Cover

SUE JOHNSON

Liebe macht Sinn

Revolutionäre neue Erkenntnisse
über das, was Paare zusammenhält

Ins Deutsche übertragen
von Henriette Zeltner

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Die amerikanische Originalausgabe erschien 2013 unter dem Titel
Love Sense. THE REVOLUTIONARY NEW SCIENCE OF ROMANTIC
RELATIONSHIPS« bei Little, Brown and Company, New York
Copyright © der Originalausgabe 2013 by Susan Johnson, Inc.
Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2014 by btb Verlag
in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München
This edition published by arrangement with Little,
Brown and Company, New York, USA.
All rights reserved
Covergestaltung: semper smile, München
Covermotiv: © Shutterstock/ iralu; Vera Holera
Satz: Uhl + Massopust, Aalen
ISBN 978-3-641-13385-6
V004
www.btb-verlag.de

An erster Stelle ist dieses Buch meinen Kindern gewidmet.
In der Hoffnung, dass ihre Liebesbeziehungen reich,
tief und erfüllend sein mögen.


Dieses Buch ist zudem all jenen gewidmet, die ich ebenfalls liebe –
denen, die mir beständig sicherer Hafen und fester Boden sind,
von wo aus ich voller Freude ins Unbekannte springe.
Ihr wisst schon, wen ich meine.

Die Leute halten Liebe für ein Gefühl,
dabei ist Liebe gesunder Menschenverstand.

Ken Kesey, Autor von Einer flog übers Kuckucksnest

Erst wenn man jemanden liebt, ergibt alles andere überhaupt einen Sinn.

E. E. Cummings

Inhalt

Einführung

ERSTER TEIL – Die Beziehungsrevolution

1. KAPITEL – Liebe. Ein Paradigmenwechsel

2. KAPITEL – Bindung. Der Schlüssel zur Liebe

ZWEITER TEIL – Die neue Wissenschaft von der Liebe

3. KAPITEL – Die Gefühle

4. KAPITEL – Das Gehirn

5. KAPITEL – Der Körper

DRITTER TEIL – Liebe in Aktion

6. KAPITEL – Liebe im Wandel der Zeit

7. KAPITEL – Gelöste Bindungen

8. KAPITEL – Erneuerte Bindungen

VIERTER TEIL – Anwendung der neuen wissenschaftlichen Erkenntnisse

9. KAPITEL – Eine Liebesgeschichte

10. KAPITEL – Liebe im 21. Jahrhundert

Dank

Weiterführende Informationen

Quellen

Register

Einführung

Das Thema Liebe und Liebesbeziehung fasziniert uns. Aber was wissen wir eigentlich wirklich über die Liebe? Instinktiv spüren wir, dass keine andere Erfahrung unser Leben – oder unser Glück, unser Wohlbefinden – jemals stärker beeinflussen wird, als erfolgreich zu lieben und wiedergeliebt zu werden. Wir wissen, dass die Liebe uns verletzlich macht, aber gleichzeitig auch, dass uns nichts so viel Selbstbewusstsein und Kraft gibt wie die Gewissheit, geliebt zu werden. Wir wissen, dass uns in den schwierigsten Momenten unseres Lebens nichts hilft außer dem Trost derjenigen, die wir lieben. Und trotzdem scheinen wir am Ende der ersten Dekade des 21. Jahrhunderts, da unsere Spezies intelligent genug ist, um Atome zu spalten und ins All zu reisen, immer noch keine klare oder schlüssige Vorstellung von dieser intensiven Beziehung zu haben, die für unser Dasein von so entscheidender Bedeutung ist.

In der Menschheitsgeschichte scheint Einigkeit darüber zu herrschen, dass romantische Liebe per se unergründlich ist, schon immer rätselhaft war und das auch auf ewig bleiben wird. Mich erinnert das an Palamon, den eingekerkerten Ritter in Chaucers Canterbury Tales aus dem 14. Jahrhundert, der durch sein vergittertes Fenster die schöne Emelie beim Blumenpflücken und Singen erspäht. Er stöhnt vor Schmerz auf und erklärt seinem Mitgefangenen und Cousin Arcita:

»Nicht schrie ich, Vetter, weil wir hier gefangen;

Ich ward verwundet, und die Schmerzen drangen

Durchs Auge mir ins Herz. Auf immerfort

Bannt mich die Schönheit einer Frau, die dort

Lustwandelnd sich ergeht im Gartengrün.

Das war der Grund, weshalb ich aufgeschrien.

War Weib sie, war vom Himmel sie geschickt?

Mich dünkt, die Venus selbst hab’ ich erblickt!«

Vielen von uns kommt die Liebe vor wie Hexerei – eine starke und gefährliche Macht, die uns unvermittelt trifft.

Vielleicht verlieren wir, weil uns die Liebe so rätselhaft und wild erscheint, unseren ganzen Glauben an die Lebensfähigkeit stabiler, liebevoller Paarbeziehungen. Stattdessen grassiert Pessimismus. Jeden Tag lesen, hören oder sehen wir in den Medien, welche Prominenten einmal mehr bei Seitensprüngen ertappt wurden. In Ratgeberforen im Netz wird Partnertausch als probates Mittel gegen die unvermeidliche Langeweile in Beziehungen empfohlen. Auf den Meinungsseiten der Presse wird oft genug behauptet, die Monogamie sei ein antiquiertes und unmögliches Konzept, das entsorgt gehört. Wenn es um die Liebe unter Erwachsenen geht, scheinen wir wirklich mit unserer Weisheit am Ende zu sein.

Und all das in einer Zeit, in der die romantische Liebe ironischerweise wichtiger ist denn je. Denn ein Tsunami aus Einsamkeit, Furcht und Depression fegt durch unsere Gesellschaft. Heutzutage sind Paarbeziehungen unter Erwachsenen oft die einzige echte zwischenmenschliche Bindung, auf die wir uns in unserer mobilen und von verrücktem Multitasking bestimmten Welt verlassen können. Meine Großmutter lebte in einem Dreihundert-Seelen-Dorf, das ihr ein Netz aus Kameradschaft und Unterstützung bot. Die meisten von uns leben, mit Glück, in einer Zwei-Personen-Gemeinschaft. Das Suchen und Halten eines Lebenspartners ist zu einem unter Hochdruck zu bewältigenden Aspekt unseres Lebens geworden, nachdem andere gemeinschaftliche Bindungen so stark in den Hintergrund getreten sind. Offensichtlich sind wir, was emotionale Bindung und Unterstützung angeht, stärker denn je von unseren Partnern abhängig. Und das, während wir gleichzeitig im Dunkeln tappen, wenn es darum geht, Liebe zu entwickeln und am Leben zu erhalten.

Noch dazu scheinen wir in vielerlei Hinsicht unserem Wunsch nach Liebe und Verbindlichkeit aktiv entgegenzuwirken. Emotionale Unabhängigkeit wird in unserer Gesellschaft geradezu verherrlicht. Ständig ermahnt man uns, uns selbst an erster Stelle und am meisten zu lieben. Bei einem geselligen Beisammensein meinte letztens eine Freundin zu mir: »Selbst du musst dich doch der Tatsache stellen, dass wir grundsätzlich in einer distanzierten und abweisenden Gesellschaft leben. Die Leute glauben nicht mehr an Liebesbeziehungen. Die haben nicht mehr die höchste Priorität. Dafür hat doch sowieso niemand mehr Zeit.«

Als klinische Psychologin, Paartherapeutin und Beziehungsforscherin alarmiert und frustriert mich in zunehmendem Maße, wo wir uns jetzt schon befinden und wohin die Reise vermutlich noch gehen wird. Durch meine eigene Arbeit und die geschätzter Kollegen weiß ich, dass Zynismus und Hoffnungslosigkeit unangebracht sind. Heutzutage blicken wir von einem revolutionär neuen Standpunkt auf die romantische Liebe, und zwar von einem optimistisch-praktischen. Wissenschaftlich begründet zeigt der, dass Liebe für unser Dasein lebensnotwendig ist. Außerdem ist sie keineswegs unergründlich, sondern ausgesprochen logisch und verständlich. Noch dazu anpassungsfähig und funktional. Ja, es kommt sogar noch besser: veränderbar, reparierbar und von Dauer. Kurz gesagt begreifen wir jetzt endlich und unwiderlegbar, dass Liebe »Sinn« macht. Das Wort kommt vom Lateinischen sentire, was so viel bedeutet wie »wahrnehmen«, »fühlen« oder »wissen«, aber auch »seinen Weg finden«. Darum habe ich diesem Buch auch den Titel Liebe macht Sinn gegeben. Ich möchte Ihnen damit helfen, Ihren eigenen Weg zu einer erfüllenden und dauerhaften Liebe zu finden.

In Liebe macht Sinn sollen Sie erfahren, was andere Wissenschaftler und ich im Zuge von dreißig Jahren klinischer Studien, Laborexperimenter und angewandter Therapien herausgefunden haben. Etwa dass Liebe eine grundlegende Funktion für unser Überleben hat, dass eine essenzielle Aufgabe unseres Säugetierhirns darin besteht, andere zu verstehen und auf sie zu reagieren, und dass uns die Fähigkeit, uns auf andere zu verlassen, stark macht. Sie werden erfahren, dass Zurückweisung und Verlassenwerden Auslöser von Gefahren sind, die uns echten körperlichen Schmerz zufügen, dass sexuelle Vernarrtheit und Neuigkeit überbewertet werden und dass selbst die zerstrittensten Paare ihre Beziehung reparieren können, wenn man sie dazu anleitet, mit ihren Gefühlen ein wenig anders umzugehen.

Mein besonderer Beitrag ist die Wiederherstellung von Beziehungen. Dank Tausender verzweifelter Paare, mit denen ich im Laufe der Jahre gearbeitet habe, ist es mir gelungen, ein neues, systematisches Behandlungsmodell zu entwickeln, das unserem Bedürfnis nach Beziehung und Unterstützung Rechnung trägt: die Emotionsfokussierte Therapie (EFT). Diese Methode ist der bis dato erfolgreichste Ansatz, um geschwächte Beziehungen zu heilen – mit einer frappierenden Erfolgsquote von 70 bis 75 Prozent. Inzwischen gehört EFT routinemäßig zur Ausbildung von Paarberatern in mindestens fünfundzwanzig Ländern rund um den Globus. Eine vereinfachte Form von EFT für Paare, die sich selbst helfen wollen, findet sich bereits in meinem früheren Buch Halt mich fest. Sieben Gespräche zu einem von Liebe erfüllten Leben.

Dies sind allerdings nur einige wenige Ergebnisse der wissenschaftlichen Untersuchung zum Verständnis von Liebe. In diesem Buch finden Sie die Resultate von noch viel mehr Studien sowie die Fallgeschichten vieler Paare in ihren intimsten Augenblicken. (Alle Geschichten sind aus mehreren Fällen zusammengesetzt und vereinfacht, um allgemeine Erkenntnisse zu ermöglichen. Namen und Einzelheiten sind zum Schutz der Persönlichkeit geändert.) Was Sie hier lesen, dürfte Sie verwundern, wenn nicht gar überwältigen. Vor allem aber wird es Sie nicht nur über die Natur der Liebe aufklären und darüber, wie diese uns persönlich betrifft, sondern auch darüber, was diese für uns als Menschen, für unsere Kultur und für die Welt bedeutet.

Die Wissenschaft ist sich darüber einig, dass eine stabile, liebevolle Beziehung der wichtigste Grundpfeiler menschlichen Glücks und Wohlbefindens ist. Eine gute Beziehung ist eine bessere Krankenversicherung als gesunde Ernährung und eine wirksamere Anti-Aging-Strategie als die Einnahme von Vitaminpillen. Eine liebevolle Beziehung ist auch der Schlüssel, um Familien zu gründen, die Kindern Fähigkeiten vermitteln, die für den Fortbestand einer zivilisierten Gesellschaft unabdingbar sind – Vertrauen, Empathie und Kooperationsbereitschaft. Liebe ist das Lebenselixier unserer Spezies und unserer Welt.

Der inzwischen verstorbene Komponist und Dramatiker Jonathan Larson hat es in einem Song seines Musicals Rent auf den Punkt gebracht. Er fragt darin nach dem Maß von »fünfhundertfünfundzwanzigtausendsechshundert Minuten« oder einem Jahr im Leben eines Menschen. Die Antwort lautet: »Teile Liebe, gib Liebe, verbreite Liebe … Miss, miss dein Leben in Liebe.« Alles andere ergibt keinen Sinn.

Ich habe dieses Buch nicht nur als Warnung verfasst, sondern auch als Enthüllung und Versprechen.

ERSTER TEIL

Die Beziehungs-
revolution

1. KAPITEL

Liebe. Ein Paradigmenwechsel

Ich glaube an die unwiderstehliche Kraft der Liebe.
Ich verstehe sie nicht. Doch ich glaube, sie ist die am besten duftende Blüte in diesem dornigen Dasein.

Theodore Dreiser

Meine Erinnerungen sind voller Geräusche und Bilder von Liebe: Der Schmerz in der Stimme meiner Großmutter, wenn sie von ihrem Mann sprach, der schon fast fünfzig Jahre tot war. Als Bahnwärter hatte er ihr, dem Dienstmädchen, den Hof gemacht. Sieben Jahre lang, jeweils an dem einen Sonntag, den sie jeden Monat frei hatte. Er starb nach achtzehn Jahren Ehe am Weihnachtstag an einer Lungenentzündung. Damals war er fünfundvierzig und sie vierzig Jahre alt. Meine aufgebrachte Mutter, wie sie durch die Küche auf meinen Vater zustürmt, einen ehemaligen Marine-Ingenieur. Er steht groß und stark im Türrahmen und verschlingt sie mit seinen Augen. Doch dann bemerkt sie mich, bleibt abrupt stehen und rennt aus dem Zimmer. Sie verließ ihn nach drei Jahrzehnten, in denen Türen knallten und Fäuste drohend geschüttelt wurden. Ich war damals zehn.

»Warum streiten sie dauernd?«, fragte ich meine Granny.

»Weil sie sich lieben, Süße«, sagte sie. »Und wenn man ihnen so dabei zusieht, dann ist sonnenklar, dass keiner von uns weiß, was zum Teufel das bedeutet.«

Ich erinnere mich noch daran, wie ich mir damals schwor: »Also, dann lasse ich von diesem Liebeszeug die Finger.« Das tat ich dann aber doch nicht.

Dafür sagte ich zu meiner ersten großen Liebe: »Ich weigere mich, dieses alberne Spiel mitzuspielen. Das ist ja, als würde man von einer Klippe stürzen.« Nur Monate nach der Hochzeit fragte ich mich heulend: »Warum liebe ich diesen Mann nicht mehr? Ich kann nicht einmal genau benennen, was fehlt.« Ein anderer Mann lächelte mich nur stumm an, daraufhin lehnte ich mich ebenso schweigend zurück und ließ mich in die Schlucht fallen. Und da fehlte nichts.

Jahre später sitze ich da und sehe zu, wie das letzte Eis auf unserem See an einem Morgen Anfang April endlich schmilzt. Dabei höre ich meinen Mann und die Kinder durch den Wald hinter mir laufen. Sie lachen und plaudern, und ich empfinde einen Moment lang tiefstes Glück. Die Art von Glück, die mir bis heute absolut genügt, um mein Herz für ein ganzes Leben zu füllen.

Wut und Drama, Hochgefühl und Befriedigung. Weshalb? Wozu?

Liebe kann auf tausenderlei Arten beginnen – mit einem flüchtigen Blick, mit Anstarren, mit einem Flüstern, einem Lächeln, einem Kompliment oder auch einer Beleidigung. Sie mag dann zu Streicheleien und Küssen oder zu Stirnrunzeln und Streit führen. Sie endet mit Schweigen und Trauer, Frust und Zorn, Tränen, und manchmal sogar mit Erleichterung und Gelächter. Sie kann nur Tage oder Stunden andauern oder auch Jahre und selbst den Tod überdauern. Sie ist etwas, wonach wir suchen, oder etwas, das uns findet. Sie kann unsere Rettung oder unser Ruin sein. Ihre Gegenwart beschwingt uns, ihr Verlust oder ihre Abwesenheit lässt uns verzweifeln.

Wir hungern nach Liebe, ersehnen sie, fühlen uns zu ihr hingetrieben, aber wirklich verstanden haben wir sie noch nicht. Wir haben ihr einen Namen gegeben, ihre Macht anerkannt, ihre Herrlichkeit und ihren Schmerz benannt. Trotzdem stehen wir noch vor so vielen Rätseln: Was bedeutet es eigentlich, zu lieben, eine Liebesbeziehung einzugehen? Warum streben wir nach Liebe? Was lässt die Liebe enden? Was sorgt dafür, dass sie andauert? Macht Liebe überhaupt irgendeinen Sinn?

Im Laufe der Jahrhunderte erwies die Liebe sich als Mysterium, das sich allen entzog – den Philosophen wie den Moralisten, Schriftstellern und Wissenschaftlern und natürlich den Liebenden selbst. Die Griechen unterschieden vier verschiedene Arten der Liebe, aber deren Definitionen überschneiden sich, was natürlich wieder für Verwirrung sorgt. Eros bezeichnete die leidenschaftliche Liebe, die sexuelle Anziehung und körperliches Verlangen einschließen kann, aber nicht muss. Heutzutage sind wir anscheinend noch genauso unschlüssig. So lautete beispielsweise die häufigste »Was ist …«-Suchanfrage bei Google in Kanada im Jahr 2012: »Was ist Liebe?« Aaron Brindle, ein Sprecher von Google, meinte dazu: »Das verrät uns nicht nur einiges über das beliebteste Thema des Jahres (…), sondern auch einiges über das Menschsein.« Eine Website mit der Adresse canyoudefinelove.com sucht nach Definitionen und Erfahrungen von Leuten aus aller Welt. Wenn man durch die Antworten scrollt, muss man den Erfindern der Seite recht geben: »Es gibt so viele einzigartige Definitionen, wie es Menschen auf der Welt gibt.«

Wissenschaftler versuchen, sich der Sache etwas genauer anzunähern. Der Psychologe Robert Sternberg von der Oklahoma State University beschreibt Liebe beispielsweise als einen Mix aus drei Komponenten: Nähe, Leidenschaft und Verbindlichkeit. Das stimmt, löst aber das Rätsel noch nicht. Evolutionsbiologen erklären die Liebe inzwischen als Reproduktionsstrategie der Natur. In dem großen abstrakten Plan unseres Seins ergibt das durchaus Sinn. Aber um das Wesen der Liebe in unserem Alltag zu verstehen, ist es nutzlos. Die beliebteste Definition lautet vermutlich, dass die Liebe … ein Mysterium ist! Für diejenigen unter uns – und das sind wahrscheinlich fast alle –, die versuchen, sie zu finden oder zu heilen oder zu bewahren, ist diese Definition eine Katastrophe. Denn sie nimmt uns jegliche Hoffnung.

Aber spielt es überhaupt eine Rolle, ob wir die Liebe begreifen?

Hätte man diese Frage vor gerade mal dreißig, vierzig Jahren gestellt, dann hätten die meisten Menschen wohl geantwortet: »Nicht wirklich.« Trotz ihrer Macht galt Liebe damals nicht als wesentlich für das tägliche Leben. Man betrachtete sie als davon losgelöst, als Zerstreuung, Luxus und oft genug auch als Gefahr (man denke nur an Romeo und Julia oder Abaelard und Heloïse). Was zählte, war das Lebensnotwendige. Das eigene Leben hing von der Familie und der größeren Gemeinschaft ab. Sie sorgten für Nahrung, Unterkunft und Schutz. Die früheste Vorstellung von Ehe war, dass man das eigene Leben mit dem eines anderen verbindet, und zwar ausschließlich aus praktischen, nicht aus emotionalen Gründen: um ein besseres Schicksal, mehr Macht und Reichtum zu erlangen, auch um Nachkommen zu produzieren, die Titel und Besitz erben, um Kinder zu haben, die bei der Arbeit, etwa auf einem Bauernhof, helfen und einen im Alter versorgen.

Und selbst als das Leben für eine wachsende Zahl von Menschen leichter wurde, blieb die Ehe noch eine ziemlich rationale Übereinkunft. 1838, also schon mitten in der Industriellen Revolution, schrieb der Naturforscher Charles Darwin Listen mit Argumenten für und wider die Ehe, bevor er schließlich seiner Cousine Emma Wedgwood einen Antrag machte. Unter den Vorteilen notierte er: »Kinder … beständige Gesellschaft, (Freundschaft im hohen Alter) … geliebt und umsorgt werden … jedenfalls besser als ein Hund … ein hübsch weiches Eheweib auf einem Sofa, dazu ein schönes Kaminfeuer & Bücher & Musik … Diese Dinge, die der eigenen Gesundheit zuträglich sind.« Als Gegenargumente schrieb er auf: »Vielleicht Gezänk – Zeitverschwendung – Am Abend nicht lesen können … Sorge & Verantwortung – weniger Geld für Bücher etc. … Ich werde niemals Französisch lernen – oder den Kontinent besuchen – oder nach Amerika reisen oder eine Ballonfahrt unternehmen oder eine einsame Reise nach Wales – armer Sklave.«

Emmas Liste liegt uns nicht vor, aber der Hauptgrund, aus dem die meisten Frauen damals heirateten, war finanzielle Sicherheit. Da ihnen der Zugang zu höherer Bildung und dem Berufsleben verwehrt war, drohte Frauen, die unverheiratet blieben, ein Los in Armut; für viele änderte sich daran bis ins 20. Jahrhundert hinein nichts. Aber selbst als Frauen bessere Bildungschancen hatten und in der Lage waren, für sich selbst zu sorgen, spielte Liebe bei der Partnerwahl noch keine allzu große Rolle. Als in einer Umfrage von 1939 Frauen achtzehn Eigenschaften eines künftigen Gatten oder einer Beziehung nennen sollten, rangierte Liebe an fünfter Stelle. Und selbst in den Fünfzigerjahren schaffte Liebe es nicht auf den ersten Platz. Das erinnert mich an meine Tante, die mir, nachdem sie erfahren hatte, dass »es einen Mann in meinem Leben gab«, riet: »Achte bloß darauf, dass er einen Anzug hat, Liebes.« Das hieß im Klartext: Sieh zu, dass er einen anständigen Job hat.

In den Siebzigerjahren begann Liebe in Umfragen dazu, was amerikanische Frauen und Männer sich von einem Partner, einer Partnerin erwarten, an die Spitze zu rücken. Und seit den Neunzigerjahren mit einer riesigen Zahl von Frauen im Berufsleben hat sich die Ehe von einem ökonomischen zu einem »emotionalen Vorhaben« gewandelt, wie der Soziologe Anthony Giddens es nennt. Bei einer Umfrage in den USA gaben 2001 80 Prozent der Frauen in den Zwanzigern an, es sei ihnen wichtiger, einen Mann zu haben, der über seine Gefühle sprechen kann, als einen, der gut verdient. Heute geben Frauen wie Männer üblicherweise an, aus Liebe zu heiraten. Diese Tendenz lässt sich auch weltweit beobachten; wo immer die Menschen nicht finanziellen oder anderen Zwängen unterliegen, wählen sie ihren Partner aus Liebe. Damit sind erstmals in der Geschichte der Menschheit Zuneigung und emotionale Bindung die alleinige Basis für Partnerwahl und Verbindlichkeit gegenüber einem Partner. Diese Gefühle sind nun die primäre Basis für den wichtigsten Baustein jeglicher Gesellschaft: die Familie.

Eine Liebesbeziehung ist nicht nur die intimste Form einer erwachsenen Beziehung, sondern oft auch die wichtigste. Für viele bleibt sie die einzige. Laut der American Sociological Review ist seit Mitte der Achtzigerjahre die Zahl der Amerikaner, die von sich sagen, sie könnten sich nur ihrem Partner anvertrauen, auf 50 Prozent gestiegen. Wir leben in einer Zeit zunehmender emotionaler Isolation und unpersönlicher Beziehungen. Immer häufiger wohnen wir weit weg von fürsorglichen Eltern, Geschwistern, Freunden und der uns unterstützenden Gemeinschaft, in der wir aufgewachsen sind. Und immer häufiger leben wir allein. Gemäß der jüngsten Volkszählung tun das in den USA aktuell über dreißig Millionen, in Vergleich zu gerade mal vier Millionen im Jahr 1950. Wir schuften länger und nehmen weitere Wege zum Arbeitsplatz in Kauf. Wir kommunizieren via E-Mail und SMS. Wir telefonieren mit Computerstimmen, besuchen dank moderner Hologramm-Technik Konzerte von bereits verstorbenen Künstlern (wie etwa des Rappers Tupac Shakur), und bald werden wir uns von virtuellem Personal helfen lassen. Auf den Flughäfen rund um New York City wurde kürzlich der einen Meter achtzig große, Informationen von sich gebende Airport Virtual Assistant, kurz AVA, vorgestellt.

Der zum Thema Einsamkeit forschende John Cacioppo, Psychologe an der University of Chicago, behauptet sogar, dass in der westlichen Welt »soziale Bindung von einer Notwendigkeit zur Nebensache degradiert wurde«. Folglich sind unsere Partner gezwungen, diese Lücke zu füllen. Sie dienen als Geliebte, Familie, Freunde, Dorf und Gemeinschaft. Und die emotionale Bindung ist der einzige Zusammenhalt in dieser lebenswichtigen, einzigartigen Beziehung.

Insofern ist es absolut unerlässlich, das Wesen der Liebe zu verstehen. Eine fortdauernde Unwissenheit kommt gar nicht in Frage. Die Liebe weiterhin als Mysterium zu betrachten, das wir weder begreifen noch kontrollieren können, wäre für die menschliche Spezies so schädlich wie Gift in unserem Wasser. Wir müssen lernen, unsere Liebesbeziehungen zu gestalten. Und heute sind wir dank der Revolution, die sich in den vergangenen zwanzig Jahren in den Sozial- und Naturwissenschaften ereignet hat, zum ersten Mal in unserer Geschichte auch dazu in der Lage.

EINE REVOLUTION

In Merriam-Webster’s Collegiate Dictionary wird der Begriff Revolution definiert als »fundamentale Veränderung in der Art und Weise, wie über etwas gedacht oder wie etwas betrachtet wird: ein Paradigmenwechsel«. Genau das ist im Bereich der Sozialwissenschaften mit der Liebe unter Erwachsenen passiert. Vor zwanzig Jahren galt Liebe noch kaum als respektables Forschungsgebiet. So wenig wie andere Gefühle. Der französische Philosoph René Descartes brachte Gefühle mit unseren niederen animalischen Instinkten in Verbindung und betrachtete sie als etwas, das es zu überwinden galt. Unsere Überlegenheit gegenüber den Tieren sah er in unserer Fähigkeit zur Vernunft begründet. Cogito ergo sum – ich denke, also bin ich – lautet sein berühmtester Ausspruch.

Emotionen sind nicht rational und galten daher als suspekt. Liebe, das irrationalste und daher suspekteste Gefühl von allen, wurde von Wissenschaftlern, den strengsten Rationalisten überhaupt, nicht als geeigneter Gegenstand ihrer Forschung erachtet. Wenn man den thematischen Index von Ernest Hilgards 1993 veröffentlichtem umfassendem historischem Überblick Psychology in America durchsieht, wird man das Wort Liebe vergebens suchen. Junge Wissenschaftler wurden üblicherweise vor dem Thema gewarnt. Ich erinnere mich noch daran, selbst in der Graduate School, wo ich meinen Studienabschluss machte, gehört zu haben, dass Wissenschaft sich nicht mit nebulösen, undefinierbaren Dingen wie Gefühl, Empathie oder Liebe befasst.

Der Begriff Revolution bedeutet natürlich auch »Umsturz«. Sozialwissenschaftlern wurde langsam klar, dass es bei einem Großteil ihrer Arbeit gar nicht um die allgemeinen Probleme und Themen der alltäglichen Lebensqualität ging. So begann in Campuslaboren und wissenschaftlichen Zeitschriften eine stille Bewegung zu entstehen, ohne Aufstand und Pistolenschüsse, die das starre Festhalten an Studien über simples Verhalten und dessen Änderung in Frage stellte. Man vernahm neue Stimmen, und in den Neunzigern waren Gefühle auf einmal legitime Forschungsgebiete. Glück, Trauer, Wut, Furcht – und Liebe – standen plötzlich auf den Agenden akademischer Konferenzen in einer Vielzahl von Disziplinen, von der Anthropologie über die Psychologie bis hin zur Soziologie. Was dabei offensichtlich wurde: Gefühle sind nicht zufällig und sinnlos, sondern logisch und »intelligent«.

Gleichzeitig fingen Therapeuten und andere im Bereich der seelischen Gesundheit Tätige an, ihren Bezugsrahmen im Umgang mit Beziehungsproblemen zu adjustieren. Jahrelang hatte man sich nur auf das Individuum konzentriert, weil man glaubte, jeden seelischen Aufruhr auf die psychischen Probleme der betroffenen Person zurückführen zu können. Wären diese behoben, sollte es auch in der Beziehung besser laufen. Doch so funktionierte es nicht. Selbst wenn der Einzelne begriff, warum er sich so oder anders verhielt, und versuchte, das zu ändern, verschlechterte sich die Liebesbeziehung oft trotzdem weiterhin.

Therapeuten erkannten, dass sich einfach kein vollständiges Bild ergab, wenn man sich nur auf eine Person konzentrierte. Menschen in Paarbeziehungen sind wie in allen anderen zwischenmenschlichen Beziehungen keine abgeschlossene Einheit und agieren auch nicht unabhängig. Vielmehr sind sie Teil einer dynamischen Zweiheit, innerhalb deren die Aktionen der einen Person die Reaktionen der anderen auslösen und verstärken. Man musste also das Paar und den »Tanz« der Individuen miteinander verstehen und ändern, nicht nur ein Individuum allein.

Wissenschaftler begannen, Videoaufnahmen von Paaren zu machen, die von täglichen Verletzungen und Enttäuschungen berichteten, von Streitigkeiten über Geld und Sex, Gezänk über die Kindererziehung. Anschließend studierten sie diese Aufnahmen genauer, suchten nach den kritischen Momenten in der Interaktion, wenn aus der Beziehung ein Schlachtfeld oder eine Einöde wird. Sie hielten auch Ausschau nach Augenblicken, in denen Paare harmonische Übereinstimmung zu erreichen schienen. Und natürlich suchten sie nach Verhaltensmustern.

Interesse an Gefühlen im Allgemeinen und der Liebe im Besonderen wuchs auch unter »harten« Wissenschaftlern, weil technischer Fortschritt alte Instrumente verfeinerte und neue möglich machte. Ein großes Hindernis bei der Erforschung war immer die Frage gewesen: Wie lässt sich etwas so Vages und Vergängliches wie ein Gefühl näher bestimmen? Oder wie schon Albert Einstein beklagte: »Wie um alles in der Welt soll man ein so wichtiges biologisches Phänomen wie die erste Liebe jemals unter den Aspekten von Chemie und Physik erklären?«

Die wissenschaftliche Methode hängt aber nicht nur von Beobachtung und Analyse ab, sondern auch von messbaren, reproduzierbaren Daten. Mit dem Aufkommen sensiblerer Tests und Analysen unternahmen Neurobiologen Vorstöße in die Chemie der Gefühle. Der große Durchbruch erfolgte dann mit dem Aufkommen der funktionellen Magnetresonanztomografie (fMRT). Neurophysiologen entwickelten Experimente, die Einblick in das Gehirn geben und bei denen man Strukturen und Regionen tatsächlich aufleuchten sehen kann, wenn wir Angst haben, glücklich oder traurig sind – oder wenn wir lieben. Vielleicht erinnert sich noch jemand an die Anti-Drogen-Kampagne mit dem Ei, das in einer Pfanne brutzelt, während eine Stimme aus dem Off sagt: »This is your brain on drugs.« (Dies ist dein Gehirn, wenn du Drogen genommen hast.) Inzwischen liegen uns Aufnahmen vor, die man mit dem Satz »Dies ist dein Gehirn, wenn du verliebt bist« kommentieren könnte.

Das Ergebnis all dieser Prozesse war reichlich neues Wissen, das sich zu einem radikalen und aufregend neuen Bild von der Liebe zusammenfügt. Dieses neue Verständnis wirft lang gehegte Überzeugungen hinsichtlich des Sinns und Ablaufs romantischer Liebe ebenso über den Haufen wie unsere Vorstellung vom eigentlichen Wesen des Menschen. Die neue Perspektive ist keine rein theoretische, sondern auch eine praktische, optimistische. Sie erklärt, warum wir lieben, und zeigt, wie wir Liebe leben, sie heilen und erhalten können.

Zu den provokativen Erkenntnissen gehört:

•Der erste und herausragende Instinkt des Menschen ist weder Sex noch Aggression, sondern die Suche nach Kontakt und beruhigender Bindung.

Der Mann, der die Vorstellung davon, was wir heute Zuneigung oder Bonding, also Bindung, nennen, als Erster vertrat, war ein erzkonservativer englischer Aristokrat und Psychiater und bestimmt nicht die Art Mann, der man zutrauen würde, den Code der romantischen Liebesbeziehung zu knacken. Doch der Brite John Bowlby war trotzdem ein Rebell, der das Feld von Liebe und Lieben für immer verändert hat. Seine Einsichten bilden die Grundlage, auf der die neue Wissenschaft von der Liebe basiert.

Bowlby nahm an, dass wir dazu bestimmt sind, ein paar wertvolle Mitmenschen zu lieben, die uns in den Stürmen des Lebens beistehen und uns beschützen. Er sah darin einen Plan der Natur, um den Fortbestand der Spezies zu sichern. Sex mag uns zwar zur Paarung animieren, doch es ist die Liebe, die unsere Existenz sichert. »Indem wir das Leben der oder des Geliebten an unseres binden, können wir über sein Glück wachen, bei Kummer Trost spenden und uns mit Erinnerungen an Entbehrung und Leid die süßesten Quellen der Freude erschließen«, schrieb George Eliot.

Dieses Verlangen nach Bindung ist angeboren, nicht erlernt. Wahrscheinlich entwickelte es sich als Antwort der Natur auf ein kritisches Faktum der menschlichen Physiologie: Der Geburtskanal einer Frau ist zu schmal, als dass Babys mit großem Gehirn und großem Körper hindurchpassen würden, die schon kurz nach der Geburt allein überleben könnten. Stattdessen kommen Menschenkinder klein und hilflos zur Welt und müssen jahrelang ernährt und beschützt werden, bevor sie sich selbst erhalten können. Es wäre demnach einfacher, Neugeborene, die so viel Mühe machen, zu verlassen, anstatt sie aufzuziehen. Was veranlasst einen Erwachsenen, dennoch zu bleiben und die beschwerliche und anstrengende Aufgabe der Elternschaft auf sich zu nehmen?

Die Lösung der Natur bestand darin, in unseren Gehirnen und Nerven ein automatisches System von Reiz und Reaktion zu installieren, das Zuneigung zwischen Kind und Eltern erzeugt. Babys kommen mit einem Verhaltensrepertoire auf die Welt – Anschauen, Lächeln, Weinen, Anklammern, Ausstrecken der Arme –, das bei Erwachsenen Fürsorge und Zuwendung auslöst. Wenn also der kleine Sohn vor Hunger quengelt und seine Händchen nach ihr reckt, nimmt die Mutter ihn auf den Arm und füttert ihn. Und wenn Papa für sein Töchterchen gurrt oder lustige Grimassen schneidet, strampelt das Baby mit den Beinen, rudert mit den Armen und brabbelt zurück. Und so geht es immer weiter in einer Feedback-Schleife, die in beide Richtungen funktioniert.

•Romantische Liebe zwischen Erwachsenen ist eine auf Zuneigung basierende Bindung, genau wie die zwischen Mutter und Kind.

Lange Zeit ging man davon aus, dass wir mit zunehmender Reife dem Bedürfnis nach intensiver Nähe, Fürsorge und Trost, wie wir sie als Kinder von den Menschen erfahren, die sich um uns kümmern, entwachsen. Gleichzeitig vermutete man, dass romantische Bindungen, die wir als Erwachsene eingehen, im Grunde genommen vor allem sexueller Natur sind. Dies ist eine totale Verzerrung erwachsener Liebe.

Unser Bedürfnis, sich auf einen wertvollen anderen Menschen verlassen zu können – das Wissen, dass er oder sie für uns da sein wird, wenn wir nach ihm oder ihr »rufen« –, verschwindet nie. Es besteht, wie Bowlby es formulierte, »von der Wiege bis zur Bahre« fort. Als Erwachsene transferieren wir dieses Bedürfnis lediglich von unseren frühen Versorgern auf den Liebsten oder die Liebste. Romantische Liebe ist daher nicht im Geringsten unlogisch oder zufällig. Sie bedeutet, dass wir uns weiter an ein unverzichtbares und weises Rezept für unser Überleben halten.

Allerdings gibt es einen entscheidenden Unterschied: Unser Partner muss nicht physisch anwesend sein. Für uns Erwachsene ist die greifbare Präsenz des anderen weniger notwendig als für ein Kind. Wir können Bilder, die wir von unserem Partner in unserem Kopf haben, nutzen, um uns mit ihm verbunden zu fühlen. So erinnern wir uns, beispielsweise wenn wir traurig sind, daran, dass unser Partner uns liebt, und stellen uns vor, wie er oder sie uns beruhigt und tröstet. Israelische Kriegsgefangene berichten, dass sie in engen Zellen den beruhigenden Stimmen ihrer Ehefrauen »lauschten«. Der Dalai Lama beschwört für sich Bilder seiner Mutter herauf, wenn er Ruhe und Gelassenheit bewahren möchte. Ich habe die ermutigenden Worte meines Mannes im Kopf, wenn ich eine Bühne betrete, um einen Vortrag zu halten.

•Heißer Sex führt nicht zu einer stabilen Liebesbeziehung; eher führt eine stabile Bindung zu heißem Sex – und auch zu dauerhafter Liebe. Monogamie ist kein Mythos.

Schon auf dem Cover jeder beliebigen Frauen- und Männerzeitschrift findet man schreiende Statements wie: VERFÜHREN SIE IHN! DIESES SEXY OUTFIT WIRKT AUF JEDE ENTFERNUNG! 28 TRICKS FÜRS BETT … ODER DIE HÄNGEMATTE … ODER DEN FUSSBODEN. SEX-SCHULE: SO BRINGST DU SIE SICHER ZUM ORGASMUS. Aus Unkenntnis haben wir körperliche Intimität zur absoluten Bedingung romantischer Liebe gemacht. Und wenden daher kurzsichtig Unmengen von Energie und Geld auf, um unser Sexualleben aufzupeppen. Dabei gehen wir die Sache eigentlich verkehrt herum an: nicht guter Sex führt zu befriedigenden, stabilen Partnerschaften, sondern es ist die zuverlässige Liebe, die guten – genau genommen: den besten – Sex mit sich bringt. Der zunehmende Hype um Pornografie im Internet ist für gesunde Liebesbeziehungen eine Katastrophe, weil dabei emotionale Bindung negiert wird.

Die Natur hat uns für stabile Zuneigung empfänglich gemacht, damit Liebe von Dauer ist. Vertrauen hilft uns über schwierige Phasen hinweg, die es in jeder Beziehung gibt. Außerdem sind auch unsere Körper dafür gemacht, eine Fülle von Chemikalien zu produzieren, die uns eng an unsere Liebsten binden. Monogamie ist also nicht nur möglich, sondern der von der Natur für uns vorgesehene Zustand.

•Emotionale Abhängigkeit ist weder unreif noch pathologisch. Sie ist unsere größte Stärke.

Abhängigkeit ist in der westlichen Gesellschaft verpönt. Schon lange besteht man darauf, dass es zum gesunden Erwachsensein gehört, emotional unabhängig und autark zu sein. Im Grunde genommen sollen wir einen emotionalen Burggraben um uns ziehen. Wir reden davon, dass man sich von den eigenen Eltern trennen und lösen muss, als Zeichen emotionaler Stärke. Dabei sind sie unsere ersten geliebten Menschen. Misstrauisch beäugen wir Partner, die zu viel Zusammengehörigkeit demonstrieren. Wir sagen, sie seien zu involviert, zu eng oder zu abhängig voneinander. Folglich schämen sich heutzutage Frauen und Männer für ihr natürliches Bedürfnis nach Liebe, Trost und Bestärkung. Sie sehen eine Schwäche darin.

Dabei ist es auch hier eigentlich umgekehrt. Eine starke emotionale Bindung ist ein Zeichen seelischer Gesundheit, nicht eines von Schwäche. Der Killer ist emotionale Isolation. Der sicherste Weg, um einen Menschen zu zerstören, besteht darin, ihm liebevolle Zuwendung zu verweigern. Schon früh ergaben Studien, dass zwischen 31 und 75 Prozent der Kinder in Anstalten vor ihrem dritten Geburtstag starben. Jüngere Untersuchungen über adoptierte rumänische Waisenkinder, die bis zu zwanzig Stunden täglich ohne Ansprache in ihren Gitterbetten verbracht hatten, zeigten, dass viele von ihnen an Hirnanomalien litten, nur eingeschränkt logisch denken konnten und extreme Schwierigkeiten hatten, Beziehungen zu anderen einzugehen.

Erwachsene können ebenso geschädigt werden. In Einzelhaft gehaltene Gefangene entwickeln eine ganze Reihe von Symptomen, darunter Paranoia, Depressionen, schwere Angstzustände, Halluzinationen und Gedächtnisverlust. Betroffene berichteten, sie hätten sich wie »lebende Tote« gefühlt. Lisa Guenther, Philosophiedozentin an der Vanderbilt University und Autorin von Solitary Confinement: Social Death and Its Afterlives, schreibt dazu: »Wenn wir einen Gefangenen in Einzelhaft isolieren, enthalten wir ihm die Unterstützung anderer vor, die für ein kohärentes Erfahren der Welt unerlässlich ist.«

Die Vorstellung, dass wir es auch allein können, steht im Widerspruch zur Natur. Wir sind in der Hinsicht wie andere Lebewesen – wir brauchen die Bindung zu anderen, um zu überleben. Das lässt sich auch deutlich an einer Vielzahl von Kombinationen über Speziesgrenzen hinweg ablesen: In Thailand adoptiert eine Tigerin Ferkel, in China säugt eine Hündin Löwenbabys, in Kolumbien bemuttert eine Katze ein Eichhörnchen, in Japan trägt ein Wildschwein ein Affenjunges auf seinem Rücken, und in Kenia beschützt eine männliche Riesenschildkröte ein durch einen Tsunami verwaistes Nilpferdjunges.

Auch wir leben, wie es in einem keltischen Sprichwort heißt, im Schutz voneinander. Historiker fanden heraus, dass die beste Einheit, um in den Konzentrationslagern der Nationalsozialisten zu überleben, das Paar war, nicht das Individuum. Studien zeigen auch, dass verheiratete Männer und Frauen im Durchschnitt länger leben als gleichaltrige Singles.

Wir brauchen emotionale Bindung zum Überleben. Die Neurowissenschaft beweist, was wir tief in unseren Herzen vielleicht schon immer wussten: dass die liebevolle Verbindung zwischen zwei Menschen stärker ist als unser grundlegender Überlebensmechanismus: die Angst. Wir brauchen Beziehungen auch, damit es uns gut geht. Denn wir sind wirklich gesünder und glücklicher, wenn wir Nähe und Bindung spüren. Beständiger emotionaler Zuspruch wirkt blutdrucksenkend und stärkt das Immunsystem. Es scheint dadurch sogar die Sterblichkeitsrate bei Krebs, Herzerkrankungen und Infektionen zu sinken. Dass Patienten, die einen Bypass erhalten, fünfzehn Jahre nach der OP noch leben, ist bei Verheirateten dreimal so wahrscheinlich wie bei Unverheirateten. Der Psychologe Bert Uchino von der University of Utah nennt eine gute Beziehung das beste Rezept für gute Gesundheit und das wirksamste Anti-Aging-Mittel. Zwanzig Jahre Forschung an Tausenden von Probanden ergaben, dass die Qualität unserer sozialen Beziehungen Vorhersagen zur Sterblichkeit im Allgemeinen wie auch zur Sterblichkeit aufgrund von spezifischen Krankheiten, etwa Herzproblemen, erlaubt.

Im Bereich der seelischen Gesundheit ist eine enge Beziehung der stärkste Indikator für Glück und Zufriedenheit, viel eher als ein lukrativer Job oder ein Lottogewinn. Sie senkt auch die Anfälligkeit für Angstzustände und Depressionen erheblich und stärkt unsere Widerstandsfähigkeit gegen Stress und Traumata. Überlebende des 11. Septembers 2001, die liebevolle Beziehungen zu anderen hatten, erholten sich deutlich besser als jene ohne. Achtzehn Monate nach der Tragödie zeigten Erstere deutlich weniger Anzeichen einer Posttraumatischen Belastungsstörung und litten seltener an Depressionen. Ihre Freunde beurteilten sie als reifer und sogar gefestigter als vor dem Unglück.

•»Das Beste in uns« können wir nur dann zum Vorschein bringen, wenn wir uns eng mit jemand verbunden fühlen. Splendid Isolation, glanzvolle Einsamkeit, ist etwas für Planeten, nicht für uns Menschen.

Wie Charles Darwin mit seiner Liste von Vorbehalten gegen die Ehe halten auch viele von uns die Liebe für eine Einschränkung, die unsere Optionen und Erfahrungen limitiert. Dabei ist genau das Gegenteil der Fall. Eine stabile Beziehung ist die Startrampe für uns, wenn wir nach draußen gehen, das Unbekannte erforschen und als Menschen wachsen wollen. Denn es fällt schwer, offen für neue Erfahrungen zu sein, wenn unsere Aufmerksamkeit und Energie von der Sorge um unsere Sicherheit aufgezehrt werden. Um wie viel leichter fällt das, wenn wir wissen, dass jemand hinter uns steht. Auf diese Weise gestärkt sind wir erfüllt von Vertrauen in uns selbst und in unsere Fähigkeit, mit neuen Herausforderungen zurechtzukommen. So sind beispielsweise berufstätige junge Frauen, die ihren Partnern emotional nahestehen und von ihnen Bestätigung erfahren, erfolgreicher beim Erreichen von Karrierezielen. Es klingt fast paradox, aber es macht uns unabhängiger, wenn wir abhängig sind.

•Wir sind nicht von Natur aus selbstsüchtig, sondern mitfühlend. Gefühle für andere sind uns angeboren.

Von Geburt an haben und erheben wir einen Anspruch auf Liebe, die zugleich unsere größte Stärke und wichtigste Quelle von Kraft und Glück ist. Unterstützung zu suchen und zu gewähren, das ist für den Menschen von so vitaler Bedeutung, dass wir nach Ansicht der Sozialpsychologen Mario Mikulincer und Phil Shaver eigentlich nicht Homo sapiens, also wissender Mensch, heißen sollten, sondern Homo auxiliator vel accipio auxilium – Mensch, der hilft oder Hilfe erhält. Um es noch genauer auf den Punkt zu bringen, wäre mein Vorschlag Homo vinculum – Mensch, der sich bindet.

Die Erkenntnis, dass unsere Partner angesichts von Unbeständigkeit und Unbill des Lebens quasi ein sicherer Hafen sind, hat uns auch neue Einsichten dazu geliefert, was Liebesbeziehungen scheitern und bestehen lässt. Jahrelang haben wir alle uns nur darauf konzentriert, was zu sehen und zu hören war. Sei es Streit über Geld: »Du gibst ein Vermögen für Schuhe aus, die du nicht brauchst.« »Du willst immer nur sparen. Wir leben wie Geizkrägen, und das macht überhaupt keinen Spaß.« Oder Auseinandersetzungen über Schwiegereltern: »Ständig hängst du mit deiner Mutter am Telefon und erzählst ihr haarklein alles, was wir sagen und tun.« »Du bist immer noch Papis Liebling. Wann wirst du endlich erwachsen?« Auch Unstimmigkeiten in der Kindererziehung: »Dann hat er seine Hausaufgaben gestern eben nicht gemacht. Er hat auch immer zu viel auf. Und du bist zu streng und ein Kontrollfreak.« »Und du bist zu nachsichtig. Er hat keinerlei Disziplin. Du würdest ihn sogar als Mörder noch verteidigen.« Und die Enttäuschung beim Sex: »Du hast mich betrogen. Wer weiß, wie oft schon! Du bist so ein Lügner!« »Das hätte ich sicher nicht, wenn du offener dafür wärst, mal was Neues auszuprobieren, oder öfter mit mir schlafen würdest. Außerdem hat es mir sowieso nichts bedeutet.«

Ein Sonntag auf der Insel La Grande Jatte Walzer in As-Dur

Im Gegensatz dazu steht im Zentrum glücklicher Beziehungen das ausgeprägte Vertrauen darauf, dass die Partner einander wichtig sind und zuverlässig reagieren, sobald sie gebraucht werden. Eine sichere Liebe ist wie ein offener Kanal für den Austausch emotionaler Signale in beide Richtungen. Liebe ist ein Prozess, in dem man sich ständig aufeinander einstellt, eine Bindung eingeht, Signale vermisst und missversteht, auf Distanz geht, repariert und die Bindung weiter vertieft. Es ist genaugenommen ein Tanz, bei dem man sich begegnet, trennt und wiederfindet, von Minute zu Minute, von Tag zu Tag.

Inzwischen haben wir den Code der Liebe geknackt. Wir wissen jetzt, wie eine gute Liebesbeziehung aussieht und sich anfühlt. Und was noch besser ist: Wir können sie prägen. Zum ersten Mal besitzen wir so etwas wie eine Landkarte, die uns Orientierung gibt, wenn wir Liebe erzeugen, heilen und erhalten wollen. Das ist ein unvergleichlicher Durchbruch. Endlich lässt sich dieses – um es mit Benjamin Franklin zu sagen – »wechselhafte, flüchtige und zufällige« Phänomen der romantischen Liebe vorhersehbarer, stabiler und bewusster gestalten.

Der zweite Ansatz ist ein praktischer. Dabei sollen Paare lernen, effektiver miteinander zu kommunizieren – »Hören Sie zu und wiederholen Sie, was Ihr Partner gesagt hat.« Oder man zeigt ihnen, wie sie strittige Themen, vom Sex bis zur Hausarbeit, verhandeln können – »Du übernimmst das Staubsaugen, dafür putze ich das Bad.« Oder sie bekommen Tipps zur Verbesserung ihres Sexuallebens – »Bringen Sie Blumen oder scharfe Dessous mit und probieren Sie Stellungen aus dem Kamasutra.« All diese Methoden können sich als hilfreich erweisen, aber nur für begrenzte Zeit. In der Liebe geht es nicht darum, wie ein Papagei nachzusprechen, das Staubsaugen zu regeln oder sexuelles Neuland zu betreten. Beschränkt man sich auf solche praktischen Tipps, ist das so, als würde man versuchen, einen gebrochenen Damm mit dem Finger zuzuhalten oder eine klaffende Wunde mit einem Pflaster zu verschließen.

Letztlich sind diese Maßnahmen ineffektiv, weil sie sich nicht auf den Ursprung der Beziehungsprobleme richten: die Furcht vor dem Verlust der emotionalen Bindung. Wenn wir wissen, wie etwas funktioniert, ist es viel leichter zu reparieren und instand zu halten. Bevor wir dieses grundsätzliche Verständnis nicht hatten, konnten wir nichts anderes tun als herumdoktern und versuchen, einen Teil der Beziehung zu kitten, in der Hoffnung, Vertrauen und liebevolle Bindung würden sich irgendwie wieder einstellen. Die neuesten wissenschaftlichen Erkenntnisse zeigen uns dagegen einen klaren Weg zu unserem Ziel auf.

EFTEFT

EFT

EFT

EXPERIMENT

Schritt 1

Rufen Sie nach dieser Person oder nicht? Vielleicht sagen Sie sich selbst, dass es eine schlechte Idee wäre, ein Zeichen von Schwäche, ein Eingeständnis, das nur zu Verletzung und Enttäuschung führen würde. Vielleicht kommen Sie zu dem Schluss, dass es nicht gut ist, sich auf einen anderen zu verlassen, und dass Sie mit Ihrem Problem selbst fertigwerden müssen. Also suchen Sie in der Dunkelheit allein nach einem Versteck. Vielleicht rufen Sie doch, aber nur sehr zögernd, bevor Sie sich in eine dunkle Ecke kauern.

Oder kommt die Person zwar, wendet sich aber wieder ab, leugnet Ihr Problem, ermahnt Sie, Ihre Gefühle besser zu kontrollieren, oder kritisiert Sie sogar, sodass Sie zwar versuchen, sich an ihr aufzurichten, aber nur noch verzweifelter werden, weil Sie das Gefühl haben, sie habe Sie nicht richtig gehört, verstanden oder sei einfach unzuverlässig?

Schritt 2

Fassen Sie in ganz einfachen Sätzen zusammen, was in dem Fantasie-Szenario passiert ist. Schreiben Sie sich die einzelnen Punkte auf. Was verrät Ihnen dieses Experiment über Ihre Erwartungen an eine Beziehung? Unsere Erwartungen und Vermutungen darüber, wie der andere auf uns reagieren wird, lenken unsere Schritte bei jedem Tanz mit einem geliebten Partner. Sie bestimmen unsere ganz persönliche Liebesgeschichte.

Wenn Sie noch ein wenig intensiver darüber nachdenken, können Sie vielleicht sogar Ihre grundsätzliche Einstellung zu Liebesbeziehungen formulieren.

Schritt 4