohn des Alten, Roberto.

Er deutete auf den Mann, der sein Vater war, und setzte sich ans Feuer. Ich sah, daß es eine Ähnlichkeit zwischen den beiden gab.

Dann erzählte er mir von seinem Vater. Er sagte: