[1] Hier sieht man mich (links, vor meinem Vater) als 3-Jährigen im Kreise meiner Familie. Mit meinen drei Schwestern und zwei Brüdern und all unseren Freunden herrschte in unserem Haus, in der Nachbarschaft als Villa Kunterbunt berüchtigt, selten Ruhe.
[2] Meine Kindheit fand überwiegend draußen und in Bewegung statt.
[3] Mit Vorliebe sprang ich mit dem Skateboard von Auto- und Garagendächern. Damals war mein Traumberuf Stuntman.
[4] Ein paar Jahre später … Auf dem Weg zum Gipfel des Grubigstein, Österreich.
[5] Und als Hobby-Stuntman in Cortina d’Ampezzo, Italien.
[6] Höhentraining, Monte Rosa. Am Gipfel des Corno Negro (4322 m) lief uns eine schwarze Katze zu. Erst Jahre später fanden wir durch einen Zufall heraus, dass sie von der Schweizer Monte-Rosa-Hütte (2883 m) weggelaufen war.
[7] Meistens trainiere ich nachts oder frühmorgens mit Stirnlampe.
[8/9] An der Steilwand der Tour Ronde (3792 m) in Chamonix trainieren wir für die 55-Grad-Hänge der Achttausender.
[10/11] Peru 2004: Mehr Wille als Verstand hatten wir in der Cordillera Blanca. Basti Haag (vorne), Julian Würmser (r.) und ich auf dem Huascaran (6768 m), Perus höchstem Gipfel. Anfängerfehler: Zu dritt teilten wir uns vier Wochen lang dieses einen Meter breite Zelt (rechts).
[12] Im Blindflug auf dem Gipfelgrat des Copa Norte (6173 m).
[13/14] China 2005: unser erster Siebentausender, der Mustagh Ata. Wir akklimatisierten uns diszipliniert und erreichten unser Ziel: vom Basecamp (4400 m) zum Gipfel (7546 m) und zurück in nur 10 Stunden, 41 Minuten.
[15] Basti (l.), Matthias Robl (r.) und ich bei der Ankunft im Basecamp.
[16] Der Mustagh Ata lag gerade hinter uns. In Gedanken waren wir schon bei …
[17] … unserem ersten Achttausender: Ein Jahr später, 2006, wagten wir uns an den Gasherbrum II (8035 m) in Pakistan.
[18] Vom 5900 Meter hoch gelegenen Bergschrund starteten Basti und ich unsere Speedbegehung. Eigentlich wollten wir dann durch die – hier im Schatten gelegene – Eisflanke abfahren, verwarfen diesen Plan aber aufgrund der Lawinengefahr. Stattdessen wählten wir eine Route entlang der sogenannten Banana Ridge (hier gut erkennbar in der Sonne gelegen).
[19] Aufgrund der leichten Bekleidung und der kleinen 20-Liter-Rucksäcke würde man nicht vermuten, dass wir auf dem Gipfel des Gasherbrum II stehen!
[20] Die Speedbegehung war die eine, aber die Abfahrt an bis zu 55 Grad steilen Hängen für mich die noch viel größere Herausforderung.
[21] 2007 nahmen wir uns den Manaslu (8163 m) in Nepal vor. Voller Zuversicht und von den letzten beiden erfolgreichen Besteigungen verwöhnt, Basti und ich kurz vor unserem Helikopterflug von Kathmandu nach Sama.
[22] Anfangs besorgt über den wenigen Schnee …
[23] … wurde unser Basecamp kurze Zeit später von ungeheuren Schneemengen begraben. Und damit auch unser Traum von einer Speedbegehung.
[24/25] Meistens völlig alleine am Berg unterwegs, hatten wir mit viel Neuschnee (l.) und dem labyrinthartigen Eisbruch (r.) zu kämpfen.
[26] Zwei Jahre später hofften wir am Broad Peak (8047 m) in Pakistan auf günstigere Bedingungen als am Manaslu.
[27] Die pakistanischen Träger sind extrem leistungsstark. Etwa 30 Kilogramm Gepäck schleppt jeder von ihnen vier Tage lang ins 4900 Meter hoch gelegene Basecamp.
[28] Am Vorgipfel (8027 m) trafen Basti (l.) und ich unsere italienische Freundin Cristina Castagna (r.). Das war das letzte Mal, dass wir sie lebend sahen.
[29] Anstatt nach maximal angenommenen 24 Stunden, erreichten wir nach 39 Stunden völlig am Ende unserer Kräfte wieder das Basecamp.
[30] Das Ziel der Speedbegehung aber blieb in meinem Kopf. 2010 reiste ich wieder zum Broad Peak. Diesmal ohne Basti.
[31] Auf dem Baltoro-Gletscher lag außerordentlich viel Schnee.
[32] Aufgrund der Steilheit des Broad Peak werden die Lager an den ungewöhnlichsten Plätzen aufgebaut – Hauptsache flacher Untergrund!
[33] Auf dem Rückweg über den Gondogoro-Pass sieht man einen der für mich schönsten Berge der Welt, den Laila Peak (6069 m).
[34] Wenn wir nicht auf Expeditionen sind, denken wir uns selbst Projekte in den Alpen aus. Bei diesem Projekt namens »X4« überquerten wir die Alpen zu Fuß, per Mountainbike oder auf Skiern und passierten dabei vier Länder und vier markante Gipfel in vier Tagen. Oben am Similaun (3599 m), Tirol, auf dem Weg nach …
[35] … Italien. Nächster Gipfel ist der Ortler (3905 m), hier läuft neben mir Javier Martin de Villa.
[36] 2008 beim größten Skitourenrennen der Welt namens Patrouille des Glaciers (PDG): meine Mannschaftskollegen Gerhard Reithmeier (r.), Schorsch Nickaes (m.) und ich beim Zieleinlauf in Verbier, Schweiz. Wir belegten den zweiten Platz.
[37] 2010 war ich wieder dabei: diesmal mit Pete Swenson (l.), der mich im selben Jahr an den Broad Peak begleitete, und Javier (m.), der 2005 am Mustagh Ata dabei war. Wieder wurden wir Zweite!
[38/39] Eben noch in der einsamen Schönheit der Bergwelt – wie rechts am Piz Palü – und im nächsten Moment Geschäftsmann oder Familienvater. Auf keinen dieser Bereiche in meinem Leben möchte ich verzichten.
[40/41] Die Entwicklung der Skier für unsere Expeditionen wird stets von mir begleitet. Letzte Abstimmungen in der Skipresse (u.), bevor der Ski am Broad Peak zum Einsatz kommt (r.).
[42/43] April 2012 am Mount Fuji, Japan: Diese Speedbegehung war für mich ein besonderes Erlebnis. Ich wurde eingeladen, mich mit dem Berg und seiner Bedeutung für die Einheimischen tiefergehend zu beschäftigen. Der Cheforganisator Junji traute mir berechtigterweise nicht zu, dass ich den Weg alleine finde (o.r.).
[44] Nach fünf Stunden ...
[45] ... erreichte ich das Ziel im Tempeltor Sengen Jinja (l. und u.).
[46] Mit 17 Freunden ging es im Sommer 2012 an den einsamen Mera Peak (6476 m) in Nepal. An dem einzigen Tag, an dem sich die Sonne länger als eine Stunde zeigte, erreichten wir alle den Gipfel.
[47] Für Constantin Pade (l.), Basti (r.) und mich diente der Mera Peak zur Akklimatisierung. Wir formten eine Seilschaft, die schicksalhaft bis zum Ende der Expedition bestand.
[48] Die Grenzen zu unserem ursprünglich geplanten Ziel, dem Cho Oyu (8201 m) in Tibet, blieben 2012 leider geschlossen.
[49] Unsere Alternative: wieder der Manaslu (8163 m). Wir waren nicht die einzigen, die diese Idee hatten. Etwa 300 Bergsteiger hatten im Basecamp ihre Zelte aufgeschlagen.
[50] Wir sechs waren die Überbleibsel vom Mera Peak: Consti, Basti, Robert Sichert, Greg Hill (Kameramann), ich, Rainer Lechner und ein trinkfreudiger tibetischer Lama (v.l.n.r.).
[51/52] Basti nach missglücktem Haarschnitt als Pawnee-Indianer im Basecamp (l.). Meinen alten Skikumpel Glen Plake traf ich zufällig im Basecamp (r.).
[53] Durch die Mera-Peak-Besteigung kamen wir am Manaslu mit der Akklimatisierung gut voran und waren den vielen anderen Bergsteigern einen Schritt voraus. Sprung über eine Gletscherspalte …
[54] … und Weg durch den berüchtigten Eisbruch.
[55] Nach einer Schlechtwetterperiode machten sich am 22. September fast alle Bergsteiger auf den Weg zu Lager 1, 2 und 3. An keinem anderen Tag hielten sich so viele Menschen in dieser Höhe auf (l.).
[56] Am frühen Morgen des 23. September verschüttete eine gigantische Lawine Lager 3 und riss etwa 40 Menschen mit sich. 11 Menschen starben. Oben das gewaltige Lawinenfeld.
[57] Unten unser abseits auf einer Gletscherzunge gelegenes Lager 2 auf 6400 Metern Höhe.
[58] Am 29. September brachen Basti und ich um 18 Uhr vom Basecamp zu unserer Speedbegehung auf. Iván Vallejo (m.) war nach dem Lawinenunglück ein positiver Kraftpol und betreute den Start.
[59] Um 9 Uhr morgens des 30. September hatte ich nach 15 sehr harten Stunden den Gipfel des Manaslu erreicht – leider allein.
[60] In Gedenken an die 11 Lawinentoten vollzog ich kurz unterhalb des Gipfels ein Ritual und versuchte meinen Frieden zu machen.
[61] Basti, Consti und ich nach knapp 24 Stunden wieder im Basecamp. Ich habe am Manaslu acht Kilogramm verloren.
[62] Eines meiner Lieblingsbilder: in sternenklarer Nacht am Mera La (5415 m), am Abend vor der Gipfelbesteigung des Mera Peak, Nepal.
Mehr über unsere Autoren und Bücher:
www.piper.de
ISBN 978-3-492-96641-2
September 2015
© Piper Verlag GmbH, München/Berlin 2014
Redaktion: Wolfgang Gartmann
Fotos im Bildteil: Benedikt Böhm, außer 4, 5, 7, 8, 9: Xandi Kreuzeder; 6: Basti Haag; 13, 14, 15: Christoph Aster; 34, 35, 39: Michael Meisl, Klaus Kranebitter; 38: Moving Adventures Medien GmbH; 40: Wolf Heider-Sawall
Karten und Routenverläufe im Text: Eduard Böhm
Karte Manaslu: action press (Foto), Benedikt Böhm (Route)
Litho: Lorenz & Zeller, Inning am Ammersee
Covergestaltung: Birgit Kohlhaas, Egling
Covermotiv: Benedikt Böhm (oben), Dieter Deventer for E.O.F.T (unten)
Datenkonvertierung: Kösel Media GmbH, Krugzell
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Für Sebastian Haag und Andrea Zambaldi
Nach Niederlagen immer wieder aufzustehen ist oft die größere Leistung als der Gipfel.
Mir ist durchaus bewusst, dass mein Sport nicht nur Freunde hat. Was die einen beeindruckt, ist für andere ein sinnloser und eitler Egotrip, der billigend den Verlust des eigenen Lebens in Kauf nimmt. Ich bin allerdings weder lebensmüde, noch fühle ich mich als bewundernswerter Held oder als rücksichtsloser Egoist.
Seit ich denken kann, war ich in Bewegung. Mit elf Jahren entflammte meine Leidenschaft für den Leistungssport. Ich entdeckte meine Begabung und habe sie als großes Geschenk empfunden. In den folgenden Jahren habe ich erfahren, dass es Willen und viel Disziplin erfordert, aus seinen Anlagen etwas zu machen. Ich habe gelernt, mich auf das zu konzentrieren, was ich habe (statt das zu wollen, was ich nicht habe), und meinen eigenen Weg zu gehen (statt den von jemand anderem). Mich treibt nicht Ehrgeiz an, es ist vielmehr die Liebe zu diesem Sport und die Sehnsucht nach Bewegung in einer Welt der Ruhe, Ausgeglichenheit und Einsamkeit. Ich bin sehr dankbar für mein Talent und möchte gern das Beste daraus machen.
Die Befriedigung und das Glück, das die Berge und mein sportliches Weiterkommen in mir auslösen, wünsche ich jedem Menschen. Ich glaube, es ist nie zu spät, sich auf den eigenen Weg zu begeben.
Ich glaube, jeder von uns hatte Angst vor dem, was uns hier auf 6500 Meter Höhe erwarten würde, und die noch herrschende morgendliche Dunkelheit verunsicherte uns zusätzlich. Das Einzige, was wir sahen, waren einige hektisch flackernde Taschenlampenlichter auf der Höhe von Lager 2 unter uns und von Lager 3 über uns. Als wir am Fuße der berüchtigten Hangflanke ankamen, auf der die Lager aufgeschlagen waren, war das Erste, was im Lichtkegel unserer Stirnlampen auftauchte, ein einzelner Schuh, so ein Daunenüberschuh, wie man ihn nur im Zelt zum Wärmen der Füße trägt. Das war der Moment, in dem jedem von uns klar wurde, dass etwas Schlimmes passiert sein musste.
Es ist fünf Uhr morgens. Die Sonne hat gerade den Horizont überschritten und schickt mir ihre wärmenden Strahlen als Morgengruß ins Gesicht. Ich stehe ausgepowert, aber sehr zufrieden auf dem Gipfel der Alpspitze. Um mich herum schimmert das Panorama meiner geliebten Alpen in unschuldigem, zartem Rosa. Ich genieße den Moment in vollen Zügen und bin einfach nur glücklich.
Wenn mein Tag so beginnt, kann mich kaum noch etwas aufregen, selbst einen Einkaufsbummel am Samstag ertrage ich danach gelassen! Und unter der Woche schaffe ich es locker bis um neun Uhr zurück nach München in mein Büro, oder ich bin ohnehin auf der Durchreise, da ich beruflich viel in den Alpen unterwegs bin.
Sooft es mir möglich ist, absolviere ich dieses Trainingsprogramm: Frühmorgens – oder auch spätnachts – schleiche ich mich leise aus der Münchner Wohnung, um Frau und Sohn nicht zu wecken, und fahre in die nahe gelegenen Alpen. Für die lange Runde mit 2600 Höhenmetern auf die Alpspitze brauche ich 3,5 Stunden. Vor großen Expeditionen mache ich diese Runde oft zweimal hintereinander. Auch aus diesem Grund gehe ich lieber zu Zeiten, wo außer mir niemand unterwegs ist, denn begegne ich einem anderen Skitourengeher, kann es passieren, dass ich dem gleich viermal über den Weg laufe. Das erste Mal überhole ich ihn beim ersten Hochgehen, das zweite Mal komme ich ihm abfahrend entgegen, das dritte Mal überhole ich ihn beim zweiten Hochgehen und das vierte Mal wieder abfahrend. Da bleibt ein ungläubiges »Ja, des gibt’s doch net! Du warst doch grad ebn scho amoi do!« oder »Ja, servus, des wiavuite Moi is’n heit scho, Bene?« nicht aus. Ich schätze diese anerkennende bayerische Kontaktaufnahme, aber meist bin ich bei diesen Trainingseinheiten so in mich und meinen Rhythmus versunken, dass ich auf Gespräche keine Lust habe.
Trainingseinheit auf der Alpspitze bei Garmisch-Partenkirchen: Kreuzeck Parkplatz – Hochalm – Bernadeinlift Bergstation – Abfahrt Bernadeinlift Talstation – Aufstieg Alpspitze Gipfel über Rücken und Ostgrat – Abfahrt Bernadeinlift Talstation – Aufstieg Bernadeinlift Bergstation – Kreuzeck Parkplatz
Um das, was ich mir vorgenommen habe, zu schaffen, werde ich in den nächsten Monaten Zigtausende an Höhenmetern bergauf und bergab zurücklegen. Ich werde Gipfel besteigen, die mir alles abverlangen, und von Hängen abfahren, bei deren Anblick mein Herz bis zum Hals schlägt – mal vor Freude, mal vor Aufregung und Angst. Vor mir liegt die größte sportliche Herausforderung meines Lebens.
An einem dieser Frühlingsabende sitzen meine Frau Veronika und ich gemütlich vor dem Fernseher. Beim Zappen stoßen wir auf eine Dokumentation über den Versuch, den 8080 Meter hohen Gasherbrum I im Winter zu besteigen. Das Unternehmen endete tödlich. Am Morgen des 9. März 2012, die drei Bergsteiger hatten eine Nacht auf 7700 Meter bei über 50 Grad minus hinter sich, riss die Funkverbindung ab. Stunden später wurden sie mit dem Fernglas gesichtet. Sie befanden sich im Aufstieg in einem Eisfeld etwa 250 Meter unterhalb des Gipfels. Just in diesem Moment kam ein Sturm auf, der sich in Windeseile zu einem Orkan auswuchs. Vor den Augen des Freundes wurden die drei von den dichten Wolken verschluckt – und nie wieder gesehen. Cedric Hählen, Gerfried Göschl und Nisar Hussain sind bis heute verschollen.
Ich kannte Cedric. Kurz bevor er im Januar auf diese Expedition ging, telefonierten wir noch miteinander, auch Teile seiner Ausrüstung hat er von mir bekommen. Ein paar Wochen später erreichte mich die Nachricht von seinem tragischen Tod. Cedric war ein angenehm ruhiger und bescheidener Typ und mit seinen 30 Jahren ein exzellenter, sehr erfahrener und besonnener Bergsteiger. Wir lernten uns 2009 auf dramatische Weise an einem anderen Achttausender kennen, dem Broad Peak. Ohne Cedrics Hilfe hätte diese Expedition auch ganz anders ausgehen können. Seit damals standen wir in regelmäßigem Kontakt. Meine Frau kannte Cedric nicht, aber sie schaut den Film »Der letzte Weg« sehr aufmerksam an. In ein paar Wochen werde ich auf dem Weg ins Himalajagebirge sein …
Die Liebe zu den Bergen wurde mir nicht in die Wiege gelegt. Mein Elternhaus war eher künstlerisch geprägt. Mein Vater und meine Mutter interessieren sich für alles, was mit Kunst, Literatur und Musik zu tun hat, und genießen die vielfältigen Möglichkeiten, die eine Großstadt in dieser Hinsicht bietet. Dabei sind sie ebenso naturverbunden, unternehmungslustig und bewegungsfreudig. Als das fünfte von sechs Kindern wuchs ich in einer umtriebigen Familie auf, die Tür unseres Hauses stand immer offen, und es war immer etwas los.
Die Abenteuer meiner Kindheit spielten sich vor allem in unmittelbarer Umgebung – im Perlacher Forst oder an der Isar – ab. Oft paddelten wir mit dem Schlauchboot den Fluss hinunter, aber selten unter »normalen« Umständen. Für meinen abenteuerlustigen Vater musste schon Hochwasser oder mindestens schlechtes Wetter sein. Die Sonntagsausflüge gingen oft ins Voralpenland, aber auch dort marschierten wir natürlich nicht auf den vorgeschriebenen Wegen, sondern querfeldein.
Einmal landeten wir mitten in einem Moorgebiet – ich erinnere mich, wie meine Mutter bis zur Hüfte in einem Sumpfloch verschwand –, ein anderes Mal blieb unser Schlauchboot an einem entwurzelten Baum, der mit dem Hochwasser in der Isar abgetrieben war, hängen und wurde zerrissen. In letzter Sekunde wurden wir Kinder am Schlafittchen gepackt und auf die Äste gesetzt – wo wir dann bei Nieselregen in unseren pitschnassen Kleidern ausharrten, bis bei Einbruch der Dunkelheit endlich Rettung nahte. Die Soldaten einer amerikanischen Militärübungspatrouille waren die Einzigen außer uns, die bei diesem Sauwetter unterwegs waren. Mit ihren Kajaks setzten sie uns ans Ufer über.
Der Großteil meiner Kindheit fand in unserem Garten statt. Dort erschuf ich mir meine eigene Welt. In der einen Hand ein Köfferchen, in der anderen eine Lupe, streifte ich, als Detektiv verkleidet, unheilwitternd durch das Gestrüpp, um Beweise für ein Verbrechen – oder gar eine Leiche! – zu finden. Als Ritter zog ich in den Kampf gegen meine nächstältere Schwester, die mich erst unermüdlich attackieren ließ, um mich dann mit einem gezielten Schlag zu Boden zu strecken. Als junger Prinz führte ich meine Truppen, bestehend aus meiner jüngeren Schwester und ihren Freundinnen, in die Schlacht. Als ich älter wurde, lösten waghalsigere Unternehmungen die Rollenspiele ab. Der Garten wurde zu einem Radl-Parcours umgebaut, mit dem Skateboard sprang ich vom Garagendach der Nachbarn, und im Winter spielten wir im Garten Eishockey. Damals waren die Winter auch in der Stadt noch so kalt, dass mein Vater mit täglichem Spritzen aus dem Rasen einen Eisplatz machen konnte. Ich war ein Draufgänger und ständig in Aktion – allerdings nur solange ich mich in vertrauter Atmosphäre bewegte. Kaum war ich fort von zu Hause, verließ mich schnell der Mut. Da verwandelte sich der unerschrockene Kämpfer in einen sehr sensiblen und unsicheren Buben. Meine Ängste hatten teilweise ganz konkrete Ursachen. Durch meine über zehn Jahre älteren Geschwister bekam ich mehr mit, als mir guttat. Kindertypische Ängste vor Dunkelheit, Räubern und Mördern wurden durch viel zu frühes Schauen von Sendungen wie »Aktenzeichen XY … ungelöst« bedrohlich real. In meiner Einbildung sah ich in fremden Menschen alle möglichen Verbrecher. Das nahm zeitweise derart überhand, dass ich nicht einmal auf die Geburtstagsfeier eines Kindergartenfreundes gehen wollte. Ich konnte schlecht allein sein, vor allem nachts. Meine jüngere Schwester war in der Beziehung ganz unbeschwert. Nicht nur einmal musste ich sie demütig anbetteln, mich bei ihr im Zimmer schlafen zu lassen. Da wir uns tagsüber oft bekriegten, kostete mich die Bitte um nächtliches Asyl große Überwindung und Überredungskünste. Wenn meine Mutter nicht zu Hause war, bekam ich jedes Mal Angst, dass ihr etwas zugestoßen sein könnte und sie nie mehr heimkäme. Wenn ich selbst unterwegs war, beobachtete ich die Umgebung um mich herum ganz genau, weil ich fürchtete, entführt zu werden. Ich empfand diese Ängste als eine einzige Blockade, hinderten sie mich doch daran, mich frei zu bewegen.
Irgendwann hatte ich es satt. Ich war schätzungsweise acht Jahre alt, als ich beschloss, diese lästigen Hindernisse aus dem Weg zu räumen. In kleinen Schritten stellte ich mich ganz gezielt immer größeren Mutproben. Zum Beispiel wagte ich mich nachts allein in den Keller oder – nächste Stufe – versuchte, allein im Dunkeln nach Hause zu gehen. Mit jedem Teilerfolg wuchs mein Selbstvertrauen, und meine Ängste schrumpften, bis sie sich weitgehend aufgelöst hatten.
In der Schule sah ich mich vor einer neuen, diesmal wirklich fast unüberwindbaren Hürde. Dass meine Schwester mir am ersten Schultag den Inhalt meiner Schultüte streitig machte und diese bei unserem Kampf vollkommen zerstört wurde, war nur ein Vorgeschmack auf das, was mich in den folgenden 13 Jahren an Niederlagen erwarten sollte. Kaum ein Tag, an dem ich nicht in irgendeiner Form versagte, kein Zwischenzeugnis, in dem mir nicht »Vorrücken gefährdet« attestiert wurde. Mit enormem Kraftaufwand schaffte ich es zwar doch immer, meine »Leistungen im 2. Halbjahr erfreulich zu steigern« und mich »auch nach Rückschlägen nicht entmutigen« zu lassen, aber in mir drinnen sah es ganz anders aus. Ich litt unter Versagensängsten, war völlig verunsichert, traute mir nichts zu und ließ es dann auch schleifen. Den Gipfel in dieser Hinsicht hatte ich in der 8. Klasse mit sechs 5ern und einem 6er erreicht. Das war der absolute Tiefpunkt meiner schulischen Karriere. Kurz nach diesem desaströsen Zwischenzeugnis streckte mich eine schwere Lungenentzündung endgültig nieder. Ich war derartig schwach, dass ich ernsthaft glaubte, sterben zu müssen. Ich wollte und konnte niemanden mehr sehen, fühlte mich nur noch wie tot. Gleichzeitig sah ich in dieser Krankheit ein Zeichen, dass ich mein Leben ändern musste. Das war der Wendepunkt. Ein halbes Jahr später zierte nur noch ein 5er im Fach »Wirtschaft und Recht« mein Jahreszeugnis. Ich hatte das Klassenziel erreicht!
Nicht mehr ganz so dramatisch, aber doch ähnlich verlief der Rest meiner Schulzeit. (In Sport bekam ich übrigens nur einmal eine 1 im Zeugnis. Für die geordneten Verhältnisse eines Schulsportunterrichts schoss meine Energie zu überschäumend und unkontrolliert aus mir heraus – und der Ball traf mit entsprechender Wucht nicht immer dahin, wo er sollte.)
Ohne Helfer hätte ich die Schulzeit nicht durchgestanden. Am eigenen Leib machte ich die Erfahrung, wie wohltuend und existenziell notwendig es sein kann, einen Mentor zu haben. Einen Menschen, der an einen glaubt, der einen unterstützt und motiviert. In meiner Grundschulzeit war das meine Lehrerin in der 3. und 4. Klasse. Einmal gab sie mir einen Brief für meine Mutter mit, in dem das Diktat für den nächsten Tag steckte, mit der Bemerkung: »Ich glaube, Benedikt braucht mal wieder ein Erfolgserlebnis.« Mit mir zettelte sie eine kleine Brieffreundschaft an – wir schrieben uns Zettelchen während des Unterrichts –, damit ich die Angst vor dem Schreiben verlor. Ich liebte diese Lehrerin und wollte sie nur ungern enttäuschen.
Am Gymnasium bedurfte es da schon tatkräftigerer Unterstützung. Meine Freunde hatten zwar auch ihre Probleme in der Schule, taten sich aber insgesamt alle leichter. Dass ich die 10. Klasse überstand, verdanke ich meinem Klassenlehrer. Er sah mehr in mir als nur einen schlechten und unruhigen Schüler. Während die meisten anderen Lehrer eher genervt von mir waren, verstanden wir uns sehr gut. Er handelte mit mir und einer besonders ungnädigen Lehrerin einen Deal aus: Wenn ich versprach, nach Ablauf des Schuljahrs auf eine andere Schule zu wechseln, sollte ich die Chance bekommen, mich bei ihr zu verbessern und damit die 10. Klasse zu bestehen. Natürlich willigte ich ein.
Der Schulwechsel von München nach Bad Tölz läuterte mich. Ich hatte das Gefühl, aus meiner Heimatstadt verbannt worden zu sein. Getrennt von den Freunden, mit denen ich seit meiner Kindheit zusammen war, konzentrierte ich mich jetzt voll und ganz auf den Lernstoff. Mir war mittlerweile vollkommen bewusst, dass ich das Abitur irgendwie schaffen musste, um frei und ohne Einschränkungen einen Beruf wählen zu können.
Ein Vorbild war für mich in dieser Beziehung mein Großvater. Über meinem Bett hing ein Foto von ihm als olympischer Fackelläufer. Er war sehr sportlich gewesen und hatte als Zehnkämpfer an den Olympischen Spielen teilgenommen. Mit Willen, Fleiß und Durchhaltevermögen schaffte er aber auch den vermutlich noch viel härteren Weg vom Lehrling zum Abitur (wobei er zweimal durch die Prüfungen flog) und bis zum Doktor der Philosophie.
Ich wünsche jedem Kind und jedem Heranwachsenden jemanden, der ihn fördert und an ihn glaubt. Heute bin ich in der Position, jungen Menschen eine Perspektive geben zu können, indem ich sie in ihren Fähigkeiten bestärke – beruflich wie sportlich. Dabei messe ich den Zeugnisnoten wenig Bedeutung bei, für mich zählen das Potenzial und die soziale Intelligenz eines Menschen.
Meine Fähigkeiten sah ich damals ganz eindeutig in einem Beruf aufgehoben, für den ich mir die Quälerei zum Abitur allerdings hätte sparen können: Ich wollte Stuntman werden. Da gebe es immer »Action«, da wäre Mut gefordert, aber auch die Fähigkeit, das Risiko zu kalkulieren. (Zu der Zeit sprang ich mit Vorliebe von Hausdach zu Hausdach.) Meine hochfliegenden Berufsträume zerschellten jedoch jäh auf dem Boden der Realität, nachdem ich mir eine Stuntman-Schule angeschaut hatte. Vielleicht lernte ich dort ja die falschen Stuntmen kennen, aber der Job erschien mir in Wirklichkeit viel langweiliger, als ich das von »the unknown stuntman« Colt Seavers aus dem Fernsehen kannte.
Selten habe ich mich so auf eine Expedition gefreut wie auf diese. Meinen kompletten Jahresurlaub habe ich für dieses Unternehmen »geopfert«. Unser Ziel ist der 8201 Meter hohe Cho Oyu. Er liegt in Tibet in unmittelbarer Nachbarschaft von Mount Everest und Lhotse und ist ein wunderbarer Achttausender zum Skifahren. Das heißt, keiner der 14 Achttausender ist wirklich für das Skifahren gemacht, aber der Cho Oyu eignet sich noch am ehesten. Die höchsten Berge der Welt sind zerklüftet, eisig, steil und verspaltet, da muss man die Skier wirklich beherrschen. Aber wenn man seine Technik und seine Nerven in den Steilhängen der Alpen geschmiedet hat, können Skier an diesen Bergen eine enorme Hilfe bedeuten. Der Cho Oyu ist wie geschaffen für meinen Freund und Seilpartner Sebastian Haag – »Basti« – und mich und unseren Speed-Skistil. Wenn man über die Nordwestroute aufsteigt, hat er keine allzu schwierigen Kletterpassagen – im Unterschied zu vielen anderen Extrembergsteigern komme ich nicht aus dem Klettersport – und einen relativ sanft abfallenden Hang. Für einen Achttausender wohlgemerkt. »Sanft« bedeutet in diesem Zusammenhang durchaus 50 Grad steile Hänge, bodenlose Gletscherspalten und Eisplatten wie Stahl.
Am Cho Oyu werden wir nicht die Ersten sein, die dort mit den Skiern abfahren. Einmalig ist allerdings die Kombination aus schnellem und kompromisslosem Aufstieg vom auf 5700 Meter gelegenen Basislager zum Gipfel und einer Skiabfahrt zurück zum Basislager. Während klassische Expeditionen drei bis fünf Tage für einen Gipfelgang veranschlagen, wollen wir die 2500 Höhenmeter hoch und runter in maximal 24 Stunden bewältigen. Das ist unser Traum.
Ich liebe das Skibergsteigen über alles und habe mich darauf spezialisiert, so schnell wie möglich hoch- und auf Skiern möglichst schnell runterzukommen. Ich kann mich noch gut daran erinnern, wie ich das erste Mal auf diese Weise am Berg unterwegs war. Damals nannten wir das »Steckerlreiten«.
Ich war in der 5. Klasse des Gymnasiums und einigermaßen verzweifelt. Laut Übertrittszeugnis gab es in meinem Verhalten »Schwankungen zwischen Unsicherheit, Eigenwilligkeit und Einordnungsbereitschaft«, die mich »sehr unausgeglichen erscheinen ließen«. Tatsache war: Ich konnte nicht gescheit mit meiner überschüssigen Energie umgehen und wusste mir selbst nicht zu helfen. Zwar hatte ich gerade als jüngster Teilnehmer den 1000-Meter-Lauf der gesamten Unterstufe gewonnen, aber ansonsten empfand ich meinen Bewegungsdrang – heute würde ich wahrscheinlich als hyperaktiv diagnostiziert werden – nicht als Segen.
Wegen der guten Platzierung beim 1000-Meter-Lauf kamen mein ältester Bruder und meine Mutter auf die Idee, mich im Langlaufverein anzumelden, damit ich durch sportliche Erfolgserlebnisse wieder ein bisschen Auftrieb erhielte. Offenbar hatte ich ja ein gewisses Langstreckentalent.
Langlaufen war eigentlich »out«. »In« war Alpinskifahren. Das wurde in unserer Familie aber nicht betrieben. Während die meisten Freunde in den Weihnachtsferien zum Skifahren in die Berge fuhren, wurden schon meine älteren Geschwister mit dem Stadtjugendamt zum Langlaufen geschickt. Sie wären zwar viel lieber Pisten runtergebrettert, aber immerhin zeigte mein ältester Bruder Corbinian so viel Talent im Langlauf, dass Kurt Dotzler, der damalige sportliche Leiter des Münchner Skiclubs Hochvogel, ihn entdeckte und für den Verein anwarb. Wie die meisten potenziellen Sportlerkarrieren endete auch die meines Bruders in der Pubertät, als er nach und nach lieber anderen Freizeitbeschäftigungen nachging. Zu dieser Zeit war ich noch im Kindergarten, aber der Kontakt zum Verein war hergestellt, und so wurde ich 1988 ebenfalls dort angemeldet – ein, wie sich noch herausstellen sollte, aus der Not geborener Glücksfall für mich. In diesem Verein habe ich viel mehr für das Leben gelernt als in der Schule.
Ich war elf Jahre alt und hatte keine Ahnung, was Skilanglauf überhaupt ist. Aber ich war sofort begeistert. Es war Sommer, und das Training bestand aus Laufen, Kajak fahren, Leichtathletik, Berggehen und sogenanntem Sommer-Rollerski. Egal, welche Disziplin, ich lechzte geradezu danach, mich zu bewegen, und war entsprechend selig. Ich hatte das große Glück, dass sich Kurt Dotzler als Trainer auch meiner annahm. Er wurde eine Art Vaterfigur für mich, von ihm fühlte ich mich ernst genommen und gefördert, er holte das Beste aus mir heraus. Nie wieder habe ich jemanden erlebt, der den Leistungssport mit einer derartigen Begeisterung und jugendlichen Zielstrebigkeit vermittelte wie er. Er hatte sich voll und ganz diesem Sport verschrieben. Auch mich faszinierten die Kombination aus Schnelligkeit, Kraft und Ausdauer sowie der elegante Bewegungsablauf. Ich entdeckte eine völlig neue Welt abseits der Großfamilie.
Ohne es zu merken, prägte mich die Zeit innerhalb des Vereins für mein Leben. Ich fand dort Vorbilder und konnte meinen unbändigen Bewegungsdrang sinnvoll für sportliche Ziele einsetzen. Dabei herrschten hier durchaus eine außergewöhnlich hohe Disziplin, Leistungs- und Leidensbereitschaft. Ich lernte, mir den Schmerz der Anstrengung zu verbeißen, die körperlichen Qualen zu ertragen und ein Rennen niemals aus purer Selbstaufgabe heraus abzubrechen. »Schmerzen kannst du nicht verhindern, aber du kannst deine Leidensfähigkeit bestimmen«, war einer der Leitsätze im Verein. Man brachte mir bei, meine Energie zu bündeln und mich punktgenau auf Wettkämpfe vorzubereiten.
Die wichtigste Lektion jedoch war, dass für den Erfolg nicht unbedingt das Talent entscheidend ist, sondern der unbarmherzige Wille und die damit verbundene Disziplin. Wir waren ein eingeschworenes Team, und es herrschte eine sehr freundschaftliche Atmosphäre, die allerdings klaren Gesetzen und einem Ehrenkodex unterlag. Der notwendige Leistungsdruck wurde mir immer fördernd und positiv fordernd vermittelt. Sonst hätte ich sicher sehr schnell die Lust verloren. Es war vor allem Kurt Dotzler, der mich in der Anfangszeit extrem motivierte. Zum ersten Mal in meinem jungen Leben wurde ich an meine Leistungsgrenzen gebracht, das war eine sehr wichtige Erfahrung für mich. Ich lernte, wie süß sich sportliche Erfolge und wie bitter sich Niederlagen anfühlen.
Eine meiner unangenehmsten Erinnerungen ist ein Rennen, bei dem ich weinend aufgeben musste. Anfangs war ich gut dabei und lief weit vorn im Feld, nur die Schmerzen an meinen Händen wurden immer unerträglicher. Der Grund: Ich hatte es meinem Vorbild, einem russischen Athleten, der immer mit bloßen Händen lief, gleichtun wollen und war bei minus 20 Grad ohne Handschuhe in das Rennen gegangen. Schon nach kürzester Zeit waren meine Hände Eiszapfen, aber ich ertrug die Höllenqualen so lange, bis es einfach nicht mehr ging. Die Tränen liefen über meine vor Kälte roten Wangen, als ich aus der Loipe trat und das Rennen schluchzend beendete. Damit nicht genug, verfolgte mich die Schmach dieser selbst verschuldeten Niederlage noch wochenlang in Form von blöden Bemerkungen meiner Vereinskameraden, die ich zerknirscht über mich ergehen lassen musste.
In der Anfangszeit war ich ein starker Läufer. Mit 13 kam dann ein richtiger Einbruch. Während meine Konkurrenten sich körperlich rasant entwickelten und damit auch läuferisch große Fortschritte machten, blieb ich im wahrsten Sinn auf der Strecke. Läufer, die ich über die letzten beiden Jahre dominiert hatte, überholten mich nun plötzlich. Das war eine bittere Zeit nach meiner erfolgsverwöhnten Anfangsphase, und es dauerte lange, bis auch bei mir endlich das Wachstum einsetzte.
Ohne es bewusst wahrzunehmen, verliebte ich mich in dieser prägenden Zeit in die Natur und in die Berge. Ein fast heiliger Ort war für mich die Vereinshütte im Tegernseer Tal. Sie wurde zwischen den beiden Weltkriegen erbaut und liegt auf etwa 1400 Meter abgelegen auf dem sonnigen Plateau der Bodenschneid. Noch heute laufe ich sehr gern hier hoch. Gerade nach großen Expeditionen zieht es mich magisch zurück an diesen Ort meiner Anfänge.
Ich kann mich noch gut erinnern, wie ich das erste Mal aufstieg. Mit einem voll bepackten Rucksack stapfte ich über einen kleinen, selten begangenen Steig durch den dichten Wald. Auf einmal öffnete sich eine Lichtung, und ich befand mich auf einem großen, baumfreien Plateau ein paar Hundert Höhenmeter unterhalb des Gipfels. Am Rand dieser märchenhaften Szenerie liegt eingebettet in das zarte Grün die Vereinshütte, ein bisschen wie das Haus der sieben Zwerge. Oft saß ich in den folgenden Jahren dort auf dem großen Balkon, ganz verzaubert von dem grandiosen Ausblick auf die Venedigergruppe, den Großglockner und die Tauern, musikalisch untermalt von dem Glockengeläut der Kühe, die hier oben einen friedlichen Almsommer verbrachten.
So sanft die weich gewellten Wiesen und die weite Bergwelt die Hütte umspielten, so hart waren die Trainingseinheiten, die hier an den Sommerwochenenden absolviert wurden. Der Wallberg hieß bei uns nur Qualberg. Zweimal hoch und runter laufen (je knapp 1000 Höhenmeter) gehörte zum Standardprogramm. Beliebt war auch die »Drei-Gipfel-Tour« über Bodenschneid, Risserkogel und Brecherspitze. Geduscht, gekocht und geheizt wurde per Holzofen, aber schon damals gab es Strom aus einer Solarzelle. Jeder lernte sich selbst zu organisieren, und ich lernte das Schafkopfen, das wichtigste bayerische Kartenspiel.
Jedes Frühjahr, wenn die Wettkämpfe vorbei waren, nahmen wir die Hütte wieder in Betrieb. Oben lag zu dieser Zeit meist noch viel Schnee, und so kam ich zu meiner ersten Skitour. Mit Klebefellen unter den Langlaufskiern ging es auf den Gipfel der Bodenschneid. In diesem Fall dienten die Skier nur dazu, besser durch den tiefen Schnee zu kommen. Es ging weder um den Gipfel an sich noch gar darum, eine schöne Tour zu laufen. Die Berge waren reines Trainingsgebiet, ein Mittel zum Zweck.
Mit Langlaufskiern und der dazugehörigen offenen Bindung im Tiefschnee abzufahren ist eine echte Herausforderung und eine sehr wackelige Angelegenheit. Meist praktizierten wir deshalb das sogenannte Steckerlreiten. Beim Steckerlreiten setzt man sich auf seine Skistöcke und fährt »im Schuss« den Hang hinunter. Je nachdem, wie leicht oder schwer man die Stöcke sitzenderweise mit seinem Gesäß belastet, bohren sich die Stöcke wie ein Ackerpflug als rettende Bremse in den Schnee. Die Navigation ist entsprechend schwierig – ich erinnere mich nicht nur an einen gebrochenen Langlaufski –, aber das Bergab auf Skiern erweiterte den Spaßfaktor ungemein.
Für einige Jahre war nun der SC Hochvogel mein Zuhause. Wir waren eine treue Gruppe von vier aktiven Leistungssportlern. Unser Trainer Andi Seibold war wie ein älterer Bruder, er zeigte eine bewundernswerte Geduld mit uns pubertierenden 13-Jährigen und kümmerte sich professionell und aufopferungsvoll um unser sportliches Weiterkommen. Die schneearmen Münchner Winter und meine sinkenden schulischen Leistungen erschwerten das Trainieren jedoch zunehmend. Wir trafen uns immer seltener, und als sich dann noch mein gleichaltriger Trainings- und Sparringspartner Wolfi eine schlimme Verletzung bei einer Skitour zuzog, brach die vorerst letzte aktive Gruppe des SC Hochvogel auseinander. Auch ich entdeckte nun andere Facetten des Lebens wie Partys, das andere Geschlecht etc. Die Langlaufskier wurden durch Eishockeyschläger und Tourenski ersetzt.
» Nach meiner aktiven Zeit als Langläufer (von 1970 bis 1982) und ein paar Jahren sportlicher Abstinenz fing ich Ende der Achtzigerjahre wieder an, ein- bis zweimal pro Woche ins Langlauftraining zu gehen. Aufgrund des Schneemangels ist Skilanglauf in der Großstadt eigentlich kaum möglich. Wir trainierten hauptsächlich auf sogenannten Skirollern in den Parks von München. Wenn wir so, mit Rollern an den Füßen und Stöcken in den Händen, unsere Runden drehten, wurden wir belächelt und mit dummen Kommentaren – ›Ja, wo is denn do da Schnee?‹ – versorgt.
Die Alternative waren lange Autofahrten ins Gebirge zu unserem Trainingsstützpunkt. Eine richtige Trainingsgruppe gab es zu dieser Zeit nicht mehr, und Kurt Dotzler, mein damaliger Trainer, zog ins Allgäu und legte nach 30 Jahren sein Amt als Sportwart nieder. Ich stellte mich als sein Nachfolger gern zur Verfügung, denn ich hatte unwahrscheinliche Lust und das Bedürfnis, meine Erfahrung an Kinder und Jugendliche weiterzugeben. Viel zu tun hatte ich allerdings nicht, denn es gab keine jungen Nachwuchssportler.
Doch dann, es müsste 1988 oder 1989 gewesen sein, kamen zwei: Wolfi und Bene. Bene war der Bruder von Corbinian, mit dem ich zehn Jahre zuvor zu Wettkämpfen gefahren war. Wolfi war ein Einzelkind und bekam von zu Hause jegliche Unterstützung. Bene hingegen musste sich um alles selbst kümmern. Unterschiedlicher hätten beide nicht sein können. Bene – als 11- oder 12-Jähriger – war chaotisch organisiert. Mir ist noch gut in Erinnerung, wie sich dies an unseren Hüttenwochenenden in den von den Eltern gepackten bzw. selbst vollgestopften Rucksäcken widerspiegelte. Wolfis Sachen waren sauber geordnet, die Verpflegung – unsere Hütte ist eine Selbstversorgerhütte – mundgerecht vorbereitet. Aber wie das eben so ist, wenn alles für einen gemacht wird und man seine Sachen nicht selbst gepackt hat, findet man nichts bzw. ist man nicht mal fähig, das vorgekochte Essen aufzuwärmen. Bene hingegen beherrschte sein Chaos. Für sein Alter war er schon sehr selbstständig und ein richtiger ›kleiner‹ Kumpel. Man konnte jeden Spaß mit ihm haben. Ab und zu versuchte er aber auch, seine Grenzen bei mir auszuloten.
An Bene faszinierte mich seine Physis. Egal, wie kalt es dort oben war – wenn die Hütte im Winter eine Woche nicht besucht war, hatte es in den ersten Stunden innen fast die gleichen Temperaturen wie außen, und das konnten schon mal minus 10 Grad sein –, Bene lief barfuß oder höchstens mit Socken bekleidet umher und wurde nie krank. Für mich war das beneidenswert. Auch sportlich hatte Bene einen guten Einstand. Gleich bei seinem ersten Vereinsberglauf – im Oktober 1989 mit gerade mal zwölf Jahren – belegte er den 3. Platz.
Unser Berglauf für Jugendliche ging vom Tal am Tegernsee (Enterrottach) bis zur Hütte auf etwa 1400 Meter – gute 600 Höhenmeter. Im folgenden Jahr belegte Bene schon den ersten Platz. Mehr als sechs Minuten schneller! Und besser als der zwei Jahre ältere Vorjahressieger. Ich war sehr stolz auf ihn und habe mich riesig gefreut. ›In diesem Winter wird er es allen zeigen‹, dachte ich mir. 1990/91 hatte ich meine Mannschaft, die mich in den kommenden zwei Jahren – neben dem Berufsleben – das ganze Jahr beschäftigen sollte, beisammen: Bene, Wolfi, Markus und Andi. Für mich eine der schönsten Zeiten. Ich konnte den vieren das zurückgeben, was mir der Skisport und das Vereinsleben in meiner Jugend gegeben hatten. Doch was machte der Bene im Winter …? Er konnte seine Physis auf den Skiern nicht umsetzen. Er war mein Trainings- und Laufweltmeister. Aber wenn ›mein Bene‹ wichtige Wettkämpfe hatte, ging seine Kraft und Energie überall hin, nur nicht in die Geschwindigkeit. Wolfi war in diesen Jahren – wenn es darauf ankam – besser.
Aber Langläufer wird man nicht in zwei oder vier Jahren. Um ein richtig guter Langläufer zu werden, braucht es mindestens zehn bis fünfzehn Jahre. Diese Sportart ist sehr komplex. Man benötigt Kraft (Schnellkraft), Ausdauer, Erfahrung (wie gehe ich einen Wettkampf an), gutes Material, das richtige Skiwachs und am Wettkampftag auch die richtige Einstellung – einfach einen guten Tag. Bene hatte also noch genügend Zeit, wenn er sich für den Skilanglauf entscheiden sollte. Wenn nicht, so hoffte ich, ihm wenigstens etwas von dem mitgeben zu können, was für mich das Leben so lebenswert macht: sportliche Betätigung, Freude an der Bewegung, am Gebirge – ich glaube, das ist unserem Team gelungen.
Heute macht es mir große Freude, von Bene zu lesen, und dabei denke ich immer an den zwölfjährigen Langläufer zurück. Ich bewundere ihn und bin auch ein wenig stolz, wie er die höchsten Berge der Erde mit Tourenskiern als ›Speedbergsteiger‹ bezwingt. Für mich ist das Wichtigste, er bleibt dabei gesund. «
Es war vor allem der Vater eines guten Freundes, der mich dem Tourensport näherbrachte. Mit dieser Familie durfte ich einige Winterurlaube verbringen. Zum ersten Mal ging ich Skitouren mit echten Tourenskiern. Zum ersten Mal bestieg ich den Großvenediger und viele andere umliegende Gipfel. Und zum ersten Mal bemerkte ich, dass hier mein wirkliches Talent liegt. Mich auf diese Weise auf den Skiern zu bewegen fiel mir unglaublich leicht, und ich war mit meinen 14, 15 Jahren erstaunlich schnell. Meist hatte ich alle recht bald hinter mir gelassen und lief allein voraus. Das war reiner Spaß an der Freude, und ich kam gar nicht auf die Idee, dass Skitourengehen mehr als ein winterliches Hobby sein könnte.