1.
Ich werde dann nicht mehr da sein.
In diesem Raum, der kein Fenster hat. Bloß eine Tür, über die ich jederzeit hinausgelangte, zur Stiege, nach oben, in den Garten, wenn ich wollte, sogar weiter zum See.
Wie lange schon bin ich hier? Zwei Monate? Ich bin nicht sicher. Mag sein, ich irre mich. Ich habe jede Vorstellung von Zeit verloren.
Von den schwarz gestrichenen Wänden geht eine unerklärliche Wärme aus, als wären sie von innen beheizt. Dahinter, auf der anderen Seite, habe ich geträumt, erstrecken sich weitverzweigte Gänge, leere, gleichfalls fensterlose Räume, Hunderte an der Zahl, alle unter der Erdoberfläche. Und alle sind sie gleich eingerichtet: Stellagen aus grob geschnittenem Holz, die bis an die Decke reichen, ein quadratischer Tisch und zwei Stühle. In der Ferne dröhnen unsichtbare Maschinen. Im Traum begegne ich keinen Menschen. Sie halten sich versteckt. Ich kann ihre Nähe spüren. Und die von Tieren.
Ich sitze im Dunklen. Ich benötige kein Licht, um mich zurechtzufinden. Die Finsternis ist vollkommen, nicht einmal der Glanz einer Oberfläche ließe sich darin erkennen. Ein Spiegel bliebe schwarz, gerade so wie die Wände aus Beton. Trotzdem ist es, als sähe ich die Gegenstände vor mir, klar und deutlich; die aufgeschlagene Zeitung auf dem Boden, an der Stelle, wo sich der Abfluss befindet, den Artikel über Idaho Falls, 1961, die Schwarz-Weiß-Fotografie, darauf den Löschwagen, Panzerfahrzeuge. Brandrauch steigt auf, Gebäude sind aufgerissen, wahrscheinlich eine Explosion, denke ich. Soldaten in Strahlenschutzanzügen stehen herum, als erwarteten sie das strenge Kommando eines Vorgesetzten. Ich lese. Obwohl mir nicht bewusst ist, dass ich die Lippen bewege, habe ich den Klang meiner Stimme in den Ohren, laut und eindringlich. Und dann denke ich: Die Zeitung existiert vielleicht gar nicht.
Der Schein einer Kerze, auf dem Tisch in der Mitte des Raumes, reicht gerade noch bis zur Decke. Dort oben, eine Menschengröße über mir, hat sich eine Spinne eingenistet. Ich sehe das Netz zum ersten Mal. Ich habe wohl länger geschlafen als sonst. Es wäre mir sonst aufgefallen. Ich bin neugierig, nach welcher Beute die Spinne damit fischt. Sie wird verhungern, befürchte ich. Leben hier Insekten? Wovon sollte die Spinne sich sonst ernähren? Nicht einmal ein gewöhnlicher Zuckergast ist mir aufgefallen. Mir selbst käme es lächerlich vor, Hunger oder Durst zu empfinden. Der Gedanke an ein Verlangen ist hier belanglos. So wie die Vorstellung von Schmerz oder einem glücklichen Leben. Hier, in dieser Welt (Es ist eine Welt und kein Zimmer!), in der ich mich befinde, rückt nach und nach alles Menschliche von mir weg. Ich habe ein wenig vergessen, wer ich bin. Vorstellungen, Erinnerungen gehen verloren, die Farben verblassen.
Ein Gefängnis? Nur ein Dummkopf würde so empfinden. Habe ich etwa ein Verbrechen begangen? Ich glaube nicht. Ich hege keine besondere Abscheu gegenüber anderen. Ich empfinde keine Enttäuschung. Ich maße mir kein Urteil an. Gleichgültig sehe ich die Dinge. Unbeschwert verbringe ich meine Zeit.
10.
Die Sonne war noch nicht aufgegangen. Ich sah nach oben in den Nachthimmel; sternenlos und heller, als er eigentlich sein sollte, dachte ich.
Die Hände vergraben in den Rocktaschen ging ich durch die Altstadt. Ein kühler Wind blies. Ich war ohne Mantel unterwegs. Am Alten Markt stolperte ich über einen losen Pflasterstein. Ich versuchte noch, mit den Armen zu rudern. Aber mit den Händen in den Taschen ergab das keinen Sinn. Beinahe wäre ich hingefallen, um ein Haar in eine Wasserlache gestürzt.
Über den Häusern lag ein Schimmer. Ich sah auf meine Armbanduhr. Vieruhrachtundvierzig. Vielleicht ist es das Stadtlicht, fiel mir ein. Die elektrische Fassaden- und Straßenbeleuchtung, Licht, das von den Wolken oder etwas anderem zurückgeworfen wird. Ich stellte mir eine Kuppel aus Spiegelglas vor, die über der Stadt hing und jedes Geräusch und jeden Schein reflektierte.
In den Straßen war um diese Zeit nicht viel los. Nicht einmal Tiere sah ich. Wo waren zum Beispiel die Tauben?
In der Einkaufsstraße traf ich Nachtschwärmer, aber auch andere, auf dem Weg in die Arbeit, die Taschen oder Rucksäcke mit sich herumtrugen. Einmal kam ein Betrunkener auf mich zu, gebeugt, wie mit einer unsichtbaren Last auf den Schultern, und trotzdem im Gehen hin- und hertänzelnd, seltsam leichtfüßig und schwerelos, als schwebte er über den Asphalt. Als er mich bemerkte, waren wir noch zehn, fünfzehn Schritte voneinander entfernt. Er blieb stehen, so plötzlich und abrupt, dass er fast das Gleichgewicht verlor. Seine Arme und Beine schlugen in alle Richtungen aus, einmal und dann noch einmal. Wie bei einem Hampelmann, dachte ich. Weil er zitterte, musste ich außerdem an einen Hund denken, der sich die Nässe aus dem Fell schüttelte. Sein Gesicht war mir nicht bekannt. Er hatte die Augen aufgerissen und starrte in meine Richtung. Ich kann nicht sagen, was er von mir wollte, vielleicht eine Verwechslung. Ich ließ ihn einfach stehen. Er sagte noch etwas, ich glaube, im Zorn. Aber er sprach sehr undeutlich und ich verstand ihn nicht.
Kurz darauf gelangte ich zu einer Ampel. Obwohl sie nicht einmal in Betrieb war, blieb ich unbewusst stehen und wartete. Irgendwann überquerte ich die Straße. Drüben, auf der anderen Seite, war eine Baustelle. Gehsteig gesperrt, las ich auf einem Schild. Auf einem zweiten stand: Fußgänger andere Straßenseite benützen. Ich atmete die kalte und feuchte Morgenluft. Ein Taxi kam vorbei und drosselte die Geschwindigkeit. Der Fahrer trug einen weißen Turban. Ich gab ihm ein Zeichen zum Weiterfahren. Dann kehrte ich um. Das Museum lag in der anderen Richtung.
Vor einem Hotel stand eine Touristengruppe, ältere Paare, die auf Spanisch oder Italienisch durcheinanderredeten. Ich dachte, sie warteten auf einen Bus, der sie zum Flughaften bringen sollte. In einem Kiosk, der für Kunden noch geschlossen hatte, brannte Licht. Ein Mann sortierte Zeitungen und Magazine für den Verkauf. Etwas weiter lehnte eine Prostituierte an einem Auto mit tschechischem Kennzeichen. Im Wagen saß ein Kind und bediente das Autoradio. Ein Bursche trat auf mich zu und fragte mich um fünf Euro. Ich nahm zehn Euro aus der Brieftasche und drückte ihm den Schein in die Hand.
Der Park war während der Nacht unbeleuchtet. Fixer und Jugendbanden trieben sich herum. Auf den Bänken schliefen Obdachlose. Im Gras sah ich die Silhouette eines Mannes. Vom Kopf bis zur Hüfte in eine Decke oder Schlafsack eingewickelt, strampelte er mit den Beinen. Wie ein auf den Rücken geworfener menschengroßer Käfer. Er schimpfte vor sich hin, wirres Zeug. Von irgendwoher aus dem Dunklen rief jemand: Ruhe!
Unter einer Schwarzföhre stand ein Rehbock. Ich konnte mir nicht erklären, wie das Tier in den Park geraten war. Der Park lag mitten in der Stadt, kaum größer als ein Fußballfeld war er. Das Tier blickte in meine Richtung, die Augen funkelten gelb. Dann sprang es auf ein Gebüsch zu und verschwand in der Dunkelheit.
An der Stelle, wo ich den Park verließ, befand sich eine Bushaltestelle. Im Wartebereich saßen zwei Frauen auf der Metallbank, Zigarette rauchend und mit ihren Mobiltelefonen beschäftigt. Auf der elektronischen Anzeigetafel stand 48 Min. Ich setzte mich zu den Frauen auf die Bank. Auf einmal überkam mich die Müdigkeit. Gleichsam auf der Stelle schlief ich ein. Als ich aufwachte, las ich 51 Min. Als wäre die Zeit rückwärts gelaufen.