Nr. 2750
Aufbruch
Das neue Fernraumschiff der Terraner startet – auf der Suche nach Perry Rhodan
Uwe Anton
Pabel-Moewig Verlag GmbH, Rastatt
Seit die Menschheit ins All aufgebrochen ist, hat sie eine wechselvolle Geschichte hinter sich: Die Terraner – wie sich die Angehörigen der geeinten Menschheit nennen – sind längst in ferne Sterneninseln vorgestoßen. Immer wieder treffen Perry Rhodan und seine Gefährten auf raumfahrende Zivilisationen und auf die Spur kosmischer Mächte, die das Geschehen im Universum beeinflussen.
Im Jahr 1516 Neuer Galaktischer Zeitrechnung steht die Milchstraße seit nunmehr zwei Jahren unter dem Einfluss des Atopischen Tribunals. Seine Angehörigen behaupten, im Rahmen der »Atopischen Ordo« für Frieden und Sicherheit zu sorgen.
Welche Auswirkungen die Atopische Ordo haben kann, erfährt Perry Rhodan in der Galaxis Larhatoon. Sie ist die Heimat der Laren – und auch diese stehen unter der Herrschaft der Atopischen Richter. Aber womöglich lassen sich in Larhatoon Informationen finden, die helfen, das Tribunal wieder zu vertreiben.
In der Milchstraße wird eine Rettungsmission für Perry Rhodan vorbereitet – kein Geringerer als sein ältester Freund und Weggefährte Reginald Bull hat daran maßgeblichen Anteil. Und so kommt es zum AUFBRUCH ...
Reginald Bull – Der Unsterbliche übernimmt das Kommando.
Iblan Goster – Ein Terraner an Bord eines Posbi-Schiffes.
Sune Lerront – Ein Künstler mit scharfem Blick.
Attilar Leccore – Der TLD-Chef macht Maske.
Gucky – Der Mausbiber hadert mit seinen Fähigkeiten.
An Bord der BOX-33781
8. November 1516 NGZ
Iblan Goster betrachtete das irrwitzige Ballett am Rand des Sonnensystems. Es war ein stiller Tanz mit Raumschiffen und Waffen, mit wahnsinnigen Geschwindigkeiten und Beschleunigungen.
Die Schiffe der Menschen rasten mit halber Lichtgeschwindigkeit dahin, alle technischen Geräte aufs Höchste ausgereizt, jederzeit bereit, in den Hyperraum zu springen. Ihre Geschütze waren feuerbereit, die Schutzschirme flammten.
Der terranische Verbindungsoffizier saß wie erstarrt vor dem Holo. Sein Blick sog sich an der Bewegung der Raumschiffe fest, die in der dreidimensionalen Darstellung wie winzige Kugeln wirkten, wie Spielzeuge, die er mit einem Fingerschnippen bewegen konnte. Er sah die Pulks der Terraner, und er erblickte in relativer Nähe die Cluster der Onryonen, die in den letzten Wochen Tausende von Schiffen aufgeboten hatten, um die Heimat der Menschheit zu belagern.
»Was würde jetzt Perry Rhodan tun?«, fragte er sich halblaut. Aber Rhodan war weit weg, vielleicht in Gefangenschaft, vielleicht auf der Flucht.
Goster spürte, wie sich Schweißtropfen auf seiner Stirn bildeten und über sein Gesicht hinabflossen. Sie brannten in seinen Augen. Obwohl seine Ausbildung ihn auf so eine Situation vorbereitet hatte und ihm klar gewesen war, dass sich solch ein Einsatz früher oder später nicht mehr vermeiden ließ, hatte er Angst. Und mit jeder Minute, die verstrich, wurde diese Angst stärker.
Er fühlte sich nicht sicher. Nicht an Bord des Fragmentraumers, erst recht nicht in dieser Umgebung.
Die BOX-33781 war eigentlich ein zuverlässiges Schiff. Ein großes Schiff, das sich durchaus mit einer LFT-BOX vergleichen ließ, einem Omni-Ultraschlachtschiff der QUASAR-Klasse für multiplen Einsatz. Die Posbi-Raumer bildeten mit etwa 400.000 Einheiten das Hauptkontingent der Galaktischen Kampfflotte.
400.000 Schiffe! Eine Streitmacht mit einer unglaublichen Vernichtungskraft.
Aber die BOX war auch ein unheimliches Schiff, zumindest für einen Menschen – ein bizarrer Würfel mit 3000 Metern Kantenlänge und zahllosen Auswüchsen und Aufbauten, mit Türmchen, Auslegern, schwenkbaren Antennen, asymmetrischen Plattformen und Kuppeln.
»Eine solche BOX ist auch nicht für Menschen gedacht, sondern für Posbis«, murmelte Goster. Humanoide Sauerstoffatmer fühlten sich an Bord eines solchen Schiffes unwillkürlich fehl am Platz. Wenn Iblan Goster die Zentrale der BOX verließ, musste er den SERUN schließen. Außerhalb dieses eng begrenzten Raums gab es keine für ihn atembare Atmosphäre, keine hinreichende Wärme, keinen akzeptablen Druck. Es wunderte ihn, dass die Posbis das Herz der BOX mit Sauerstoff geflutet und geheizt hatten, um einigermaßen annehmbare Bedingungen für ihn zu schaffen. Sie hatten am Rand der Zentrale eigens für ihn einen kleinen Raum eingerichtet, mit einem Bett, auf dem er schlafen, und einer Nasszelle, in der er seine Notdurft verrichten und sich frisch machen konnte.
Noch unsicherer kam ihm die Umgebung vor, zumindest unter diesen Umständen. Der Fragmentraumer hielt sich an der Peripherie des Solsystems auf, außerhalb des Kristallschirms, der die acht Planeten und ihre Sonne vor dem Zugriff der Onryonen schützte. Um den Schirm hatten sich zwölf Onryonen-Cluster mit jeweils etwa 5000 Raumschiffen postiert.
60.000 Schiffe, die den systemumspannenden Schutzschirm aber nicht angriffen.
Goster hatte trotz der immensen Entfernungen zwischen den Clustern den Eindruck, dass sich mindestens eine dieser Schiffsballungen in Kernschussweite zur BOX-33781 befand.
Auch zahlreiche Schiffe der Galaktiker hatten außerhalb des Kristallschirms Position bezogen. Weit gefächert, um nicht so leicht angegriffen werden zu können, und bereit, jeden Augenblick die Flucht zu ergreifen. Sie führten diesen stummen Tanz auf, den er beobachtete, dieses irrwitzige Ballett, das von ihren Positroniken perfekt inszeniert wurde.
Die Einheiten der Onryonen hingegen hielten sich zurück. Sie blieben auf ihren Positionen, fast unbewegt, mit einer stoischen Ruhe, die Gosters letzte Hoffnung war. Sobald sie den Fehdehandschuh aufnähmen, sich entschlössen, den Tanz der terranischen Einheiten nicht mehr zu dulden, würde eine schreckliche Raumschlacht entbrennen.
Aber noch verzichteten sie auf direkte Feindseligkeiten, und die LFT-Einheiten taten es ihnen gleich. Es herrschte auf beiden Seiten eine Art gespanntes Abwarten, eine Spannung, die sich beim geringsten Zwischenfall in Gewalt entladen konnte.
In der Tat ließen die Onryonen die meisten Raumschiffe, die ins Solsystem einflogen oder es verließen, völlig unbehelligt. Das galt vor allem für die Einheiten aus dem Arkon-System, von denen Tag für Tag etliche eintrafen. Die Arkoniden mussten notgedrungen ihre Heimat verlassen, das Baag-System, wie die Onryonen es nun nannten. Viele zog es nach Terra, genauer nach Neu-Atlantis.
Es war undenkbar, dass die Onryonen diese Schiffe angriffen. Sie hatten diesen Exodus befohlen. Wenn sie nun Auswandererschiffe angriffen, würde ein Aufschrei durch die Milchstraße gehen. Die Stimmung würde sich dann unwiderruflich gegen die Onryonen richten. Sie wollten die Atopische Ordo durchsetzen, in der die künftige Aufteilung der Milchstraße festgelegt worden war. Die Arkoniden befolgten lediglich die Anweisungen der neuen Macht in der Heimatgalaxis. Wenn sie nun Schiffe angriffen, die auf ihr Geheiß unterwegs waren ...
Undenkbar, dachte Goster.
Die ständige Anspannung ließ seinen Magen revoltieren. Der Terraner hatte das Gefühl, dass Bauch und Gedärme sich zu einem kleinen Ball zusammengezogen hatten, der sich in unregelmäßigen Abständen sprunghaft ausdehnte. Dann wurde jedes Mal Magensäure die Speiseröhre hinaufgepumpt. Der SERUN reagierte zwar schnell auf die starken Anfälle von Sodbrennen, doch irgendwie bekam er sie mit seiner Medikation nicht in den Griff.
Das war dem SERUN in all den Jahren nicht gelungen, die Goster schon als Verbindungsoffizier zu den Posbis tätig war. Wie lange war es her, dass er sich für diese Aufgabe freiwillig gemeldet hatte? Damals war ihm das neue Betätigungsfeld sehr attraktiv vorgekommen. Kampfeinsätze waren selten, die Flotte der Posbis mit etwa 400.000 Schiffen riesig. Es war ihm unwahrscheinlich erschienen, jemals in ein Gefecht zu geraten.
Damals hatten allerdings keine Onryonen das Solsystem belagert.
»Keine Gefahr«, murmelte Goster vor sich hin. »Es besteht keine Gefahr.«
Toellner-828 drehte den Kopf, der auf einem 25 Zentimeter langen, biegsamen Hals aus golden schimmernden Metallgliedern saß, in seine Richtung. »Wie meinen?«, fragte der Posbi, der sich als Sprecher des Plasmakommandanten vorgestellt hatte.
»Nichts«, sagte Goster peinlich berührt. »Ich führe Selbstgespräche. Terraner tun das manchmal.«
»Ist bekannt.« Der Posbi drehte den Kopf zurück zu den Holos. Seinen Körper bildete ein knapp einen Meter großes Ei, das etwa einen halben Meter über dem Boden schwebte. Sechs unterschiedlich geformte Tentakel aus goldfarbenem Metall entsprossen ihm.
Goster hatte sich noch keine Meinung gebildet, welchem Zweck sie dienten. Er schaute ebenfalls zu den Holos, die eigens für ihn geschaffen, aber in einer für ihn völlig verwirrenden Anordnung in der großen Zentrale angebracht waren. Manche bildeten sich mehrere Meter voneinander entfernt, andere hingegen überlappten einander, doch nur, bis er genauer hinsah. Dann wiederum schienen sie deutlich voneinander getrennt gebildet worden zu sein.
Es war verwirrend und für seine Sinne nicht genau erfassbar. Doch die Posbis hatten nicht die geringsten Schwierigkeiten damit. Vielleicht, weil sie die relevanten Daten sowieso über Funk austauschten.
Etwa dreißig Posbis hielten sich in dem großen Raum auf. Keiner sah aus wie der andere. Ihre Körper waren rein zweckmäßig gestaltet, nicht nach ästhetischen Merkmalen.
Goster fiel etwas in den Holos auf. »Siehst du? Es passiert schon wieder.«
»Ich bestätige deine Beobachtung.«
Mehrere Dutzend Onryonenschiffe traten soeben in der Nähe des Clusters, in dessen Kernschussweite sich die BOX-33781 befand, aus dem Linearraum. Sie bremsten ab. Die Nahortungsinstrumente der BOX erfassten sie jedoch und verfolgten sie weiterhin, auch wenn sie sich mit beträchtlicher Geschwindigkeit von dem Posbiraumer entfernten.
Iblan Goster verfolgte gespannt, wie sämtliche Onryonenschiffe Linearraumtorpedos entluden. Es mussten Hunderte sein. Die Ortungsgeräte der BOX kamen mit dem Zählen kaum nach, die Zahlen in den Datenholos nahmen zu.
Kaum hatten die Onryonenraumer ihre Ware ausgeschleust, beschleunigten die Torpedos und traten in den Linearraum ein. Auch die Raumschiffe gingen wieder in den Überlichtflug.
Es war nicht das erste Mal, dass Goster diesen Vorgang beobachtete. Er hatte sich in den letzten Stunden etliche Male wiederholt. Etwas dagegen unternehmen konnte keine der LFT-Einheiten. Die Operationen der Onryonen erfolgten zu schnell, um wirksam eingreifen zu können.
»Es ist genug«, sagte Toellner-828. »Wir handeln nun.«
»Und wie?«, fragte Goster.
*
Weitere Onryonenschiffe tauchten im Normalraum auf und entluden ebenfalls Linearraumtorpedos. Toellner-828 ordnete umgehend an, dass die Beiboote sich von dem Fragmentraumer trennten und Fahrt aufnahmen.
Goster beobachtete, wie die Beiboote sich von der BOX-33781 entfernten. Es waren insgesamt zehn jeweils grob würfelförmige Einheiten mit 150 Metern Kantenlänge. 600 von ihnen waren gleichmäßig an die Außenseiten des Fragmentraumers angekoppelt, pro Seite also 100. Der Verlust würde sich in Grenzen halten.
Dass es einen Verlust geben würde, war Goster klar.
»Der Plasmakommandant hat unbemannte Beiboote ohne Plasmazusatz ausgewählt«, erklärte der Posbi. »Wir opfern kein Leben.«
Die ausgeschleusten Torpedos gingen unbehelligt in den Linearraum und verschwanden von den Holos. Sekunden später folgten ihnen die zehn Beiboote.
Nun galt es zu warten. Die Onryonen hatten ein Flugverbot für den Linearraum verhängt. Sie konnten und würden es mit den Torpedos durchsetzen. Sie waren die stärkste Waffe des Atopischen Tribunals, soweit bekannt. Die Torpedos waren auf bisher unbekannte Weise imstande, Schiffe im Linearraum aufzuspüren und zu vernichten. Früher war die Flucht in den Linearraum während einer Kampfhandlung die letzte Möglichkeit gewesen, der Vernichtung zu entgehen. Diese Option bestand nun nicht mehr. Der Linearraum hatte seine Funktion als sicherer Zufluchtsort eingebüßt.
Die Terraner arbeiteten daran, die Torpedos auszuhebeln. Goster hatte als Verbindungsmann zu den Posbis einige Informationen bekommen, die der Allgemeinheit nicht zur Verfügung standen: Forschungen, die einen Schutz vor den onryonischen Linearraumtorpedos bieten sollten, liefen angeblich auf Hochtouren. Sichu Dorksteiger, die Chefwissenschaftlerin der LFT, machte wohl Fortschritte, seit ihr der von Monkey erbeutete Torpedo zur Verfügung stand. Offiziell gab es allerdings bisher kein spruchreifes Ergebnis. Man munkelte von wichtigen Erkenntnissen, doch Goster wusste nicht, ob das den Tatsachen entsprach.
Genauso wenig, wie er wusste, ob überhaupt etwas an diesen Gerüchten dran war.
Goster warf einen Blick auf den Posbi, der hinter den Ortungsinstrumenten saß. Auf einem terranischen Schiff hätte man wohl vom Chef der Abteilung Funk und Ortung gesprochen. Dem positronisch-biologischen Roboter war nicht anzusehen, ob er angestrengt arbeitete oder entspannt war. Bei einer metallen schimmernden, leicht ins Ellipsoide verformten Kugel konnte er keinerlei Emotionen erkennen.
Er musste sich nicht lange in Geduld fassen. »Trümmerstücke materialisieren im Standarduniversum«, meldete der Posbi hinter den Ortungsinstrumenten nach wenigen Augenblicken.
Dann sah Goster es selbst auf den Holos.
Die Trümmer tauchten abrupt im Normalraum auf, ohne Vorwarnung. Die dreidimensionalen Darstellungen erfassten immer neue. Manche waren groß wie ein Posbi: verzerrte, in sich gekrümmte Metallbrocken. Andere waren hausgroß oder größer. In den meisten hatte sich das Metall des Raumschiffs mit anderen Materialien verbunden. Manche glühten noch. Schier unzerstörbares Plastosynthex tropfte von ihnen hinab und erstarrte sofort in der Kälte des Alls.
Der Terraner brauchte keine Bestätigung dafür, dass die Beiboote im Linearraum von den Torpedos angegriffen und vernichtet worden waren. Toellner-828 gab auch keinen Kommentar dazu ab. »Zehn weitere Beiboote starten«, ordnete er an. »Sie sollen die einzelnen Trümmerstücke einsammeln.«
Das wollten die Onryonen allerdings unbedingt verhindern. Dieser Umstand machte ihre Aufgabe gefährlich.
Toellner-828 wandte sich an Goster. »Wir werden die Daten auswerten und einzelne Trümmerstücke zur Untersuchung nach Terra bringen. Sichu Dorksteiger und ihr Wissenschaftlerteam werden sie in Empfang nehmen und weitere Analysen vornehmen.«
Iblan Goster nickte dumpf. Sein Magen revoltierte in nie da gewesenem Ausmaß. Die Kälte in der BOX-33781 schien langsam in die Zentrale vorzudringen.
Die Frage bleibt, dachte er. Was genau haben die Onryonen vor? Was hat ihr Aufmarsch zu bedeuten? Planen sie etwa einen Angriff auf das Solsystem? Was sollte das alles?
»Paros-Schirm aktivieren!«, befahl Toellner-828.
Es ging los ...
Terrania
16. November 1516 NGZ
Sune Lerront hörte das Summen, mit dem der Kom ein eingehendes Gespräch ankündigte. Er unterdrückte den Impuls, den Büroservo zur Eile anzutreiben und den Anruf umgehend entgegenzunehmen. Falls es das Gespräch war, auf das er so dringend wartete, konnte ein wenig professionelle Zurückhaltung nicht schaden.
Er zählte im Geiste langsam bis zehn. »Annehmen«, sagte er dann.
Vor ihm bildete sich ein Holo. Es zeigte einen Mann in einem schlichten Geschäftsanzug, vielleicht 120 Jahre alt, schlank, mit dichtem, aber kurz geschnittenem Haar. Die blassgrauen Augen über der scharf geschnittenen Nase warfen schnell ein paar Blicke auf den Hintergrund, der sein eigenes Holo zeigte, und konzentrierten sich dann auf Lerront.
»Ich bin Dinh Baratt, Staatssekretär des Innenministeriums«, sagte der Mann. Ein sehr offiziell aussehendes Siegel am unteren rechten Rand des Holos bestätigte seine Worte.
Lerront nickte knapp. »Es freut mich sehr.« Das entsprach der Wahrheit. Er hatte sehr lange auf dieses Gespräch hingearbeitet.
»Dein Vorschlag liegt auf meinem Schreibtisch«, kam der Staatssekretär ohne weitere Umschweife zur Sache. Baratt schaute kurz nach unten, als müsse er ein paar Daten nachlesen, die er sich vor dem Gespräch nicht eingeprägt hatte. »Du bist Ereignisgestalter?«
Sune Lerront lächelte schwach. Der Staatssekretär hatte sich nicht die Mühe gemacht, sich Sunes Berufsbezeichnung einzuprägen. Dazu war sein Gegenüber nicht bedeutend genug. Nimm dich also ja nicht zu wichtig!, lautete die unterschwellige Botschaft.
»Genau«, antwortete Lerront.
Nun blickte der Staatssekretär ganz unverblümt am Aufnahmegerät vorbei auf ein Datenholo. »Man könnte dich als Mischung aus Künstler und Impresario bezeichnen. Du bist Leiter und Inhaber des Instituts für Erlebnisvertiefung.«
»Auch das trifft zu.«
»Und wahrscheinlich einziger Betriebsangehöriger?«
»Das entspricht nicht ganz den Tatsachen.« Lerront hielt es für an der Zeit, nun ebenfalls erste Akzente zu setzen und dem Staatssekretär zu zeigen, dass er kein Bittsteller war, mit dem man nach Belieben umspringen konnte. Er hatte solche Gespräche tausend Mal durchexerziert und eingeübt und sollte auf jede überraschende Wendung vorbereitet sein. »Unsere Firma ...«
Baratt hob eine Hand. »Ja, ich weiß. Du verfügst über eine erkleckliche Anzahl von Mitarbeitern. Und deine Referenzen sind durchaus beachtlich.«
»Sonst würdest du dieses Gespräch wohl kaum mit mir führen. Und man hat dich doch sicher informiert, dass du eine Nummer bekommen hast, die dir den Umweg über mein Vorzimmer erspart?«
»In der Tat. Du möchtest mit mir über ein Vorhaben sprechen?«
Lerront nickte. Baratt kannte die genaue Beschreibung des vorgesehenen Events natürlich in- und auswendig und hatte sie bereits in engstem Kreis besprochen; sonst hätte er gar nicht erst zurückgerufen. Aber dieses Geplänkel gehörte nun einmal dazu.
»Ich darf ohne weitere Vorreden zur Sache kommen.« Die erste Hürde hatte Lerront genommen. Jetzt musste er Fakten sprechen lassen. »Die Solare Residenz ist nach Terrania zurückgekehrt. Doch das wurde in keiner Form gewürdigt oder gefeiert. Dabei würde gerade diese Rückkehr ein positives Zeichen nach außen ermöglichen, ein Signal in diesen düsteren Zeiten.«
Sein Gegenüber schaute bewusst desinteressiert drein.
»Ich möchte nun ein solches Event nachholen und als Triumph gestalten. Als Zeichen, dass die Liga Freier Terraner sich gegen die ärgsten Widrigkeiten behauptet, wie man nicht zuletzt an dem Zuspruch sieht, den Terra und das Solsystem bei den vertriebenen Arkoniden findet.«
Das Gesicht des Staatssekretärs hellte sich ganz kurz auf, nur für einen Sekundenbruchteil.
Aber Lerront war es aufgefallen.
»Ich finde es überhaupt großartig, dass so viele Arkoniden ins Solsystem einwandern«, sagte er schnell. »Natürlich kommt nur ein winziger Bruchteil der Arkoniden ins Solsystem. Es müssen ja Abermilliarden Arkoniden auswandern. Dennoch ist Neu-Atlantis der prominenteste Ort, an dem sie sich ansiedeln, nicht wahr? Darüber reden die Leute, das taucht immer wieder in den Medien auf. So etwas bekomme ich natürlich mit. Neu-Atlantis ist eine großartige Stadt.«
»Wir sprechen hier nicht über Arkoniden.«
»Natürlich nicht. Aber ich bin überzeugt: Ein Volksfest muss her, eine Gedenk- und Feierstunde, um die Rückkehr der Residenz in würdevoller Form amtlich zu machen.«
»Hast du einen konkreten Termin für die Feier im Blick?«
»Natürlich. Am 24. Februar 1517 NGZ will Vetris-Molaud auf Tefor die Eröffnungsfeier für die große galaktische Konferenz begehen, die das Atopische Tribunal und die Onryonen inszenieren wollen. Du weißt ja, die Konferenz, in der die künftige Aufteilung der Milchstraße unter der Atopischen Ordo festgelegt werden soll.«
Das waren keine brandheißen Neuigkeiten. Die Richter Chuv und Matan Addaru Dannoer hatten angekündigt, zu einer großen galaxisweiten Konferenz einzuladen, in der darüber debattiert werden sollte, wie sich die Atopische Ordo für die Milchstraße am besten, schnellsten und mit geringstmöglichen Reibungsverlusten umsetzen ließ. Bis dahin mussten wesentliche Grundlagen für die atopische Friedensarchitektur geschaffen sein.
Verhältnismäßig neu, aber keineswegs überraschend war die Meldung, dass Tefor als Ort für diese Konferenz auserwählt worden war. Das zeigte, welche Wertschätzung Vetris-Molaud bei den Richtern und Onryonen hatte. Die Machtverhältnisse in der Milchstraße verschoben sich langsam und nachhaltig.
Der Staatssekretär zögerte.
»Das ist doch ein idealer Zeitpunkt, um auf Terra eine Gegenveranstaltung ausrichten, ein Freiheitsfest der Völker.«
Dinh Baratt nickte nachdenklich. »Das ist eigentlich medientechnischer Blödsinn. Zu diesem Zweck müsste man das einen Tag früher machen. Das würde dem Tefor-Event den Kick nehmen! Aber eine zeitgleiche Veranstaltung hat natürlich auch ihren Reiz.«
Du kannst mir nichts vormachen, dachte Lerront. Ihr habt die Sache im Ministerium durchgesprochen. Sie von oben nach unten, von rechts nach links gekehrt. Du hast grünes Licht bekommen, sonst hättest du nicht persönlich zurückgerufen, sondern einen untergeordneten Bürokraten eine Nachricht übermitteln lassen. Du zierst dich nur, um mir zu zeigen, wer hier das Sagen hat.
»Den genauen Termin können wir ja noch festlegen.«
»Also gut.« Der Staatssekretär nickte schließlich. »Deine Argumente haben mich überzeugt. Ich werde mit der Solaren Premier sprechen und ihr gegenüber dein Projekt befürworten.«
»Dann teile Cai Cheung direkt meinen Arbeitstitel des Projekts mit: Terrania in Stardust.«
Baratt zog die Brauen hoch. Offensichtlich verstand er auf Anhieb nicht, was damit gemeint war. Er nickte. »Terrania in Stardust. Ich melde mich wieder bei dir.«
Das Holo erlosch.
Sune Lerront wartete einen Augenblick und vergewisserte sich, dass die Verbindung tatsächlich unterbrochen war. Mit gleichmütiger Miene sah er sich in seinem Büro um, ließ den Blick über den Schreibtisch, die Sitzgruppe, die Positronik-Terminals und das Hologemälde von Rottermund an der hinteren Wand gleiten.
Schließlich schaute er aus dem Fenster. Die Skyline von Terrania konnte ihn nicht im Geringsten beeindrucken. Für die Solare Residenz, die über der Stadt am Himmel schwebte, hatte er nicht einmal ein verächtliches Lächeln übrig.
Die erste Hürde war genommen.
Sein Auftraggeber würde zufrieden sein.
Terrania, TLD-Tower
17. November 1516 NGZ, morgens
Reginald Bull betrachtete das Holo, das die provisorische Zelle und den Gefangenen darin zeigte, und atmete tief ein.
Er war ratlos. Wie sollte er sich in dieser Sache verhalten?
Das Holo zeigte einen archaisch anmutenden vierarmigen Roboter mit zwei aus dem Rücken und zwei aus der Brust entspringenden Greifarmen und Beinen, deren Unterschenkel klobig verdickt waren. Der Kugelkopf des Gebildes wies dicke Ohrzylinder, eine keilförmig verlängerte Mundpartie sowie einen metallischen Irokesenkamm auf. Das Wesen wirkte, als würde es aus Quecksilber bestehen.
Quick Silver. Das größte Rätsel, dem er in den letzten Jahren begegnet war.
Bull brummte leise vor sich hin. Quick Silver bereitete ihm Kopfzerbrechen. Attilar Leccore bereitete ihm Kopfzerbrechen. Gucky und Toio Zindher bereiteten ihm Kopfzerbrechen. Kurz vor dem Aufbruch bereiteten ihm viel zu viele Dinge Kopfzerbrechen. Er musste Klarheit schaffen, Entscheidungen treffen.
Aber nicht Hals über Kopf. Diese Entscheidungen würden Auswirkungen auf die Zukunft haben, vielleicht sogar über Erfolg oder Misserfolg der gesamten Mission bestimmen. Gib dich jetzt nur keinem blinden Aktivismus hin, dachte er. Mach es wie immer. Geh pragmatisch vor. Erledige eins nach dem anderen. Auch, wenn du damit manche Leute vor den Kopf stößt.
Er wandte sich dem Problem zu, das er als erstes aus der Welt schaffen wollte. »Attilar.« Er nickte dem Chef des Terranischen Liga-Dienstes zur Begrüßung zu.
Leccore erwiderte sein Nicken. »Admiral.«
Reginald tat die Anrede mit einer Handbewegung ab. Offiziell traf sie zu. Seit dem 1. Februar 1510 NGZ war er Admiral der Explorer-Flotte der Liga Freier Terraner. Er war schon immer ein energischer Verfechter des Projekts gewesen, die Milchstraße kartografisch zu erfassen, allerdings dachte er im Augenblick kaum daran. Er wurde an anderer Stelle gebraucht.
»Können wir uns irgendwo ungestört unterhalten?« Er wusste genau, wieso der Geheimdienstchef ihm Probleme bereitete. Es lag an der Vergangenheit.
Daran, dass er vielleicht nachtragender war als andere Menschen.
Er würde dem arkonidischen Imperator Bostich nie vergessen, dass Seine Imperiale Glorifizienz ihn hatte foltern, zahlreiche Tode sterben und jedes Mal wiederbeleben lassen, bevor seine Freunde ihn schließlich gerettet hatten.
Er würde auch nie vergessen, dass die Terminale Kolonne TRAITOR unendliches Leid über die Milchstraße gebracht hatte.
Wichtige Helfer von TRAITOR waren damals die Koda Aratier gewesen. Gestaltwandler, die jedes Wesen nachbilden konnten und die Liga Freier Terraner beinahe in eine Katastrophe gestürzt hätten.