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KAKANISCHE KONTEXTE
Reden über die Mitte Europas

Kakanische Kontexte

Reden über die Mitte Europas

Herausgegeben von
Peter Becher

 

 

 

 

 

OTTO MÜLLER VERLAG

Gefördert von der Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien aufgrund eines Beschlusses des Deutschen Bundestags.

 

 

 

 

 

www.omvs.at

ISBN 978-3-7013-1216-0
eISBN 978-3-7013-6216-5

© 2014 OTTO MÜLLER VERLAG, SALZBURG – WIEN

Alle Rechte vorbehalten

Satz: Tomislav Helebrant, München

Druck und Bindung: Druckerei Theiss GmbH, A-9431 St. Stefan

Coverfoto: Jürgen D. Rudolf, jdr-foto.at

Inhalt

Peter Becher

Von der Vielstimmigkeit der mitteleuropäischen Kultur

Ernst Trost (Wien)

Doppeladler-Perspektiven. Geschichten von einer lebenslangen Spurensuche

Christoph Stölzl (Weimar)

Mein Österreich – Bioskop und Kaleidoskop

Karl-Markus Gauß (Salzburg)

Reisen zurück und voraus: Wie ich die Donaumonarchie entdeckte

György Konrád (Budapest)

Fluvialismus – Philosophie langsamen Dahinrinnens. Von der Donaumonarchie

Dževad Karahasan (Sarajevo)

Die Verwirrungen eines alten Bosniers. Alte und neue Fragen an Kakanien

Karl Schlögel (Berlin)

Als Wien Mittelpunkt der Welt war

Isabel Röskau-Rydel (Krakau)

„… eine papinische Maschine der österreichischen Monarchie …“? Überlegungen zur Wahrnehmung Galiziens in Vergangenheit und Gegenwart

Radoslav Katičić (Zagreb)

Kakanien im Rückblick eines kroatischen Nachgeborenen

Jacques Le Rider (Paris)

Kakanien, verhasst und verhöhnt, solang es bestand, verklärt, als es in Trümmern lag

Elena Mannová (Bratislava)

Ein höchst verwickeltes Erbe. Bilder und Repräsentationen der Habsburgermonarchie im 20. und 21. Jahrhundert

Die Autoren

Von der Vielstimmigkeit der mitteleuropäischen Kultur

 

Je näher die hundertsten Jahrestage rücken, die an die Schüsse von Sarajevo (1914) und den Untergang der Donaumonarchie (1918) erinnern, umso größer wird der Resonanzraum einer medialen Erregung, die in Sarajevo, Zagreb/Agram und Ljubljana/Laibach ebenso zu spüren ist wie in Wien, Prag und Budapest.

Kakanien, wie Robert Musil die Donaumonarchie ironisch bezeichnete, die kaiserliche und königliche Monarchie mit dem zweifachen „k“, wurde immer wieder als Völkerkerker verdammt oder als Völkerhimmel verherrlicht. Bis in die Gegenwart haben diese Bilder polarisierend gewirkt, obwohl die Donaumonarchie beides war, okkupierend, kolonisierend, unterdrückend, aber auch modernisierend, bildend und rechtsprechend. Stärker als die Ausprägung dieses Gegensatzes verwundert der ausschließende Charakter der Zuordnung, der Purismus der Wahrnehmung, der keine Mischungen kennt, keine Übergänge und auch nicht den Möglichkeitssinn, den Musil der scheinbar unwandelbaren Konsistenz der Realität entgegensetzte.

Grund genug, Persönlichkeiten aus Bosnien, Deutschland, Frankreich, Kroatien, Österreich, Polen, Ungarn und der Slowakei (die stellvertretend für die Staaten Mitteleuropas stehen mögen) einzuladen und um die Vorstellung ihrer Sicht auf Musils Kakanien, den Untergang der Donaumonarchie, die Nachfolgestaaten und die weitere Entwicklung bis zur Osterweiterung der Europäischen Union zu bitten:

Ernst Trost erinnert an seine kakanische Spurensuche, die vor genau 50 Jahren begann, 1964, als sich die Schüsse von Sarajevo zum 50. Mal jährten und ehemalige k. u. k. Offiziere, Adjutanten, Diener, Kutscher und Büchsenspanner noch lebten, die in den Tauwetterjahren vor der Niederschlagung des Prager Frühlings bereit waren, von ihren Erinnerungen zu erzählen. Christoph Stölzl und Karl-Markus Gauß folgen den „Songlines“ ihrer mährischen und donauschwäbischen Familien und kehren aus der kakanischen Vergangenheit nicht nur mit dem Reichtum unzähliger Geschichten, sondern auch mit einem Großvaterkoffer voll wertloser Geldscheine und dem Plädoyer für eine gemeinsame europäische Erzählung zurück.

György Konrád spricht von der Mitteleuropa-Diskussion der 1980er Jahre, die sich gegen die radikale Gleichmachung „zweier homogener militärisch-politischer Blöcke“ richtete. Er stellt das „fruchtbare Verbundensein“ der „Donau-Anrainervölker“ dagegen und gibt zu bedenken, wie sehr Nationalstaaten „aus der Sicht der Donau ein vergängliches Phänomen“ darstellen. Dževad Karahasan wägt die Vor- und Nachteile der Habsburg-Okkupation Bosniens seit 1878 ab und schildert nicht ohne Ironie das Auftauchen der „Koferaši“, der Koffermenschen, die als „moderne Nomaden“ ihrer Tätigkeit in Bosnien nur befristet nachgingen, bevor sie zu neuen Aufgaben weiterzogen.

Karl Schlögel weist auf das „Hervortreten eines dritten Europas“ nach der Aufhebung der Blöcke und spürt dem Phänomen nach, dass Imperien wie die Donaumonarchie untergehen, ihre Zeichensysteme aber fortbestehen, im Farbton des Schönbrunner Gelbs ebenso wie in der Architektur ärarischer Bauten, in Bahnhöfen, Gerichten, Gefängnissen, Museen, Gymnasien und Universitäten. Isabel Röskau-Rydel begibt sich an die östliche Peripherie der Monarchie und beschreibt die Geschichte des Kronlandes Galizien, das aus der Ersten Polnischen Teilung (1772) hervorging, eine „künstlich geschaffene Region“, in der die polnische Führungsschicht jahrelang darauf warten musste, dass der galizische Landtag und die polnische Amtssprache wieder zugelassen wurden, ohne dass die polnisch-ruthenischen Konflikte gelöst werden konnten.

Radoslav Katičić beschreibt, wie schlecht die Lage Kroatiens vor 1918 war, das zur transleithanischen (ungarischen) Reichshälfte zählte, wo die Schaffner in allen Zügen nur ungarisch sprachen. Trotzdem sei Kakanien ein unausgesprochener Maßstab geblieben, nicht zuletzt, weil es ein nachwirkendes Heimatempfinden erzeugte, das noch im Zweiten Weltkrieg in Zagreb zu dem Ausruf führen konnte, dass „unser Klagenfurt“ bombardiert worden sei. Der Verlust Kakaniens sei am deutlichsten am Verlust der „Ganzheit des weiteren Raumes“ spürbar geworden. Aber Kakanien nachtrauern: nein! Jacques Le Rider geht von der verbreiteten Anti-Europa-Stimmung der Gegenwart aus und fragt, ob Kakanien angesichts der Entwicklung der europäischen Gesellschaften zu „multikulturellen, hybriden Milieus“ nicht ein „lehrreiches Untersuchungsfeld“ für die EU sei. Die Supranationalität sei beides gewesen: „Überlebenslüge des dualistischen Vielvölkerstaates“, aber auch „Potential der inneren Pluralisierung der Identitätsmuster“. Und Elena Mannová macht deutlich, wie abhängig die historiographischen Bilder der Donaumonarchie von den jeweiligen „Interessen des nationalen Emanzipationsprozesses“ und den „staatspolitischen Bedingungen“ waren und wie sehr der „Erinnerungsort“ Kakanien nicht nur ein „ideologischer Kampfplatz“ unterschiedlicher Deutungen ist, sondern auch ein „Produkt der Tourismusindustrie“.

Die Reden, die zwischen Autobiographie, Essay und geschichtlicher Darstellung changieren, vermitteln einen Eindruck von der Vielschichtigkeit der mitteleuropäischen Kulturwelt, die voller Überraschungen ist, ihr Klangraum, ihre Farbigkeit, ihre Stilvielfalt, ein überaus wertvoller Beitrag zur gesamteuropäischen Kultur, deren Wahrnehmung im Bewusstsein vieler Westeuropäer bis heute auf sich warten lässt.

Die Idee zur Durchführung der Kakanischen Kontexte entwickelte sich in Gesprächen mit Herbert Schaden vom ORF Wien, Otfried Kotzian, dem langjährigen Direktor des HDO in München, und Jozo Džambo, meinem bosnischen Kollegen. Bei der Durchführung arbeitete der Adalbert Stifter Verein mit der Österreichisch-Bayerischen Gesellschaft zusammen, dessen Präsidenten Carl Paul Wieland ebenso herzlich gedankt sei wie den Moderatoren einzelner Abende, Anna Knechtel und Wolfgang Sréter. Erinnert sei auch an die Privatissima mit den Rednern, an denen sich Jochen Bloss, Srećko M. Džaja, Bertold Flierl, Michael Frank, Verena Nolte, Jana Osterkamp, Renata SakoHoess, Roland Renger und Margarethe Sedlmeyer beteiligten. Sie alle haben zum Gelingen und zur Abrundung der Abende beigetragen, zum Gelingen der Publikation Franziska Mayer mit ihrem Lektorat und Christine Niedermaier vom Otto Müller Verlag in Salzburg.

Peter Becher
München, im April 2014

Ernst Trost (Wien)

Doppeladler-Perspektiven

Geschichten von einer lebenslangen Spurensuche

 

Es war einer jener unvergesslichen römischen Abende am Petersplatz, an diesem denkwürdigen 16. Oktober 1978. Hunderttausend schrien auf und klatschten in die Hände, als die Scheinwerfer den weißen Rauch aus dem dunklen Abendhimmel zerrten. Und dann dauerte es noch lang, bis Kardinal Felici von der Loggia des Domes das „Habemus papam“ verkündete. Weil er um die korrekte Aussprache des Namens Wojtyła bemüht war, klang es wie „Woitiua“, und die erste Reaktion mancher Italiener in der Menge war „un africano“ oder zumindest „un straniero“, ein Fremder, ein Ausländer, und schließlich „un polacco“. Viele waren zuerst wohl etwas enttäuscht, mir schien es wie ein Wunder, dass der Erzbischof von Krakau als der neue Papst aus dem Konklave hervorgegangen war. Gleich suchte ich nach seinem Jahrgang – 1920, also leider nicht mehr im alten Österreich geboren, aber sein Vater hatte es in der k. u. k. Armee vom Rechnungsunteroffizier 1915 zum Militär-Evidenzbeamtenaspiranten gebracht und war damit Angehöriger des Offizierskorps gewesen. Eigentlich wollte dieser Karl Wojtyla nach zwölf Dienstjahren zum zivilen k. k. Staatsbeamten werden, aber da kam der Krieg dazwischen. Kurz nach der Papstwahl hatte man im Wiener Kriegsarchiv bereits die Wojtyla-Akten mit dem Urteil: „ist jeder Bevorzugung würdig“ ausgegraben. Sein Sohn, obwohl in tiefster Seele dem Polentum verhaftet, war sicherlich vom mitteleuropäischen Erbe der Donaumonarchie geprägt. Und dazu hat sich Johannes Paul II. auch bekannt. Die ganze Lebenssphäre, in der der junge Karol aufwuchs, war ja von einem Hauch von k. u. k. durchweht. Das ist eben jenes Kakanische, dieser altösterreichische Sinn für Ordnung und Ehrlichkeit, für eine verlässliche Verwaltung, und auch ein gewisser Geist der Toleranz und des Verständnisses für die Eigenheiten der unter zwei Kronen und dem Doppeladler vereinten bunten Völkerschar.

Übrigens, nicht nur der Papst aus Polen, auch mehrere italienische Päpste der Neuzeit hatten Bindungen zum Habsburgerreich: Pius X., Giuseppe Sarto, wurde 1835 im venezianischen Riese als Sohn eines Briefträgers im Dienst der österreichischen Post geboren. Auch Pius XI. kam 1857 noch als Untertan Kaiser Franz Josephs im lombardischen Desio zur Welt. Die Eltern Johannes’ XXIII. hatten in Bergamo unterm Doppeladler gelebt, und die Großeltern Albino Lucianis, Papst Johannes Pauls I., waren bis 1866 im Veneto österreichische Staatsangehörige.

Ja, wenn man einmal dieser Suche nach den Spuren des Doppeladlers verfallen ist, dann wird man überall fündig. Darum war es für mich fast eine automatische Reaktion, an dem historischen Abend am Petersplatz gleich nach austriakischen Wurzeln des neuen Papstes zu fragen. Der zutiefst kakanische Schriftsteller Friedrich Torberg (Der Schüler Gerber, Die Tante Jolesch) spricht vom „inneren Doppeladler“, jenem „persönlichen, sentimentalen Attachement, der wehmutsvollen Sehnsucht nach etwas unwiederbringlich Verlorenem, jenseits von Besser oder Schlechter, jenseits aller Politik, ja wohl sogar jenseits der Vernunft …“ So schrieb er’s 1965 in seinem wunderbaren Vorwort zu meinem Buch Das blieb vom Doppeladler. Und er hatte dabei vor allem die ehemaligen Kronländer unter Sichel und Hammer vor Augen. Viele Menschen, die unter der kommunistischen Gleichschaltung litten, klammerten sich an ihre kakanischen Erinnerungen. Die Habsburgermonarchie verklärte sich für sie zur „guten alten Zeit“, selbst wenn sie oder ihre Väter früher einmal in leidenschaftlichem Nationalismus zu ihrer Zerstörung beigetragen hatten. Neben der Religion, in die sich viele flüchteten, bauten sie sich oft eine historische Traumwelt auf, um dem tristen sozialistischen Alltag wenigstens mit Hilfe ihrer Erinnerungen zu entrinnen. Und manche Junge entdeckten die Relikte einer untergegangenen Lebens- und Staatsform, die zur Utopie wurde, romantisch, ja exotisch. Im Frühwinter 1964 auf meiner Reise auf der Suche nach „K. u. k. im Schatten des Kremls“, wie ich mein Kapitel über die Teile Galiziens und der Bukowina unter dem Sowjetregime nannte, traf ich in Czernowitz, heute Tschernowzy, eine junge Intouristführerin, Larissa, eine Russin, die in Kasachstan aufgewachsen und erst vor nicht allzu langer Zeit nach Czernowitz geraten war. Und sie kam da in eine ihr völlig fremde Umgebung, in eine intakte altösterreichische Kulisse, die für sie wie von einem anderen Kontinent war. Klug und interessiert, wie sie war, fand Larissa Kontakt zu alten, echten Czernowitzern, die ihr von früher erzählen konnten. Und war dann glücklich, dass sie plötzlich einen Österreicher vor sich hatte, der ähnliche Fragen stellte wie sie. So brachte sie mich mit den richtigen Leuten zusammen. Dabei hieß es zuerst meist: „Haben Sie Verwandte hier?“ Denn dass jemand nur um Czernowitz’ willen hierher geriet, konnte sich damals kaum einer vorstellen. Inzwischen ist die nunmehr ukrainische Hauptstadt der Bukowina längst so etwas wie ein Wallfahrtsort für Doppeladlersucher geworden. Und auch die heutigen Czernowitzer wissen die k. u. k. Vergangenheit ihrer Stadt zu pflegen und gut zu vermarkten. Sogar Otto von Habsburg war hierher gereist, um das Ehrendoktorat der Universität in Empfang zu nehmen, im prunkvollen maurisch-byzantinischen Rahmen der einstigen Residenz des griechisch-katholischen Erzbischofs. Übrigens, eine Standardfrage vieler Alter zwischen Donau und Adria, Pruth und Moldau auf meinen Recherchetouren war immer wieder: „Was ist eigentlich mit Otto, gibt’s den noch?“ Dann kam noch: „Und was ist mit dem Wiener Prater?“ Und mancher fügte hinzu: „Als Kind war ich einmal dort.“ Gerade aus Czernowitz und Galizien wurden zu Beginn des Ersten Weltkriegs Massen von Flüchtlingen nach Wien deportiert. Bis heute noch berichten die Uralten von diesem Kaiserstadt-Erlebnis. Sie sind dort zur Schule gegangen oder haben studiert. Und so manchen kommen Tränen, wenn sie davon reden. Dabei war ihr Los alles andere als rosig.

Auf der Suche nach einer doch nicht so ganz verlorenen Zeit musste ich zuerst bei mir selber anfangen und den in meinem Unterbewusstsein nistenden Doppeladler wieder flügge machen. Wie der Sohn eines Auswanderers, der zum ersten Mal in die Heimat der Eltern kommt, so spürt man als Österreicher in den Ländern der Monarchie irgendetwas Vertrautes, etwas von den Geschichten der Großmutter, die sie einem vor dem Einschlafen erzählt hat, von den Dialekten und Akzenten der älteren Generation, die unser Wachsen behütete. Man riecht die Speisen, deren Rezepte in so vielen österreichischen Haushalten in sorgfältig mit der Hand kurrent geschriebenen Kochbüchern überliefert werden. Ich komme aus der Obersteiermark, bin in Graz aufgewachsen und in Wien heimisch geworden. Meine Großmutter väterlicherseits unterhielt mich mit ihren Kindheitserinnerungen aus Mährisch-Ostrau oder von der reichen Tante Gusti in Brünn. Sie konnte Tschechisch wie Deutsch, und als sie in Fünfkirchen einmal als Erzieherin bei den Kindern eines Bergwerk-Direktors arbeitete, lernte sie Ungarisch. Ihr Mann war im burgenländischen Lockenhaus geboren, als es noch zu Ungarn gehörte. Der Vater meiner Mutter stammte aus Kärnten und hatte einen slowenischen Namen. Und meine Tanten in Seckau lebten dort im Umkreis der Benediktinerabtei. Sie waren alle tief katholisch. In ihren Geschichten thronte der Kaiser von Gottes Gnaden immer noch über uns, überirdisch, magisch, die Verkörperung alles Guten in einer bösen Welt. Als ich in meiner Schulzeit die durchaus freundliche Franz-Joseph-Biographie Jean Bourgoings in die Hand bekam, war ich zuerst schockiert darüber, was sich an diesem edlen Habsburgerhof so alles zugetragen hatte und dass diese scheinbar unantastbare Gestalt des alten Kaisers doch aus einer etwas kritischeren Perspektive betrachtet werden konnte. In den 1950er Jahren, als Student und junger Journalist, hielt sich mein Interesse an dieser Welt von gestern und vorgestern jedoch in Grenzen. Ich wollte den goldenen Westen entdecken, war von London fasziniert, wäre am liebsten gleich in New York geblieben und ließ mich von Paris gefangen nehmen. Als dort auf den großen Boulevards die Massen vor den Kinos für die Sissi-Filme anstanden, hatte ich dafür nur ein arrogantes Lächeln übrig; mich begeisterten die Werke der Nouvelle-Vague-Regisseure und Ingmar Bergmans. Erst als sich Jahre später meine Kinder vor dem Fernseher von Romy Schneider, Karlheinz Böhm und Ernst Marischka verzaubern ließen, wurden mir Wesen und Wirkung dieses perfekten K.-u.-K.-Recyclings bewusst. Aber in jenen Jahren wurde die Rückbesinnung auf die Donaumonarchie und deren kommerzielle Auswertung große Mode. Mit welcher Distanz hatten wir Jungen zuerst doch auf die Prachtbauten der Ringstraße geschaut, doch jetzt begriffen wir endlich, dass dieser Historismus nicht nur alte Stile kopiert hatte, sondern selber zu einem eigenen Stil geworden war, das perfekte Abbild der Zeit, die ihn kreiert hat.

Ich selber verdanke dieses Heimfinden nach Kakanien vor allem meinem Verleger Fritz Molden. Im Frühjahr 1963 nahm ich drei Monate Auszeit von der Kronen-Zeitungs-Redaktion, um das Abenteuer einer Wahlkampagne zu bestehen. Als Protest gegen die Erstarrung Österreichs im Proporzkorsett der schwarzroten Koalition stellten Fritz und sein Bruder Otto Molden Franz Kimmel, einen honorigen pensionierten Gendarmeriegeneral, der das KZ Dachau überstanden hatte, bei der Bundespräsidentenwahl als Kandidaten auf – gegen den amtierenden Adolf Schärf von der SPÖ und den todkranken Staatsvertragskanzler Julius Raab von der ÖVP. Und Fritz Molden engagierte mich als Pressesprecher. Im Bewusstsein, keinen politischen Schaden anrichten zu können, ließ ich mich auf dieses Unternehmen ein, ahnungslos, was ich dabei alles zu tun haben würde. Es war eine phantastische Lehrzeit, und dabei erwuchs auch eine echte Freundschaft mit Molden. Wir brachten es auf 170 000 Stimmen, ich erhielt noch eine Prämie, und damit wollte ich mir vierzehn Tage Venedig gönnen. Als ich mit Fritz beim Heurigen darüber redete, fing er plötzlich an, von der Adria zu schwärmen, von Istrien und Dalmatien, von Abbazia, Spalato und Ragusa – heute Opatija, Split und Dubrovnik –, und von der Familie seiner Mutter Paula von Preradović, der Dichterin der österreichischen Bundeshymne. Ein Onkel, einst k.u.k. Marineoffizier, war Admiral der königlichen jugoslawischen Marine, und Molden hatte als Kind am Meer herrliche Ferien verlebt. Nun schwelgte er in bunten Erinnerungen an diese für ihn immer noch lebendige Melange von venezianischem Erbe, dalmatinischem Seefahrer- und Piratengeist und altösterreichischer Marine-Tradition. „Da müsst ihr hinfahren, das müsst ihr kennenlernen“, beschwor er uns, und ich darauf: „Warum fahren Sie denn nicht mit uns?“ Und so geschah’s – in seinem schnittigen Mercedes-Cabrio und weiter mit dem Schiff. Für mich, den Binnenländer, war es wie ein Wunder – Österreich am Meer, das hatte es also gegeben, und trotz aller Wandlungen, trotz Tito war immer noch einiges davon zu spüren und auch zu sehen. Ich war vom Doppeladler-Bazillus befallen – und wieder in Wien redete ich Hans Dichand, meinem Chef, für die Kronen Zeitung eine Serie ein, eben „Österreich am Meer“. Ein paar Monate später war ich wieder unterwegs zwischen Triest und Pola.

Ein halbes Jahr danach, der 2. Mai 1964, er wurde zu einem schicksalhaften Tag. Wir waren zum Wochenende in Moldens Landhaus südlich von Wien. Da erreichte uns am späten Nachmittag die traurige Nachricht, dass mein erst 59 Jahre alter Vater in Graz überraschend gestorben sei. Bevor wir am nächsten Morgen, einem Sonntag, aufbrachen, wollte ich noch gern zur Messe. Fritz fuhr mit mir über die Dörfer, um eine Kirche mit Gottesdienst zu suchen. Unterwegs kamen wir irgendwie auf das Doppeladler-Thema. Und Fritz sagte: „Du musst ein Buch schreiben.“ Sein Verlag war noch nicht einmal ein Jahr alt, und er suchte ständig Themen und Autoren. Wenn ich wieder in Wien sei, sollten wir konkret darüber reden. Ende Mai fuhr ich nach Sarajevo – 50 Jahre nach dem Attentat auf Franz Ferdinand und seine Gemahlin Sophie –, für die Zeitung und natürlich auch für das Buchprojekt. Von da an tourte ich neben meiner Redaktionsarbeit bis zum Sommer 1965 durch die Kronländer oder saß an meiner Schreibmaschine, einer guten alten Olivetti Lettera. Und so mancher hat mich damals gefragt: „Was willst Du eigentlich damit, das ist doch ein alter Hut, das interessiert doch niemanden mehr.“ Auch wenn ich manchmal mutlos war, an mir selber zweifelte und verzweifelte, was ließ sich doch alles aus diesem abgetragenen Hut hervorzaubern.

Diese Arbeit wurde zu einem unschätzbaren Lernprozess. Ich war ja kein Monarchiespezialist. Vielleicht sind meinen in harten Journalistenjahren trainierten Reporteraugen dadurch so manche Besonderheiten aufgefallen, die für den wirklichen Kenner selbstverständlich waren. Knapp über 30, hatte ich mich als einer der ersten einer jüngeren Generation dieses Themas angenommen. Das war wohl einer der Gründe dafür, dass Das blieb vom Doppeladler dann so gut ankam. Und auch das Torberg-Vorwort war äußerst hilfreich. Denn dadurch haben sich in allen großen Zeitungen die richtigen Leute für dieses Werk eines Unbekannten interessiert und wunderbare Rezensionen geschrieben.

Mein Blickwinkel war nicht durch Erinnerungen und fixe Vorstellungen beeinträchtigt. Dieses Alte war für mich neu, eine aufregende Erfahrung voller Erkenntnisse und Entdeckungen. Als wichtigster Führer zur Seele dieses von so vielen Nationalismen belasteten übernationalen Gebildes diente mir neben Doderer, Musil oder Hofmannsthal Joseph Roths Radetzkymarsch. Für Bosnien las ich Ivo Andrić, nach Prag reiste ich mit Kafkas Prozeß, Hašeks Schwejk und Geschichten von Urzidil in der Tasche. Für Galizien und die Bukowina hatte ich Karl Franzos, aber auch einen Unterhaltungsromancier wie Rudolf von Eichthal. Für Triest Italo Svevo und so weiter und so weiter. Und dann muss ich all den vielen Menschen danken, die mir, dem Fremden, Vertrauen schenkten, ihre Herzen öffneten und oft Dinge aus dem Gedächtnis kramten, die sie glaubten schon verdrängt und vergessen zu haben. Der Strom der Geschichte ist viel zu oft über sie hinweggegangen. Und dass Wien wieder einmal so nah sein würde und ihre Enkel und Urenkel fast unter einem gemeinsamen Dach mit uns leben könnten – wie sie selbst früher einmal –, das war noch eine unvorstellbare Utopie. Aber die Sehnsucht danach wurde schon zu Zeiten Chruschtschows und Titos, Kadars und Novotnýs, Gheorghiu-Dejs, und Gomułkas genährt in Agram und Budapest, in Prag, Brünn und Pressburg, in Czernowitz, Hermannstadt, Krakau oder Lemberg. Auch wenn sie das Ziel ihres Sehnens nicht genau kannten oder nicht zu definieren wagten. Es sei „ein unbestimmtes Gefühl“, schrieb ich damals, „halb ererbt, halb visionär. Man wird seiner nur gewahr, wenn man sich den Menschen vorstellt und sagt: ‚Ich komme aus Wien‘. Dann öffnen sich die Arme und die Türen wie auf höheren Befehl. Sie sagen ‚Willkommen‘ wie zu einem Verwandten, dem sie lang nicht mehr die Hand gedrückt haben. Sie setzen den Kaffeetopf auf den Herd und sagen: ‚Ist gefällig?‘“ Ob es heute auch noch so ist? Die Umgangsformen haben sich geändert, und viele haben auch die negativen Seiten des goldenen Westens kennengelernt. Wir sind kein Objekt des Staunens mehr oder gar der Bewunderung. Aber trotz aller Veränderungen ist in weiten Teilen Europas, von Italien bis nach Polen und zur Ukraine, die Grenze des Habsburgerreiches unverkennbar, deutlich sichtbar, ein Schnitt durch die Länder auch ohne offizielle Grenzfunktion.

Überall werden heute Grenzen abgebaut; doch welche Auswirkungen diese nur noch fiktiven historischen Grenzen heute noch haben, sollte eine wissenschaftliche Untersuchung des Regensburger Osteuropa-Instituts von 2010 klären: das Ergebnis: Fast ein Jahrhundert nach dem Untergang des Habsburgerreichs ist diese Grenze weiter existent – als lebendiges Andenken an die Donaumonarchie. Man nehme nur die Haltung der Bürger gegenüber staatlichen Einrichtungen auf lokaler Ebene. In der trockenen Sprache der Wissenschaftler liest sich das so: „Unsere Ergebnisse zeigen, dass das Habsburger Reich in der Tat noch heute in den kulturellen Normen und in der Interaktion der Bürger mit den staatlichen Institutionen sichtbar ist. Vergleicht man Personen auf beiden Seiten der ehemaligen Habsburger Grenze, so haben die Menschen in Orten, die auf früher habsburgischem Gebiet leben, ein signifikant höheres Vertrauen in Gerichte und Polizei.“ Und sie seien auch viel weniger bereit, im Umgang mit diesen lokalen Diensten Bestechungsgelder zu zahlen. Die Regensburger Forscher sprechen vom Habsburg-Effekt, der durch die „lange anhaltenden positiven Erfahrungen im Umgang zwischen Bürgern und Staatsvertretern“ wirksam geworden sei. Er beeinflusst das Verhältnis der Bürger zur Verwaltung oder Obrigkeit bis heute, nicht zuletzt auch dank einer in den Familien von Generation zu Generation gepflegten „Erinnerungskultur“, die in vielen Regionen die habsburgische Zeit in rosarotem Licht erscheinen lässt.

Diese Studie bestätigt also nach fast einem halben Jahrhundert und gewaltigen Umwälzungen in der Region meine persönlichen Erfahrungen, wie ich sie damals zusammenfasste: „Die Grenzen der habsburgischen Donauländer wurden in den Atlanten gelöscht. Für den, der sie sehen will, bestehen sie jedoch immer noch, ohne Rücksicht auf Machtverteilung und soziale Ordnung. Die Früchte der Erziehungs- und Verwaltungstätigkeit jener kaiserlicher und königlicher Beamten aus den so verschieden gearteten Kronländern, Komitaten und Provinzen erwiesen sich als dauerhafter denn der Staat, der das alles überhaupt erst ermöglicht hatte. Die Verwalter der Konkursmasse, die mit Räumen und Völkern jonglierten und glaubten in einem Jahr Null zu stehen, wurden jedoch enttäuscht: eine tiefe Narbe zieht sich quer durch ihre Länder, die sichtbare Grenze der lenkenden Hand des Kaisers.“

Um eine solche ausgediente Grenze, die längst keine mehr ist, zu erleben, wollte ich in der ukrainischen Bukowina von Czernowitz aus eigentlich nach Podwolotschiska, der legendären Grenzstation zum Zarenreich. Das hätte jedoch eigens in meinem Visum stehen müssen, so erhielt ich wenigstens einen Propusk für Nowosielitza, wo früher eine österreichische Zollwache und eine Gendarmeriekaserne die Grenze zu Russland sicherten. Zwei Kriege haben vom Alten wenig übrig gelassen, aber auf „unserer“ Seite im nächsten Dorf Richtung Czernowitz blitzten wieder jene so vertrauten gelben Mauern zwischen niedrigen Bauernhäusern auf: eine Schule aus Kaisers Zeiten. So wie tausend andere zwischen Adria und Weichsel, die noch immer ihren Dienst tun. Die Wände sind stumm. Dennoch verkünden sie: Hier war Österreich.

Diese innere Spaltung mancher Nachfolgestaaten wirkt sich heute jedoch auch politisch aus. Nehmen wir nur die Ukraine. Wenn es nach der Westukraine, der ehemals österreichischen Osthälfte Galiziens ginge, dann hätte Janukowitsch keine Chance. Wir sagen Lemberg, die Polen Lwów, die Russen Lwow und die Ukrainer Lwiw. Ich war 1959 mit einer Reisegruppe von Leningrad, Moskau und Kiew kommend dort, unmittelbar nach der Öffnung der Stadt für westliche Touristen. Und wir wurden auf der Straße bestaunt, umringt und angeredet, oft jiddisch, und nicht nur die Fassaden strahlten Heimisches aus, auch die Älteren kramten in ihrem kakanischen Memoirengut. 1964 sagte mir dann ein ukrainischer Sprachwissenschaftler: „Wie wir Ukrainer, wir Ruthenen zu den Österreichern stehen? Wir hatten nicht zu klagen. Wir wurden nicht unterdrückt. Sicher, um etwas zu erreichen, mussten wir kämpfen. Die Österreicher haben auch geschickt die verschiedenen Nationalitäten gegeneinander ausgespielt, in Galizien die Polen bevorzugt und in der Bukowina die Rumänen. Aber man hat nie versucht, uns eine fremde Kultur aufzuzwingen, unsere Eigenart zu zerstören. Die Österreicher haben es verstanden, uns zu behandeln.“ Eine wesentliche Institution ukrainischer Identitätsstiftung war und ist die unierte, also mit Rom verbundene griechisch-katholische Kirche. Unter den Sowjets sollte sie liquidiert werden, doch jetzt blüht sie wieder und ist ein Hort ukrainischer Kultur, Sprache und Nationalbewusstseins. Und nirgends wird heute des militanten Widerstands gegen die Sowjetisierung durch die noch lange nach 1945 in Kämpfe mit der Roten Armee und KGB-Einheiten verstrickte Partisanenbewegung leidenschaftlicher gedacht als in Lemberg. Bei meinem letzten Besuch marschierten ordensgeschmückte Veteranen auf und sangen vor einem modernen Heldendenkmal ihre Kriegslieder. Und von einer in irgendeiner Weise wieder mit Russland verbundenen Ukraine wollen die wenigsten Lemberger etwas wissen. Sie blicken lieber nach Westen als nach Osten.

Doch zurück zur Grenze. Man kann an so einer Grenze auch gründlich durcheinandergeraten. Ich wollte nach Županja an der Save, dort ist noch ein Tschardak erhalten geblieben, einer jener hölzernen Wachtürme, wie sie auf hohen Pfählen im Abstand von zwei Kilometern, also in Schussweite, die Militärgrenze zum osmanischen Reich gesäumt hatten. Weil ich weder Auto noch Führerschein hatte und habe, zwängte ich mich in einen überfüllten Bummelzug und stieg an einer winzigen Station an der Save aus, weil sich alle aus dem Waggon drängten. Aber da war kein Anschlusszug, und es schüttete erbärmlich. Die Masse der Menschen schob sich hinunter zum Ufer zu einer primitiven Fähre. Mir war klar, dass am anderen Ufer Bosnien war. Aber was sollte ich tun, ich fuhr eben mit. Und dabei kam ich mit einem Studenten, der ein wenig Deutsch konnte, ins Gespräch. Er lud mich drüben, im moslemischen Städtchen Orašje, gleich in das Haus seiner Familie ein. Und dort musste ich auch übernachten. In meinem Buch schilderte ich diese Begegnung ausführlich. Jahre vergingen. Und irgendwann nach 1992 rief mich in Wien auf einmal die Schwester des Studenten an. Der Bürgerkrieg hatte sie aus Orašje vertrieben. Wir trafen uns; wenn ich mich recht erinnere, sprach sie deutsch und englisch. Ich konnte ihr ein paar Kontakte knüpfen, und bald war sie selber bei der Flüchtlingshilfe der Gemeinde Wien tätig. Der Bruder, inzwischen Ingenieur, kam bald nach. Sie sind jedoch längst wieder in Bosnien. Orašje liegt heute in der Republika Srpska. Und der Ingenieur hat sich im moslemischen Landesteil eine neue Existenz aufgebaut.

In den neuen Balkankriegen der 1990er Jahre flammten fast die gleichen Nationalitätenkonflikte auf, wie sie bereits die Monarchie erschüttert hatten. Die alten Grenzen wurden plötzlich Anlass zu blutigem Gemetzel. Zu den gefürchtetsten Truppen der österreichischen Armee im 18. und 19. Jahrhundert gehörten die Granitschari, die wilden Krieger von der Militärgrenze. 1690 hatte der serbisch-orthodoxe Patriarch Arsenije 37 000 Familien aus dem türkischen Kosovo ins habsburgische Südungarn, das heißt über die Save nach Kroatien geführt. Sie wurden am Sicherheitskordon zum osmanischen Reich als Wehrbauern angesiedelt und standen samt ihren Familien unter militärischem Kommando. So bildeten sie die Vojna Krajina, die vielgerühmte Militärgrenze, einen lebenden Wall gegen die Türken. Doch als Kroatien seine Unabhängigkeit erklärte, riefen ihre Nachkommen unter der Regie Belgrads 1991 die Republik Serbische Krajina aus – für alle Serben auf kroatischem Boden. Denn im Geiste der durch den Zerfall Jugoslawiens wieder aufblühenden großserbischen Idee sollte überall dort, wo serbische Gräber waren, auch Serbien sein. In grausamen Kämpfen vertrieben sie mit Hilfe der von Belgrad entsandten Tschetniks zuerst die katholischen Kroaten. Und als die Kroaten auf einmal die stärkeren waren, wurden die meisten Krajina-Serben zu Flüchtlingen. Erst nach Jahren kehrten viele wieder zurück an die „Grenze“, und es dauert noch, bis der Hass zwischen den Völkern überwunden ist und aus dem Nebeneinander in einem zur EU gehörigen Kroatien vielleicht doch einmal ein normales Miteinander wird. Ob es unter dem europäischen Dach gelingt? Das gemeinsame Haus der Donaumonarchie haben die Völker ja selber gesprengt.

Im Herzen Agrams ist der wichtigste Platz einem Mann gewidmet, der in den Revolutionsjahren 1847/48 mit seinen Kroaten, eben Grenzern, unter denen natürlich viele Serben waren, zu einem Retter der Habsburgerherrschaft wurde: Banus Joseph Graf Jelačić. Vom Kommandanten des Oguliner Regimentes brachte er es zum Feldzeugmeister und Maria-Theresien-Ritter – und wurde zum Nationalhelden der Kroaten. Hoch zu Ross schwingt er seinen Säbel über das Marktgetriebe, und die Spitze ist in Richtung Budapest gerichtet. Vergeblich hatten sich die Kroaten als Lohn für Jelačić’ Kriegstaten die Unabhängigkeit von den ungarischen Oberherren erhofft. Das 1868 errichtete Monument wurde zum Symbol ihres Strebens nach Selbständigkeit. Doch für Tito war Jelačić das „Schwert der Reaktion“, und das Denkmal wanderte in den Keller. Als ich 1965 die kroatische Hauptstadt besuchte, musste ich mich erst um eine Erlaubnis bemühen, das Depot der Glyptothek in einer ehemaligen Lederfabrik am Stadtrand zu besichtigen. Ich entdeckte den Helden in einer dunklen Ecke „neben außer Dienst gestellten Marmorjungfrauen“, wie ich notierte, „in alle seine Gussteile zerlegt, der Körper des Pferdes separat, die Säbelhand in einer leeren, vergeblichen Geste gegen die Decke des finsteren Raumes gereckt, so wartet der große Krieger darauf, dass ihm die Geschichte das so mühsam erworbene Recht auf Unsterblichkeit eines Tages wieder zuspricht.“ Habe ich damals wirklich daran geglaubt, oder ist es mir nur um eine schöne Formulierung gegangen?

Denkmäler haben ein zähes Leben. In Schloss Kiscell, auf einem der Hügel über der Budapester Donau, durfte ich in einem sonst verschlossenen Kellerraum einen Blick auf die bronzene Elisabeth tun und gleich daneben auf Franz Joseph als ungarischen König und noch ein paar andere habsburgische Verwandte, die das Geschichtsbild der Genossen störten. Elisabeth erhielt noch unter den Kommunisten ihren Platz unter der Donaubrücke, die immer ihren Namen trug. Franz Joseph aber konnte das für ihn bestimmte leere Podest in der Reihe magyarischer Geschichtsgrößen auf dem Heldenplatz beim Stadtwäldchen erst nach der großen Wende einnehmen.

Das eindrucksvollste Sissi- oder Ersebet-Monument ist jedoch Gödöllö, ihr ungarisches Lieblingsschloss – 1867 nach dem historischen Ausgleich mit den Magyaren wurde es den Majestäten als Zeichen der Versöhnung von der ungarischen Nation geschenkt. Und die Königin verlebte dort glückliche Zeiten. Von der Anlegestelle der Kreuzfahrtschiffe direkt neben der Elisabethbrücke karren heute Busse die Passagiere hinaus aus der Stadt zu dem barocken Kleinod. Ein Sissi-Museum und alles, was sonst noch zur Vermarktung der Geschichte gehört, erwarten sie dort. Als ich 1965 mit dem Vorortzug in Gödöllö ankam, hieß es im Park zuerst einmal: „Photographieren verboten!“ In den Wirtschaftsgebäuden waren Sowjetarmisten einquartiert, und die Stallungen dienten ihnen als Garagen. Noch heute erinnern kyrillische Inschriften an die Präsenz der Russen. Im Schloss selber war ein Altersheim. Im ehemaligen Festsaal spielte eine greise Klavierlehrerin mit zitternden Händen Chopin, und alte Damen dämmerten in viel zu tiefe Fauteuils versunken vor sich hin. Noch als ich zwanzig Jahre später für meine Doppeladler-TV-Serie dort drehte, bot sich uns dasselbe Bild, untermalt von Chopinklängen. Nichts hatte sich geändert, wir konnten die von mir im Buch beschriebene Szene filmen, ohne irgendetwas arrangieren zu müssen. Auch die Russen waren noch da. Das war der konservierenden Kraft eines erstarrten Systems zu verdanken. Nach dessen Zusammenbruch ist Gödöllös glanzvolle Vergangenheit wiedererweckt worden, allerdings in musealer Form, und dank der Touristenströme hoffentlich gewinnbringend.

Noch zu Kadars Zeiten bestaunte ich im Friedhof nahe dem Schloss eine schlichte Elisabeth-Statue. Das Denkmal war in der Nachkriegszeit verschwunden und 1964 wieder ausgegraben, restauriert und in aller Stille aufgestellt worden, allerdings auf einem wesentlich niedrigeren Sockel als früher einmal.

Ganz woanders war ich in den 1970er Jahren dabei, wie im friaulischen Cormòns mit einem bunten Volksfest die Statue Kaiser Maximilians I. wieder aufgestellt wurde. Die Italiener hatten sie nach dem Ersten Weltkrieg in ein Museum verbannt, und es war das Verdienst des Movimento Mitteleuropeo, dass der Habsburger wieder dort stehen durfte, wo er hingehörte. Denn Cormòns verdankt ihm sein Stadtrecht. Und diese Mitteleuropa-Bewegung? Sie hat in der Provinz Görz und anderen einst habsburgischen Gebieten Oberitaliens die immer noch bestehenden Bindungen zum alten Österreich genutzt, um die einstige Gemeinschaft mit den Nachbarn in Kärnten und Slowenien und den anderen Völkern der Monarchie wieder zu beleben, und damit gleichzeitig die Eigenart Friauls gegenüber Rom zu betonen und friaulische Sprache und Traditionen zu bewahren. Unabhängig davon wurde von Intellektuellen, Schriftstellern und Künstlern in den Ostblock-Staaten diese Mitteleuropa-Idee instrumentalisiert, als geistige Waffe im Kampf um mehr Freiheiten und größere Offenheit über alle ideologischen Schranken hinweg. Dazu gehörte auch eine objektive Beschäftigung mit der gemeinsamen Geschichte unter dem Doppeladler. In Friaul aber, eben in Cormòns, kommen seit Jahren am 18. August Tausende Menschen aus der ganzen Region zusammen, um Kaiser Franz Josephs Geburtstag zu begehen. Und der Anlass ist viel bunter und fröhlicher als etwa die alljährliche Kaiserfeier in Bad Ischl.