Mama, es geht mir gut
Foto: Adriana Vichi
Luiz Ruffato wurde 1961 in Cataguases im brasilianischen Bundesstaat Minais Gerais geboren und wuchs in einer armen Migrantenfamilie auf. Er arbeitete u.a. als Verkäufer und Mechaniker und studierte Journalismus. Im Jahr 1998 veröffentlichte er einen ersten Band mit Kurzgeschichten. Drei Jahre später folgte der Roman »Es waren viele Pferde« (Eles eram muitos cavalos), der die brasilianische Literatur revolutionierte, von der Kritik enthusiastisch aufgenommen und u.a. mit dem Prêmio Machado de Assis der brasilianischen Nationalbibliothek ausgezeichnet wurde.
Zwischen 2005 und 2011 schrieb Luiz Ruffato den fünfbändigen Zyklus »Vorläufige Hölle« (Inferno próvisorio), dessen erster Band hiermit nun auf Deutsch vorliegt.
Luiz Ruffato lebt in São Paulo.
Vorläufige Hölle • Band 1
Aus dem Portugiesischen von Michael Kegler
Titel der Originalausgabe:
Mamma, son tanto felice (Editora Record)
Obra publicada com o apoio do Ministério da Cultura do Brasil/Fundação Biblioteca Nacional
Die Übersetzung aus dem Portugiesischen wurde mit Mitteln des Auswärtigen Amtes unterstützt durch litprom – Gesellschaft zur Förderung der Literatur aus Afrika, Asien und Lateinamerika.
© Luiz Ruffato 2005
© der deutschsprachigen Ausgabe Berlin | Hamburg 2013
Assoziation A | Gneisenaustr. 2a | 10961 Berlin
www.assoziation-a.de
hamburg@assoziation-a.de | berlin@assoziation-a.de
Titelgestaltung und Satz: kv
E-Book: ISBN 978-3-86241-604-2
Für Geni und Sebastião, meine Eltern
Für Helena und Filipe, meine Kinder
Da sagte Daniel: Gott, du hast also an mich gedacht;
du lässt die nicht im Stich, die dich lieben.
Und es gibt Schiffe, die nie ankommen
selbst ohne Schiffbruch erlitten zu haben:
nicht, weil niemand sie steuerte
über das Meer,
weil sie kein Segel gehabt hätten,
kein Ruder, keinen Anker, keinen Wind
sie sich betrunken hätten
oder Routen sich geändert,
sondern einfach nur weil
bereits faulig der Stamm war
des Baumes aus dem sie geschnitten.
Mama, es geht mir gut
Eine Fabel
Morphinsulfat
Wassermann
Cataguases, 5:16 h
Leopoldina, 5:37 h
Laranjal, 6:30 h
Muriaé, 6:47 h
Eugenópolis, 7:47 h
Itaperuna, 8:35 h
Bom Jesus de Itabapoana, 9:32 h
Bom Jesus do Norte, 9:35 h
Apiacá, 9:48 h
Cachoeiro de Itapemirim, 11:19 h
Iconha, 12:04 h
Guarapari, 13:13 h
Sühne
Ritual
Ende
Hinterhalt
Der Deutsche und die Indianerin
Das Geheimnis
Kapitel I.
Kapitel II.
Kapitel III.
Kapitel IV.
Ausnahmen
Kapitel V.
Kapitel VI.
Kapitel VII.
Kapitel VIII.
Kapitel IX.
Kapitel X.
Kapitel XI.
Kapitel XII.
Kapitel XIII.
Kapitel XIV.
Kapitel XV.
Kapitel XVI.
Kapitel XVII.
Kapitel XVIII.
Kapitel XIX.
Kapitel XX.
Kapitel XXI.
Kapitel XXII.
Kapitel XXIII.
Kapitel XXIV.
Kapitel XXV.
Mamma, son tanto felice
Perché ritorno da te
André, kleiner André, Andrezim, schwere Geburt, bis zu ihrem letzten Atemzug schwitzte »Tantchen« Maria Zoccoli bei der Erinnerung: An die, die durch ihre Hände zur Welt kamen und durchkamen, der Schwierigste kam in der Hocke, und wie schmerzten sie die vielen Ungeborenen!, furchtbare Abgänge, Missgeburten, Krüppel, Totgeburten, eine Saat von Engelchen bei den Bananenstauden hinter den Häusern der kleinen Parzellen rund um Rodeiro, so viele! Doch Andrezim nicht, der strotzte vor Leben, aber die alte Micheletta ließ er fast umkommen, eine zierliche Frau, blutarm und zartblau, so weiß, immer im Bett, schlaff, trächtig, »krank« jedes Jahr, ihre Jugend durch den Unterleib verrinnend, zwanzig Jahre lang schwanger, gelähmt, dreizehn Geburten – acht Mädchen –, »Wollbäume« in jener giftigen Sprache der Hauptstraße, groß, Baumwollhaar, blond, dicke Apfelbäckchen in gepunkteten Kleidchen, listige Mienen in kurzen Hosen. Praktisch veranlagt pflegte der Vater, der alte Micheletto, die Säuglinge eigenhändig zu päppeln: Brüllte der Balg nach sechs, sieben Monaten zur Stillzeit noch immer, sattelte er an einem Freitag sein Pferd und ging im Sonntagsstaat auf die Gasse, den neuen Micheletto anzumelden, im Kopf Namen umherwürfelnd. Vor dem zuständigen Notar und dessen Frage »Wie soll es heißen?« wand er sich dann und griff, um nicht als Hinterwäldler zu erscheinen, auf den erstbesten Verwandten zurück, ehrte ihn auf diese Weise und war erleichtert. Sonntagnachmittags stellte er seine ein Meter achtzig auf den Hof, strich den Kindern über den Kopf, die Hände voll Bonbons, streichelte die Hunde und legte sich dann hin, den in den Zimmern der Damen aus der Rua do Quiabo zurückgelassenen Schlaf nachzuholen. Und es waren so viele Namen, so viele Gesichter und so wenig Verstand, dass er gar nicht erst versuchte, die Gesichtszüge jedes einzelnen der kleinen Wesen zu behalten, die durch die Flure des Hauses wuselten. Wenn es sein musste, rief er »Bub, mach und tu«, »Mädchen, dies und das«, hegte mehr Zärtlichkeit für das Vieh und den Acker als für die Brut, denn Erstere machen zwar Arbeit, doch auch zufrieden, und Letztere nichts als Verdruss.
Er baute seine Familie aus zwischen Axthieben und Brandrodung, Pflug und Hacke, tief hinten in einem engen Tal auf halbem Weg zwischen Rodeiro und der dahinter aufragenden Serra da Onça, dazwischen Três Vendas so ziemlich am Ufer des hastig dahinfließenden Rio Xopotó: Ein Loch vom Erlös harter Arbeit, Sonne auf Sonne im Rücken, in steilen Kaffeeplantagen von Piau, von Gott, Vater und Mutter verlassen, verloren, besessen die Wege zwischen den Pflanzreihen jätend und schließlich auch bei der Ernte im Einsatz, um dann endlich stolz Schein auf Schein dieses von Jauguatiricas und männerarmdicken Jararacuçus, Waldhirschen, Wildhunden, Fröschen und Gürteltieren, Affen und Wölfen beherrschte Dickicht Schwarz auf Weiß in Besitz nehmen zu können. Er begann damit, Bäume zu fällen und die Stümpfe herunterzubrennen, mit dickem Bambus Wasser aus einer Quelle zu fassen und Steine zu hauen zur Befestigung der Fundamente für das Haus mit sechs Zimmern, die Hände fiebernd vor Schwielen, die Schultern krustig von grindigem Blut. Er zog Wände aus Balken und Querbalken hoch, deckte das Dach, schaffte auf Eselsrücken Ziegel und Schindeln aus »Onkel« Antônio Finettos Ziegelei heran, um dieses Ende der Welt urbar zu machen. Und verschlang als Gefangener seiner Obsession sieben Monate Leben in der weiten Einsamkeit des Paradieses mit Arbeit, vom Brüllen des die Nacht verscheuchenden Morgens, bis ihm die Finger vor Müdigkeit juckten, denn die Zeit drängte. Im Schein der Laterne mühte er sich mit Tischlerei, fertigte Tische, Schemel, Truhen, Hocker, Kleider- und Vorratsschränke. Als er schließlich die Fron für beendet erklärt hatte, trat er, gleich einer Erscheinung, auf die Hauptstraße, eingezwängt in meerblauen Sonntagsstaat, den er bei Singulani hatte anfertigen lassen, vor Unbeholfenheit flatternd und die Füße in die Folter der noch neu knarzenden Stiefel gepresst, von Haus zu Haus auf der Suche nach seiner Eva, die mit ihm diese von Stimmen noch jungfräuliche Welt besiedeln sollte. Nicht lang brauchte er, bis ihm ein Mädchen aus der Familie der Bicio gefiel, Chiara, gerade kein Kind mehr, vierzehn und mit breiten Hüften, die Gebärfreude versprachen, obwohl sie selbst schmal und verschüchtert, von Sommersprossen übersät und nicht sehr hell war im Kopf, wie er später herausfinden sollte, als es zu spät war, den Handel noch zu widerrufen.
Den Sonntag hielt sich der alte Micheletto frei, um sich, außer den Gottesdienst in der São-Sebastião-Kirche zu besuchen, um Händel zu kümmern, das Pferd zu beschlagen, Vorräte bei Maneco Linhares und Kleinkram im Laden des Türken zu kaufen, Reis in der Maschine zu schälen, bei Pivatto einen zu trinken, Kälber und Ferkel zu tauschen, bestellte Enteneier oder eine Wildente auszuliefern, für Frauengeschichten, dies und das und noch mehr. An einem solchen Tag richteten Andrés Augen ihr Licht auf den Vater: Zwei riesige, lange Arme hoben ihn auf die Schultern des Riesen, der schon halb betrunken über den Platz stakste, stolz auf das Faultier in den Baumkronen deutete, den vorwitzigen Äffchen Popcorn hinstreute und nach den schläfrigen streunenden Hunden trat. Der Tabakgeruch aus seinem üppigen, rötlichen Schnurrbart über seinem Mund legte sich über seine schon schütteren blonden Haare, die blauen Augen, die Kleidung aus schlichter Baumwolle, drang in alle Poren, in alles, dazu noch der saure Geruch nach Cachaça, der ihn betäubte, seinen Blick zum Verstummen brachte, wie alt war er da?, zwei? oder drei? Wie oft würde ihn dieser Mann noch streicheln?, der so groß war, dass er fürchtete, er werde mit dem Kopf gegen die Wolken stoßen, und so schweigsam, dass er erschrak, wenn er seine Stimme vernahm, und so seltsam, dass Bekannte, die ihm begegneten, den Boden absuchten und schnalzten, was eine Begrüßung sein sollte und doch keine war, und das so verbohrt, dass sie ihn mieden auf der Straße, ein Mann, dessen ganzes Augenmerk seinen von Ebenholzpflöcken und Stacheldraht eingefriedeten Ländereien galt, hinter deren Tor, dort, wo früher der schmutzige Wald, Steine, Erosionsrinnen und Termitenhügel und nun Weiden für Zebus und Gyr-Rinder waren, Zitronenhaine, Limonen, Tangerinen, Apfelsinen, Zedernfrüchte, Mandarinen, Tabak, Mais, Kaffee, Zuckerrohr, Gemüse, Reis, Avocados, Mangos, Jakobsfrucht und auch Hühner, Enten, Hunde und Katzen. Später sollte André sich auch an die frühen Morgenstunden erinnern, in denen er, aufgeweckt vom Gesumme der Nacht, durch sein Zimmerfenster zum Ufer hinunter den Vater beobachtete, der, eingehüllt in die Kälte, seinen Blick durch die Dunkelheit über jede einzelne Pflanze, jedes Tier, jede Knospe, jedes Jungtier schweifen ließ, Manns genug, aus dem Gestrüpp herauszutreten und es mit dem Jaguar aufzunehmen, der Nego gerissen hatte, einen verkackten, dahergelaufenen Köter, dumm, opportunistisch, feige, aber Teil seines Besitzes, und ebenso energisch wie in der Lage, für Jahre kein Wort mehr an seine Frau zu richten, nicht einmal bei der Totenmesse, weil er sie für unwillig hielt, männliche Nachkommen hervorzubringen oder, wenn sie sie schon auf die Welt brachte, am Leben zu halten, denn von fünf Jungen kamen nur zwei durch. Die anderen wanderten einer nach dem anderen sieben Hand breit unter die Erde, der Dreijährige vom Biss einer Viper; der Zwölfjährige starb an einer Dorne im Fuß, gegen die nicht einmal Umschläge aus Günsel mit Olivenöl halfen, dunkel wie der glänzende Leib eines schuftenden Schwarzen, der Achtzehnjährige dann melancholisch an von Ameisengift zersetzten Gedärmen. Die Mädchen hingegen, die zu nichts gut waren, fütterte er durch bis zur Hochzeit und stieß sie ab, sobald ihre Regel kam, aus Angst vor dem unvermeidlichen Unglück, das jede Frau unter ihrem Kleid trägt, wie jene, deren Namen man nicht nennt, deren Missgeschick allerdings selbst der Staub auf den Lehmpfaden säuselt. Irgendwann zog ein fliegender Händler durchs Land, die Nase erhoben und schwatzhaft in staubigem Anzug und Schlips und verwinkelter im Ausdruck als die Falten im Gesicht der greisen Italiener, zwei Pappkoffer unter dem Arm, aus denen wie von Zauberhand Feuerzeuge, Nähzeug, Garnrollen und Knöpfe, Haarklammern und Tücher, Spulen und Lockenwickler, unzähliger Kleinkram auftauchten, und klopfte dreist unsinnige Sprüche, Hat der Chef kein Geld? Sollen die Mädels hier nur gierig gucken? He Chef!, kritzelte dann, den Bleistift mit seinen Lippen benetzend, Bestellungen in ein Heft voller Eselsohren, und als schon niemand mehr mit ihm rechnete, rief einer: Der fliegende Händler ist wieder da!, Der fliegende Händler ist da!, Nationalfeiertag. Der Vater stützte sich auf den Stiel seiner Hacke, peilte den Rauch an, der aus dem Schornstein geblasen kam und suchte nach seiner Ältesten, Hat sie jemand gesehen? Stieg vom Maisfeld hinab auf Siebenmeilenstiefeln, ließ die Pferde satteln, steckte seine Pistole in den Hosenbund, hängte Gewehr und die große Hacke über den Sattel und drängte mit den zwei Knechten dem Sirren der nächtlichen Straße entgegen. Man sagt, er habe die Flüchtigen in einer Pension in Astolfo Dutra aufgestöbert, doch der Fremde sei über das hintere Fenster in den Garten hinaus, sei durch den Rio Pomba geschwommen und dann Richtung Rio de Janeiro verschwunden, doch das Mädchen habe er an den Haaren aus dem Zimmer gezerrt, mit einem Seil gefesselt und hinter sich her geschleift, er zu Pferd, sie zu Fuß, mäuschenstill, schiefer Blick, bis ihn an der Kreuzung hinter der Stadt der Polizeichef eingeholt hatte mit zwei Polizisten. Der Vater zog seinen Hut, Mischen Sie sich nicht ein, Doktor, das geht nur mich an, nicht der Mühe wert, und der Mann fragte besorgt zu dem Mädchen hin, Sind Sie seine Tochter, und sie nickte mürrisch, der Alte, Sie ist eine Plage, Doktor, Es ist Schicksal, und trieb Gaul und Knechte zur Eile, Los Leute. Am Aufstieg zur Serra da Onça stieg er ab, es war inzwischen Tag, schlang das Halfter um einen Pfahl und zerrte das Mädchen am Strick bis hinauf auf die Weide, als die Sonne am höchsten stand, löste den Knoten, Geh schon, du Elend, verschwinde, verschwinde weit fort, los!, brüllte er und stieß sie durch das hohe Gestrüpp, und sie weinte, Vater, und er zielte auf sie mit dem Gewehr, Geh, Elende, tu, was ich dir sage, und sie, Vater, verzeih mir Vater, er hielt ihr den Lauf ins Gesicht, Geh, Elende, tu, was ich dir sage, sie, Vater, und rannte verzweifelt, als dann der Knall eines Schusses die Geräusche des Nachmittags verstummen ließ, sahen die beiden Knechte erschrocken den Vater ruhig zu seinem Pferd zurückkehren, die Hacke ergreifen, Grabt ein tiefes Loch, dass die Tiere nicht an ihr fressen, es ist mein Fleisch und Blut, und stellt ein Kreuz auf, und als sie in der Dämmerung ankamen, sahen sie Micheletto den Alten betrunken, in den dichten blauen Rauch seiner Maiszigarette gehüllt. Wäre dies der einzige Tod hinter seiner Stirn, wäre er schon auf ewig verdammt, aber nein, außerdem stieß er sein Messer noch in die Brust eines streitlustigen Mitbürgers, der einem schwarzen Holzdieb beisprang und so seine eigene Gier unter Beweis stellte, und dann war da noch ein flüchtiger Pächter, der seinen Anteil an der dritten Zuckerrohrernte anzweifelte, und dessen Sohn, die ihm aufsässig auf der Straße entgegenkamen, und als der Bursche nach einem Knüppel griff und dem Vater rechts in die Seite schlug, griff der zur Pistole und gab zwei Schüsse ab auf den Mann und einen auf den Sohn, der dunkle Tropfen im Staub hinterließ und verstarb.
An jenem Abend, als sie von der Höhe des Pfades, der von der Straße zwischen Rodeiro und Serra da Onça hinunter in die Tiefe des Tals führte, das am Boden des Abgrunds gestrandete Haus mit den sechs Zimmern erblickte, drehte sich die Sanduhr des Lebens von Chiara Bicio, der alten Micheletta, um: Sie begann zu sterben. Und sie verging Stunde um Stunde, ihre Gesundheit verwelkte in stumpfsinnigen Blutbädern der vielen Geburten, ihr Verstand schwand durch die Zweige der feuchten, endlose Nächte lang heulenden Bäume. Anfangs dachte sie noch, wenigstens die Familie würde sie einmal besuchen, doch weit gefehlt, Vater brach mit der Bicio-Familie und stellte sicher, dass kein Verwandter je in die Nähe dessen gelangte, was ihm gehörte, und fesselte sie an die Nabelschnur endloser Schwangerschaften, ließ sie alleine dahinvegetieren in ihrem Raum, dessen Türen und Fenster von außen verrammelt waren und aus dem sie mit fünfunddreißig erst, bereits erstarrt und in ein Tischtuch gewickelt, wieder herauskommen sollte, leicht wie ein Vogel, sodass selbst der Wind sie liebkoste auf ihrer letzten Fahrt auf dem singenden Ochsenkarren bis zur São-Sebastião-Kirche, wo man sie, damit sie ordentlich zu ihrer Totenmesse erscheine, in Holz kleidete, und es Leute gab, die nicht glauben wollten und Ist sie es wirklich?, Ist sie es?, flüsterten auf dem Weg bis zum Friedhof, einundzwanzig Jahre lang eingesperrt, Sie war verrückt, sie musste weggesperrt werden, murmelte man, Ach je, die Arme … Die Mutter, auf sie strahlten Andrés Augen eines sonnigen Morgens, in der Hocke versunken in sein Spiel mit Bittermelonen, die seine Tiere waren, hinter dem verbotenen Zimmer, gleich bei dem Abhang, der mehr als zwei Meter tief abfiel, und die Welt war beschäftigt mit eigenem Tagwerk, als ein Flüstern durch den Fensterspalt drang, Pst, Pst, er sprang erschrocken auf, Pst, Pst, und sah in ein einzelnes Auge, »drinnen« in der Dunkelheit, He Kind, eine Tote, die Stimme, He, Junge, verbrauchte Luft, Hilf mir, mach auf, starr witterte er, wo waren die Brüder und Schwestern?, wo?, nur aus der Ferne das Singen der Viehtreiber, Hee, Hoo, Lass die Finger davon, Junge, sonst setzt es was, ich schlage dich windelweich!, die donnernde Stimme des Vaters, Mach da nicht auf!, Mach auf, Junge, hilf mir, und er stemmte sich gegen den Riegel, Er ist fest, Dann mach die Tür auf, Bub, guter Bub, säuselte sie, Komm guter Bub. Er ging um das Haus herum, durch die Küche, die Vorratskammer, seine kleine Hand drehte den hölzernen Haken und ein muffiger Dunst heftete sich für immer an seine Kleidung, noch in seiner letzten Stunde sollte ihm dieser Brackhauch Beklemmung verursachen, und als sein Blick sich an das Dunkel der Kammer gewöhnt hatte, sah er auf einem verlausten Strohsack die Irre, zusammengekauert, den prallen Bauch eingerahmt zwischen Armen und Beinen, die nichts waren als Haut und Knochen und aus einem einfachen Nachthemd hervorstanden, ein gespenstischer Käfer, dunkle Ringe um die Augen wie Schminke unter dem dünnen Haar voller Läuse, das Laken gesprenkelt von zerdrückten Flöhen, Blut auf dem unebenen Boden, Hol mir Wasser, er griff nach dem Krug und füllte ihren Becher auf, Eine Hölle verdorrt mich von innen heraus, weiter nichts, die derbe Hand des Vaters zischte auf sein Gesicht, weiter nichts. Wie viele blaue Flecke auf Andrés Körper sollten diese Hände noch zeichnen? Eine Schnute, ein Widerspruch, Ungehorsam, ein Ausrutscher, Regen, Abwege, Fieber, Verschwinden, Widerspenstigkeit, Dummheit, alles das machte Micheletto, den Alten, rasend, und dann griff er blind nach allem, was in seiner Reichweite lag, einen Holzscheit, einen Prügel, einen Gürtel, eine Rute, Bambus, die Knute, die Peitsche, ein stumpfes Messer, wie lange noch?, wie lange noch?, empörte er sich.
In Ermangelung männlicher Arme bestellte der Vater das Land, solange er konnte, mit weiblicher Hilfe, wenngleich der Einsatz der Mädchen bescheiden war beim Kochen und Putzen der Töpfe, Heranschaffen von Kesseln mit Essen und zur rechten Zeit aufgebrühtem Kaffee, Pflügen, Mähen, Bewässern, dem Hüten der Rinder, Aufräumen und Kehren im Hof, Melken und Buttern, Tabak schneiden, die Affen vertreiben, Mais ernten und abstreifen, Waschen und Bügeln, und falls eine schließlich auf dem Altar eines Mannes landete, war das ein Arm weniger an der Hacke, doch auch ein Mund weniger zu ernähren, es bleibt sich gleich, und kein Grund, sich den Blattschneiderameisen, Termiten, der Erosion, dem Gestrüpp, den Insekten und Würmern, dem Verfall, der alles überwucherte, wo war noch einmal das Maisfeld?, die Bohnen?, der kleine Kälberstall?, das Schweinegatter?, die Weide für die Schwarzbunten?, zu ergeben. Nachdem die Irre beerdigt war, verkroch sich der Vater wie ein Tier, und mit dem Bann der in alle vier Winde verstreuten Michelettos und Bicios ganz einverstanden, auf seinem Land, versteckte sich unter den Tieren, aß, trank und schlief bei ihnen, er selbst dem Vieh gleich, ein Thema erregter Gespräche an dahinsiechenden Abenden, zwischen den Stühlen auf den Bürgersteigen von Rodeiro, als Warnung der Mütter an das quirlige Kind, irgendwann nur noch Anspielung, Legende und schließlich nichts mehr, das Tal war verwildert, gefürchtet, in archaisches Schweigen getaucht, und in der Erinnerung verblassend dem Vergessen anheimgegeben.
Stolz schaute André schon mit vierzehn auf das Land jenseits der Grenzen von Rodeiro, seine Arbeitskraft tageweise nach Diamante und Corgo do Sapo verdingend, nie Richtung Serra da Onça, groß, staksig, grau und zurückhaltend, tagsüber schäbig in grobem Leinen und gestreiftem, langärmligem Hemd, harte Stiefel am Fuß, mit einem fransigen Strohhut und am Gaumen klebend die filterlose Zigarette, doch später, nachdem Füße, Gesicht, Arme und der übrige Rest gewaschen waren, verwandelte er sich in einen Anderen, hochmütig auf dem Göricke-Fahrrad mit Rückspiegel und tring tring Klingel am Lenker, Griffe mit bunten Fransen, Nabenputzer, Spritzlappen und dem Wappen von Botafogo am Sattelschoner, Dynamoscheinwerfer, mit sauberer Kleidung, strahlenden Zähnen, sorgfältig mit Brylcreme geglättetem Haar und einfachem Parfum auf dem Kragen die fünf Straßen erobernd, ’Nabend, ’Nabend, respektvoll die Finger an die Krempe gelegt, aus der Ferne das Schwätzen belauschend, den Streit, ein Gelage, Lästerei, Heiterkeit, mit sich selbst redend auf den Feldern und Weiden des Alto do Cruzeiro und auf der Staubstraße, ein Pferdewagen, ein Willy’s Rural, Reiter, ein Fußgänger oder auch niemand, die Einsamkeit der stillen Wüsten, innerlich aufgewühlt, Zittern unter der Haut, ein Befremden, wenn er wochenends bei den verheirateten Schwestern verschnaufte, zu Mittag hier, zu Abend da, zum Kaffee dort, zigeunernd, sich mit den Mädchen vergnügend beim Tanz, mit den Alten bei einem Schwätzchen, mit den Gleichaltrigen bei Fußball, Hahnenkampf und im Wettstreit um Kanarienvögel, mit dem Bruder »zum Gucken« bei den Mädels der Rua do Quiabo, rechts neben der Kirche und links von der Kneipe, voll Sehnsucht, ein Pfeifen im Ohr, eines Tages so mutig zu sein, es bis Ubá zu schaffen, das soll eine große Stadt sein, weitläufig und modern, mit dem Blick auf die Busse, die auf dem Platz eine Pause einlegten, Cataguases-Ubá, Augen in die Fenster gemalt, das Joch irgendwann abwerfen und gehen, alles liegen lassen, eine Arbeit finden in einer Möbelfabrik und Geld verdienen, sich einen Goldzahn einsetzen lassen, und dann endlich eine Braut suchen und heiraten, was sonst soll man erreichen im Leben? Und von diesem Summen getrieben beschloss er dienstags, am Montag zu gehen, schmiedete Pläne für die Auflösung seiner Siebensachen, Die Hacke verkaufe ich, Und das Fahrrad?, Das Fahrrad?, und da er dafür keine Lösung fand, wurde die Reise noch einmal verschoben, dann standen Verpflichtungen im Weg, ein Spiel der zweiten Mannschaft des Spartano, die Taufe eines Neffen, eines Patenkindes, eine Angelpartie, eine Beerdigung, ein vielversprechender Blick, und dann, als er gerade am Stand der Kirmes zum Junifest an der São-Sebastião-Kirche ein Stück Seife am Haken hatte, berührte sein Bruder ihn an der Schulter, zog ihn in eine Ecke, sagte, André, das ist Salvador und stellte ihm einen Mann vor, der älter war als sie beide, vielleicht dreißig Jahre, einen dichten Bart trug und ihm die schwielenlose Hand gab. Salvador, angenehm, sagte er freundlich, Angenehm stammelte André verlegen und wie ein Echo, Ich werde euch brauchen können, sagte der Mann, bevor er in der Menge verschwand, die sich vor der Bühne drängelte, wo Santo Chiesa die Gaben versteigerte, Hauptgewinn war ein Kalb, wie André aus dem Lautsprecher hörte, der oben in einem Baum hing; Pedro, Pedro, sagte er aufgeregt und konnte kaum Schritt halten mit seinem jüngeren Bruder zwischen den Leuten hindurch, Pedro, was hat dieser Salvador gemacht, dass er so viele Leute braucht?, und der Bruder, der versuchte, den Mann nicht aus den Augen zu verlieren, antwortete hastig, Noch gar nichts hat er gemacht … Wird noch …
»Morphium ist ein narkotisches Analgetikum,
insbesondere geeignet zur Behandlung
von starken und stärksten Schmerzen,
die auf andere Schmerzmittel nicht ansprechen.«