Eiszeit

Val McDermid

Eiszeit

Ein Fall für Carol Jordan
und Tony Hill

Thriller

Aus dem Englischen von
Doris Styron

Knaur e-books

Inhaltsübersicht

Über Val McDermid

Val McDermid, geboren 1955, arbeitete lange als Dozentin für Englische Literatur und als Journalistin bei namhaften britischen Tageszeitungen. Heute ist sie eine der erfolgreichsten britischen Autorinnen von Thrillern und Kriminalromanen. Ihre Bücher erscheinen weltweit in mehr als vierzig Sprachen. 2010 erhielt sie für ihr Lebenswerk den Diamond Dagger der britischen Crime Writers’ Association, die höchste Auszeichnung für britische Kriminalliteratur.

Impressum

Die englische Originalausgabe erschien 2013 unter dem Titel

»Cross and Burn« bei Little, Brown, London.

 

Copyright © 2014 der eBook Ausgabe by Knaur eBook.

Ein Imprint der Verlagsgruppe Droemer Knaur GmbH & Co. KG, München

Copyright © 2013 by Val McDermid

Copyright © 2014 der deutschsprachigen Ausgabe bei

Droemersche Verlagsanstalt Th. Knaur Nachf., München

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit
Genehmigung des Verlags wiedergegeben werden.

Redaktion: Viola Eigenberz

Covergestaltung: ZERO Werbeagentur, München

Coverabbildung: FinePic®, München

ISBN 978-3-426-42297-7

Für meine Freunde am Meer –

ich danke euch, dass ihr mich aufgenommen

und heimgebracht habt.

Das Schwerste im Leben ist, zu wissen,

über welche Brücken man gehen und welche

man besser abbrennen sollte.

David Russell

 

 

 

Ihr seid aber nun nicht hier, um mich zurückzuführen

Zum Bett. Keiner von euch. Schaut auf den Schnee,

Sagte ich zu einem, der gerade in der Nähe war,

mir ist kalt,

Würdest du mich festhalten. Halte mich.

Lass mich los.

»Hammersmith Winter«

Robin Robertson

1

Tag eins

Jeden Morgen erwachte er mit einem Gefühl prickelnder Erregung. War heute der Tag? Würde er sie endlich kennenlernen, seine perfekte Frau? Natürlich wusste er schon, wer sie war. Bereits seit zwei Wochen beobachtete er sie, ihre Angewohnheiten waren ihm inzwischen vertraut, er hatte herausgefunden, wer ihre Freundinnen waren, hatte ihre Eigenheiten beobachtet. Wie sie sich das Haar hinter die Ohren strich, wenn sie sich ans Steuer ihres Wagens setzte. Dass sie alle Lampen anschaltete, sobald sie in ihre einsame Wohnung zurückkehrte.

Dass sie offenbar nie in den Rückspiegel schaute.

Er griff nach der Fernbedienung und fuhr die Rollos an den hohen Dachfenstern hoch. Ein stetiger Nieselregen fiel aus der gleichmäßigen, dichten grauen Wolkendecke. Jedoch kein Wind, der den Regen vor sich hergetrieben hätte. Nur ein ununterbrochenes sanftes Rieseln. Ein Wetter, bei dem die Leute sich hinter ihren Schirmen versteckten, ohne auf ihre Umgebung zu achten, und die Gesichter waren auf den Überwachungskameras nicht zu erkennen.

Das erste Kästchen konnte abgehakt werden.

Außerdem war es Samstag. Also hatte sie keine Termine vereinbart, keine Besprechungen geplant. Niemand würde ihre ungeplante Abwesenheit bemerken. Niemand würde Alarm schlagen.

Zweites Häkchen.

Samstag hieß auch, die Wahrscheinlichkeit war viel größer, dass ihre Pläne sie an einen Ort führen würden, der für das Treffen mit ihr günstig war. Ein Ort, an dem er die ersten Schritte seines sorgfältig ausgearbeiteten Plans, sie zu seiner perfekten Frau zu machen, ausführen konnte. Ob ihr das passte oder nicht. Denn was sie wollte, spielte keine Rolle.

Drittes Häkchen.

Er duschte ausgiebig und genoss den sinnlichen Reiz des warmen Wassers auf seiner Haut. Wenn sie sich richtig verhielt, würde sie dieses Vergnügen mit ihm teilen dürfen und er würde dabei noch mehr Spaß haben. Gab es etwas Schöneres, als den Tag damit zu beginnen, dass man sich in der Dusche einen blasen ließ? So etwas würde die perfekte Ehefrau mit Freuden für ihren Mann tun. Bisher war er auf diesen Gedanken noch nie gekommen und setzte ihn nun zufrieden auf seine Liste. Der Ersten war das auch nie eingefallen, und das war typisch dafür, wie wenig sie seinen hohen Anforderungen entsprochen hatte.

In Gedanken fügte er ein neues Kästchen hinzu, das abzuhaken war. Schließlich war es wichtig, gut organisiert zu sein.

Er hielt viel von Organisation, guter Vorbereitung und Vorsicht. Ein unbeteiligter Beobachter hätte bei der Überlegung, wie viel Zeit bereits vergangen war, seit diese Schlampe ihn ausgebremst hatte, vielleicht geglaubt, er habe sein Ziel aufgegeben. Wie sehr sich jener Beobachter getäuscht hätte! Als Erstes hatte er sich um das Durcheinander kümmern müssen, das sie verursacht hatte. Das hatte lächerlich viel Zeit in Anspruch genommen, und er hatte sich über jede Sekunde geärgert. Dann musste er sich über seine Zielsetzung klarwerden.

Er hatte daran gedacht, sich zu kaufen, was er wollte, so wie sein Vater. Aber so fügsam asiatische Frauen auch waren, man sandte das falsche Signal aus, wenn man sich mit so einer am Arm zeigte. Das schrie geradezu nach Unzulänglichkeit, Perversion und Versagertum. Genauso war es mit Katalogbräuten aus der früheren Sowjetunion. Dieser krasse Akzent, das wasserstoffblonde Haar, die Neigung zum Kriminellen, die ihnen wie hartnäckiger Schmutz anhaftete – das war nichts für ihn. Eine von denen konnte man nicht seinen Kollegen vorführen und Respekt erwarten.

Dann hatte er die Möglichkeiten der Partnersuche im Internet erwogen. Aber das Problem dabei war, dass man die Katze im Sack kaufte. Und das wollte er nicht. Wobei das größere Problem mit dem Internet war, dass es so wenige Möglichkeiten gab, wenn es schiefging. Weil man einen Rattenschwanz von Spuren hinterlassen hatte. Im Netz wirklich anonym zu bleiben, dazu gehörte ein großer Aufwand, viel Geschicklichkeit, und man musste sich zu helfen wissen. Das Risiko, sich im Bruchteil einer Sekunde durch Unachtsamkeit oder einen Fehler zu verraten, war zu groß für ihn. Und das hieß: Wenn alles schiefging, würde er sie für ihr Versagen nicht angemessen bestrafen können. Sie würde einfach zu ihrem alten Leben zurückkehren, als sei nichts geschehen. Sie würde gewinnen.

Das konnte er nicht zulassen. Es musste eine andere Möglichkeit geben. So hatte er seinen Plan ausgeheckt. Und deshalb hatte es so lange gedauert, bis es so weit war. Er hatte eine Strategie entwerfen müssen, die er dann von allen Seiten kritisch betrachten musste, danach kam die Recherche. Und erst jetzt war er startklar.

Er kleidete sich unauffällig in schwarzen Jeans aus einer Ladenkette und Polohemd, die schwarzen Arbeitsschuhe mit Stahlkappe schnürte er sorgfältig zu. Für alle Fälle. Unten machte er sich eine Tasse grünen Tee und mampfte einen Apfel. Dann ging er in die Garage und sah noch einmal nach, ob alles in Ordnung war. Die Tiefkühltruhe abgeschaltet, der Deckel offen, sie war zum Befüllen bereit. Zurechtgeschnittene Stücke Klebstreifen hingen nebeneinander an der Kante eines Regals. Auf einem Kartentisch lagen aufgereiht Handschellen, ein Elektroschocker, Bilderdraht und eine Rolle Klebeband. Er zog seine Wachsjacke über und steckte die Sachen in die Taschen. Schließlich nahm er einen Alukoffer und ging in die Küche zurück.

Viertes und fünftes Häkchen.

Als er den Blick noch einmal durch die Garage schweifen ließ, bemerkte er, dass er beim letzten Mal, als er hier gewesen war, ein paar vertrocknete Blätter mit hereingebracht hatte. Seufzend stellte er den Koffer ab und holte Handfeger und Kehrschaufel. Frauenarbeit, dachte er ungeduldig. Aber wenn alles klappte, würde es dafür bald eine Frau geben.

2

Tag vierundzwanzig

Dr. Tony Hill rutschte nervös auf seinem Stuhl herum und versuchte, dem Anblick ihres zerstörten Gesichts zu entgehen. »Wenn Sie an Carol Jordan denken, was kommt Ihnen da in den Sinn?«

Chris Devine, die offiziell noch Detective Sergeant der Bradfield Metropolitan Police war, neigte den Kopf in seine Richtung, als wolle sie eine Hörschwäche ausgleichen. »Wenn Sie an Carol Jordan denken, was fällt Ihnen da ein?« Sie klang bewusst spöttisch. Er begriff, dass sie damit versuchte, ihn von seiner Taktik abzubringen.

»Ich bemühe mich, nicht an Carol zu denken.« Obwohl er sein Bestes tat, war ihm doch anzumerken, wie traurig er war.

»Vielleicht sollten Sie das aber. Vielleicht sollten Sie sich mehr damit beschäftigen als ich.«

Während sie sprachen, war es im Raum dunkler geworden. Der Tag draußen ging zu Ende, aber aus dem Zimmer schien das Licht noch schneller zu weichen. Da sie ihn nicht sehen konnte, spielte es wenigstens bei dieser Gelegenheit keine Rolle, wenn sein Gesicht ihn verriet. Sein Gesichtsausdruck stand in absolutem Gegensatz zu seinem lockeren Tonfall. »Sie sind nicht meine Therapeutin.«

»Und Sie nicht mein Therapeut. Wenn Sie nicht als Freund gekommen sind, habe ich sowieso kein Interesse. Ich habe denen gesagt, dass ich meine Zeit nicht mit einer Beratung verschwenden möchte. Aber das wissen Sie ja, oder? Man hat Sie doch über die Situation aufgeklärt. Sie sind immer noch der Mann für schwierige Fälle. Das Kaninchen, das sie aus dem Hut zaubern, wenn alle anderen Zaubertricks nichts gebracht haben.«

Es war erstaunlich, dass sie nicht verbitterter klang, fand er. An ihrer Stelle würde er toben vor Wut, würde sich auf jeden stürzen, der lange genug still saß. »Es stimmt, ich weiß, dass Sie sich geweigert haben, mit dem Therapieteam zu arbeiten. Aber deshalb bin ich nicht gekommen. Ich bin nicht hier, um Ihnen durch die Hintertür eine Beratung unterzujubeln. Ich bin hier, weil wir uns schon so lange kennen.«

»Das heißt noch nicht, dass wir Freunde sind.« Ihre Stimme war tonlos, ihren Worten fehlte jede Lebendigkeit.

»Nein. Eigentlich ist Freundschaft auch nicht mein Ding.« Es überraschte ihn, wie leicht es war, mit einem Menschen, der sein Gesicht und seine Körpersprache nicht sehen konnte, ganz offen zu sein. Er hatte von diesem Phänomen gehört, aber nie selbst die Erfahrung gemacht. Vielleicht sollte er mal versuchen, eine Brille mit dunklen Gläsern zu tragen und bei seinen schwierigen Patienten so tun, als sei er blind.

Sie stieß ein kurzes, trockenes Lachen aus. »Aber Sie geben eine gute Kopie ab, wenn es Ihnen in den Kram passt.«

»Nett, dass Sie das sagen. Vor langer Zeit hat das mal jemand ›als Mensch durchgehen‹ genannt. Gefiel mir, wie sich das anhört. Seitdem gehört das zu meinem Vokabular.«

»Das ist jetzt ’n bisschen hoch gehängt, mein Lieber. Was hat die Länge der Zeit, die wir uns kennen, damit zu tun?«

»Wir sind die Übriggebliebenen, das meine ich.« Wieder nahm er eine andere Sitzposition ein, es gefiel ihm nicht, wie die Unterhaltung sich entwickelte. Er war gekommen, weil er auf sie zugehen und ihr helfen wollte. Aber je länger er hier saß, desto mehr kam es ihm vor, als sei er derjenige, der Hilfe brauchte. »Nachdem sich die erste Aufregung gelegt hat.«

»Ich glaube, Sie sind in der Hoffnung gekommen, dass ein Gespräch mit mir Ihnen helfen könnte zu verstehen, was Sie fühlen«, erklärte sie in leicht scharfem Ton. »Weil ich es abgekriegt hab statt ihrer, nicht wahr? Das verbindet uns mehr als all die Jahre, die wir zusammengearbeitet haben.«

»Ich dachte, ich wäre hier der Psychologe.« Eine schwache Antwort, mit der er ihren Nachdruck kaum abwehren konnte.

»Das heißt nicht, dass Sie aus dem schlau werden, was in Ihrem eigenen Kopf vorgeht. Oder auch in Ihrem eigenen Herzen. Es ist kompliziert, oder, Doc? Ich meine, wenn es nur Schuldgefühle wären, dann wäre es einfach, stimmt’s? Das würde ja einleuchten. Aber es ist mehr, nicht wahr? Weil zu den Schuldgefühlen eine dunkle Seite gehört. Die Wut. Das Gefühl, dass es einfach ungerecht ist, den Schlag abbekommen zu haben. Die Empörung, dass einem die Empfindung aufgedrückt wurde, verantwortlich zu sein. Das Gefühl der Ungerechtigkeit, es ist wie Sodbrennen, wie Säure, die sich einbrennt.« Sie hielt abrupt inne, schockiert von der Redewendung, die sie selbst gebraucht hatte.

»Tut mir leid.«

Ihre Hand wanderte zu ihrem Gesicht und hielt Millimeter vor der glänzenden roten Haut inne, die auf eine mit Säure bestückte, aber für eine andere Person gedachte Falle zurückging. »Was fällt Ihnen also ein, wenn Sie an Carol Jordan denken?«, beharrte sie, und ihre Stimme klang jetzt schroff.

Tony schüttelte den Kopf. »Das kann ich nicht sagen.« Nicht, weil er die Antwort nicht wusste. Sondern gerade, weil er sie kannte.

3

Selbst von hinten erkannte Paula McIntyre den Jungen. Schließlich war sie ja Kriminalbeamtin. Da musste man so etwas können. Umso mehr, wenn man der entsprechenden Person nicht in der gewohnten Umgebung begegnete. Daran scheiterten die Laien meistens. Fehlte der Kontext, dann gelang es ihnen im Allgemeinen nicht. Aber ein Kriminaler musste seine natürlichen Fähigkeiten so gut wie möglich nutzen und seine Fertigkeiten so vervollkommnen, dass er Menschen, die er einmal gesehen hatten, nie wieder vergaß. Ah ja, dachte sie. Wieder einer dieser Mythen, die von den Fernsehpolizisten verbreitet werden, wenn sie bei der Begegnung mit etwas Vertrautem unter unerwarteten Umständen nur mal kurz stutzen.

Aber sie erkannte den Jungen jedenfalls, obwohl sie ihn aus der Richtung, aus der sie auf ihn zukam, nur im Viertelprofil sah. Hätte sie das Revier durch den Lieferanteneingang vom Parkplatz aus betreten, dann hätte sie ihn verpasst. Aber es war ihr erster Tag in der Skenfrith Street, und sie kannte die Türcodes noch nicht. Also hatte sie einfach im Parkhaus gegenüber geparkt und war durch den Haupteingang hereingekommen, wo sie dann hinter einem Teenager stand, der vor dem Schalter von einem Fuß auf den anderen trat. An seiner Schulter- und Kopfhaltung war etwas, das an Abwehr und Anspannung denken ließ. Aber nicht an Schuldbewusstsein.

Sie hielt inne und versuchte einzuschätzen, was da los war. »Ich verstehe schon, was Sie sagen, ich bin ja nicht blöd.« Der Junge klang unglücklich, nicht aggressiv. »Aber ich wollte, dass Sie kapieren: Hier geht es um etwas anderes.« Er zuckte leicht mit den Schultern. »Es sind ja nicht alle gleich, Mann. Da können Sie doch nicht alle nach 08/15 behandeln.« Seine Aussprache klang nach dem örtlichen Dialekt, aber trotz aller Anstrengung war seine Zugehörigkeit zur Mittelklasse herauszuhören.

Der Mann in Zivil hinter dem Schalter murmelte etwas, das sie nicht verstand. Der Junge begann auf den Fußballen zu wippen, er war aufgeregt und konnte seine Anspannung nicht loswerden. Er war nicht der Typ, der ausrasten würde, das glaubte sie zu wissen. Aber trotzdem konnte sie versuchen, ihn zu beruhigen. Wenn man herausbekommen wollte, was die Leute umtrieb, kam es erst einmal darauf an, die Wogen zu glätten.

Paula trat vor und legte eine Hand auf den Arm des Jungen. »Torin, oder?«

Mit erschrockenem, verängstigtem Gesichtsausdruck fuhr er herum. Ein dichter Schopf dunkler Haare umrahmte die blasse Haut eines jugendlichen Höhlenbewohners. Große blaue Augen mit dunklen Ringen, ein vorstehender Zinken von einer Nase, schmale Lippen, die sich zu einem nicht dazu passenden Mündchen rundeten. Darüber ein ganz schwacher Schatten, der eines Tages vielleicht mal ein Schnurrbart werden konnte. Paula verglich die Details mit ihrer Erinnerung. Es gab keinen Zweifel.

Die Spannung um seine Augen ließ ein wenig nach. »Ich kenne Sie. Sie waren bei uns zu Besuch. Mit der Ärztin.« Er runzelte die Stirn, versuchte sich zu erinnern. »Elinor. Von der Unfallstation.«

Paula nickte. »Stimmt. Wir waren zum Dinner bei euch. Deine Mum und Elinor sind Kolleginnen. Ich bin Paula.« Sie lächelte dem kleinen grauen Mann hinter dem Schalter zu, während sie ihren Ausweis aus der Jackentasche zog und vorzeigte. »Detective Sergeant McIntyre, CID von DCI Fieldings Team.«

Der Mann nickte. »Ich hab dem Jungen hier gesagt, wir können nichts für ihn tun, bis seine Mum 24 Stunden vermisst ist.«

»Vermisst?« Paulas Frage wurde von Torin McAndrews frustrierter Entgegnung übertönt.

»Und ich sage diesem …«, er schnaufte heftig durch die Nase, »diesem Mann, dass man nicht jeden Fall gleich behandeln kann, weil jeder Mensch anders ist, und meine Mum bleibt nicht einfach die ganze Nacht weg.«

Paula kannte Bev McAndrew nicht gut, aber sie hatte viel von Elinor Blessing, ihrer Partnerin und Oberärztin in der Notstation des Bradfield Cross Hospital, über die Chefin der Krankenhausapotheke gehört. Und was sie gehört hatte, stand nicht im Gegensatz zu der hartnäckigen Gewissheit von Bevs Sohn. Aber all das würde auf den Mann hinter dem Schalter keinen Eindruck machen.

»Ich werde mich mal mit Torin unterhalten«, sagte sie entschieden. »Ist ein Vernehmungszimmer frei?« Der Mann wies mit einem Nicken auf eine Tür jenseits des leeren Wartebereichs. »Danke. Bitte, rufen Sie doch oben bei der Kripo an und lassen Sie DCI Fielding wissen, dass ich im Gebäude bin und gleich raufkomme.«

Er schien nicht gerade begeistert, nahm aber den Telefonhörer ab. Paula wies mit dem Daumen auf den Vernehmungsraum. »Setzen wir uns doch, und dann kannst du mir erzählen, was los ist«, sagte sie und ging voraus.

»Okay.« Torin schlurfte in seinen zu großen Turnschuhen mit der typischen buckligen Haltung eines Jugendlichen hinter ihr her, der sich noch nicht ganz an seinen irgendwie zu großen Körper gewöhnt hat.

Paula öffnete die Tür zu einer winzigen Kammer, die kaum genug Platz für einen Tisch und drei mit einem lebhaft blau-schwarz gemusterten Stoff überzogene Stahlstühle bot. Schon Schlimmeres gesehen, dachte sie und führte Torin zu einem Stuhl. Sie setzte sich ihm gegenüber und holte aus ihrer Umhängetasche einen Spiralblock, in dessen Rücken ein Stift steckte.

»Also, Torin. Erzähl doch mal von Anfang an.«

Dass sie lange Zeit nicht über den Rang des Detective Constable hinausgekommen war, diesen Preis hatte Paula gern dafür gezahlt, DCI Carol Jordans Sondereinsatzteam anzugehören. Als diese Gruppe dann aufgelöst wurde, bewarb sie sich für den ersten nächsthöheren Job, der sich bei der Bradfielder Metropolitan Police ergab. Ihre Prüfung zum Sergeant lag schon so weit zurück, dass sie befürchtete, man werde verlangen, sie zu wiederholen.

So hatte sie sich ihren ersten Tag im Rang eines Detective Sergeant allerdings nicht vorgestellt. Sie hatte geglaubt, Vorbefragungen zu führen wäre jetzt die Drecksarbeit, die jemand anders erledigen würde. Aber so war es eben bei der Polizei. Kaum jemals lief etwas so, wie man es sich vorgestellt hatte.

4

Die Verdunkelungsrollos bewirkten genau das, was beabsichtigt war. Und das war gut, weil in völliger Dunkelheit keine tückischen Schatten die Phantasie reizten. Dass ihre Einbildungskraft in Gang gesetzt wurde, das konnte Carol Jordan nun wirklich nicht brauchen. Sie kam ganz gut klar ohne zusätzliche Aufregung.

Schließlich waren ihr grausame Schauplätze von Verbrechen nicht fremd. Der größte Teil ihres Erwachsenenlebens war durchsetzt gewesen von Bildern plötzlicher gewaltsamer Tötungen. Sie war mit Folteropfern, mit banaler, außer Kontrolle geratener häuslicher Gewalt und mit sexuellem Sadismus konfrontiert worden, der sich nicht im Rahmen der Phantasie von Mittelklassebürgern mittleren Alters bewegte. Welche Brutalität man sich auch vorstellen mag, Carol hatte das Endergebnis gesehen. Manchmal hatten all diese Grausamkeiten sie am Schlafen gehindert und zur Wodkaflasche getrieben, mit der sie die scharfen Umrisse zu verwischen suchte. Aber nie länger als ein paar Nächte. Ihr Verlangen nach Gerechtigkeit hatte sich immer gemeldet und aus dem Horror einen Ansporn zum Handeln gemacht. Die Bilder wurden der Motor, der ihre Ermittlungen antrieb, die Motivation, um zu erreichen, dass die Mörder sich den Folgen ihrer Verbrechen stellen mussten.

Aber dieses Mal war es anders. Dieses Mal dämpfte nichts die Intensität dessen, was sie gesehen hatte. Nicht die verrinnende Zeit, nicht der Alkohol, nicht die Entfernung. Dieser Tage schien in ihrem Kopf ein Film in Endlosschleife abzulaufen. Es war kein langer Film, aber durch die ständige Wiederkehr wurde die Wirkung nicht abgemildert. Das Seltsame war, dass es nicht einfach eine Wiederholung dessen war, was sie gesehen hatte. Denn sie selbst kam in dem Film vor. Es war, als hätte jemand mit einer Handkamera direkt hinter ihr gestanden und einen verwackelten Amateurfilm vom schlimmsten Augenblick ihres Lebens gedreht; die Farben waren leicht verfälscht, und irgendwie stimmte die Perspektive nicht ganz.

Es begann damit, dass sie in die Scheune trat, der Blick über ihre Schulter zeigte die vertraute Innenansicht mit der Kaminecke, die freiliegenden Steinwände und Durchstichbalken. Sofas, auf denen sie sich früher gerekelt hatte, Tische, auf denen sie Zeitungen abgelegt, an denen sie gegessen, wo sie Weingläser hingestellt hatte; handgestickte Wandteppiche, die sie bewundert hatte, und ein Pullover, den sie Dutzende Male an ihrem Bruder gesehen hatte, hing wie zufällig über der Rückenlehne eines Stuhls. Auf dem Boden neben dem Esstisch, auf dem noch die Reste vom Lunch standen, lag ein zerknülltes T-Shirt. Und am Fuß der Treppe zur Galerie standen zwei uniformierte Polizisten mit ihren Warnwesten, der eine sah erschüttert aus, der andere verlegen. Zwischen ihnen lag, wie eine Ziehharmonika zusammengeschoben, ein Stück Stoff, das vielleicht ein Rock war. Verwirrend, aber nicht erschreckend. Denn der Film konnte den Geruch von vergossenem Blut nicht vermitteln.

Aber als Carol auf die Holztreppe zuging, zoomte die Kamera zurück, und die Decke über der Galerie mit dem Schlafraum war zu sehen. Sie glich einem Bild von Jackson Pollock, auf dem nur die Farbe Rot vorkam. Blut – Spritzer, Kleckse und Striche auf dem weißen Gipsputz. In dem Moment war ihr klargeworden, dass es sehr, sehr schlimm sein würde.

Die Kamera folgte ihr auf dem Weg nach oben und verzeichnete jeden stolpernden Schritt. Das Erste, was sie sah, waren ihre Beine und Füße, mit Blut beschmiert, Tropfen und Flecken auf dem Bett und dem Boden. Sie stieg weiter hinauf und sah Michaels und Lucys blutleere Körper isoliert wie blasse Inseln in einem Meer von Rot.

Und hier hielt der Film an, auf dieses einzelne schreckliche Bild fixiert. Aber ihre Gedanken blieben nicht stehen, nur weil der Film angehalten hatte. Die Vorwürfe kreisten und drehten sich ratternd in ihrem Kopf wie ein Hamster im Rad. Wenn sie eine bessere Polizistin gewesen wäre. Wenn sie die Dinge selbst in die Hand genommen hätte, statt sich darauf zu verlassen, dass Tony Antworten fand. Wenn sie Michael vorgewarnt hätte, dass ein Mann sein Unwesen trieb, der seine eigenen perversen Gründe dafür hatte, sich an ihr zu rächen. Wenn, wenn, wenn.

Aber nichts von alledem war geschehen. Und so waren ihr Bruder und die Frau, die er liebte, in der Scheune, die sie mit eigenen Händen renoviert hatten, abgeschlachtet worden. Ein Gebäude mit meterdicken Wänden, wo sie sich mit Recht sicher fühlen durften. Und nichts in Carols Leben blieb von diesem einen schrecklichen Ereignis unberührt.

Immer schon hatte sie sich zu einem großen Teil über ihre Arbeit definiert. Das war das Beste an ihr, fand sie. Ein direktes Ventil für ihre Intelligenz, ein Wirkungsbereich, wo ihre verbissene Entschlossenheit geschätzt wurde. Ihre Fähigkeit, sich wortwörtlich an alles zu erinnern, was sie gehört hatte, fand dort ihre praktische Anwendung. Und sie hatte entdeckt, dass sie die Gabe besaß, bei ihren Mitarbeitern Loyalität zu wecken. Carol war stolz darauf gewesen, Polizistin zu sein. Und jetzt hatte sie sich von all dem abgeschnitten.

Schon vor Michaels und Lucys Ermordung hatte sie bei der Metropolitan Police von Bradfield gekündigt. Sie war kurz davor gewesen, eine neue Stelle als Detective Chief Inspector bei der West Mercia Police anzutreten. Auch dort hatte sie jedoch die Brücken hinter sich abgebrochen. Außerdem hatte sie vorgehabt, tief durchzuatmen und das geräumige alte Anwesen in Worcester mit Tony zu teilen, das ihm unerwartet als Erbe zugefallen war. Dieser Traum war ebenfalls geplatzt, denn ihr Privatleben war einem brutalen Mörder genauso zum Opfer gefallen wie ihr Berufsleben.

Ohne Wohnung und Arbeit, so war Carol in ihr Elternhaus zurückgekehrt. In ihr Zuhause, nach allgemeinem Irrglauben der Ort, wo man aufgenommen wird, wenn alle Stricke reißen. Anscheinend hatte sie aber mit ihrem Urteil wiederum danebengelegen. Ihre Eltern hatten sie nicht weggeschickt, das stimmte zwar. Und sie hatten auch Carols Entscheidungen nicht offen als Grund für den Tod ihres Bruders bezeichnet. Aber das stille Leid ihres Vaters und die Härte ihrer Mutter ließen sie unaufhörlich ihre Vorwürfe spüren. Zwei Wochen hielt sie durch, dann packte sie ihre Sachen und ging.

Nur Nelson, ihren geliebten Kater, hatte sie zurückgelassen. Im Scherz hatte Tony einmal gesagt, ihre Beziehung zu ihrem schwarzen Kater sei die einzige funktionierende in ihrem Leben. Das Problem war, dass er damit der Wahrheit zu nahe kam, als dass es lustig gewesen wäre. Doch Nelson war jetzt alt. Zu alt, um ihn in eine Transportbox zu stecken und überall mit sich herumzuschleppen. Und ihre Mutter konnte eher zu dem Kater als zu Carol nett sein. Also blieb Nelson dort, und sie ging.

In London hatte sie noch eine Eigentumswohnung, aber es war so lange her, seit sie dort gewohnt hatte, dass es ihr nicht mehr wie ein Zuhause vorkam. Außerdem war die Differenz zwischen ihren Hypothekenraten und der Miete, die ihr langjähriger Mieter zahlte, ihr einziges Einkommen, bis die Rechtsanwälte ihre Untersuchung der Überreste von Michaels Leben abgeschlossen hatten. Und das ließ ihr nur eine Wahl.

Laut Michaels Testament erbte Carol seinen Besitz, da es Lucy nicht mehr gab. Die Scheune war allein auf seinen Namen eingetragen; ihr gemeinsames Haus in Frankreich hatte Lucy gehört. Wenn also der Erbschein ausgestellt war, würde die Scheune in ihren Besitz übergehen, inklusive Blut, Gespenstern und dem Rest. Die meisten Leute hätten eine Reinigungsfirma beauftragt, hätten das, was sich nicht wegputzen ließ, überstreichen lassen und das Haus an irgendeinen Fremden verkauft, der die Geschichte der Scheune nicht kannte.

Aber Carol Jordan war nicht wie die meisten Leute. Obwohl sie gebrochen und verletzlich war, hielt sie an der Entschlossenheit fest, die sie schon frühere Katastrophen hatte überstehen lassen. So hatte sie einen Plan aufgestellt. Und dies war ihr Versuch, ihn auszuführen.

Sie würde jede Spur dessen, was hier geschehen war, entfernen und die Scheune neu gestalten, daraus eine Wohnung machen, in der sie leben konnte. Eine Art Aussöhnung strebte sie damit an. Insgeheim hielt sie dieses Endergebnis zwar nicht für wahrscheinlich. Aber auf ein anderes Ziel kam sie nicht, und es war immerhin ein Projekt, das ihr etwas zu tun geben würde. Nach harter körperlicher Arbeit während des Tages würde sie nachts Schlaf finden. Und wenn das nicht funktionierte, gab es da immer noch die Wodkaflasche.

An manchen Tagen kam sie sich vor wie die Chronistin des Baumarkts, ihre Einkaufsliste war eine Liturgie von erst kürzlich entdeckten Dingen, die wie eine Reihe von Haikus über die Seite verteilt waren. Aber sie verstand die handfeste Poesie des Heimwerkens und kam mit ihrem ungewohnten Werkzeug und den neuen Arbeitstechniken zurecht. Langsam, aber unaufhaltsam radierte sie die äußerlich sichtbare Geschichte der Scheune aus. Sie wusste nicht, ob das für ihre Seele irgendeine Erleichterung bringen würde. Es gab einmal eine Zeit, da hätte sie Tony Hill nach seiner Meinung fragen können. Aber diese Möglichkeit bestand nicht mehr. Sie würde eben einfach lernen müssen, ihre eigene Therapeutin zu sein.

Carol schaltete die Lampe am Bett an und zog ihre neue Arbeitsuniform über, zerrissene, schmutzige Jeans, Arbeitsschuhe mit Stahlkappen über dicken Socken, ein frisches T-Shirt und ein dickes kariertes Hemd. »Baustellen-Barbie« meinte einer der Männer mittleren Alters, die oft an den Infoschalter des Baumarkts kamen. Sie musste grinsen, wenn auch nur, weil nichts weniger zutreffend hätte sein können.

Während sie wartete, bis die Maschine den Kaffee gemacht hatte, durchquerte sie den großen Raum der Scheune und trat in den Morgen hinaus, wo den niedrig hängenden Wolken, die die fernen Berge verhüllten, die Aussicht auf Regen anzusehen war. Die Farbe der kräftigen Moorgräser verblasste, jetzt wo der Herbst langsam in den Winter überging. Das kleine Gehölz auf der Flanke des Berges wechselte die Farbe, die Grüntöne wurden zu Braun. Zum ersten Mal seit dem Frühjahr zeigten sich zwischen den Zweigen einige kleine Stückchen des Himmels. Bald würde nichts als ein filigranes Muster nackter Zweige zurückbleiben, und die einzige Deckung auf dem Abhang wäre verschwunden. Carol lehnte sich an die Mauer und starrte zu den Bäumen hoch. Tief atmend bemühte sie sich um Gelassenheit.

Früher einmal hätte der hochentwickelte sechste Sinn, der Schutz talentierter Polizisten, bewirkt, dass sich ihre Nackenhaare aufstellten. Es war ein Zeichen dafür, wie weit sie sich von der früheren Carol Jordan entfernt hatte, dass sie absolut nichts merkte von dem geduldigen Blick, der jede ihrer Bewegungen verfolgte.

5

Rob Morrison schaute wieder auf seine Uhr, dann nahm er sein Handy heraus, um noch einmal zu überprüfen, wie spät es war. 6:58. Die neue Chefin plante sehr wenig Zeit dafür ein, an ihrem ersten Tag die künftigen Mitarbeiter für sich zu gewinnen. Aber bevor er sich seiner Selbstgefälligkeit überlassen konnte, machte ihn das Klappern hoher Absätze auf den Fliesen darauf aufmerksam, dass jemand vom Eingang der Straßenseite statt von der Tiefgarage her hereinkam. Er drehte sich schnell um, und da war sie, mit einem Regenmantel, auf dem die Regentropfen schimmerten, und dreckbespritzten Schuhen. Marie Mather, seine neue Gegenspielerin. Die Marketingleiterin, wohingegen er Produktionsleiter war.

»Morgen, Rob.« Sie schob ihre Laptop-Tasche auf die Schulter mit der Handtasche, um eine Hand zum Händeschütteln frei zu haben. »Danke, dass Sie sich die Zeit nehmen, mich einzuführen.«

»Es ist ja wichtig, einen guten Start zu arrangieren.« Er rang sich ein halbherziges Lächeln ab, das die Griesgrämigkeit von seinem Gesicht verschwinden ließ. »Da wir wohl zusammengespannt sein werden wie Pferde im Geschirr, um den mächtigen Wagen der Tellit Communications zu ziehen.« Die kurze Verblüffung, als sein überspannter, ironischer Kommentar Wirkung zeigte, freute ihn. Es gefiel ihm, Vorurteile über den Haufen zu werfen – die übliche Annahme, dass ein Mann, der den operativen Betrieb einer Telefongesellschaft leitete, nichts mit Kultur am Hut hatte. »Sie sind nicht mit dem Auto gekommen?«

Sie schüttelte die glänzenden Regentropfen von ihrem dichten blonden Bob und wies mit dem Kopf auf die Straße draußen. »Wir wohnen nur fünf Minuten zu Fuß von der Endstation der Straßenbahn, da bekomme ich immer einen Sitzplatz. Der Tag fängt so besser an als beim Kampf mit dem Berufsverkehr.« Als sie lächelte, zog sie die Nase kraus, als hätte sie etwas Gutes gerochen. Was das Äußere anging, stellte Rob fest, war sie eine deutliche Verbesserung gegenüber Jared Kamal, ihrem Vorgänger. »Also, wie gehen wir vor?«

»Wir besorgen Ihnen erst mal ’nen Sicherheitsausweis. Dann gehe ich mit Ihnen nach oben und zeige Ihnen alles.« Beim Sprechen führte er sie schon mit einer Hand am Ellbogen an den Schalter des Sicherheitsdienstes und nahm dabei einen würzig-blumigen Duft wahr, der trotz Straßenbahn und dem Bradfielder Regen an ihr haftete. Wenn sie ihre Arbeit genauso gut machte, wie sie darin war, das Büro aufzuhellen, dann würde sich Robs Berufsleben exponentiell verbessern.

 

Ein paar Minuten später traten sie aus dem Aufzug direkt auf die große Bürofläche der Verkaufsabteilung. Zu dieser Tageszeit war die Beleuchtung nur matt. »Das Personal kann von den Boxen aus die Lichtstärke regeln. Es gibt ihnen die Illusion, die Kontrolle zu haben, und uns die Möglichkeit, schnell und leicht zu überprüfen, wer tatsächlich an seinem Arbeitsplatz ist.« Rob ging auf dem Weg durch den Raum voraus.

»Da ist jemand früh dran.« Marie wies mit einem Kopfnicken auf einen Lichtkreis in der hintersten Ecke.

Rob rieb sich das Kinn. »Das ist Gareth Taylor.« Er setzte seine Standardmiene für Kummer auf. »Hat kürzlich seine Familie verloren.« Er für seinen Teil hatte Gareths Leid abgehakt. Es war an der Zeit, nach vorn zu schauen, das Leben zu leben. Aber Rob wusste, dass er in dieser Hinsicht in der Minderheit war, deshalb hielt er lieber den Mund, wenn am Wasserspender darüber geredet wurde, und begnügte sich damit, zustimmend zu brummen, wenn die Kollegen in einen ihrer »Der arme Gareth«-Anfälle verfielen.

Maries Gesichtsausdruck wurde mitfühlend. »Der arme Typ. Was ist passiert?«

»Autounfall. Frau und zwei Kinder sind am Unfallort gestorben.« Rob ging flott weiter, ohne einen Blick zurück zu seinem trauernden Kollegen.

Marie blieb einen Moment stehen und holte ihn dann wieder ein. »Und er ist morgens um diese Zeit schon hier?«

Rob zuckte mit den Schultern. »Er sagt, er ist lieber hier, als zu Hause die Wand anzustarren. Hab nichts dagegen. Ich meine, es ist jetzt drei oder vier Monate her.« Er drehte sich um und warf ihr ein düsteres Lächeln zu. »Aber wir sitzen in der Klemme, wenn er anfängt, seine Überstunden abzufeiern.«

Marie sagte nichts und folgte ihm in einen großzügig dimensionierten abgeteilten Bereich am Ende des Raums. Ein Schreibtisch, zwei Stühle. Einige Whiteboards und ein Papierkorb. Rob machte eine ironische kleine Verbeugung. »Ihr ganz eigenes Reich.«

»Es ist jedenfalls schön groß.« Marie stellte ihren Laptop auf den Schreibtisch, steckte ihre Tasche in eine Schublade und hängte ihren Mantel an einen Haken an der Tür. »Also, das Wichtigste zuerst: Wo ist der Kaffee, und wie funktioniert die Maschine?«

Rob lächelte. »Folgen Sie mir.« Er führte sie wieder ins Großraumbüro zurück. »Man kauft Wertmarken von Charyn am Tisch gleich vorne. Fünf für ein Pfund.« Als sie sich Gareth Taylors Arbeitsplatz näherten, beleuchtete der Lichtschein aus seiner Box eine Tür in einer daneben liegenden Nische. Sie führte zu einem kleinen Raum, in dem zwei Kaffeemaschinen standen. Rob wies auf eine Reihe von Behältern, die kleine Kaffeepads enthielten. »Man wählt seine Sorte Gift aus, schiebt einen Pad in die Maschine und zahlt dafür mit einer Marke.« Er suchte in der Tasche seiner Chinos und zog eine rote Marke heraus. »Den ersten spendier ich Ihnen.« Er reichte ihn ihr, als erwiese er ihr damit eine große Ehre. »Jetzt lasse ich Sie erst mal in Ruhe, damit Sie sich hier einrichten können.« Er schaute auf seine Uhr. »Ein oder zwei Dinge sind noch zu erledigen, bevor die Massen eintrudeln. Für halb acht habe ich ein Meeting mit dem Führungspersonal im kleinen Konferenzraum angesetzt. Fragen Sie einfach jemanden, wo es ist, man wird es Ihnen erklären.«

Und das war’s auch schon. Er ging davon und ließ Marie mit einer Auswahl an Getränken zurück. Sie drückte auf Cappuccino und war vom Ergebnis angenehm überrascht. Dann ging sie wieder ins Großraumbüro, wo inzwischen drei oder vier Arbeitsplätze erleuchtet waren. Sie beschloss, gleich damit zu beginnen, ihre Mitarbeiter kennenzulernen, und ging auf Gareth Taylor zu, wobei sie bewusst freundlich lächelte.

Als sie sich näherte, schaute er mit erschrockenem Gesichtsausdruck auf. Seine Finger huschten über die Tasten, und als sie um den Raumteiler herumkam, hatte sie den Eindruck, dass das Bild auf seinem Monitor schnell wechselte. Tellit glich offenbar allen anderen Firmen, bei denen Marie gearbeitet hatte: Die Angestellten machten in der Zeit und mit den Mitteln der Firma gern mal ihr eigenes Ding. Die menschliche Natur, es war überall das Gleiche. Eine Tendenz, die Marie nicht ärgerte, solange die Produktivität in Ordnung war und niemand versuchte, einen zu verscheißern.

»Hallo. Ich bin Marie Mather. Die neue Marketingleiterin.« Sie streckte ihm die Hand entgegen.

Gareth nahm die Aufforderung zum Händeschütteln ohne Begeisterung entgegen. Seine Hand war kühl und trocken, der Händedruck fest, aber nicht aggressiv. »Das hab ich mir gedacht. Ich bin Gareth Taylor, einer von denen, die die Drecksarbeit am Bildschirm und Telefon machen.«

»Ich betrachte Sie lieber als Mitarbeiter mit Kundenkontakt.«

Gareth zog die Augenbrauen hoch. »Das ändert nichts an der Wirklichkeit.«

»Sie sind früh hier.«

Gareth schüttelte den Kopf und seufzte. »Schauen Sie, ich weiß, dass Rob Sie mit ein paar Stichworten aufgeklärt hat. Die Arbeit ist im Moment das einzig Beständige in meinem Leben. Ich will kein Mitleid. Ich bin nicht so einer mit der Tour ›Habt doch Mitleid mit mir, meine Frau hat mich verlassen‹. Ich will nur in Frieden gelassen werden und weitermachen, alles klar?« Er klang angespannt und frustriert. Sie konnte sich vorstellen, wie schwierig es war, zusätzlich zu so einem niederschmetternden Verlust mit der gutgemeinten Einmischung anderer Leute zurechtzukommen.

Marie beugte sich vor und schaute auf seinen Bildschirm. »Angekommen und verstanden. Woran arbeiten Sie denn gerade?«

Sie hatte gehofft, dass er zumindest lächeln würde. Aber stattdessen schaute er mürrisch drein. »Sie werden es nicht verstehen, bis Sie sich hier einen Überblick verschafft haben. Ich wende eine bestimmte Strategie an, um Silver-Surfer-Kunden dazu zu bringen, dass sie auf Langzeitverträge umsteigen. Und ich glaube, wir haben das bisher nicht richtig gemacht. Vielleicht wollen Sie wiederkommen und mit mir darüber sprechen, wenn Sie auf dem neuesten Stand sind.«

Man konnte Gareths brüske Antwort so oder so verstehen. Vorläufig beschloss Marie, eine Konfrontation zu vermeiden. »Ich freu mich drauf.« Sie nippte an ihrem Cappuccino. »Es ist mir immer recht, von meinem Team zu hören.«

Heute Abend, wenn sie sich bei einem Glas Weißwein entspannte, während Marco das Abendessen kochte, würde es ihr Spaß machen, ihm von dieser Begegnung zu erzählen. Wie schon oft würden sie scherzhafte Wetten eingehen, wie es ihr mit den neuen Kollegen ergehen würde. Würde sie Gareth für sich gewinnen, oder würde er weiterhin Abstand halten? Würde Rob mit seinem offensichtlichen Bedürfnis zu flirten so weit gehen, dass sie die Personalstelle ins Spiel bringen musste? Sie und Marco spielten gern diese Spielchen, bei denen sie allerhand Spekulationen anstellten, und manchmal nutzten sie sogar ihren Phantasiearbeitsplatz, um ihre Schlafzimmerspielchen aufzupeppen.

Es war ein harmloser Spaß, fand Marie. Vollkommen harmlos.

6

Torins jugendliche Unfähigkeit, seine Sorge zu verbergen, war für Paula sofort offensichtlich. Zum Glück für sie brachte er nicht genügend Geschick und Mühe auf, um unter Druck eine coole Fassade aufrechtzuerhalten. Normalerweise hätte sie ihm etwas zu trinken angeboten, um ihn zu beruhigen, aber im Revier der Skenfrith Street war sie noch fremd und wusste nicht, wie lange es dauern würde, etwas aufzutreiben. Schon gar nicht wollte sie, dass ihre neue Chefin länger als absolut nötig warten musste.

Eigentlich hätte sie wohl eine sogenannte geeignete erwachsene Person finden müssen, die anwesend war, während sie Torin vernahm. Aber sie empfand sich selbst durchaus als geeignet. Und er würde ja nicht zu einem Verbrechen vernommen. Paula warf Torin einen erwartungsvollen Blick zu. »Wann hast du angefangen, dich zu sorgen, dass etwas passiert sein könnte?«

»Ich weiß nicht genau.« Er runzelte die Stirn.

»Wann kommt sie denn normalerweise von der Arbeit?«

Er hob eine Schulter zu einem Zucken. »Ungefähr um halb sechs, aber manchmal erledigt sie auf dem Heimweg noch Einkäufe, dann ist es eher so gegen Viertel vor sieben.«

»Es ist also zutreffend zu sagen, dass du um sieben anfingst, dir Sorgen zu machen?«

»Nicht direkt Sorgen. Ich war eher erstaunt. Es ist nicht so, dass sie kein interessantes Leben hätte. Manchmal geht sie mit einer ihrer Kolleginnen aus zum Pizzaessen oder ins Kino oder was immer. Aber wenn sie das macht, sagt sie mir morgens immer Bescheid. Oder sie schickt mir ’ne SMS, wenn es eher spontan ist.«

Das überraschte Paula nicht. Bev McAndrew hatte auf sie den Eindruck einer vernünftigen Frau gemacht. »Hast du ihr denn gesimst?«

Torin nickte und kaute auf seiner Unterlippe herum. »Ja. Bloß, na ja, was gibt’s zum Abendessen, bist du bald zu Haus, nur so was.«

Das Übliche eben für einen Jugendlichen. »Und sie hat nicht geantwortet?«

»Nein.« Er zappelte auf seinem Stuhl herum, beugte sich dann vor und legte die Unterarme mit geballten Fäusten auf den Tisch. »Ich wusste nicht, was ich tun sollte. Eigentlich war ich nicht beunruhigt, eher, also, angepisst.« Er blickte sie kurz an und senkte gleich wieder den Blick, um zu sehen, ob das leicht unanständige Wort bei einer Polizistin durchging.

Paula lächelte. »Angepisst – und Hunger hattest du auch, nehme ich an.«

Torins Schultern entspannten sich ein bisschen. »Ja. Das auch. Dann hab ich im Kühlschrank nachgesehen, und da war noch ein Rest Cottage Pie, den hab ich in der Mikrowelle warm gemacht und gegessen. Und hatte immer noch nichts von meiner Mum gehört.«

»Hast du Freunde von ihr angerufen?«

Er wich mit einem Ausdruck von Unverständnis etwas zurück. »Wie sollte ich? Ich hab doch keine Telefonnummern von ihnen. Sie sind alle in ihrem Handy, nirgends aufgeschrieben. Von den meisten weiß ich nicht mal den Namen.« Er gestikulierte mit einer Hand in der Luft herum. »Und ›Dawn vom Büro‹ oder ›Megan vom Fitnessclub‹ oder ›Laura, mit der ich in einer Klasse war‹ – das kann man ja nicht nachschlagen.« Er hatte durchaus recht, fand sie. Wenn früher eine Person vermisst wurde, schaute man in ihrem Adressbuch nach, im Terminkalender, der Telefonliste neben dem Telefon. Heutzutage trug jedermann sein ganzes Leben mit sich herum, und wenn er verschwand, waren damit auch die Möglichkeiten, ihn aufzuspüren, verschwunden.

»Gibt es keine Verwandten, die du anrufen könntest?«

Torin schüttelte den Kopf. »Meine Oma lebt in Bristol und meine Tante Rachel auch. Mum hat dieses Jahr noch kein Wort mit meinem Dad gesprochen, und er ist ja sowieso im Einsatz in Afghanistan. Er ist Sanitäter bei der Armee.« Da klang Stolz durch, dachte Paula.

»Und bei der Arbeit? Hast du dran gedacht, dort anzurufen?«

Er blickte finster. »Die nehmen Anrufe von draußen nur während der regulären Öffnungszeiten an. Abends hat die Apotheke nur mit Notfallrezepten vom Krankenhaus zu tun. Selbst wenn ich angerufen hätte, hätte niemand abgenommen.«

Paula versetzte sich in Gedanken zurück in ihre frühe Teenagerzeit und fragte sich, wie entnervt sie gewesen wäre, wenn ihre seriösen und achtbaren Eltern plötzlich und unverständlicherweise abgetaucht wären. Sie fand, dass Torin unter den gegebenen Umständen seine Sache ganz gut machte, indem er nicht die Kontrolle verlor angesichts von Fragen, die ihm wahrscheinlich ziemlich sinnlos vorkamen und die nur den Prozess, seine Mutter zu finden, verlangsamten. Dieses Verständnis für die Sichtweise anderer Leute hatte Paula geholfen, ihr Geschick bei Vernehmungen zu entwickeln. Jetzt musste sie sich gut stellen mit Torin und ihm das Gefühl geben, dass jemand auf seine Notlage einging, damit sie genug Informationen aus ihm herausbekam, um etwas Sinnvolles veranlassen zu können.

»Was hast du also gemacht?«

Torin blinzelte schnell und heftig. Er schämte sich oder war aufgeregt, Paula war nicht sicher. »Ich hab auf meiner Xbox Minecraft gespielt, bis ich müde genug war, dass ich schlafen konnte. Ich wusste nicht, was ich sonst hätte tun sollen.«

»Das war gut. Viele in deinem Alter hätten Panik bekommen. Und was ist heute Morgen gewesen?«

»Ich bin aufgewacht, bevor mein Wecker klingelte. Zuerst dachte ich, meine Mum hätte mich mit ihrem Herumlaufen aufgeweckt, aber das war es nicht. Ich ging in ihr Zimmer, und das Bett war noch wie frisch gemacht.« Er kaute wieder auf seiner Lippe herum, und seine dunklen Augen schauten bekümmert. »Sie war nicht nach Haus gekommen. Und so was macht sie einfach nicht. Die Mutter von einem von meinen Freunden, die bleibt manchmal die ganze Nacht weg, ohne ihm vorher was zu sagen. Und der alte Knacker am Schalter, da merkte man doch gleich, was er dachte. ›Der arme Bengel, seine Mutter ist eine Schlampe, und nur er weiß es noch nicht.‹« Jetzt war er richtig in Fahrt, und es sprudelte nur so aus ihm heraus. »Aber ich sage Ihnen, so ist meine Mum nicht. Wirklich nicht. Gar nicht. Außerdem gehört es zu unserer Hausordnung. Wir simsen uns immer, wenn wir später kommen. Zum Beispiel, wenn ich den Bus verpasse oder einer von den anderen Eltern sich beim Abholen verspätet. Oder wenn sie bei der Arbeit noch zu tun hat. Was immer.« Plötzlich ging ihm die Puste aus.

»Und dann bist du hierhergekommen.«

Er ließ die Schultern sinken. »Mir fiel nichts anderes ein. Aber Ihnen ist das alles egal, oder?«

»Wenn es so wäre, würde ich nicht mit dir hier sitzen, Torin. Normalerweise warten wir vierundzwanzig Stunden, bis wir wegen eines Vermisstenfalls eine Ermittlung einleiten, das stimmt schon.« Außer wenn jemand involviert ist, der verletzlich ist. »Aber nicht, wenn es jemand ist wie deine Mum, jemand, der die Verantwortung für ein Kind oder zum Beispiel für einen alten Menschen trägt. Jetzt muss ich Angaben über dich und deine Mum aufschreiben, damit ich die Sache in Gang bringen kann.«

Ein Klopfen an der Tür unterbrach Paula. Bevor sie etwas sagen konnte, steckte der Kollege vom Rezeptionsschalter den Kopf zur Tür herein. »DCI Fielding möchte wissen, wie lange Sie noch brauchen.« Dabei bemühte er sich nicht, seine Selbstgefälligkeit zu verbergen.

Paula wies ihn mit einem mitleidigen Blick ab. »Ich bin dabei, einen Zeugen zu vernehmen. Dafür bin ich ausgebildet. Bitte sagen Sie der DCI, ich werde bei ihr sein, sobald ich hier fertig bin.«

»Ich werd’s ausrichten.«

Torin warf ihm einen verächtlichen Blick zu, während er die Tür schloss. »Sitzen Sie jetzt in der Scheiße? Weil Sie mit mir reden?«

»Ich mach nur meine Arbeit, Torin. Das ist das Wichtigste. Also, ich brauche ein paar Hintergrundinformationen.«

Es dauerte nicht lange. Torin, vierzehn. Schüler der Kenton Vale School. Bev, siebenunddreißig, Leiterin der Klinikapotheke am Bradfield Cross Hospital, vor acht Jahren geschieden von Tom, der zurzeit auf dem Camp Bastion stationiert war. Torin und Bev wohnten zusammen in einer Doppelhaushälfte in Grecian Rise 17 in Kenton, Bradfield. Für Bevs Verschwinden war kein Grund bekannt. Keine Vorgeschichte einer Krankheit oder Depression. Keine finanziellen Probleme bekannt, außer denen, mit denen heutzutage jedermann lebte, der im öffentlichen Dienst beschäftigt war.

Paula notierte Handynummern von Mutter und Sohn und legte dann den Stift beiseite. »Hast du ein Bild von deiner Mutter?«

Torin suchte auf seinem Smartphone und hielt es dann so, dass sie das Display sehen konnte. Paula erkannte Bev auf dem Bild, was bei Schnappschüssen mit Smartphones nicht immer der Fall ist. Es war ein Kopfbild, das offenbar an einem sonnigen Strand aufgenommen worden war. Dichtes blondes Haar, mittelblaue Augen, ovale Gesichtsform mit ebenmäßigen Zügen. Hübsch, aber nicht umwerfend schön, ein Gesicht, das von einem heiteren Lächeln belebt war und Lachfältchen hatte.