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   Sean McMeekin– JULI 1914 | Der Countdown in den Krieg– Aus dem Amerikanischen von Franz Leipold– EUROPA VERLAG BERLIN

© 2013 by Sean McMeekin

Satz: BuchHaus Robert Gigler, München

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Für die Gefallenen

Inhalt

Vorwort

Personen

Chronologie

PROLOG: Sarajevo, Sonntag, 28. Juni 1914

I. Reaktionen

1.Wien: Wut statt Trauer

2.St. Petersburg: Kein Pardon

3.Paris und London: Unliebsame Störung

4.Berlin: Verständnis und Ungeduld

II. Countdown

5.Mission Hoyos in Berlin Sonntag–Montag, 5.–6. Juli

6.Kriegsrat in Wien (I) · Dienstag, 7. Juli

7.Funkstille · 8.–17. Juli

8.Auftritt Sasonows · Samstag, 18. Juli

9.Kriegsrat in Wien (II) · Sonntag, 19. Juli

10.Poincarés Treffen mit dem Zaren Montag, 20. Juli

11.Sasonows Drohung · Dienstag, 21. Juli

12.Champagnerlaune während des Gipfels Mittwoch–Donnerstag, 22.–23. Juli

13.Gegen-Ultimatum und Ultimatum Donnerstag, 23. Juli

14.Sasonow schlägt zurück · Freitag, 24. Juli

15.Russland, Frankreich und Serbien geben nicht nach · Samstag, 25. Juli

16.Russland bereitet sich auf den Krieg vor Sonntag, 26. Juli

17.Der Kaiser kehrt zurück · Montag, 27. Juli

18.»Sie haben mich ins Chaos gezogen« Dienstag, 28. Juli

19.»Ich möchte nicht für ein gewaltiges Blutbad verantwortlich sein« · Mittwoch, 29. Juli

20.Es ist ein Blutbad · Donnerstag, 30. Juli

21.Die allerletzte Chance · Freitag, 31. Juli

22.»Nun können Sie machen, was Sie wollen« Samstag, 1. August

23.Großbritannien wird sich der Gefahr bewusst Sonntag, 2. August

24.Sir Edward Greys großer Moment Montag, 3. August

25.Weltkrieg: Es gibt kein Zurück Dienstag, 4. August

EPILOG: Die Frage nach der Verantwortung

Anmerkungen

Bibliografie

Häufig zitierte Quellen

Weitere zitierte Werke

Register

Vorwort

ICH MÖCHTE MEINEM Agenten Andrew Lownie dafür danken, dass er sich dieses Projekts angenommen und es mit seinen Vorschlägen aufgewertet hat. In gleicher Weise bin ich Lara Heimert von Basic Books verpflichtet, die immer an das Buch geglaubt hat, sowie Roger Labrie und Beth Wright, die meiner Prosa den letzten Schliff verliehen haben. Es ist schön, Verleger zu finden, die für ein Thema dieselbe Begeisterung aufbringen wie man selbst. Außerdem stehe ich tief in der Schuld der Archivarinnen und Archivare, ohne die ich meine Geschichte nicht hätte erzählen können. Ich habe viele glückliche Monate in den Archiven der Außenministerien von Deutschland, Österreich, Russland, Frankreich und England verbracht. Da ich an dieser Stelle nicht jedem Einzelnen danken kann, möchte ich stellvertretend Joachim Tepperberg vom Haus-, Hof- und Staatsarchiv in Wien sowie Mareike Fossenberg vom Politischen Archiv des Auswärtigen Amtes in Berlin nennen, die in meinem Auftrag wahre Wunder vollbracht haben.

Darüber hinaus habe ich jede Menge Inspiration aus Sekundärliteratur gewonnen. Wie viele andere Historiker auch (besonders US-Amerikaner, für die der Erste Weltkrieg keine solch zentrale Rolle in ihrer Nationalgeschichte einnimmt wie für die Europäer) habe ich mich zum ersten Mal für das Thema begeistert, als ich The Guns of August (1962) von Barbara Tuchman verschlungen habe. Ich besitze immer noch meine alte zerfledderte Taschenbuchausgabe, auf deren Umschlag der Preis von 75 Cent prangt und mich daran erinnert, dass der Titel aus einer anderen Ära stammt. Auch wenn nicht alle ihre Schlussfolgerungen die Zeit überdauert haben, so stellen doch Tuchmans perfekt herausgearbeitete Charakterzeichnungen und ihre unvergleichliche Gestaltung einzelner Szenen sicher, dass ihr Buch immer seine Anhänger unter den Geschichtsbegeisterten finden wird. Das Beste daran aber ist, zumindest für meinen Zweck, dass sie die Julikrise nicht aufgreift und ihr Buch erst mit dem 1. August 1914 beginnen lässt.

Die Geschichtsliteratur über die Julikrise 1914 ist umfangreich, wenn auch nicht so ausführlich wie über den Ersten Weltkrieg, der daraus hervorging. Wer sich mit der Julikrise beschäftigt, wird rasch feststellen, dass sich zu jeder Frage, über welche die Gelehrten streiten, bereits Sidney Fay, Bernadotte Schmitt oder Luigi Albertini geäußert haben. Es ist unmöglich, über den Juli 1914 zu schreiben, ohne eine intensive Beziehung zu Albertinis dreibändigem Werk über die Ursprünge des Kriegs zu entwickeln.

Das gilt ebenso für die umfassenden Dokumentationen, die nach dem Krieg von den Großmächten zusammengestellt wurden. Obwohl gelegentlich ein Schriftstück durch das Netz schlüpfte und aus den 1991 geöffneten Archiven der ehemaligen Sowjetunion bzw. des Ostblocks ständig neue Enthüllungen auftauchten (von denen ich einige für mich in Anspruch nehmen kann), blieb die grundlegende Dokumentation der Julikrise seit den 1930er-Jahren größtenteils unverändert. Wie Albertinis Werk und wie die Werke fast aller Historiker bezieht sich auch meine Schilderung auf diese großen Dokumentensammlungen. Ich danke an dieser Stelle allen Herausgebern, besonders denen, die hinter der berühmten Reihe Die deutschen Dokumente zum Kriegsausbruch 1914 von Kautsky, Montgelas und Schückert stehen, in denen nicht nur der vollständige Text fast aller verschlüsselter Telegramme aufgeführt ist, sondern auch darauf gekritzelte Randnotizen mit auf die Minute genauen Zeitangaben über Versand, Dechiffrierung und sogar, wann sie vom Kaiser oder Kanzler gelesen wurden.

Ich hatte schon immer die besondere Vorliebe, die unmittelbaren Quellen heranzuziehen, anstatt meine Darlegungen von den Werken anderer Autoren filtern zu müssen. Aus diesem Grund und in Anerkennung meiner Verpflichtung gegenüber den in der Bibliografie genannten Historikern habe ich meine Schilderung im Haupttext so frei von wissenschaftlichen Disputationen wie möglich gehalten. Wer weiter gehende Informationen wünscht, kann sich an die aufgeführte Literatur halten; wer sich für die Quellen und tiefer gehende Details interessiert, wird in den Anmerkungen fündig.

Außerdem möchte ich dem Leser einen Hinweis auf die diplomatische Terminologie geben, die in der Zeit um 1914 gebräuchlich war:

»Sängerbrücke« ist eine Kurzform für das zaristische russische Außenministerium. »Whitehall« steht für das britische Außenministerium (und/oder die britische Regierung), »Wilhelmstraße« für das deutsche Außenministerium (und/oder für das Kanzleramt), »Ballhausplatz« für die österreich-ungarische Regierung und »Quai d’Orsay« für das französische Außenministerium.

Personen

Belgien

ALBERT I. | König von Belgien (1909–1934)

Deutsches Reich

BELOW-SELASKE, CLAUS VON | deutscher Botschafter in Brüssel (1912–1914)

BETHMANN HOLLWEG, THEOBALD VON | Reichskanzler des Deutschen Kaiserreichs (1909–1917)

BÜLOW, FÜRST BERNHARD VON | Reichskanzler des Deutschen Kaiserreichs (1900–1909)

CHELIUS, OSKAR VON | General, deutscher Militärattaché in St. Petersburg (1914) und Flügeladjutant von Kaiser Wilhelm II.

FALKENHAYN, ERICH VON | General der Infanterie, preußischer Kriegsminister (1913–1915) und Chef des Großen Generalstabs

GRIESINGER, FREIHERR JULIUS ADOLPH VON | deutscher Gesandter in Belgrad (1911–1914)

JAGOW, GOTTLIEB VON | Staatssekretär im Auswärtigen Amt des Deutschen Kaiserreichs (1913–1916)

LICHNOWSKY, KARL MAX FÜRST VON | deutscher Botschafter in London (1912–1914)

MOLTKE, HELMUTH VON (genannt Moltke, der Jüngere) | Generaloberst der preußischen Armee, Chef des Großen Generalstabs (1906–1914)

MÜLLER, GEORG ALEXANDER VON | Admiral, Chef des Marinekabinetts (1906–1918)

PLESSEN, HANS G. H. VON | General, Adjutant Kaiser Wilhelms II.

POURTALÈS, FRIEDRICH | deutscher Botschafter in Russland (1907–1914)

RIEZLER, KURT | Vortragender Rat in der Reichskanzlei, enger Berater von Reichskanzler Bethmann Hollweg (1909–1914)

SCHLIEFFEN, ALFRED GRAF VON | Generalfeldmarschall, Chef des Großen Generalstabs (1891–1906)

SCHOEN, WILHELM FREIHERR VON | deutscher Botschafter in Frankreich (1910–1914)

STUMM, WILHELM VON | Geheimer Legationsrat und Leiter der Abteilung IA (Politik) im Auswärtigen Amt

TIRPITZ, ALFRED VON | Großadmiral; Staatssekretär des Reichsmarineamts (1897–1916)

TSCHIRSCHKY, HEINRICH VON | deutscher Botschafter in Österreich-Ungarn (1907–1914)

WILHELM II. | Deutscher Kaiser und König von Preußen (1888–1918)

ZIMMERMANN, ARTHUR | Unterstaatssekretär im Auswärtigen Amt (1911–1916)

Frankreich

BARRÈRE, CAMILLE | französischer Botschafter in Italien (1897–1924)

BIENVENU-MARTIN, JEAN-BAPTISTE | französischer Justizminister und geschäftsführender Direktor für Auswärtige Angelegenheiten am Quai d’Orsay im Juli 1914

BOPPE, JULES AUGUST | französischer Gesandter in Belgrad (1914)

CAILLAUX, JOSEPH | französischer Premierminister (1911–1912) und Finanzminister (1899–1902, 1906–1909, 1913–1914)

CAMBON, JULES | französischer Botschafter in Deutschland (1907–1924)

CAMBON, PAUL | französischer Botschafter in Großbritannien (1898–1920)

DUMAINE, ALFRED | französischer Botschafter in Österreich-Ungarn (1912–1914)

JOFFRE, JOSEPH | Generalstabschef der französischen Armee (1911–1916)

LAGUICHE, PIERRE DE | General, französischer Militärattaché in St. Petersburg

MESSIMY, ADOLPHE | französischer Kriegsminister (1911–1912 und Juni–August 1914)

PALÉOLOGUE, MAURICE | französischer Botschafter in Russland (1914–1917)

POINCARÉ, RAYMOND | französischer Staatspräsident (1913–1920)

ROBIEN, LOUIS DE | französischer Botschaftsattaché in St. Petersburg

VIVIANI, RENÉ | französischer Premierminister und zu verschiedenen Zeiten zwischen 1914 und 1915 Außenminister, hatte beide Ämter im Juni-Juli 1914 inne

Großbritannien

ASQUITH, HERBERT HENRY | liberaler britischer Premierminister (1908–1916)

BERTIE, SIR FRANCIS | britischer Botschafter in Frankreich (1905–1918)

BUCHANAN, SIR GEORGE | britischer Botschafter in Russland (1910–1918)

CHURCHILL, WINSTON | britischer Marineminister (Erster Lord der Admiralität, 1911–1915)

CRACKANTHORPE, DAYRELL | britischer Gesandter in Belgrad (1912–1915)

CROWE, SIR EYRE | Unterstaatssekretär im britischen Außenministerium

DE BUNSEN, SIR MAURICE | britischer Botschafter in Österreich-Ungarn (1913–1914)

GEORG V. | König von England (1910–1936)

GOSCHEN, SIR W. EDWARD | britischer Botschafter in Deutschland (1908–1914)

GREY, SIR EDWARD | britischer Außenminister (1905–1916)

MORLEY, LORD JOHN | britischer Politiker, Lord President of the Council (1910–1914)

NICOLSON, SIR ARTHUR | Unterstaatssekretär im britischen Außenministerium (1910–1916)

WILSON, SIR HENRY | General, Direktor Militärische Operationen im Kriegsministerium (1910–1914)

Österreich-Ungarn

BERCHTOLD, LEOPOLD GRAF | k.u.k. Gemeinsamer Minister des Äußeren Österreich-Ungarns (1912–1915)

BIENERTH, KARL FREIHERR VON | Oberstleutnant, österreichischer Militärattaché in Berlin (1910–1914)

BILIŃSKI, LEON VON | k.u.k. Gemeinsamer Finanzminister Österreich-Ungarns und Gouverneur von Bosnien-Herzegowina

CONRAD VON HÖTZENDORF, FRANZ | Feldmarschall, Chef des Generalstabs für die Bewaffnete Macht (gesamte Land- und Seestreitkräfte) Österreich-Ungarns (1912–1916)

CZERNIN, OTTO | österreichischer Legationsrat in St. Petersburg, interimistischer Geschäftsträger in Abwesenheit von Botschafter Graf Friedrich von Szápáry

FRANZ FERDINAND VON ÖSTERREICH-ESTE, ERZHERZOG | österreichisch-ungarischer Thronfolger

FRANZ JOSEPH I. | Kaiser von Österreich und König von Ungarn (1846–1916)

FRIEDRICH VON ÖSTERREICH-TESCHEN, ERZHERZOG | Feldmarschall, Armeeoberkommandant der gesamten Land- und Seestreitkräfte Österreich-Ungarns im Juli 1914

GIESL VON GIESLINGEN, WLADIMIR FREIHERR | k.u.k. Gesandter in Serbien (1913–1914)

HOYOS, ALEXANDER GRAF | Legationsrat im k.u.k. Ministerium des Äußeren, Kabinettchef von Außenminister Berchtold und Sondergesandter nach Berlin (Juli 1914)

KROBATIN, ALEXANDER FREIHERR | Feldmarschall, k.u.k. Gemeinsamer Kriegsminister von Österreich-Ungarn

MENSDORFF-POUILLY-DIETRICHSTEIN, ALBERT GRAF | österreichisch-ungarischer Botschafter in Großbritannien (1904–1914)

POTIOREK, OSKAR | österreichischer Militärgouverneur und Landeschef von Bosnien-Herzegowina

RITTER VON STORCK, WILHELM | österreichischer Legationsrat in Belgrad

STÜRGKH, KARL GRAF | österreichischer Ministerpräsident

SZÁPÁRY, FRIEDRICH GRAF | österreichisch-ungarischer Botschafter in Russland (1913–1914)

SZÖGYÉNY-MARICH, LADISLAUS GRAF | österreichischungarischer Botschafter in Berlin (1892–1914)

TISZA, STEPHAN GRAF | Ministerpräsident Ungarns (1903–1905, 1913–1917)

Russland

ARTAMONOW, WIKTOR | General, russischer Militärattaché in Belgrad (1912–1914)

BARK, PETER | russischer Finanzminister (1914–1917)

BENCKENDORFF, GRAF ALEXANDER K. | russischer Botschafter in Großbritannien (1903–1917)

DOBROROLSKY, SERGEI | General, Chef der russischen Abteilung für Mobilmachung

GOREMYKIN, IWAN L. | Vorsitzender des russischen Ministerrats (1914–1916)

GRIGOROWITSCH, IWAN KONSTANTINOWITSCH | russischer Admiral und Marineminister 1911–1917

HARTWIG, NIKOLAI | russischer Gesandter in Serbien (1909–1914)

ISWOLSKI, ALEXANDER | russischer Botschafter in Frankreich (1910–1917)

JANUSCHKEWITSCH, NIKOLAI | General der Infanterie; Chef des russischen Generalstabs

KRIWOSCHEIN, A. W. | russischer Landwirtschaftsminister (1906–1915)

NIKOLAI NIKOLAJEWITSCH (ROMANOW), GROSSFÜRST | Oberkommandierender der kaiserlichen russischen Armee (1914–1915)

NIKOLAUS II. (ROMANOW) | Zar von Russland (1894–1917)

SASONOW, SERGEI | russischer Außenminister (1910–1916)

SCHILLING, BARON MORITZ F. | Leiter der Kanzlei (das heißt Stabschef) im russischen Außenministerium (1912–1914)

SCHEBEKO, NIKOLAI | russischer Botschafter in Österreich-Ungarn (1913–1914)

STOLYPIN, PETER | Vorsitzender des russischen Ministerrats (1906–1911)

SUCHOMLINOW, WLADIMIR | General der Kavallerie, Chef des Generalstabs der russischen Armee (1908–1909), russischer Kriegsminister (1909–1915)

Serbien

ČABRINOVIĆ, NEDJELKO | bosnisch-serbischer Attentäter und Mitverschwörer Gavrilo Princips, in Belgrad ausgebildet

CIGANOVIĆ, MILAN | in Bosnien geborener Serbe, Verbindungsmann zwischen den Führern der Schwarzen Hand und Gavrilo Princip in Belgrad, lieferte Waffen für die terroristische Verschwörung zur Ermordung Franz Ferdinands

DIMITRIJEVIĆ, DRAGUTIN (GENANNT APIS) | Oberst, Chef des serbischen Militärgeheimdiensts und Führer der Schwarzen Hand

GRABEŽ, TRIFKO | bosnisch-serbischer Attentäter und Mitverschwörer Gavrilo Princips, in Belgrad ausgebildet

ILIĆ, DANILO | Anwerber örtlicher Terroristen in Sarajevo, um die serbische Beteiligung am in Belgrad geplanten Attentat zu verschleiern

PAČU, DR. LAZAR | serbischer Finanzminister (1912–1915)

PAŠIĆ, NIKOLA | serbischer Premierminister (1912–1918)

PRINCIP, GAVRILO | bosnisch-serbischer Attentäter, in Belgrad ausgebildet

SPALAJKOVIĆ, M. | serbischer Botschafter in Russland (1914)

TANKOSIĆ, VOJISLAV | Major, Mitbegründer der Schwarzen Hand

Chronologie

28. Juni 1914Ermordung Erzherzog Franz Ferdinands in Sarajevo.
5.–6. JuliGraf Hoyos’ Mission in Berlin führt zum »Blankoscheck«.
10. Juli 1914Berlin erfährt erstmals von Österreichs Plänen eines Ultimatums an Serbien.
14. Juli 1914Tisza schließt sich der österreichischen »Kriegspartei« an.
18. Juli 1914Sasonow kehrt aus dem Urlaub zurück und erfährt von Österreichs Plänen, ein Ultimatum zu stellen.
19. Juli 1914Der Ministerrat in Wien genehmigt den Text für das Ultimatum an Serbien.
20.–23. Juli 1914Gipfeltreffen mit dem französischen Staatspräsidenten in St. Petersburg.
21. Juli 1914Sasonow droht Berchtold: »Es darf keine Rede von einem Ultimatum sein.«
23. Juli 1914Frankreich und Russland versuchen, Wien zu warnen, Serbien kein Ultimatum zu stellen; Wien stellt das Ultimatum trotzdem.
24.–25. Juli 1914Russlands Ministerrat stimmt der »Teilmobilmachung« zu; Zar Nikolaus II.
ratifiziert diesen Beschluss; Frankreichs Botschafter gibt seine Zustimmung.
26. Juli 1914Russland beginnt seine »Kriegsvorbereitungsperiode«.
28. Juli 1914Österreich-Ungarn erklärt Serbien den Krieg.
29. Juli 1914Zar Nikolaus II. befiehlt die Generalmobilmachung, dann ändert er seine Meinung.
30. Juli 1914Die russische Generalmobilmachung ist angeordnet.
31. Juli 1914Deutschland stellt Russland ein Ultimatum, die Generalmobilmachung zu stoppen.
1. August 1914Zuerst ordnet Frankreich, daraufhin Deutschland die Generalmobilmachung an; Deutschland erklärt Russland den Krieg.
3. August 1914Grey erklärt auf einer Rede im Unterhaus, dass der Kriegsfall gegeben sei, wenn Deutschland die Neutralität Belgiens verletzen sollte; Deutschland erklärt Frankreich den Krieg.
4. August 1914  Deutsche Truppen dringen in Belgien ein; Großbritannien stellt Deutschland ein Ultimatum, das um 23 Uhr Londoner Zeit endet; Großbritannien und Deutschland befinden sich im Krieg.

Prolog: Sarajevo, Sonntag, 28. Juni 1914

AM MORGEN DES 28. Juni 1914, einem Sonntag, erwachte Erzherzog Franz Ferdinand im Hotel Bosna mit einem Gefühl der Erleichterung, da seine Abreise endlich bevorstand. Seine Suite im Thermalbad Ilidža, zehn Kilometer westlich von Sarajevo gelegen, zeichnete sich durch einen aufdringlichen, grellbunten Charme aus. Sie war prächtig geschmückt mit persischen Teppichen, arabischen Lampenfigürchen und türkischen Säbeln an den Wänden. Doch nach drei Tagen war der bodenständige katholische Erzherzog dieses orientalisch-muslimischen Kitsches überdrüssig. Nach seiner Ankunft am Donnerstagnachmittag hatte der Thronfolger des Hauses Habsburg zwei volle Tage lang österreichischen Militärmanövern beiwohnen müssen. Am Freitagabend begleitete er seine Gemahlin Sophie auf einem zwanglosen Einkaufsbummel durch die Basare Sarajevos. Der muslimische Bürgermeister Fehim Effendi Čurčić hatte seine Anhänger, die verschiedenen Glaubensrichtungen angehörten, vorher unterwiesen, seinen berühmten Gästen die »slawische Gastfreundschaft« von ihrer besten Seite zu präsentieren. Und sie enttäuschten ihn nicht, indem sie Ferdinand und Sophie umlagerten, wo immer die beiden hinkamen. Der Erzherzog hatte sich daraufhin für diese eher lästige Gastfreundschaft revanchiert, indem er den Bürgermeister zusammen mit anderen bosnischen Amtspersonen und religiösen Führern (Katholiken, Orthodoxe, Muslime) in sein Hotel nach Ilidža zu einem »prächtigen Bankett« am Samstagabend einlud. Das Festmahl setzte sich überwiegend aus französischen Speisen zusammen, lediglich unter den Aperitifs fand sich als Verneigung vor den Einheimischen ein bosnischer Žilavka, ein Weißwein aus der Gegend von Mostar in der Herzegowina. »Gott sei Dank«, hörte man Ferdinand sagen, als seine Gäste endlich aufbrachen, um nach Sarajevo zurückzukehren, »ist diese Reise nach Bosnien endlich vorbei.«

Franz Conrad von Hötzendorf, der als Chef des Generalstabes den militärischen Manövern vorstand, verschwand unauffällig gegen 21 Uhr, nachdem die letzten Trinksprüche ausgebracht waren. Ferdinand hätte es vorgezogen, zusammen mit Conrad abzureisen, und es beinahe auch getan – er wurde jedoch von seinen Beratern davor gewarnt, dass eine Absage des für Sonntag geplanten Programms dem österreichischen Ansehen in Bosnien schaden könnte. Schließlich würde ja in wenigen Stunden alles überstanden sein. Alles, was vom Sonntagsprogramm übrig blieb, waren ein Fototermin im Rathaus, ein kurzer Museumsbesuch sowie ein Mittagessen im KonakA1 des Gouverneurs. Nachdem er sich angekleidet und an einer Frühmesse teilgenommen hatte, die in einem speziellen, »zu einer Kapelle umgestalteten« Hotelzimmer abgehalten wurde, schrieb Ferdinand noch schnell ein Telegramm an seine Kinder, in dem er ihnen mitteilte, dass »Papi« und »Mami« es gar nicht erwarten könnten, sie am Dienstag endlich zu sehen.1

Erzherzog Franz Ferdinand, österreichisch-ungarischer Thronfolger, mit seiner Gattin Sophie und ihren drei Kindern.

Erzherzog Franz Ferdinand, österreichisch-ungarischer Thronfolger, mit seiner Gattin Sophie und ihren drei Kindern.

Der letzte Tag des Besuchs, der 28. Juni, war ein Jahrestag von schmerzlicher Tragweite für das erzherzogliche Paar. An diesem Datum im Jahr 1900 war der österreichische Thronfolger von seinem Onkel Kaiser Franz Joseph I. gezwungen worden, eine eidesstattliche Verzichtserklärung zu unterzeichnen, in der vertraglich festgelegt wurde, dass alle Kinder aus der »morganatischen« Ehe mit Sophie von der österreichischen Thronfolge ausgeschlossen waren. Obwohl sie weit davon entfernt war, zum einfachen Volk zu zählen, entstammte Sophie Gräfin Chotek lediglich einer verarmten böhmischen Adelsfamilie, die für die mächtigen Habsburger viel zu unbedeutend war. Zu dieser skandalösen Unschicklichkeit der Verbindung kam noch hinzu, dass Sophie Hofdame der Erzherzogin Isabella von Österreich-Teschen war, deren Tochter Maria Christine man als Ferdinands künftige Gattin ausersehen hatte. Eines Tages soll Franz Ferdinand, als er sich für ein Tennismatch umzog, seine Taschenuhr im Umkleideraum vergessen haben. Die Mutter der mutmaßlichen Thronfolgerin öffnete den Deckel in der Annahme, ein Bild ihrer Tochter zu finden – und erblickte stattdessen das Konterfei ihrer Hofdame.

Anstatt seiner Leidenschaft aus Gründen der Familienehre und Staatsraison zu entsagen, hatte Ferdinand seine heimliche Liebe geheiratet. Die meisten Habsburger vergaben ihm dies nie, und auch Sophie wurde immer wieder daran erinnert. Obwohl sie zur Herzogin von Hohenberg ernannt worden war, musste Ferdinands Gattin bei kaiserlichen Banketten immer wieder Erniedrigungen erleiden: Sie durfte jeden Raum erst als Letzte betreten, nach den zumeist viel jüngeren, unverheirateten Erzherzoginnen, »allein und ohne Begleitung«, und durfte nicht in der Nähe ihres Gatten bleiben, sondern musste am unteren Ende der Tafel Platz nehmen. Sogar auf dem samstäglichen Bankett im bosnischen Ilidža, weit entfernt vom Wiener Hof, war Sophie gezwungen, zwischen zwei Erzbischöfen zu sitzen – und die schmerzliche Tischrede ihres Gemahls zu ertragen, in der sie nicht vorkam (Franz Ferdinand war es nicht erlaubt, sie bei offiziellen Anlässen in der Öffentlichkeit zu erwähnen).2

Es wird erzählt, dass Ferdinands gesamte Bosnienreise als Besänftigungsmittel für Sophie konzipiert wurde, die nur selten das raffinierte Zeremoniell genießen konnte, das für die meisten Habsburger Herzoginnen eine Selbstverständlichkeit war. In Wahrheit stellte der Besuch einen wichtigen politischen Akt dar, weshalb Ferdinand ihn unbedingt hinter sich bringen wollte. Er hatte sich leidenschaftlich gegen die 1908 vorgenommene Annexion Bosniens und der Herzegowina durch die Doppelmonarchie gewandt, weil er darin eine nutzlose Provokation der Südslawen sah, besonders der orthodoxen Serben, die 1914 über 40 Prozent der 1,9 Millionen Einwohner Bosnien-Herzegowinas ausmachten (ihnen gegenüber standen 30 Prozent Muslime, 20 Prozent römisch-katholische Kroaten und ein kleiner Rest aus Juden, Protestanten, Sinti und Roma). Dabei war es keineswegs so, dass sich der Erzherzog besonders um die Serben scherte, die er als ein »Pack von Dieben, Mördern und Spitzbuben« ansah.3 Allerdings lag ihm daran, Österreichs heikle Beziehung zum serbophilen Russland zu verbessern, deshalb betrachtete er die gesamte bosnische Angelegenheit mit Widerwillen.

Ferdinand war sich der Tatsache bewusst, dass die Annexion Russlands Stolz zutiefst verletzt hatte, nicht zuletzt deshalb, weil der damalige österreichische Außenminister Freiherr Alois Lexa von Aehrenthal seinen russischen Amtskollegen Alexander Iswolski ausgetrickst und Russlands Zustimmung in einem zynischen QuidproquoA2 erschlichen hatte, indem er ihm Österreichs Unterstützung in der Frage der Öffnung der Dardanellen für die russische Flotte zusicherte, dieses lose Versprechen jedoch nicht einhielt. Als Iswolski daraufhin seinerseits von der Abmachung zurücktreten wollte, sah er sich im März 1909 einer unverhüllten Kriegsdrohung Deutschlands gegenüber.

Iswolskis Erniedrigung durch Aehrenthal in der Bosnischen Annexionskrise war so schwerwiegend, dass er schließlich zum Rücktritt gezwungen wurde (um anschließend in Paris als russischer Botschafter für Frankreich wieder aufzutauchen und von dort aus seine Rachepläne zu schmieden). Österreichs Annexion von Bosnien-Herzegowina schürte den Hass Serbiens und zog den Ärger Russlands nach sich; sie stellte eine tickende diplomatische Zeitbombe dar, die jeden Augenblick hochgehen konnte. Der Erzherzog konnte nur hoffen, dass sie nicht während seines Besuchs explodieren würde.

Im Jahr 1910 hatte Kaiser Franz Joseph I. Bosnien-Herzegowina einen Besuch abgestattet, um die Loyalität seiner unwilligen neuen Untertanen zu gewinnen – dabei hatte seine Vorausabteilung in einem nicht gerade dezenten Wink an die serbische Opposition dafür gesorgt, dass Sarajevo mit einem dichten Netz aus Polizisten überzogen war. Nachdem er auf einem Staatsbesuch in Rumänien eine ähnlich starre Organisation erlebt hatte, forderte Franz Ferdinand eine weniger einengende Absperrung für seinen eigenen Besuch 1914. Außerdem verlangte er, dass man ihm erlaube, seine geliebte Gattin als Begleitung mit nach Bosnien zu nehmen, die ihn während der vielen langweiligen offiziellen Anlässe bei Laune halten sollte (falls sie dabei mit ihm sprechen durfte). Dennoch nahm man die Sicherheit ernst, und die Vorkehrungen wurden vom eigenen militärischen Stab des Erzherzogs geplant, unterstützt von Conrad von Hötzendorf, Leon von Biliński, dem Gouverneur von Bosnien und Herzegowina, und Oskar Potiorek, dem Militärgouverneur der Provinz. Im Gegensatz zu den Behauptungen serbischer Kritiker wurden die Manöver des XV. und XVI. Armeekorps, die den Anlass für Ferdinands Besuch lieferten, nicht entlang der bosnisch-serbischen Grenze abgehalten, sondern im Südwesten der Herzegowina nahe der Adria – und damit so weit wie möglich von Serbien entfernt.

Abgesehen davon, dass es vernünftig war, eine Provokation an der serbischen Grenze zu vermeiden, haben sich diese Männer bei der Planung der Reise leider nicht besonders hervorgetan. Das begann schon mit einer Reihe böser Vorzeichen. Der luxuriöse Eisenbahnwaggon, in dem Ferdinand für gewöhnlich zu reisen pflegte und der in seinem Auftrag von der Firma Ringhoffer in Prag gebaut worden war, hatte auf dem Weg vom tschechischen Ferienort Chlumetz bei Wittengau (wo Ferdinand und Sophie ihre Kinder bis zu ihrer geplanten Rückkehr am Dienstag zurückgelassen hatten) einen Schaden an der Achsfeder. Der Erzherzog wurde daraufhin in einem normalen Erste-Klasse-Waggon bis nach Wien befördert, wo er in einen königlichen Ersatz-Eisenbahnwaggon für die lange Reise nach Triest umsteigen sollte – und dessen elektrische Beleuchtung noch im Bahnhof ausgefallen war. Da nicht genug Zeit war, um die elektrischen Leitungen zu reparieren, ohne den Reiseplan zu gefährden, setzten der Erzherzog und seine Gefolgsleute den ganzen Weg bis zur Adriaküste in einem Waggon fort, der nur mit Kerzen beleuchtet wurde. Es war, wie Ferdinand anmerkte, wie die Reise »in einem Grab«.4

Das schlimmste Vorzeichen von allen war jedoch die Wahl des Zeitpunkts für den letzten Besuchstag des erzherzoglichen Paares in Sarajevo. Für Ferdinand und Sophie bedeutete der 28. Juni eine schmerzliche Erinnerung daran, dass ihre Kinder von der Erbfolge des Hauses Habsburg ausgeschlossen waren. Für die Serben dagegen war dieses Datum mit der noch weitaus schmerzhafteren Erinnerung an ihre schreckliche Niederlage gegen die Türken in der Schlacht auf dem Amselfeld (Kosovo Polje) im Jahr 1389 verbunden, mit der die Unabhängigkeit der serbischen Fürstentümer verloren ging. Allerdings war der 28. Juni für die Serben nicht nur ein Tag der Trauer. Da der serbische Ritter Miloš Obilić den osmanischen Sultan Murad I. auf dem Schlachtfeld erschlagen hatte, gedachte man am Jahrestag der Schlacht des nationalen Widerstands, und der St.-Veits-Tag (Vidov Dan) wurde zu einem Festtag zu Ehren der slawischen Gottheit des Kriegs und der Fruchtbarkeit. Selbst wenn der Thronfolger Erzherzog Ferdinand (widerwillig) die Herrschaft Habsburgs über die Serben mit einem offiziellen Besuch in Sarajevo bekräftigen würde, würden die Serben im Kosovo an diesem Tag ihre Feiern abhalten, um den Patrioten zu ehren, der ihren türkischen Eroberer vor genau 525 Jahren erschlagen hatte. Was die jüngste Geschichte des serbischen, auf Königsmord ausgerichteten Terrorismus betrifft – im Jahr 1903 hatte eine Gruppe ultranationaler Offiziere unter Führung des späteren Chefs des serbischen Militärgeheimdienstes, Dragutin Dimitrijević (genannt Apis), ihr eigenes serbisches KönigspaarA3 ermordet, weil sie sich ihrer Meinung nach nicht genügend für die serbische Sache eingesetzt hatten –, so war ein königlicher Besuch in Sarajevo am Vidov Dan eine Provokation, wenn nicht gar eine Tollkühnheit.

Die für Sonntag geplante Route stellte sogar ein noch höheres Risiko dar, denn Einzelheiten des Besuchs waren schon Monate zuvor veröffentlicht worden, sodass jeder Serbe, der einen Groll gegen die Doppelmonarchie hegte, ausreichend Zeit besaß, um einen Anschlag zu planen. Die Zagreber Zeitung Srbobran hatte die wichtigsten Einzelheiten der für März 1914 angekündigten Reise des Erzherzogs nach Bosnien-Herzegowina enthüllt. Obwohl das genaue Datum des Besuchs damals noch gar nicht feststand, kündigte Srbobran es als endgültig an, dass Erzherzog Franz Ferdinand im Frühsommer nach Bosnien kommen würde, um verschiedenen militärischen Manövern beizuwohnen.

Durch diese Meldung, die ihn in Sarajevo erreichte, neugierig geworden, trennte ein bosnischer Serbe und Aktivist der irredentistischenA4 Gruppe Junges Bosnien (Mlada Bosna) die Ankündigung heraus und schickte sie an seinen Freund Nedjelko Čabrinović in Belgrad unter der Adresse – ganz im Stil der Bohème, der dem serbischen Untergrund zu Eigen war – des Kaffeehauses Eichelkranz.

Čabrinović wiederum zeigte den Ausschnitt seinem Freund Gavrilo Princip, einem radikal-nationalistischen Serben aus Bosnien, beim Mittagessen. Nachdem er den Nachmittag damit verbracht hatte, über dem Artikel zu brüten, suchte Princip am Abend Čabrinović in einem anderen Belgrader Café auf, dem Grünen Kranz, und schlug ihm vor, dass sie beide nach Sarajevo reisen sollten, um den Thronfolger der Habsburger Monarchie zu ermorden. Der 19-jährige Čabrinović, vom Naturell her viel eher ein Anarchist als Princip, hätte sich lieber Landeschef Oskar Potiorek als Opfer ausgesucht, der genau die Klasse Regierungsbeamter symbolisierte, die er als »Mameluken« bezeichnete und die von Wien entsandt worden waren, um die bosnischen Serben zu unterdrücken. Doch Princip gelang es dank seiner Überzeugungskraft, sich gegen Čabrinović durchzusetzen.5

Princips Vorschlag war nicht nur so dahingesagt. Obwohl weder er noch Čabrinović eigene Waffen besaßen, standen beide in Kontakt mit Serbiens Netz aus halb offiziellen paramilitärischen Gruppen. Princip war ein ehemaliger Rekrut der Narodna Odbrana (Nationale Verteidigung), einer Organisation, die 1908 als Antwort auf Österreichs Annexion von Bosnien-Herzegowina gegründet worden war. Sie trainierte Freischärler (»Comitaji« oder Komitatschis) in den verschiedensten Fertigkeiten des Guerillakriegs, wie beispielsweise Bomben zu werfen sowie Eisenbahnen und Brücken in die Luft zu jagen. Princip war 1912 durch die Narodna Odbrana unter Major Vojislav Tankosić (der 1903 eigenhändig die Brüder der serbischen Königin erschossen hatte) ausgebildet worden in der Absicht, ihn vor dem Ersten Balkankrieg hinter die türkische Grenze zu schmuggeln, der im Oktober dieses Jahres vom Balkanbund, bestehend aus Serbien, Bulgarien, Griechenland und Montenegro, gegen das Osmanische Reich geführt wurde. Gerade mal 18 Jahre alt, von schmaler Gestalt und in schlechter gesundheitlicher Verfassung, musste Princip das Training bald wieder aufgeben, aber er hielt weiterhin Kontakt sowohl zur Narodna Odbrana als auch zu ihrem radikaleren Flügel Ujedinjenje ili Smrt (Vereinigung oder Tod), auch bekannt als Schwarze Hand.

Die Geheimorganisation Schwarze Hand, zu der viele Leute zählten, die bereits die Narodna Odbrana gegründet hatten – darunter auch Apis und Major Tankosić –, legte größten Wert auf Verschwiegenheit und Geheimhaltung. Neue Mitglieder wurden in »einen dunklen, nur von Wachskerzen erhellten Raum« geführt, wo sie einen Eid leisten mussten »beim Blut meiner Vorfahren … dass ich von diesem Moment an bis zu meinem Tod … zu jedem Opfer [für Serbien] bereit sein werde«. Das Siegel der Organisation verdeutlichte, was mit »Opfer« gemeint war: Es zeigte eine entrollte Fahne, einen Totenkopf und gekreuzte Knochen, einen Dolch, eine Bombe – und schließlich ein Fläschchen Gift, bestimmt für das Mitglied selbst, nachdem es seine mörderische Tat ausgeführt hatte.6

Weder Princip noch Čabrinović waren aktive Mitglieder der Schwarzen Hand, aber sie kannten Männer, die dazugehörten. Beispielsweise Milan Ciganović, ein befreundeter bosnischer Serbe, der zusammen mit Princip 1912 von Major Tankosić ausgebildet worden war – allerdings mit mehr Erfolg. Ciganović hatte sich während der Balkankriege ein persönliches Arsenal aus sechs kleinen Bomben zusammengestohlen. Sobald er von Princips Plan erfuhr, bot ihm Ciganović dafür seine Sprengstoffvorräte an; gleichzeitig schlug er den beiden potenziellen Attentätern vor, auch Pistolen mitzunehmen, falls die Bomben nicht zündeten. Major Tankosić stattete sie, zweifellos im Auftrag von Apis, ordnungsgemäß mit vier Browning-Revolvern sowie zugehöriger Munition aus, für 150 Dinar bar auf die Hand; zusätzlich gab er ihnen etwas Kaliumcyanid, mit dem der Attentäter Selbstmord begehen sollte, unmittelbar nachdem er den Erzherzog getötet hatte. Zuletzt erteilte Tankosić dem Veteran Ciganović den Auftrag, Princip und Čabrinović Schießunterricht zu geben, damit sie ihr Ziel auch nicht verfehlen würden.7

Die Schwarze Hand stellte den beiden Attentätern aber nicht nur Waffen und Trainingsmöglichkeiten zu Verfügung. Im Lauf der Jahre hatte die Organisation eine Art »Untergrundbahn« des Terrorismus, das heißt ein Tunnelsystem entwickelt. Es war nicht besonders schwierig, Personen mit gefälschten Papieren auf österreichisches Staatsgebiet zu schleusen, aber es erforderte schon mehr Geschick und Erfahrung, Waffen zu schmuggeln. Als am 26. Mai 1914 Princip, Čabrinović und ein dritter Verschwörer, Trifko Grabež, in Šabac, einem kleinen Städtchen an der Grenze, angekommen waren, wartete bereits Major Popović, ein Offizier der serbischen Armee, mit Befehlen von Major Tankosić auf sie. Čabrinović, ausgestattet mit Papieren von Popović, sollte über die Grenze nach Zvornik auf der bosnischen Seite gehen; von dort sollte ihn ein weiterer Vertrauensmann nach Tuzla fahren, einer Stadt, die über die Eisenbahn mit Sarajevo verbunden war. Princip und Grabež, die bei sich die Waffen trugen, überquerten die Drina und kamen nahe Lješnica auf bosnisches Gebiet, wobei sie von einem serbischen Zollbeamten von einer Insel zur nächsten übergesetzt wurden. Anschließend gelangten sie mithilfe freundlicher serbischer Bauern bis in die Nähe von Priboj. Dort trafen sie auf ihren nächsten Helfershelfer, Veljko Čubrilović, Lehrer an der örtlichen Schule und heimliches Mitglied der Narodna Odbrana.

Um wieder mit Čabrinović in Tuzla zusammenzutreffen, mussten sie einen Kontrollposten der österreichischen Gendarmerie in Lopare passieren. In einer Mischung aus Klugheit und Wagemut ließen Princip und Grabež Bomben, Pistolen und Giftampullen im Fuhrwerk eines Bauern zurück, unter dessen Deckung sie gereist waren, umgingen das Dorf zu Fuß und trafen auf der anderen Seite wieder mit ihm zusammen. Nachdem die drei Terroristen schließlich in Tuzla wieder vereint waren, übergaben sie ihre tödliche Fracht an einen weiteren Vertrauensmann, Miško Jovanović, der genau wie Čubrilović sowohl angesehener Bürger (ihm gehörten eine Bank und ein Filmtheater) als auch Mitglied der Narodna Odbrana war. Jovanović versteckte die Waffen auf seinem Speicher, während die Terroristen nach Sarajevo aufbrachen. Sie krönten ihre Untergrundarbeit damit, dass die vier Männer übereinkamen, ein fünfter Mann sollte von Sarajevo zurückkehren und die Waffen in Empfang nehmen, wobei er sich dadurch identifizieren sollte, dass er »eine Packung Stephanie-Zigaretten anbiete«.

Karte 1: Bosnien-Herzegowina und die verschiedenen Reiserouten nach Sarajevo

Während Princip, Čabrinović und Grabež ihre Zeit in der bosnischen Hauptstadt abwarteten, wurden ihre Helfershelfer aktiv. Danilo Ilić, ein ehemaliger Schullehrer und Bankkaufmann, der sich zum Vollzeitaktivisten und Taugenichts gewandelt hatte und jetzt mit seiner Mutter in Sarajevo lebte, nahm Princip und Čabrinović bei sich auf (die Familie von Grabež lebte ganz in der Nähe). Ilić kannte die Terroristen sehr gut von früheren Besuchen in Belgrad. Princip hatte ihm im April zurückgeschrieben und Andeutungen über seine Pläne gemacht, Franz Ferdinand zu ermorden; dabei hatte er Ilić vorgeschlagen, in Sarajevo ansässige Attentäter zu rekrutieren. Dadurch steckte Ilić bereits bis zum Hals mit in der Verschwörung drin, noch ehe das Terroristen-Trio in Sarajevo angekommen war: Jetzt allerdings sollte er noch etwas tiefer hineingeraten. Nachdem Ilić das Päckchen Stephanie-Zigaretten in Tuzla vorgezeigt hatte, bat er Jovanović, die Waffen weiter nach Doboj zu schaffen, weil er fürchtete, in Tuzla, wo ihn niemand kannte, verhaftet zu werden.

Jovanović erfüllte diese Aufgabe pflichtgemäß und versteckte die Waffen mit einer gewissen Experimentierfreude in einer großen Blechdose mit Zucker, die er in weißes Papier einwickelte und mit einer Schnur zuband. Während er in Doboj nach Ilić suchte, ließ Jovanović die Zuckerdose einmal versteckt unter seinem Regenmantel im Wartesaal der Eisenbahn liegen; später vergaß er sie in der Werkstatt eines Freundes, wo sie eine Zeit lang unbeaufsichtigt herumlag. Nachdem Ilić schließlich die gefährliche Fracht übernommen und nach Sarajevo geschafft hatte, platzierte er sie »in einer kleinen Truhe, die ich selbst absperrte, unter einem Sofa« im Schlafzimmer seiner Mutter. Passenderweise gab Ilić am Morgen des 28. Juni 1914 den »Zucker« schließlich an Princip, Čabrinović und Grabež in der Konditorei Vlajinić zurück (wobei einige Revolver fehlten, die er seinen eigenen Rekruten vor Ort ausgehändigt hatte). Princip nahm eine Pistole, Čabrinović eine Bombe und Grabež jeweils eins von beiden. Die Attentäter waren bereit.9

Es war kein großes Geheimnis, welche Hauptroute die Fahrzeugkolonne des Erzherzogs an diesem Morgen einschlagen würde. Sarajevo war eine überschaubare Stadt mit wenigen Sehenswürdigkeiten, sodass man die Route selbst ohne große Ortskenntnis problemlos hätte erraten können. Sarajevo liegt in einer tiefen Talebene und wird in der Mitte vom Fluss Miljacka geteilt (obwohl die Bezeichnung »Fluss« in den Sommermonaten nicht ganz zutreffend ist, da dann nur noch ein Rinnsal übrig bleibt). Verschieden hohe Hügel- und Bergketten rahmen die beeindruckende Silhouette der Stadt ein. Jede königliche Rundfahrt durch Sarajevo würde mit größter Wahrscheinlichkeit den Appelkai entlangführen, die Hauptverkehrsstraße, die parallel zur Miljacka verlief.

Quasi als Bestätigung dessen, was jedermann bereits vermutete, informierte Bürgermeister Fehim Effendi im selben Schreiben, in dem er die Einwohner Sarajevos ermahnte, dem Thronfolger des Hauses Habsburg ihre »beste Seite slawischer Gastfreundschaft« zu zeigen, auch über die Route des sonntäglichen Besuchs, die natürlich den Appelkai einschloss (und zwar zwei Mal, nämlich auf dem Weg zum Rathaus und wieder zurück) – dem lag der Gedanke zugrunde, dass die Anwohner und Ladenbesitzer entlang der geplanten Route die Straßen mit kaiserlichen Fahnen und Blumen schmücken sollten. Viele Einwohner Sarajevos hatten den Aufruf des Bürgermeisters noch übertroffen und große Porträts des Erzherzogs an Hauswänden und Fenstern angebracht. Nach dieser allgegenwärtigen Zurschaustellung von Gastfreundschaft, die das ganze Wochenende die Stadt überzog, und der überwältigenden Freundlichkeit, mit der ihn die Einheimischen während seines spontanen Besuchs am Freitagabend in den Basaren empfangen hatten, gab es für Franz Ferdinand keinen Grund, am Sonntag etwas anderes zu erwarten.

Der Sonntag jedoch war anders, da der Besuch – und das betrifft sowohl die Fahrtroute als auch den Ablauf – lange im Voraus bekannt gegeben worden war. Der Privatsekretär des Erzherzogs, Paul Nikitsch-Boulles, schrieb später, dass während des spontanen Ausflugs am Freitag »jeder Möchtegern-Mörder tau-send Gelegenheiten gehabt hätte, den ungeschützten Franz Ferdinand zu töten«. Obwohl der Erzherzog quasi auf dem Präsentierteller lag, unternahm am Freitag keiner der Mörder einen Versuch – weil sie zu diesem Zeitpunkt ihre Waffen noch nicht hatten. Am Sonntag jedoch hatten sie sie.10

Am Morgen des Vidov Dan erstrahlte die Sonne hell über Bosnien, als sich der Thronfolger des Hauses Habsburg für den Abschluss seines Besuchs fertig machte. Franz Ferdinand trug die Uniform eines österreichischen Kavallerie-Generals, himmelblauer Waffenrock über schwarzen Reithosen mit roten Streifen sowie einem goldenen Kragen mit drei silbernen Sternen. Sophie war elegant gekleidet, eingehüllt in einen »hauchdünnen weißen Schleier«, auf dem Kopf einen weißen Hut mit einem Sträußchen roter und weißer Rosen in ihrer roten Schärpe. Sie kamen gemeinsam in Sarajevo mit dem Zug aus Ilidža um 9.20 Uhr an, in Begleitung von Landeschef Potiorek, der als Reiseführer fungierte. Es folgte eine kurze Besichtigung der Truppen vor Ort, bei der es Sophie bezeichnenderweise erlaubt war, an der Seite ihres Gatten zu bleiben. Anschließend nahm das erzherzogliche Paar in einem offenen Wagen Platz und bezog die Ehrenposition in der Fahrzeugkolonne gleich hinter dem führenden Auto, in dem der Bürgermeister und der Polizeichef saßen, während ihnen drei weitere Dienstwagen folgten. Die Kanonen gaben 24 Salutschüsse ab, um den Start des erzherzoglichen Konvois anzukündigen, gefolgt von »Zivio«-Rufen (lang lebe der Thronfolger) aus der Menge. Wie jedermann wusste, sollte die Kolonne zunächst zwischen 10 und 10.30 Uhr den Appelkai hinunterfahren bis zum Rathaus, und zwar auf der rechten Straßenseite direkt am Fluss entlang (die Rückfahrt sollte dann auf der gegenüberliegenden, der Stadt zugewendeten Seite erfolgen).11

 Karte 2: Sarajevo– Das Attentat

Dort am Appelkai warteten die Attentäter. Ilić mitgerechnet, waren es insgesamt sieben. Čabrinović, Grabež und Princip, gerade aus Belgrad eingetroffen, bildeten das Herz der Verschwörung. Außerdem hatte Ilić noch drei Einheimische rekrutiert: Vaso Čubrilović und Cvetko Popović, beide bosnische Serben, sowie – vielleicht um Ermittlungsbeamte auf eine falsche Spur zu locken – einen bosnischen Muslim mit dem wundervoll klingenden Namen Mehmedbašić (»Mehmed« ist eine türkische Variante von Mohammed, und »bašić« ist die slawische Form des türkischpersischen Wortes für Schmiergeld: Bakschisch). Ilić, der Organisator, bezog Posten auf der zur Stadt hin gelegenen Seite des Appelkais gegenüber der Cumurija-Brücke, flankiert von Popović. Direkt gegenüber nahmen Mehmedbašić, Čubrilović und Čabrinović ihre Schlüsselpositionen am Fluss ein, das heißt auf der Seite, auf der die Wagenkolonne auf ihrer Fahrt zum Rathaus vorbeikommen musste. Die beiden ersten, mit Pistolen bewaffneten Attentäter warteten gleich hinter der Cumurija-Brücke, während Čabrinović mit seiner Bombe kurz darauf folgte. Für den Fall, dass diese drei ihre Aufgabe nicht erfüllen sollten, hatte sich Princip mit seinem Revolver an einer Stelle postiert, kurz bevor die Wagenkolonne die nächste Brücke, die Lateinerbrücke, erreicht hätte. Falls auch der vierte Attentäter scheitern sollte, wurde die Fahrzeugkolonne von Grabež an der Kaiserbrücke erwartet – er war der einzige Attentäter, der sowohl Bombe als auch Pistole mit sich führte.

Trotz dieser brillanten mehrfachen Absicherung hatte Ilićs Plan eine eklatante Schwäche: Vielleicht weil er die Opferbereitschaft seiner eigenen Rekruten überschätzte, hatte der Organisator des Mordanschlags die beiden wichtigsten Positionen mit Vaso Čubrilović, einem jungen Bosnier, der kaum ausgebildet und nicht gerade mutig war, und Mehmedbašić, einem Muslim von zweifelhafter Loyalität gegenüber der serbischen Sache, besetzt. Keiner von beiden rührte einen Finger, als die Wagenkolonne an ihm vorbeikam. Nur Čabrinović, der dritte Attentäter und zugleich der erste der Belgrader Verschwörer, handelte. Als die Autos die Cumurija-Brücke passierten, schlug er die Sicherungskappe ab, brach damit das Zündhütchen und warf seine Bombe auf den Wagen des Erzherzogs. Glücklicherweise hatte der Fahrer den Anschlag des Attentäters frühzeitig bemerkt; sofort beschleunigte er sein Fahrzeug, wodurch die Bombe, nachdem sie Ferdinand leicht an der Wange gestreift hatte, vom Verdeck abprallte und unter dem nächsten Begleitwagen detonierte. Diese Explosion beschädigte das Auto schwer; Potioreks Adjutant und mehrere Passanten am Straßenrand wurden dabei verletzt. Čabrinović sprang in das ausgetrocknete Flussbett, wo er von Polizisten überwältigt wurde, bevor er das Gift aus seiner Ampulle schlucken konnte (wenn er das überhaupt beabsichtigt hatte).

Niemals zuvor war die stille Würde der Habsburger so offenkundig wie in den Minuten, die dem Mordanschlag auf das Leben des Erzherzogs folgten. Ohne auf den eigenen geringfügigen Kratzer zu achten, besah sich Franz Ferdinand den Schaden am Wagen, fragte nach, ob irgendjemand verletzt worden sei, und sorgte dafür, dass alle Verletzten unverzüglich zur Behandlung ins Garnisonshospital gebracht wurden. »Weiter geht’s«, bemerkte er nur. »Der Kerl ist verrückt. Meine Herren, wir wollen unser Programm fortsetzen.« Daraufhin nahm die Wagenkolonne ihren Weg entlang des Appelkais mit einer höheren Geschwindigkeit als zuvor wieder auf, so als ob dadurch weitere Attentatsversuche auf den Erzherzog von vornherein verhindert werden sollten. Franz Ferdinand spottete darüber und bat seinen Chauffeur, langsamer zu fahren, damit ihn seine Untertanen besser sehen könnten. Sein Instinkt ließ ihn nicht im Stich: Nachdem sie gesehen hatten, dass Čabrinovićs Bombe ihr Ziel verfehlte, hatten Princip und Grabež ihre Positionen verlassen.12

Obwohl der Erzherzog im Angesicht dieses terroristischen Aktes Mut gezeigt hatte, befand er sich in schlechter Stimmung, als der Wagenzug das Rathaus erreichte. Sophie, die außer einer kleinen Schramme unverletzt geblieben und auch nicht sonderlich erschüttert war, stieg aus, um sich mit einer Abordnung muslimischer Frauen zu treffen, während Ferdinand sich darauf vorbereitete, eine letzte Runde öffentlicher Reden über sich ergehen zu lassen. Die Szenerie war immerhin neu. Unter einem Verdeck aus »rotgelben maurischen Loggias« – eine Verbeugung vor Sarajevos osmanischer Vergangenheit – wurde der Erzherzog von »Mullahs mit Turbanen, Bischöfen mit Mitren und vergoldeten Gewändern sowie Rabbis in Kaftanen« willkommen geheißen. Überall herrschte eine unübersehbare Atmosphäre der Betroffenheit. Als Bürgermeister Fehim Effendi, unsicher darüber, wie er sich nach dem Vorfall auf dem Kai verhalten sollte, einfach seinen vorbereiteten Text aus Plattitüden und Komplimenten für den Thronfolger des Hauses Habsburg ablas – er sprach für einen Bosnier ziemlich gut Deutsch –, verlor Ferdinand schließlich die Geduld und unterbrach wütend Fehim Effendi: »Das ist empörend. Wir kommen hierher, um diese Stadt zu besuchen, und man wirft auf uns mit Bomben. Nun gut, sprechen Sie weiter.«13

Es ging auf 11   14