Auch der Zufall ist nicht unergründlich,
er hat seine Regelmäßigkeit.
Novalis 1
„Wie kann man es wagen, von den Gesetzen des Zufall s zu sprechen? Ist nicht der Zufall das Gegenteil aller Gesetzmäßigkeit?“ leitet Joseph L. Bertrand (1822-1900) sein 1889 erschienenes Werk „Calcul des probabilités“ (Wahrscheinlichkeitsrechnung) ein.2 Laplace hatte bereits 1814 eine Antwort auf diese paradoxe Situation vorweggenommen:
Inmitten der veränderlichen und unbekannten Ursachen, die wir unter dem Namen des Zufalls begreifen, und welche den Gang der Ereignisse unsicher und unregelmäßig machen, sieht man nach Maßgabe ihrer Vervielfältigung eine auffällige Regelmäßigkeit entstehen (…)3
Laplace betonte die Unsicherheit und Unregelmäßigkeit der empirischen Ereignisse. Aber die bei großen empirischen Serien von wiederholten „Zufallsversuchen“ zu beobachtende auffallende Regelmäßigkeit wird in einem engen Zusammenhang mit den Aussagen der korrespondierenden mathematischen Theoreme, Bernoullis Gesetz der großen Zahlen und zentraler Grenzwertsatz , gesehen. Die Übereinstimmung von empirischer und mathematischer Gesetzmäßigkeit erschien Jakob Bernoulli , Laplace und Poisson so natürlich zu sein, dass zwischen den mathematischen Theoremen und den entsprechenden empirischen Erfahrungssätzen sprachlich – und offenbar auch gedanklich – nicht unterschieden wurde.4 Als offenkundiges Beispiel wurde bereits das Gesetz der großen Zahlen erwähnt, welches bei Poisson (1837) den Erfahrungssatz und das Theorem gleichermaßen bezeichnet. Die von Laplace angeführte auffallende Regelmäßigkeit, bzw. die scheinbare Stabilität der relativen Häufigkeit en bei großen Versuchszahlen, nimmt eine Schlüsselfunktion für die behauptete Korrespondenz zwischen den mathematischen Theoremen und den empirischen Beobachtungen ein. Ab der Mitte des 19. Jahrhunderts gab es vermehrt Untersuchungen mit dem Ziel, diesen Zusammenhang zu überprüfen – und zur Lösung von angewandten Fragestellungen zu nutzen.
Eine der großartigsten Anwendungen fanden Wahrscheinlichkeitsmodelle in der Genetik. Die von Johann Gregor Mendel (1822-1884) entdeckten Vererbung sregeln sind Wahrscheinlichkeitsgesetz e par excellence. Doch sie blieben 35 Jahre lang unbeachtet – bis zu ihrer Wiederentdeckung im Jahre 1900. Weiterhin untermauerten umwälzende Theorien in der Physik, insbesondere die Entwicklung der statistischen Mechanik durch Rudolf Clausius (1922-1888), James Clerk Maxwell (1831-1879) und Ludwig Boltzmann in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts die steigende Bedeutung der Wahrscheinlichkeitsrechnung. Diesen Errungenschaften folgten geniale Theorien und experimentelle Bestätigungen der Brownschen Bewegung in den ersten beiden Dekaden des 20. Jahrhunderts. Instrumental waren hierbei wiederum Wahrscheinlichkeitsmodelle . Zunächst hatten die Physiker auf das bestehende Repertoire wahrscheinlichkeitstheoretischer Methoden zurückgegriffen. Aber zu Beginn des 20. Jahrhunderts gaben die stürmische Entwicklung der Naturwissenschaften, die Anwendung analytischer Methoden (höhere Analysis) und neue mathematische Theorien wie die Mengen- und Maßtheorie5, entscheidende Impulse für den Übergang von den klassischen Theorien zur modernen Wahrscheinlichkeitstheorie.
Mit der Häufigkeitsdeutung der Wahrscheinlichkeit kam mehrere Jahrzehnte nach Laplace ’ Hauptwerk „Théorie analytique des probabilités“ (Analytische Theorie der Wahrscheinlichkeiten) und der wahrscheinlichkeitstheoretischen Begründung der Fehlertheorie eine alterna-tive Interpretation ins Spiel, die insbesondere von der Statistik aufgegriffen wurde. Die angewandte Wahrscheinlichkeitsrechnung erhielt im Zeitraum von 1830 bis 1840 einen erneuten Schub durch methodische Untersuchungen mit Bezügen zu den Sozialwissenschaften, der Ökonomie, Psychophysik (Psychometrie), und nachfolgend durch Untersuchungen zur Vererbung.6
Empirische arithmetische Mittelwerte rückten erneut in den Mittelpunkt. Die wahrscheinlichkeitstheoretische Begründung der Theorie der zufälligen Fehler durch Gauß und Laplace diente als Paradigma .Adolphe Quételét (1796-1874) schuf den Begriff des „durchschnittlichen Menschen“. Seine mathematische Analyse basierte auf der symmetrischen Binomialverteilung mit 999 Versuchen und der Approximation der Binomialverteilung durch die Gauß-Verteilung . Ziel seiner Untersuchungen war die Anpassung der Gauß-Kurve an experimentelle Daten. Seine Daten waren die Brustumfänge schottischer Soldaten. Infolge der ausgezeichneten Anpassung der Gauß-Verteilung schloss er auf den „durchschnittlichen Soldaten“ als einen Idealtypus, dem er den Charakter einer mathematischen Wahrheit zuschrieb. Für Quételét stand fest: Die Natur folgt den Gesetzen der Wahrscheinlichkeitsrechnung, insbesondere der Gauß-Verteilung.7
Mit dieser Sichtweise stand er keineswegs allein. Die Gauß-Verteilung nahm eine zentrale Stellung in der Laplaceschen Wahrscheinlichkeitstheorie ein. In den Augen von Adolphe Quételét und anderer zeitgenössischer Statistiker wurde hieraus ein Dogma: Alle korrekt erhobenen statistischen Daten gehorchen der Gauß-Verteilung . Gegen diese verengte Sichtweise wandte sich um die Wende zum 20. Jahrhundert Karl Pearson (1857-1936). Mit Recht, denn so groß die Bedeutung der Gauß-Verteilung auch ist, für die adäquate mathematische Beschreibung diverser Phänomene in der Physik, Biologie oder Soziologie werden weitere Verteilungen benötigt, sowohl stetige Verteilungen wie beispielsweise die Exponentialverteilung als auch diskrete Verteilungen wie die Poisson-Verteilung .
Eine der beeindruckendsten Rollen spielte das Binomialmodell bei der Entdeckung fundamentaler Regeln der Vererbung . In den Monaten Februar und März des Jahres 1865 hielt Gregor Mendel Vorträge über die Ergebnisse seiner Kreuzungsexperimente an Gartenpflanzen in den Räumen des Naturforschenden Vereins in der Oberrealschule in Brünn. Der Vortrag musste wegen des umfangreichen Materials, der gezeigten Proben, und der nicht trivialen Interpretation seiner Versuche, auf zwei Termine aufgeteilt werden. In dieser Schule war der geweihte Priester und Mönch des Altbrünner Augustinerklosters bereits mehrere Jahre lang als Lehrer für Experimentalphysik tätig. Mendel hatte aus heutiger Sicht sensationelles zu berichten: die experimentelle und theoretische Begründung der später nach ihm benannten Vererbungsregeln. Seine Verknüpfung von experimentellen Kreuzungen, vorwiegend von Erbsensorten, präziser numerischer Erfassung der Resultate und kombinatorischer Analyse stellten ein Novum dar – und überforderte viele der Zuhörer. Mendel begegnete, „wie es nicht anders zu erwarten war, sehr geteilten Ansichten.“8
Nicht besser erging es ihm in der Fachwelt außerhalb Brünns. Seine „Versuche über Pflanzen-Hybriden“ erschienen im Jahr darauf in den Verhandlungen des Naturforschenden Vereins in Brünn. Mendel versandte und verteilte bis zu 40 Sonderdrucke seiner Abhandlung, und stand danach in einem mehrjährigen brieflichen Austausch mit dem renommierten Botaniker Carl Nägeli (1817-1891), Lehrstuhlinhaber in München. Er sandte Nägeli mehr als 140 genau beschriftete Samenpakete aus seinen Kreuzungsversuchen mit der Aufforderung, die maßgeblichen Versuche zu wiederholen. Es half alles nichts. Nägeli verkannte ebenso wie andere Botaniker und Experten der Pflanzenkreuzung die Bedeutung von Mendels Arbeiten. Dessen bahnbrechende Ergebnisse versanken trotz bibliographischer Erfassung und Kommentierung, unter anderem in Wilhelm O. Fockes Monografie „Die Pflanzen-Mischlinge“ von 1881, in der Obskurität – bis zur Wiederentdeckung im Jahre 1900 durch Carl Correns (1864-1933), Hugo De Vries (1848-1935) und Erich von Tschermak-Seysenegg (1871-1962).9
Zurück zum Jahr 1866. In seiner Abhandlung bemerkt Mendel einleitend, dass nach Befruchtungen zwischen gleichen Arten die auffallende Regelmäßigkeit mit der dieselben Hybridformen immer wiederkehrten, Anregungen zu weiteren Experimenten gab, die Hybriden (Pflanzenmischlinge) in ihren Nachkommen zu verfolgen. Viele der Autoritäten der Hybriderzeugung wie Joseph G. Kölreuter (1733-1806) und Carl F. Gärtner (1772-1850) hatten bereits umfangreiche Untersuchungen berichtet. Bisher war es hingegen nicht gelungen, „ein allgemeingültiges Gesetz für die Bildung und Entwicklung der Hybriden aufzustellen“, konstatierte Mendel . Dieses Bildungsgesetz wollte er finden. In seinen über acht Jahre sich erstreckenden, sorgfältig geplanten Untersuchungen mit Gartenpflanzen bestimmte Mendel nicht nur die Formen der Nachkommen in den einzelnen Generationen, sondern auch die präzisen „gegenseitigen numerischen Verhältnisse“. Die Experimente umfassten mehr als 10.000 Pflanzen; als Kontrollen für jeden Feldversuch wurden Topfpflanzen in ein Gewächshaus gestellt. Große Sorgfalt widmete er der Auswahl der geeigneten Versuchspflanzen. Für seine Hauptversuche wählte er die Erbse. Die ausgewählten Erbsensorten unterschieden sich jeweils durch zwei konstant differierende (verschiedene) Merkmale, beispielweise durch die Merkmalspaare:
Die ausgewählten Sorten wurden in einer zweijährigen Probephase auf Konstanz der Merkmale getestet und bewährten sich durchweg. Erst dann begannen die Kreuzungsversuche. Die Hybridpflanzen der ersten Kreuzung (F1-Generation) zeigten jeweils das zuerst genannte Merkmal der Merkmalspaare, diese wurde von Mendel als dominierendes (dominantes) Merkmal bezeichnet. Die jeweiligen unterdrückten (rezessiven) Merkmale tauchten jedoch in den nachfolgenden Generationen neben den dominierenden Merkmalen wieder auf; in der zweiten Generation im Durchschnittsverhältnis 3:1. So hatte Mendel im ersten Versuch – zur Gestalt der Samen – von 253 Hybriden (F1-Generation) im nachfolgenden Jahre 7.324 Samen erhalten, darunter 5.474 runde/rundliche und 1.850 kantig-runzlige. Hieraus ergab sich ein Verhältnis 2,96:1. Im zweiten Versuch – zur Färbung der Speichergewebe – lieferten 258 Pflanzen 8.023 Samen, davon 6.022 gelbe und 2.001 grüne; das Verhältnis der Samenmerkmale betrug somit 3,01:1. Für seine zusammengefassten Resultate der Versuche 3 bis 7 fand Mendel für das Verhältnis der dominierenden zu den rezessiven Merkmalen ein „Durchschnittsverhältnis 2,98:1 oder 3:1.“ Jahrzehnte später hat William Bateson (1861-1926) unter 15.806 Samen 11.903 gelbe und 3.903 grüne, entsprechend einem Verhältnis von 3,05:1 ermittelt.10
Diese Spaltungsverhältnisse lagen sehr dicht an den theoretisch zu erwartenden Werten, die sich bei Voraussetzung der Binomialverteilung ergeben. Vielen Generationen von Studenten wurden Mendel s Daten exemplarisch „als zu gut, um wahr zu sein“ vorgestellt. Darüber hinaus gab es Anschuldigungen einer bewussten Datenmanipulation von Seiten des Statistikers Ronald A. Fisher (1890-1962), die vielerorts unkritisch übernommen wurden, und zu einer bis heute andauernden Kontroverse führten. Mendels kombinatorischer Analyse entspricht Bernoullis Urnenmodell mit Zurücklegen. Um die „zu guten“ Spaltungsverhältnisse zu erklären, wurde das Urnenmodell ohne Zurücklegen vorgeschlagen. Eine kürzlich durchgeführte experimentelle Überprüfung stützte einerseits das Binomialmodell, erbrachte andererseits ebenfalls „zu gute“ Spaltungsverhältnisse (2,99:1), wie sie Mendel , Bateson und andere Botaniker zuvor berichtet hatten. Der Grund für die Diskrepanz zwischen den empirischen Daten und den theoretischen Werten aus der Binomialverteilung ist damit weiterhin unklar. Darüber hinaus ergab die sorgfältige Neubewertung von Mendels Resultaten die Haltlosigkeit der Unterstellungen Fishers.11
Gregor Mendel hatte weit gespannte naturwissenschaftliche Interessen, die er konsequent verfolgte. So war er ein überregional anerkannter Meteorologe. Praktische meteorologische Untersuchungen führte Mendel buchstäblich bis zum letzten Tag seines Lebens durch. Parallel zu den intensiven Arbeiten zur Vererbung veröffentlichte er insgesamt neun Arbeiten über meteorologische Beobachtungen aus Mähren und Schlesien. Diese Untersuchungen nahm er etwa zeitgleich mit seinen Kreuzungsversuchen im Jahre 1856 auf. Zu diesem Zeitpunkt war Mendel bereits mit den verfügbaren statistischen Methoden und dem Gesetz der großen Zahlen vertraut.12 Außer Frage steht auch seine klare Auffassung der Rolle statistischer Schwankungen in kleinen Stichproben. Mendel führt hierzu in seinen „Versuchen über Pflanzen-Hybriden“ aus, dass die Befruchtung der Keimzellen (Eizellen) durch Pollen (Spermazellen) „ganz dem Zufall e überlassen“ bleibt und daher „die Einzelwerte notwendig Schwankungen unterliegen.“ Und weiter stellt er fest:
Die wahren Verhältniszahlen können nur durch das Mittel gegeben werden, welches aus der Summe möglichst vieler Einzelwerte gezogen wird; je größer ihre Anzahl, desto genauer wird das bloß Zufällige eliminiert.13
Zu den Spaltungen der F1-Generation berichtet er, dass gut ausgebildete Hülsen zumeist 6 bis 9 Samen enthielten, dass es aber öfters vorkam, „dass sämtliche Samen rund (Versuch 1) oder sämtlich gelb (Versuch 2) waren“. Weiter schreibt er:
(…) So wie in einzelnen Hülsen variiert ebenso die Verteilung der Merkmale auch bei einzelnen Pflanzen.14
Diese Streuungen demonstriert Mendel anhand von jeweils 10 Pflanzen für die Versuche 1 und 2. Als Extreme in der Verteilung der beiden Samenmerkmale an einer Pflanze fand er im 1. Versuch 43 runde und nur zwei kantige Samen, im 2. Versuch 32 gelbe und nur einen grünen Samen. Bei der Kreuzung von Erbsenpflanzen mit runden gelben Samen und Pflanzen mit kantig-runzligen Samen hatten die hybriden Pflanzen (F1-Generation) nur runde und gelbe Samen. Rund und gelb waren wie bei der monohybriden Kreuzung dominierende Merkmale. Nach der Selbstbestäubung von F1-Pflanzen fand er insgesamt 556 Samen, wobei 315 rund und gelb, 108 rund/rundlich und grün, 101 kantig-runzlig und gelb, und 32 rund/rundlich und grün waren. Annähernd entsprach die Aufspaltung dem zahlenmäßigen Verhältnis von 9:3:3:1.
Wie für zwei Merkmalspaare, ließen sich die theoretischen Spaltungsverhältnisse für mehr als zwei Merkmalspaare durch kombinatorische Überlegungen herleiten. Bei der Analyse der Kreuzungsversuche und den Aufspaltungen musste Mendel , wie er schrieb, lediglich annehmen, dass von den Hybriden die verschiedenen Keim- und Pollenzellen durchschnittlich in gleicher Anzahl gebildet werden, ohne dass dieses bei jeder einzelnen Hybridpflanze erreicht werden müsste, sowie
dass die Paarung der verschiedenen Geschlechtszellen nach dem „Zufallsprinzip “ erfolgt, d. h. durch unabhängige Kombination.15 Mendels Analyse führte ihn zur Entdeckung der Vererbungsregeln, die erst durch die quantitative Erfassung der Kreuzungsresultate einer großen Anzahl von Merkmalsträgern (Versuchspflanzen bzw. Samen) erkennbar und ableitbar wurden.
Gregor Mendel hat nur zwei Abhandlungen über Vererbungsfragen veröffentlicht. Nach der oben aufgeführten berühmten Arbeit von 1866 erschienen noch seine Ergebnisse „Über einige aus künstlicher Befruchtung gewonnene Hieraciumbastarde“. Zu diesen Kreuzungsversuchen mit Habichtskraut (Hieracium) wurde er von Carl Nägeli ermutigt: Eine Katastrophe, da – damals unbekannt – Habichtskraut zur ungeschlechtlichen Samenbildung (Apogamie) neigt. Beim Habichtskraut schien sich „das gerade Gegenteil davon herausstellen zu wollen“, was er in seinen Erbsenversuchen beobachtet hatte. Die Allgemeingültigkeit der bei Gartenpflanzen wie Erbsen und Bohnen gefundenen Vererbung sregeln erschien hierdurch ernsthaft in Frage gestellt. Aber so bitter es für ihn gewesen sein muss: Mendel verschweigt das für ihn sehr enttäuschende Resultat bezüglich der fehlenden Aufspaltung der Hybride beim Habichtskraut nicht, sondern veröffentlicht es!16
Mendels neuartige, präzise quantitative Erfassung und statistische Analyse seiner experimentellen Kreuzungsversuche sowie die theoretische Ableitung der Vererbungsregeln erforderten einerseits die Fähigkeiten eines äußerst sorgfältigen Botanikers und erfahrenen Gärtners, als auch mathematische Kenntnisse und analytische Fähigkeiten andererseits. Gregor Mendel verfügte hierüber. Man kann es als eine Ironie der Geschichte auffassen, dass die stochastische Grundlage der Vererbungsregeln just in dem Jahr demonstriert wurde, in welchem sich der berühmte Physiologe Claude Bernard (1813-1878) vehement gegen die statistische Methode der Mittelwertbildung Quételéts wandte und einen konsequenten Determinismus in der Natur propagierte.17
Nach 1900 wurde Gregor Mendel als Begründer der modernen Genetik gefeiert. Aber nicht ohne Widerstand: Im Lande Darwins gingen der letztendlichen Anerkennung heftige Auseinandersetzungen zwischen der von Karl Pearson angeführten biometrischen Schule und den Anhängern der Mendelschen Vererbungslehre – insbesondere William Bateson – voraus.18
In seiner 1908 erschienenen Autobiographie berichtet Francis Galton (1822-1911), dass er erstmals 1863 auf Quételéts Methode der Anpassung der Gaußsche Glockenkurve an empirische Daten stieß.19 Er war fasziniert, dass die Glockenkurve empirische Daten der unterschiedlichsten Art wie Größe, Gewicht, Brustumfang oder Begabung des Menschen offenbar präzise beschrieb.
Ab 1865 wandte sich Galton verstärkt dem Studium der Vererbung zu – fortan sein dominierendes Thema. Wie sein Halbcousin Charles Darwin (1809-1882), hatte Galton keine Kenntnis von Gregor Mendels 1866 veröffentlichten Versuchen über Pflanzenhybride. Doch er unternahm Versuche mit Zuckererbsen! Anders als bei den Versuchen von Mendel und anderen Botanikern vor und nach ihm, ging es Galton nicht primär um die Kreuzung von Erbsensorten. Bis 1877 hatte Galton mit der Unterstützung von Freunden eine Reihe von Experimenten mit Erbsenpflanzen durchgeführt – um die Gewichte bzw. Durchmesser der Samen bei aufeinanderfolgenden Generationen zu untersuchen. Was war daran so interessant? – Sowohl die Gewichte der Erbsensamen der Elterngeneration als auch der Tochtergenerationen, die aus unterschiedlich schweren Samen hervorgegangen waren, wiesen eine Gauß-Verteilung auf, und zwar mit praktisch gleicher Streuung der Einzelwerte um den Mittelwert.20
Bereits einige Jahre zuvor hatte sich Galton , ähnlich wie zuvor der von ihm bewunderte Quételét , in die Natur des Gauß-Laplaceschen Fehlergesetz es vertieft. Die Gauß-Verteilung , für die Galton die Bezeichnung Normalverteilung einführte, beschrieb er euphorisch als „eine wunderbare Form der kosmischen Ordnung“. Er war begeistert, dass er die glockenförmige Verteilung auch bei vererbten Eigenschaften fand, – stellten diese doch keine unerheblichen, kleinen Fehler dar, die Laplace seiner Theorie der Fehler zugrunde gelegt hatte. Hier unterlag Galton allerdings einem Irrtum: Bei der von ihm untersuchten Variabilität der Gewichte von Erbsensamen handelte es sich um nicht-genetische Variabilität .21 Außerdem betrachtete Galton wie Charles Darwin kontinuierlich variierende Merkmale in Populationen, während Gregor Mendel – das war das revolutionär Neue – paarweise differierende Merkmale der Einzelpflanzen in den Mittelpunkt seiner Untersuchungen stellte.
ABBILDUNG 4 : Das Galton -Brett. Möglicher Weg einer Kugel.
Die Natur der biologischen Variabilität ist für die statistische Analyse ohne Bedeutung; wichtig ist lediglich der „Zufallscharakter“ der Daten. Die Frage, was Zufallsstichproben vor anderen Daten auszeichnet, ist hingegen keineswegs trivial. Modell e sind oft der erste Schritt zu einem tieferen Verständnis. Diesen Weg wählte auch Galton , zumal er über keine umfassende mathematische Ausbildung verfügte, und daher gern auf anschauliche Modelle zurückgriff. Für einen Vortrag vor der Royal Society im Jahre 1874, suchte er nach einer eindrucksvollen Illustration des Gauß-Laplaceschen Fehlergesetz es. Das Ergebnis seines Nachdenkens war ein geniales mechanisches Modell für Serien von verketteten Bernoulli -Versuchen, dem er die Bezeichnung Quincunx gab. Quincunx bezeichnet ursprünglich eine Anordnung von fünf Objekten, mit vier Objekten in den Ecken und eines im Zentrum eines Vierecks. Diese bei der Pflanzung von Bäumen benutzte Anordnung findet sich auch auf einer alten römischen Münze .22 Galtons Variante des Quincunx , auch als Galton-Brett bekannt, ist ein heute noch zu Anschauungszwecken gebräuchliches Modell. Abbildung 4 zeigt den schematischen Aufbau.
Das Bauprinzip ist folgendes: Die trichterförmige Vorrichtung am oberen Ende des schräg aufzustellenden Galton-Bretts verengt sich soweit, dass die im Trichter befindlichen Metallkugeln (Galton benutzte Schrotkugeln) diesen nur einzeln verlassen können. Die austretenden Kugeln treffen auf Reihen von versetzt angeordneten Stiften, z. B. Nägel. Die Abstände der Stifte werden etwas größer als der Kugeldurchmesser gewählt, so dass die Passage der Kugeln zwischen den Stiften möglich ist. Jede Kugel trifft auf dem Weg vom Trichter zum Boden des Galton-Brett s nach dem Passieren des Zwischenraumes zweier Stifte stets auf einen mittig angeordneten Stift der darunterliegenden Reihe. An jedem Stift erfahren die Kugeln eine gleichwahrscheinliche Ablenkung – sie machen entweder einen Schritt nach rechts oder nach links. Dies entspricht einem Bernoulli-Versuch . Nach dem Passieren der letzten Stiftreihe werden die Kugeln in Fächer aufgefangen.23 Das Galton-Brett ermöglicht einen anschaulichen Zugang zur Binomialverteilung und deren Approximation durch die Gauß- oder Normalverteilung.
Das Spektrum von Galtons statistischen Ideen war damit freilich nicht erschöpft. Er initiierte die statistische Methode der Regressionsanalyse, die u. a. von den führenden Statistikern Karl Pearson und Ronald Fisher weiterentwickelt wurde. Mit privaten Mitteln gründete der wohlhabende Galton ein Labor für Anthropometrie, aus dem später unter der Leitung von Karl Pearson die biometrische Schule hervorging.
Galtons Hauptinteresse galt Vererbungsphänomenen beim Menschen; unter anderem entwickelte er empirische Methoden zur Untersuchung der Vererbung von geistigen Begabungen. Als Erster führte er Untersuchungen mit eineiigen Zwillingen durch. Er ist auch der Erfinder des Fingerabdrucks zur Personenerkennung. Aber besonders interessierten ihn Möglichkeiten, die erblichen Eigenschaften der menschlichen Rasse „zu verbessern“. Für diese Untersuchungen erfand er den Begriff Eugenik.24
Galton interessierte sich ab etwa 1860 auch für Meteorologie. So entwarf er die erste Wetter karte und entdeckte die Existenz von Antizyklonen – gegen den Urzeigersinn drehende Zyklone.
Was Wunder, dass bei der bemerkenswerten Übereinstimmung wesentlicher Interessengebiete von Galton und Mendel , letzterer ebenfalls auf das Thema Zyklone stieß. Mendel veröffentlichte 1871 eine lebhafte, präzise Beschreibung einer sich im Uhrzeigersinn – und damit entgegen der Regel – drehenden Windhose, die im Jahr zuvor unter anderem das Altbrünner Kloster und die Stiftskirche beschädigt hatte.25
In einer Serie idealisierter Münzwürf e haben die Alternativereignisse „Kopf“ und „Zahl“ bei jedem Wurf stets dieselbe A-priori-Wahrscheinlichkeit ½, unabhängig davon, wie vorangegangene Ereignisse ausfielen; dieses Modell umfasst Folgen von „Kopf“ und „Zahl“ mit beliebiger Anordnung, also auch periodische Folgen. Gilt dies auch für reale Münzwürf e?
Im V. Prinzip seines „Essays“ erwähnt Laplace die Meinung einiger Philosophen, dass
(…) die Kombination, wobei „Kopf“ 20-mal nacheinander erscheint, der Natur mehr Mühe mache als jene, wo Kopf und Wappen in unregelmäßiger Weise vermengt sind.26
Laplace teilt diese Auffassung nicht, denn dies würde bedeuten, dass vergangene Ereignisse Einfluss auf das zukünftige Auftreten von „Kopf“ oder „Zahl“ hätten. Seine Auffassung ist vielmehr:
Die regelmäßigen Kombinationen treten nur deshalb seltener auf, weil sie weniger zahlreich sind.27
Sehen wir uns diese Aussagen näher an. Bei 20 Würfen könnten die Ergebnisse beispielsweise wie folgt aussehen:
Serie A: 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1
Serie B: 0 0 0 0 1 0 0 0 1 1 1 1 1 1 0 1 0 1 0 0
Hierbei wurde für das Ereignis „Kopf“ eine 1 und für „Zahl“ eine 0 gesetzt. Das Ergebnis der ersten Serie ist mit dem Beispiel von Laplace identisch. Die zweite Serie wurde durch reale Münzwürfe erhalten. Gemäß der Wahrscheinlichkeitstheorie – für Bernoulli-Versuch e mit gleichwahrscheinlichen Ausgängen – haben die Folgen der Serien A und B dieselbe Wahrscheinlichkeit des Auftretens, nämlich (½)20, d. h. die winzige Wahrscheinlichkeit von 0,000000954. Für Serien von 20 Versuchen gibt es insgesamt 220 = 1.048.576 verschiedene Kombinationen für die Anordnung von Nullen und Einsen, also mehr als eine Million unterschiedliche Folgen. Während es nur eine mögliche Realisierung für das Auftreten von 20 Einsen in Folge gibt, finden wir mit Hilfe des Binomialkoeffizient en, dass die Zahl der möglichen verschiedenen Folgen mit elf Nullen und neun Einsen 20!/9!11! = 167.960 beträgt. Die Wahrscheinlichkeit für das Auftreten von Folgen mit beliebig angeordneten elf Nullen und neun Einsen erhöht sich hierdurch drastisch, und zwar auf 0,16 – das Resultat der Multiplikation von 0,000000954 mit 167.960. Eine analoge Betrachtung gilt für beliebig höhere Versuchszahlen als 20. Die Wahrscheinlichkeiten für verschiedene Anzahlen des Ereignisses „1“ in einer Folge von Nullen und Einsen ergeben sich aus der Binomialverteilung . Soweit die Theorie.
Ob aber die „Natur“ der Kombinatorik und Wahrscheinlichkeitstheorie folgt, wie Laplace und nach ihm auch Poisson (1837) ganz selbstverständlich unterstellen, kann nur empirisch gesichert werden. Empirische Stützung suchte man wiederum bei den Wurzeln der Wahrscheinlichkeitstheorie – den Glücksspiel en und Lotterie n. Systematische empirische Untersuchungen wurden erst ab der Mitte des 19. Jahrhunderts durchgeführt, einzelne Beobachtungen datieren früher. Der bekannte Naturforscher Leclerc de Buffon (1707-1788) hatte bei 4.040 Münzwürfen 2.048-mal Kopf, 1.992-mal Zahl erhalten. Hieraus ergibt sich eine relative Häufigkeit des Ereignisses „Kopf“ von 0,507. dicht an der Gleichwahrscheinlichkeit (p = ½).28
Rudolf Wolf (1816-1893), vor allem bekannt durch seine Arbeiten über den 11-Jahres-Zyklus der Sonnenflecken-Aktivität, hatte in den „Mitteilungen der naturforschenden Gesellschaft (Bern)“ der Jahre 1849 bis 1851 und 1853 „Versuche zur Vergleichung der Erfahrungswahrscheinlichkeit mit der mathematischen Wahrscheinlichkeit “ veröffentlicht. Seine Versuche beinhalten 20.000 Würfe mit einem Würfel . Für die Augenzahlen 1 bis 6 fand er die relativen Häufigkeiten 0,170; 0,186; 0,159; 0,146; 0,172; 0,171. Die Daten zeigen beträchtliche Abweichungen von der Gleichwahrscheinlichkeit und den A-priori-Wahrschein-lichkeit en der sechs Seiten des idealen Würfel s, die jeweils Y bzw. etwa 0,167 betragen.29
Noch größere Fallzahlen erwürfelten gegen Ende des 19. Jahrhunderts der Zoologe und Biometriker Raphael Weldon (1860-1906) und seine Frau. Die über mehrere Jahre (!) mit großer Sorgfalt gewonnenen Daten verwendete er in seinen Vorlesungen von 1905 zur Demonstration der Anwendung der Wahrscheinlichkeitstheorie auf Charles Darwin s Theorie der natürlichen Zuchtwahl.30 Weldons Datensatz bestand aus 26.306 Würfen mit zwölf