ausgeweidet
Brigitte Lamberts
Annette Reiter
Clemens von Bühlows erster Fall
edition oberkassel
2014
Inhalt
Prolog – November 2010
1.
2.
3.
4.
5.
6.
7.
8.
9.
10.
11.
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22.
23.
24.
25.
Epilog
Danksagung
Autorinnen
Dank an die LeserInnen
Impressum
Personen und Handlungen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.
Ein Großteil der gastronomischen Ausflüge des Hauptkommissars spielt an realen Orten, die als Empfehlung zu verstehen sind.
für Eri von Annette
für Renate in memoriam von Brigitte
Freitag später Nachmittag Grafenberger Wald. Ein dumpfes »Plopp« ist in der einbrechenden Dämmerung zu hören. Die Rehe im Wildpark spitzen kurz die Ohren, die Wildschweine halten beim Durchwühlen der matschigen Erde nach Essbarem inne.
Stufe um Stufe steigt eine Gestalt bedächtig den Hochsitz im Grafenberger Wald hinunter. Das Gewehr geschultert, geht sie über die Lichtung, den Kopf leicht geneigt. Das klassische Novemberwetter mit ungemütlichem Nieselregen hat an diesem Tag den Wald leer gefegt. Nach gut fünfzig Metern erreicht die Person ihr Ziel, bückt sich über den Toten und betrachtet ihn. Dann packt sie beherzt zu und rollt den Leichnam über die Grasnarbe hinab in die Mulde, schaut sich kurz um und rutscht vorsichtig den aufgeweichten Abhang hinunter. Bereits auf der Lichtung war die drückende Luftfeuchtigkeit zu spüren, hier in der Mulde steht die Luft.
Etwas von der Leiche entfernt legt sie das Gewehr und den Rucksack ab, streift dünne Gummihandschuhe über und holt ein Jagdmesser und eine Rippenschere aus dem Rucksack. Entschlossen dreht sie sich um und geht auf den Toten zu, der rücklings auf dem Muldenboden liegt, bückt sich erneut über ihn und beginnt ihn zu entkleiden. Eine schweißtreibende Angelegenheit, denn der Jogginganzug liegt eng an, und der Overall, den sie schon vor dem Erklimmen des Hochsitzes übergezogen hat, ist luftdicht. Schließlich ist es geschafft. Mit einer letzten schwungvollen Bewegung hält sie die Jogginghose in der Hand. Der Rest geht einfacher. Ohne Hast legt sie Jogging-anzug, Unterwäsche und Socken des Toten sorgsam zusammen und platziert sie mit den Turnschuhen einige Meter entfernt. Sie streckt sich, um den schmerzenden Rücken etwas zu entlasten, und atmet tief durch, greift nach dem Jagdmesser und schlitzt mit einem schnellen Schnitt die Arterien am Hals und im Leistenbereich auf, ebenso die Schlagadern an den Handgelenken. Das Blut strömt aus dem Körper, bildet eine Lache und sickert in Rinnsalen in die Erde. Es vergeht eine gefühlte Ewigkeit, bevor das Verstümmeln der Leiche beginnt.
Erst wird der Penis großräumig entfernt, dann die Hoden ausgeschält, die nur noch einen schlappen Hautlappen darstellen. Angewidert wirft die Gestalt das Glied und die gallertartige Masse weit von sich. Das Blut wirkt im fahlen Licht fast schwarz auf den Handschuhen. Immer wieder wischt sie mit einem Baumwolllappen ihr Werkzeug ab. Streckt sich, legt den Kopf in den Nacken, schaut sich um. Eine weitere gekonnte Bewegung mit dem Jagdmesser, und der gesamte Oberkörper vom Bauchnabel bis zur Kehle ist aufgeschlitzt. Am Brustbein bessert sie mit der handlichen Rippenschere nach. Beherzt reißt sie den geöffneten Brustkorb auseinander, greift hinein und zerrt mit einem kräftigen Ruck die Speiseröhre und die Innereien heraus. Hakt es irgendwo, wird mit dem Messer nachgeholfen. Obwohl das Aufbrechen mehr Zeit in Anspruch genommen hat als gedacht, betrachtet sie das Resultat mit Genugtuung: Hier liegt nur noch die Hülle eines menschlichen Körpers. Die Organe, glatt und glibberig, legt sie ebenfalls in der Nähe ab, die entsorgen die Raben und Füchse.
Mittlerweile ist es fast dunkel, nur der Mond spendet trotz der leichten Bewölkung diffuses Licht. Von Westen ziehen dicke schwarze Wolken auf. Sie holt die spezielle Stirnlampe aus dem Rucksack, die punktgenau Licht spendet, ohne als Lampe erkennbar zu sein. Denn jetzt kommt der knifflige Teil: Die Patrone muss wieder raus aus dem Schädel des Toten. Anspannung und Anstrengung der vergangenen vierzig Minuten fordern ihren Tribut. Die Hände zittern leicht, sodass sie Mühe hat, ein frisches Paar Gummihandschuhe überzustreifen. Hoch konzentriert führt sie eine kleine Zange in den Einschusskanal ein, rutscht aber mehrmals am Projektil ab. Dass sich das Geschoss verformt, damit hat sie gerechnet. Dass es aber unendlich viel Geduld braucht, um es zu entfernen, hätte sie nicht gedacht. Das hält jetzt auf. Endlich! Behutsam zieht sie die Kugel hervor. Mit schnellen Handgriffen schneidet sie das umliegende Gewebe der Einschusswunde heraus.
Sie erhebt sich, sammelt Handschuhe, Rippenschere, Zange und Baumwolllappen ein und verstaut alles in einer Plastiktüte. Dann rollt sie die Leiche auf die Seite. Von einem nahe stehenden Baum schneidet sie Zweige ab, einen legt sie auf den Körper des Toten, einen weiteren quer durch den Mund des Opfers.
Langsam klettert die Gestalt die Mulde hoch. Auf der Höhe der Grasnarbe blickt sie sich um, bevor sie über den kleinen Vorsprung den Waldweg erreicht. Sie zieht die Synthetikhaube vom Kopf, entledigt sich der Handschuhe, des Overalls, der Überzieher, packt alles zu den anderen Utensilien in die Plastiktüte und verstaut diese gut verknotet im Rucksack. Sie schultert das Gewehr und blickt nochmals auf den Toten. Schon hört man die ersten Schreie der Raben, ein langsam anschwellendes »Rab, Rab«.
Auf dem Weg zum Auto fallen erste größere Tropfen – der angekündigte heftige Regen. Kurz darauf gießt es in Strömen, als wenn eine Flutwelle Düsseldorf mit sich reißen wollte.
Freitag früher Abend Zooviertel. Erika Wagner kehrt durchnässt in ihre Villa im Zooviertel zurück. Sie hat es gerade noch geschafft, ihr Auto zu erreichen, bevor der Regen niederprasselte. Völlig erledigt von der Anstrengung, die hinter ihr liegt, stößt sie die Haustür auf. Schon schlägt die antike Standuhr im Eingangsbereich die volle Stunde. Die pensionierte Lehrerin ist in Eile. Sie erwartet ihre zwei längsten und – sie gesteht es sich gern ein – besten Freundinnen zum wöchentlichen Canasta-Abend. Schnell hängt sie ihre Wachsjacke auf, legt den Rucksack ab und widmet sich dem Kamin im Wohnzimmer. Es ist zwar recht warm, aber ein Feuer in den Herbst- und Wintermonaten gehört zum Freundinnentreffen einfach dazu. Schon lodern die Flammen und verbreiten einen gemütlichen Schein in dem großzügig geschnittenen Raum. Erika schaut sich um. Es ist alles vorbereitet, der Champagner liegt kalt, und das Essen hat sie wie gewohnt beim Italiener bestellt.
Schnell schlüpft sie in einen roten Rollkragenpullover und eine elegante graue Wollhose. Kaum hat sie – an diesem Tag zum ersten Mal – ihr Lieblingsparfüm Chanel No. 22 aufgelegt, klingelt es. Hastig fährt sie sich mit den Fingern durch ihre kurz geschnittenen Locken und läuft die Treppe hinunter zur Haustür, fällt fast über ihre Füße und ist genervt, als es schon wieder klingelt. »Meine Güte, ich komme ja schon.«
Als Erste schiebt sich Irma Seidlitz resolut an Erika Wagner vorbei in die breite Diele. »Du warst auch schon mal schneller.« Die Angesprochene verdreht die Augen. Ja, ihre Freundin ist ein Jahr jünger, muss das ständig betonen und auch, dass sie gertenschlank ist. Dafür rackert sie sich dreimal in der Woche in einem Studio ab. Sie selber hält es da mit dem Grafenberger Wald, den kennt sie so gut wie kaum ein anderer.
Charlotte Prochnow hingegen, die gerade ihre Dauerwelle von einer Regenhaube befreit, ist klein und rundlich, und es ist ihr egal. Sie isst gern, was sie so fit hält wie Sport, und widmet sich ihrem liebsten Hobby: Sie ist steinreich.
Die drei sind Schulfreundinnen aus ehemals wohlhabenden schlesischen Familien, aufgewachsen in einem Ort in der Nähe von Görlitz, dann die Flucht, die Trennung. Nach dem Krieg suchten sie einander und fanden sich wieder. Wie der Zufall es wollte, hatte es sie alle ins Rheinland verschlagen.
Irma Seidlitz hatte nach dem Krieg in Düsseldorf eine kaufmännische Ausbildung absolviert und Karriere gemacht. Sie gehört zu den wenigen Frauen ihrer Generation, die eine Führungsposition in einem Unternehmen bekleideten. Privat lief es leider nicht so gut. Ab und an ein Geliebter, aber den Traummann sucht sie immer noch. Dafür hängt sie abgöttisch an ihren drei Katzen, was ihr immer wieder spitze Bemerkungen der Freundinnen einbringt.
Ganz anders Charlotte Prochnow. Sie heiratete nach dem Krieg einen Heimkehrer aus dem Rheinland, der bald an seiner Kriegsverletzung starb. Dann kam Mann Nr. 2. Und Nr. 3. Und schließlich Nr. 4. Alle gestorben. Seitdem sieht Charlotte alles immer schwarz und das Glas halb leer. Aber jedes Mal war das Erbe größer als das vorangegangene. Nun hat sie die Nase voll. Ein Freund, wenn es sich denn ergibt, ist in Ordnung, aber sie wird nie wieder den Bund der Ehe eingehen, denn sie ist davon überzeugt, dass sie ihren Ehemännern Unglück bringt.
Die Gastgeberin Erika Wagner ist wie Irma nie eine Ehe eingegangen. Stattdessen hatte sie über dreißig Jahre eine glückliche Beziehung zu einem verheirateten Mann. Er starb vor zwei Jahren, für sie ein schwerer Schlag, denn es war trotz aller Umstände eine sehr innige Beziehung gewesen. Ihre Arbeit als Lehrerin für Sport und Deutsch am Luisen-Gymnasium in der Carlstadt hat sie sehr ausgefüllt und dafür gesorgt, dass sie wie ihre Freundinnen gesund und fit ist. Gegen die altersbedingten Wehwehchen helfen Sekt und leckeres Essen. Außerdem ist sie vielseitig interessiert, ständig unterwegs, sie geht oft auf die Jagd, macht tägliche Spaziergänge und hat im Ruhestand mit Golfen angefangen. Doch das Leben der drei hätte sich nicht unterschiedlicher entwickeln können, nur in Sachen Disziplin, Durchsetzungskraft und Sturheit sind sie sich sehr ähnlich.
Die Freundinnen betreten das Wohnzimmer und setzen sich in ihre Lieblingssessel am Kamin. Jede hat ihren eigenen Platz, denn schon seit über vierzig Jahren spielen sie miteinander – komme, was da wolle –, nur ein Ballettabend in der Düsseldorfer Oper könnte sie davon abhalten. Außerdem behauptet Irma, dass sie auf diese Weise viel positive Energie angesammelt hat, die ihr beim Siegen hilft.
Heute ist ein besonderer Tag. Statt des üblichen Sekts zur Begrüßung präsentiert Erika Champagner. Charlotte, die ausschließlich Champagner trinkt und sich immer über Erikas Hausmarke beschwert, bemerkt in leicht gereiztem Ton:
»Es gibt ja wohl nichts zu feiern?«
Denn heute ist kein Tag der Freude.
»Wie man’s nimmt. Jetzt ist es immerhin vorbei«, antwortet Erika. Die Resignation in ihrer Stimme ist nicht zu überhören.
Sie alle wissen, worum es geht. Heute wurde am Düsseldorfer Landgericht das Urteil in einem Missbrauchsprozess gesprochen. Die Besonderheit: Das missbrauchte Kind Marie Hartmann ist geistig behindert. Erika war bei allen Verhandlungstagen im Gerichtssaal. Sie ist seit vielen Jahren mit der Familie Hartmann befreundet, auch mit der Mutter von Marie, Senta Hartmann, die als Nebenklägerin auftrat.
Wie zu erwarten war, wurde der angeklagte Vater nach der Maxime »Im Zweifel für den Angeklagten« freigesprochen. Der Missbrauch stand für viele außer Zweifel, aber der Beweis, dass der Vater der Täter war, konnte nicht ausreichend erbracht werden. Die Enttäuschung ist groß, auch wenn die drei Freundinnen ahnten und viel darüber diskutierten, dass das Verfahren so ausgehen würde.
»Ich verstehe das nicht«, ergreift schließlich Charlotte das Wort, »der Oberstaatsanwalt hätte doch nie ein Strafverfahren geführt, wenn er nicht eine Chance auf Verurteilung des Vaters gesehen hätte.«
»Wir waren anfangs ja auch sehr optimistisch«, erwidert Erika. »Es spricht alles dafür, dass er Marie missbraucht hat. Aber aufgrund ihrer Behinderung werden ihre Aussagen anders bewertet als Aussagen von Kindern ohne eine solche Behinderung. Das haben wir wohl alle unterschätzt.«
Irmas Augen blitzen auf. Heftig fuchtelt sie mit ihrer wie gewohnt viel zu beringten Hand vor Erikas Gesicht herum. Die reagiert prompt.
»Irma! Wie oft soll ich dir … !«
»Schon gut.« Irma zieht ihre Hand zurück.
»Was mich nur so ärgert, ist die Tatsache, dass Marie bereits mit vier untersucht wurde, und zwar kindergynäkologisch. Du hast uns ausführlich erklärt, was das bedeutet, und man hat damals – wie lange ist das jetzt her? –, na ja, man hat jedenfalls damals schon Verletzungen bei ihr festgestellt, im Genitalbereich.«
Erika nimmt einen kräftigen Schluck und setzt dann ihr Champagnerglas etwas unsanft auf dem gläsernen Beistelltisch ab.
»Und nie hat man Spermien oder sonst etwas gefunden, obwohl Marie mehrmals gesagt hat, dass ihr Vater sie missbraucht hat. Keine Beweise, keine Verurteilung. Dabei sind die Folgen des Missbrauchs nun wirklich mehr als deutlich. Das arme Kind! Diese ständigen Angstattacken, die Essstörungen – es ist einfach furchtbar! Und der Vater? Ist wieder frei, einfach so. Eine Schande ist das! Und dann dieser Strafverteidiger!« Erika hat sich in Wut geredet und ist kaum zu stoppen. Charlotte und Irma lassen sie gewähren, die Wut muss schließlich raus. »Hat dieser abgefeimte Mensch nichts anderes zu tun, als Marie Fangfragen zu stellen? Ständig die gleiche Frage, nur immer wieder anders formuliert. Führt Marie einfach so vor, und niemand greift ein.«
Irma schüttelt den Kopf. »Tolles Rechtssystem. Da hat ein geistig behinderter Mensch doch gar keine Chance auf Gerechtigkeit.«
»Und dabei ist die Dunkelziffer an Missbrauchsopfern unter geistig behinderten Menschen wesentlich größer als bei Gesunden. Stellt euch das mal vor, das ist doch grauenhaft.«
Für eine kurze Zeit ist nur das Knistern der Holzscheite zu hören. Die Freundinnen hängen ihren Gedanken nach. Es waren aufregende Wochen für sie.
Charlotte nimmt den Faden wieder auf. »Wie hat sich eigentlich der Vater von Marie heute verhalten?«
»Der hat völlig unbeteiligt dagesessen und keine Miene verzogen. Ich habe mich gefragt, ob er vielleicht irgendetwas eingenommen hat. Aber egal, der Mann hat doch sowieso kein Herz. Den lässt es doch vollkommen kalt, was er Marie angetan hat.«
»Schon nach den ersten Verhandlungstagen habe ich euch gesagt, das wird nichts«, ereifert sich Charlotte.
»Du siehst doch immer alles pessimistisch«, zischt Erika zurück. »Wir mussten es immerhin probieren.«
»Ich weiß, Erika«, erwidert Charlotte, »aber im Gegensatz zu dir ist der Preis, den Senta und Marie bezahlen, sehr hoch. Allein die emotionale Belastung während der Verhandlung.«
Doch bevor Erika etwas erwidern kann, versucht Irma, das Gespräch in ruhigere Bahnen zu lenken: »Wie hat Senta denn das Urteil aufgenommen?«
Erika seufzt: »Ihr ist alle Farbe aus dem Gesicht gewichen. Ich habe geglaubt, sie wird ohnmächtig oder bekommt einen Weinkrampf. Aber weder das eine noch das andere ist passiert. Sie ist einfach nur auf ihrem Stuhl zusammengesunken und wirkte wie abwesend.«
Erika hebt Aufmerksamkeit heischend die Hand.
»Aber wer hatte dafür einen großen Auftritt heute? Erinnert ihr euch noch an Sieglinde Frank, die früher Marie betreut hat? Eine alte Schulfreundin von Senta. Gut, sie ist manchmal etwas herb und direkt, aber dass sie vor allen Anwesenden aufsteht und Briest als pädophiles Schwein beschimpft, hätte ich ihr nicht zugetraut.«
»Was hat sie gesagt?«, fragt Charlotte aufgeregt nach.
»Im Wortlaut weiß ich es nicht mehr. Es war so etwas wie ›Du wirst dich jedenfalls nie wieder an Kindern vergreifen‹.«
Erika trinkt ihr Glas leer. Nach kurzer Pause erfolgt ihr Schlusswort, Irma und Charlotte kennen das von ihr. »Recht und Gerechtigkeit sind eben zwei verschiedene Paar Schuhe. Und es zeigt sich wieder einmal, dass das juristische Denken vollkommen konträr zum alltäglichen Rechtsempfinden ist. Doch Gott sei Dank gibt es ja eine höhere Gerechtigkeit. Auch dieser Herr Briest steht einmal vor seinem Schöpfer.«
Erstaunt schauen sich Irma und Charlotte an – das aus Erikas Mund, die nun wirklich keine Gläubige ist.
In diesem Moment klingelt es. Vittorio Bertoni, ein junger Aushilfskellner ihrer Lieblingstrattoria, bringt das Essen, pünktlich um zwanzig Uhr. Da die Canasta-Runde zu den festen Stammgästen des Italieners gehört, bespricht die jeweilige Gastgeberin zuvor stets mit dem Küchenchef das Menü, meist etwas Besonderes, das nicht auf der Karte der Trattoria Baccala in der Heinrichstraße steht. Heute gibt es Fischsuppe mit Baguette als Vorspeise, Perlhuhn auf Schalotten mit Nudelvariationen als Hauptgericht und als Nachtisch Mousse au chocolat, dazu einen Montepulciano.
Beim Essen wird das Thema fallen gelassen. Schon zu oft haben die Frauen darüber gesprochen. Um die latente Traurigkeit, die sich eingeschlichen hat und die auch das exzellente Essen nicht ganz vertreiben kann, in den Griff zu bekommen, ringen sie sich dazu durch, dennoch zu spielen. Die drei sind alles andere als oberflächlich, doch im Laufe der Jahre und vor dem Hintergrund dessen, was sie erleben und erleiden mussten, ist das Beiseiteschieben, das Ablenken, zu einer wohltuenden Verhaltensregel geworden.
Wie immer wird das Spiel hitzig, da keine von ihnen verlieren kann. Erika schummelt, was das Zeug hält, Irma stellt immer neue Regeln auf, und Charlotte fegt schon mal die Karten vom Tisch. Weit nach Mitternacht löst sich die Runde auf. Charlotte und Irma nehmen sich wie jedes Mal ein Taxi mit ihrer ganz persönlichen Chauffeurin. Sie ist Afrikanerin, groß und kräftig, und besitzt ein ausgesprochen humorvolles Gemüt, sodass die Fahrten mit ihr immer zu einem Erlebnis werden, vor allem wenn andere Verkehrsteilnehmer sich rücksichtslos verhalten; dann kann man durch Maria seinen Wortschatz ungemein erweitern. Sie ist selbstständige Taxi-Unternehmerin und hat einen kleinen Kreis von Stammkunden, für die sie jederzeit da ist, auch in Notfällen. Maria bringt die Damen nach Hause und begleitet sie jeweils bis zur Haustür. Wie immer, so auch diesmal, sind Irma und Charlotte beschwipst, das ist normal nach einem Canasta-Abend.
Freitag früher Abend Petit Salon. Senta Hartmann schlüpft in das Kleid für die Generalprobe. Freitags und samstags tritt sie mit verschiedenen Liederabenden im Petit Salon in der Adersstraße auf. Ein Engagement, das ihr großen Spaß macht und ihr viel Selbstbestätigung gibt. Heute steht die Generalprobe für den morgigen Marlene-Dietrich-Abend an. Es fällt ihr schwer, sich nach der anstrengenden Verhandlung und dem sie erschütternden Freispruch ihres Ex-Mannes darauf zu konzentrieren. Doch bei einer Generalprobe kommen nicht nur Fans, sondern auch enge Freunde, und die kann sie heute gut gebrauchen. Danach ist sie mit ihrem Freund Pascal verabredet. Ihm gehört der Petit Salon. Sie muss ihm nichts erklären, er kann gut zuhören und hat selbst Schlimmes in seinem Leben erlebt. Das gibt ihr Kraft.
Kaum steht Senta auf der kleinen Bühne, fällt alles von ihr ab. Groß gewachsen, schlank, mit auffallender Haarpracht und dem figurbetonten Abendkleid nimmt sie den ganzen Raum ein. Und doch ist es nicht allein ihre mondäne Ausstrahlung, die begeistert. Es ist auch, trotz ihrer 45 Jahre, etwas Kindliches, das durchschimmert, das ihr so viel Sympathien einbringt. Ihre klare Stimme, die natürliche Ausstrahlung und ihre Liebe zur Musik reißen die Gäste in dem glamourösen Varieté-Theater mit. Nach zwei Zugaben strahlt sie vor Glück über die gelungene Probe. Pascal kommt auf die Bühne, umarmt Senta überschwänglich und zaubert hinter seinem Rücken einen Strauß roter Rosen hervor. Dann ergreift er mit graziösen Bewegungen das Mikrofon, ist ganz Entertainer, bedankt sich charmant beim Publikum und wünscht allen noch einen angenehmen Abend an der Bar. Unter erneutem Applaus geleitet er Senta von der Bühne.
»Du warst fantastisch. Die Gäste haben an deinen Lippen gehangen!« Pascal lächelt. »Aber jetzt lassen wir den Abend ungestört beim Cocktail ausklingen. Das Taxi steht schon vor der Tür.« Er umarmt sie nochmals, hilft ihr in den Mantel und begleitet sie zum Wagen.
In der Bogletti-Bar werden sie vom Besitzer begrüßt, der Pascal sofort in ein Gespräch verwickelt. Senta kennt das schon. Zuerst muss ein bisschen Tratsch ausgetauscht werden. Doch dann nutzt Pascal geschickt die Ankunft eines weiteren Gastes, um sich aus den Fängen der Unterhaltung zu befreien. Schnell fasst er Senta an der Hand und steuert mit ihr zielstrebig auf eine Nische zu, wo sich die beiden in eines der tiefen Ledersofas fallen lassen.
»Entschuldige, aber du kennst das ja.«
Senta lacht. »Ihr Lästermäuler.«
Pascal quittiert die Bemerkung mit einem beleidigten Gesichtsausdruck, der aber sofort in ein breites Grinsen übergeht.
»Ach, ständig diese eifersüchtigen heterosexuellen Damen. Komm, Schatz, erst einmal einen Cocktail und dann entspannen.« Durchatmen kann man im Bogletti ausgezeichnet. Das Ambiente, in dunklen, warmen Brauntönen gehalten, liebevoll eingerichtet mit einem sicheren Händchen für Stil und mit angenehmer Hintergrundmusik, lässt die Anspannung wie von selbst verschwinden. Nachdem Senta einen ›Coconut Kiss‹ und Pascal einen Champagnercocktail vor sich stehen haben, sprechen sie über den Erfolg des heutigen Abends. Ausverkauft! Und das bei einer Generalprobe. Pascals Augen leuchten, während er Senta von seinen Plänen berichtet.
»Silvester machen wir einen Operettenabend. Ach, das könnte man so schön inszenieren. Vielleicht lasse ich rote Rosen oder Sterne regnen.« Senta grinst. Pascal ist ganz in seinem Element. Er liebt Operetten.
»Wie wäre es mit dem Rosenkavalier?« Er lacht laut auf. »Du als Maria Theresa Fürstin Werdenberg mit deinem siebzehnjährigen Geliebten im Schlafgemach. Und dann das ganze Durcheinander, erst kommt dein Vetter und stört euch«, Pascal kommen vor Lachen die Tränen, »und dann der morgendliche Empfang mit Bittstellern, Intriganten und was sich da sonst noch so in deinem Schlafgemach tummelt. Das wird die ganz große Bühne. Das wäre ganz große Show und würde nicht nur unserem Publikum von der Rethelstraße gefallen.« Er ist nicht zu bremsen.
»Und natürlich die wunderschönen Roben. Ich bin sicher, dass uns Frau Sauter wieder mit ihrer Haute Couture unterstützen wird.«
Senta malt sich bereits den ersten Akt aus. Sie lässt sich gern von Pascals kreativen Einfällen anstecken, da sind sie wirklich ein produktives Team.
»Und dann die große Liebe mit allem, was dazugehört, mit Intrigen, Zweikämpfen, hingebungsvollen Küssen und einer Menge Tränen.« Pascal hat sich so in Rage gesprochen, dass er kaum noch Luft bekommt. Er nimmt einen Schluck Champagner, greift in die kleine Schale mit Erdnüssen und lässt sich in die Polster zurückfallen.
Nach einer kleinen Weile fragt er leise:
»Willst du von heute erzählen?«
Senta schaut ihn an. Ihr kommen die Tränen.
»Es war grauenhaft.« Sie wischt sich hastig übers Gesicht.
»Vielleicht war ich naiv. Aber ich hätte es mir nicht träumen lassen, dass der Strafverteidiger Marie so in die Enge treiben würde. Immer wieder die gleichen intimen Fragen, immer wieder anders formuliert, sodass Marie zum Schluss vollkommen durcheinander war. Selbst die Verfahrenspflegerin, deren Aufgabe es ist, die Kinder zu schützen, ist nicht eingeschritten.«
»Ich verstehe das nicht. Wie konnte es zu einem Freispruch kommen? Maries Aussagen sind doch eindeutig.«
»Ja, das sind sie auch. Aber man hat keine Rücksicht auf Maries Behinderung genommen. Das ist wohl von Gericht zu Gericht verschieden, und in Düsseldorf läuft es eben so.« Sie rührt in ihrem Cocktail.
»Weißt du, es hat unglaublich wehgetan, dabeisitzen zu müssen, während der Strafverteidiger Marie in die Mangel genommen hat. Und Marie, dieses Seelchen, hat seine Fragen vertrauensvoll beantwortet und gar nicht bemerkt, dass er sich über sie lustig macht. Strafverteidiger sind doch wirklich das Letzte.«
Behutsam reicht Pascal ihr ein Taschentuch.
»Und ausgerechnet ich habe ihr gesagt, dass sie vor Gericht die Wahrheit sagen muss und alles erzählen soll, was der Papa mit ihr gemacht hat. Als dann der Strafverteidiger sie gefragt hat: ›Sag mal, Marie, hat die Mama dir gesagt, dass du uns das alles hier erzählen sollst?‹, da hat Marie natürlich geantwortet: ›Ja, die Mama hat gesagt, dass ich das alles sagen soll.‹ Natürlich hat sie die Frage des Strafverteidigers anders verstanden.«
»Und was machst du jetzt?«
»Keine Ahnung. Ich hatte nur diese eine Chance. Immerhin habe ich es versucht. Jetzt muss ich mich bemühen, mein Leben wieder in den Griff zu bekommen. Und ich kann nur hoffen, dass Marie das alles verkraftet. Wie soll sie das verstehen, dass ihr Vater nicht zur Rechenschaft gezogen wird. Wenn ich bedenke, welche seelischen Schäden meine Tochter davongetragen hat! Ihr geht es mittlerweile viel besser, dennoch rastet sie immer mal wieder aus. Und dann die Schlafstörungen. Sie hat immer noch Angst vor der Dunkelheit und schläft deshalb bei Licht. Jeden Abend schaut sie nach, ob jemand unter dem Bett liegt oder sich im Kleiderschrank versteckt hat.«
Senta hält kurz inne und streicht sich eine Haarsträhne aus der Stirn.
»Dass er seiner gerechten Strafe entgeht, ist das eine. Aber es gibt dabei noch eine andere Dimension. Ein Freispruch bedeutet, dass die Opfer nicht als solche rechtlich anerkannt werden. Und das wiederum heißt: keinerlei finanzielle Unterstützung bei der Therapie. Und Marie muss noch jahrelang therapeutisch behandelt werden. Wie ich das alles schaffen soll, ist mir ein Rätsel.«
»Du hättest vielleicht doch das eine oder andere Angebot annehmen sollen, ihn fertigzumachen.« Pascals Stimme ist der Zorn deutlich anzuhören.
»Ich habe auch immer mal wieder daran gedacht. Aber im Grunde ist das nicht der richtige Weg. Dann hätten wir noch mehr Probleme. Ich möchte mich lieber um Marie kümmern und das Geld für ihre Behandlung verdienen. Deshalb bin ich dir dankbar für deine Unterstützung.«
Jetzt lächelt sie schon wieder. Diese innere Stärke, sich immer wieder auf das Positive zu besinnen, sich nicht unterkriegen zu lassen und dabei nicht ihren Humor zu verlieren, liebt Pascal an seiner Freundin.
»Die Liederabende und eventuell weitere Projekte, das ist es, worauf ich mich jetzt konzentrieren möchte. Das gibt mir so viel Rückhalt, ich kann dir gar nicht sagen, wie wichtig mir das ist.«
Pascal lächelt. »Dann lass uns mit vereinten Kräften den Erfolg vorantreiben. Deine Liederabende sind echt der Renner, und dass sogar die Generalprobe so gut angenommen wird, ist sensationell.«
Er prostet ihr zu. »Auf das Gute im Leben.«
Senta trinkt langsam, stellt das Glas leise ab und trocknet die letzten Tränen.
Samstagmorgen Grafenberger Wald. Axel Nolte, rüstiger Rentner und gerne früh auf, dreht mit seinem Jack-Russell-Terrier Ronja die erste Runde im Grafenberger Wald. Nach dem orkanartigen Unwetter von gestern sind die sonst gut begehbaren Waldwege schlammig, und er muss achtgeben, wohin er tritt. Aber dafür ist die Luft klar und frisch.
Ronja ist gut erzogen und hat eine lange Ausbildung in der Hundeschule hinter sich. Axel Nolte lässt sie deshalb auch im Wald frei laufen. Ronja rennt los, kommt aber zwischendurch immer wieder zu ihm zurück, sodass sie mindestens die doppelte Strecke läuft. Doch heute wird sie nach zehn Minuten unruhig, läuft plötzlich los, kommt nicht zurück und kläfft sich die Seele aus dem Leib.
Als sie auf Noltes Rufe nicht reagiert, folgt er leicht verärgert dem Gekläffe und sieht seinen Terrier in einer Mulde nicht weit vom Wegesrand aufgeregt zappeln. Nolte kann erkennen, dass in der Mulde etwas liegt, vielleicht ein totes oder krankes Tier, aber sicher ist er sich nicht. Also klettert er den Abhang hinunter. Auf dem aufgeweichten Boden kommt er ins Rutschen und landet ziemlich unsanft. Dann sieht er das, was seinen Hund so aufregt. Ein nackter Mensch liegt auf der Seite.
Axel Nolte rappelt sich entsetzt auf und schaut sich die Gestalt dann vorsichtig näher an. Ein Schwarm von Insekten hat sich auf der Leiche niedergelassen und umschwärmt, kaum ist er nahe genug, auch seinen Kopf. Ein unangenehmer Geruch steigt ihm in die Nase. Angewidert wendet er sich ab, versucht, die Fliegen mit den Händen zu vertreiben, und herrscht seinen Hund an, der sofort kommt. »Los jetzt!«, gibt er Ronja das Kommando und zeigt nach oben in Richtung Waldweg. Der Terrier prescht los. Nolte folgt ihm, rutscht aber immer wieder aus, stolpert und erreicht schließlich fluchend und verdreckt den Weg. Viel hat er nicht gesehen im noch herrschenden Zwielicht, schließlich ist November, aber es hat ihm gereicht. Ihm wird schlecht, er würgt, und ihm bricht kalter Schweiß aus. Mit weichen Knien stolpert er zu einem Holzstumpf und setzt sich. Krampfhaft hält er Ronja am Halsband fest, die wieder die Böschung hinunter will. Er schaut sich um, kein Mensch weit und breit. Mit zitternden Fingern holt er sein Handy aus der Jackentasche und drückt die Notruftaste.
Samstagmorgen Hafen. Endlich ein freier Samstag. Clemens von Bühlow, Hauptkommissar des KK11 der Düsseldorfer Mordkommission, steht, noch nicht ganz wach, mit einem Becher Milchkaffee in der Hand vor dem großen Fenster seines Appartements und blickt auf den Innenhafen. Er genießt die Aussicht und überlegt gerade, auf was er an diesem Wochenende Lust hat. In den letzten Wochen hat er mit seinem Team rund um die Uhr gearbeitet, um den Mord an einem stadtbekannten Dealer aufzuklären. Ein guter Erfolg für alle. Als das Telefon klingelt, ist er irritiert, wer so früh etwas von ihm will.
»Von Bühlow. Hallo?«
Sein Chef, Kriminalrat Otto Kreutz, Leiter des Düsseldorfer Morddezernats, meldet sich.
»Ich weiß, du hast ein freies Wochenende und keine Bereitschaft, aber wir haben einen Mord, bei dem ich dich dabeihaben will. Das ganze Team der Bereitschaft ist schon da. Doch für auf der Heide ist das eine Nummer zu groß, der hat noch nicht so viel Erfahrung. Er selbst hat mich gebeten, dich hinzuzuziehen. Wir brauchen dich am Tatort. Bring bitte die Esser mit.«
Clemens ist alles andere als begeistert, sagt aber zu. Er hätte die zwei freien Tage dringend für sich gebraucht, um sich zu entspannen und mal wieder etwas anderes zu sehen als das Polizeipräsidium und seine Kollegen. Obwohl er seinen Beruf liebt, macht es ihm zu schaffen, dass sein Privatleben kaum noch existiert. Als er noch nicht bei der Mordkommission war, hatte er Zeit, seine Freundschaften zu pflegen, und nun kann er kaum noch am Leben der Freunde teilnehmen.
Er geht ins Bad, lässt sich kaltes Wasser über Kopf und Nacken laufen, bis sich alles taub anfühlt. Die morgendliche Benommenheit ist wie weggeblasen, und während er sich die Haare trocken rubbelt, greift er schon zum Telefon und ruft Hauptkommissarin Maria Esser an.
»Hey, kein ruhiger Samstag im Bett, ich hol dich in fünfzehn Minuten ab. Und zieh dir was Nettes an, es geht in den Grafenberger Wald.«
»Schon klar, für dich schicke ich alle meine Liebhaber nach Hause und werfe mich ins kleine Schwarze. Bis gleich.«
Clemens muss grinsen über den Spruch seiner Kollegin. Sie verstehen sich gut, was der Erfolgsquote zugutekommt und nicht immer so selbstverständlich ist, wenn man den anderen so zuhört. Aus dem Kleiderschrank greift er sich T-Shirt, Rollkragenpulli und Boxershorts und nimmt eine schwarze Jeans und ein braunes Wollsakko vom Bügel. Dass ihm keine Zeit für eine Dusche bleibt, ist ihm mehr als unangenehm. Clemens liebt es, gepflegt zu sein, daher auch seine Leidenschaft für maßgeschneiderte Anzüge. Als stilbewusster Mensch schätzt er die schönen Seiten des Lebens wie schmackhaftes Essen, einen guten Wein, die Kunst und hochwertige Kleidung. Sein Lebensmotto lautet: Lieber weniger, aber dafür mit Stil und Qualität. Sein Gehalt erlaubt keine allzu großen Sprünge, und so muss er kreativ sein. Da reicht es gerade für eine kleine Wohnung im Hafen, einem der quirligsten Viertel Düsseldorfs, mit einem sensationellen Blick und für einen alten Porsche, als Schnäppchen erstanden und ohne seinen besten Freund Alexander, der sich in seiner Freizeit aufs Schrauben verlegt hat, nicht bezahlbar.
»Na, kommst du wieder mit deinem Frosch?«, begrüßt Maria ihn, als er sie in der Parkstraße in Pempelfort abholt. Auch sie ist alles andere als begeistert über das gestrichene Wochenende.
Und wie immer antwortet er ihr mit dem Satz: »Nicht nur der Porsche, auch die Farbe ist original. Irisch-grün, typisch für die Baureihe 1968 bis 69.«
»Würde ich ja umspritzen lassen«, kommt es dann stets von Maria. Doch spätestens wenn Clemens zum wiederholten Mal erklärt: »Dann ist er nicht mehr original, und das dunkle Grün gefällt mir«, muss Maria lachen.
»Warum müssen immer wir dran glauben?«
Clemens lächelt sie charmant an, wenn auch etwas gequält.
»Wir beide sind nun mal das beste Team.«
»Schmeichler, damit kannst du mir den vermasselten Tag auch nicht schönreden«, kontert Maria, doch ihre Laune hat sich schon sichtlich gebessert.
Sie kommen zügig voran. Noch sind die Straßen nicht mit Einkaufswilligen und deren Fahrzeugen verstopft. Als sie vor den Rheinischen Landeskliniken links in die Rennbahnstraße einbiegen und die erste Anhöhe genommen haben, sehen sie schon das ganze Aufgebot: zwei Mannschaftswagen, der Kleintransporter der Spurensicherung, der Wagen des Gerichtsmedizinischen Institutes, alle sind schon da. Und wie kann es auch anders sein, Clemens registriert zwei Wagen mit dem Schild »Presse« hinter der Windschutzscheibe. Ärgerlich schüttelt er den Kopf. »Wenn die schon da sind, dann können wir uns auf einige Fragen gefasst machen.«
Ein Streifenpolizist hält den Hauptkommissar an. Clemens zeigt seinen Dienstausweis und wird gebeten, den Porsche ein Stück weiter auf einem der Parkplätze abzustellen. Der Hauptkommissar schlängelt den Wagen geschickt an den abgestellten Autos vorbei und biegt auf den ersten Parkplatz am Wildgehege ein. Die beiden steigen aus. Was jetzt kommt, ist Routine. Clemens öffnet den Kofferraum. Wo andere ihre Warnwesten und Verbandskästen verstauen, bewahrt er in Folie eingeschweißte Handschuhe und weiße Overalls auf, in die Maria und er nun hineinschlüpfen. Dazu noch Überzieher für die Schuhe und – was ihn immer noch trotz all der Routine nervt – die lästigen Plastikhauben. Egal wie man sie aufsetzt, immer macht man eine schlechte Figur. Zurück auf der Straße erklärt ihnen der junge Polizist den Weg. »Einfach immer geradeaus durch den Wald. Sie können es nicht verfehlen.«
Schon von Weitem sind die rot-weißen Absperrbänder zu sehen. Die Spurensicherung hat ihre Arbeit bereits aufgenommen. Vermummte Gestalten bewegen sich in der Mulde und auf dem Weg.
Die Hauptkommissare erreichen die Absperrung. Clemens zeigt erneut seinen Dienstausweis, und beide schlüpfen unter dem Absperrband hindurch. Maria Esser geht hinüber zu den Kollegen der Bereitschaft, die in einer kleinen Gruppe zusammenstehen, um sich ein erstes Bild von den bisherigen Erkenntnissen zu machen, und Clemens von Bühlow steuert auf den Gerichtsmediziner zu, der gerade aufbrechen will. Er hebt kurz die Hand zur Begrüßung.
»Der Tote ist durch einen Kopfschuss umgekommen. Er wurde ausgenommen und zudem entmannt, allem Anschein nach post mortem. Zum Todeszeitpunkt kann ich nur so viel sagen: Es muss gestern passiert sein, aller Wahrscheinlichkeit nach in der zweiten Tageshälfte bis zum frühen Abend. Alles Weitere wird die Obduktion zeigen.«
Clemens nickt. Bei so eindeutigen Fällen von Fremdverschulden gehört der Gerichtsmediziner von Anfang an zum Team. In anderen Situationen wird erst einmal der Notarzt gerufen, was oft weniger hilfreich ist, denn nicht alle Notärzte haben Erfahrung mit Kapitalverbrechen. So bildet er sich gern selbst ein erstes Urteil, bevor der Tote in die Gerichtsmedizin kommt.
Ein Kollege von der Spurensicherung macht ihn auf die Zweige im Mund und auf dem Körper des Toten aufmerksam und deutet auf einen undefinierbaren, Fliegen umschwärmten Haufen. Clemens zieht sich den Mundschutz über, geht in die Hocke, betrachtet den Toten eingehend und schaut sich die Äste an. Maria kümmert sich derweil um die beiden Journalisten, die rauchend hinter dem Absperrband stehen und – Clemens weiß nicht, wie sie es rauskriegen – noch vor der ersten Meldung an die Presse schon Wind von der Leiche bekommen haben. Noch lässt sich nichts sagen, ein männlicher Toter. Wenn sie mehr wissen, wird kurzfristig eine Pressekonferenz einberufen, doch nun mögen sie die polizeilichen Ermittlungen nicht weiter stören, erklärt die Hauptkommissarin freundlich, aber bestimmt.
Oberkommissar Christian auf der Heide vernimmt gerade Axel Nolte, und Kriminalrat Otto Kreutz ist schon zusammen mit der Oberstaatsanwältin Pia Cremer auf dem Weg ins Präsidium. Sie hat es sich nicht nehmen lassen und den Tatort selbst in Augenschein genommen. Das macht sie fast immer, ganz im Gegensatz zu einigen ihrer Kollegen, die sich die Eindrücke und Fakten von den Ermittlern referieren lassen. Die Oberstaatsanwältin braucht das, tuscheln die Kommissare, freundlich gesonnen und mit einem gewissen Respekt. Pia Cremer arbeitet nach dem Motto: Auch ein Staatsanwalt muss die Fährte aufnehmen. Als Nächstes wird sie die Obduktion des Toten beantragen und den Ermittlungsauftrag ausstellen, dann kann Kreutz sein Ermittlungsteam zusammenstellen.
Von Bühlow geht ein gutes Stück auf die Lichtung zu. Er will sich ungestört den Tatort und die nähere Umgebung anschauen und alles auf sich wirken lassen. Im Gegensatz zur gängigen Polizeiarbeit gibt er seiner Fantasie Raum. Er verlässt sich auf seine Intuition, auf die sich spontan einstellenden Assoziationen. Seine Kollegen ziehen ihn manchmal auf, wenn seine Fantasie mit ihm durchgeht, doch seine Erfolge geben ihm meistens Recht. Für ihn ist diese erste Phase der Ermittlung die spannendste, wenn er die vielfältigen Eindrücke aufsaugt, sie ins Verhältnis zueinander setzt und versucht, das Geschehen für sich zu rekonstruieren.