Arnold
Mettnitzer

Steh auf und geh

Die therapeutische Kraft
biblischer Texte

Mit Fotos und Kunstwerken
von Harald Schreiber

Nicht daran, wie einer von Gott redet,
erkenne ich, ob seine Seele durch das Feuer
der göttlichen Liebe gegangen ist,
sondern wie er von den irdischen Dingen spricht.

SIMONE WEIL

Inhalt

Cover

Titel

Zitat

VORWORT

EINLEITUNG

Die Autorität „heiliger“ Schriften

STEH AUF UND GEH:
DER WEG NACH INNEN

Selbstwerdung – ein biblisches Grundanliegen

Die Weinberggleichnisse

Die Saatengleichnisse

Nach innen hören

Nach innen wandern

Der Traum als Königsweg ins Innere

Die Traumschule der Senoi

Der Traum in der Bibel

Ijobsbotschaft und Ijobs Botschaft

LIEBE, ODER:
WAS SELBSTWERDUNG FÖRDERT

Die biblische Rede von der Liebe

Das Buch Hosea

Jesus, der Liebhaber

Das biblische Doppelgebot

Das Hohelied der Liebe

Die goldene Regel

Die Stunde der „Gutmenschen“

Die himmlische Mathematik

ANGST, ODER:
WAS SELBSTWERDUNG VERHINDERT

Die vier Grundformen der Angst

Die Angst vor Nähe

Die Angst vor Verlust

Die Angst vor Veränderung

Die Angst vor dem Endgültigen

GIBT ES DIE SEELE UND WENN JA, WIE?

Das Konzept der Seele in der heiligen Schrift und im therapeutischen Verständnis

Die Klang der Seele im Klang der Stimme

Wenn Musik die Seele berührt

Schatz und Perle

STEH AUF UND GEH:
WELTERFAHRUNG

Wallfahrt: Der Hunger nach Erfahrung

Was Sterbende am meisten bereuen

Wunder der Auferstehung

Steh auf und geh: Deine Sünden sind dir vergeben

„Verlorener“ Sohn und barmherziger Vater

DIE LEBENSREGEL VON BALTIMORE

ZU GUTER LETZT:
DAS ARGUMENT DER MORGENRÖTE

Anmerkungen

Literaturverzeichnis

Bildverzeichnis

Impressum

Vorwort

„Schon wieder ein Buch! Warum tust du dir das an?“ Die Frage einer klugen und erfahrenen Freundin ist ernst gemeint. Es wäre ja, meint sie, durchaus ein Liebesdienst an den Leserinnen und Lesern, einmal ganz bewusst ein Buch nicht zu schreiben. Auch Sokrates und Jesus, die mich so faszinieren und auf die ich ja deswegen immer wieder verweise, wären in ihrem Umgang mit den Menschen ganz ohne Schriften ausgekommen. Erst die Schüler und Gefährten hätten sich dann Notizen gemacht und damit nicht nur Informationen, sondern durchaus auch Quellen für Missverständnisse geschaffen und sich dabei nicht selten verdächtig gemacht, den tieferen Sinn so mancher ihnen vermittelter Weisheiten nicht verstanden zu haben.

Seit die „Ranking-Manie“ unter der Devise „Wer mehr publiziert, ist klüger“ für eine wahre Bücherschwemme am Buchmarkt zu sorgen scheint, ist die Herausforderung an einen Autor besonders groß, sich gut zu überlegen, ob überhaupt und wenn ja, mit welchem Thema er sich zu Wort melden soll. Wenn er dabei den weisen Kohelet zurate zieht, der sich bereits 200 Jahre vor Christus über all das Gedanken gemacht hat, wird er aus seinen Texten zunächst keine schnelle Ermutigung für sein Vorhaben erkennen können. Bereits die ersten Zeilen dort stimmen nachdenklich, vielleicht sogar pessimistisch und scheinen den Schluss nahezulegen, mit dem Schreiben erst gar nicht zu beginnen.

„Es gibt nichts Neues unter der Sonne.

Zwar gibt es bisweilen ein Ding, von dem es heißt:

‚Sieh dir das an, das ist etwas Neues‘ –

aber auch das gab es schon in den Zeiten,

die vor uns gewesen sind.“1

Bei näherer Betrachtung allerdings entpuppt sich Kohelet nicht als Pessimist, wohl eher ist er ein lebenserfahrener Realist, der sein Denken und Fühlen ähnlich wie der griechische Philosoph Heraklit auf den Punkt bringt:

„Alles hat seine Stunde. Für jedes Geschehen unter dem Himmel gibt es eine bestimmte Zeit: eine Zeit zum Gebären/​und eine Zeit zum Sterben,/​eine Zeit zum Pflanzen/​und eine Zeit zum Abernten der Pflanzen,/​eine Zeit zum Töten/​und eine Zeit zum Heilen,/​eine Zeit zum Niederreißen/​und eine Zeit zum Bauen,/​eine Zeit zum Weinen/​und eine Zeit zum Lachen,/​eine Zeit für die Klage/​und eine Zeit für den Tanz;/​eine Zeit zum Steinewerfen/​und eine Zeit zum Steine sammeln,/​eine Zeit zum Umarmen/​und eine Zeit, die Umarmung zu lösen,/​eine Zeit zum Suchen/​und eine Zeit zum Verlieren,/​eine Zeit zum Behalten/​und eine Zeit zum Wegwerfen,/​eine Zeit zum Zerreißen/​und eine Zeit zum Zusammennähen,/​eine Zeit zum Schweigen/​und eine Zeit zum Reden,/​eine Zeit zum Lieben/​und eine Zeit zum Hassen,/​eine Zeit für den Krieg/​und eine Zeit für den Frieden.“2

Ähnliche Überlegungen finden wir auch in den Gedanken des griechischen Philosophen Heraklit.3 Sein wohl bekanntester Satz lautet: „Alles fließt, nichts besteht.“ Auch seine Gedanken, dass es Entwicklung nur geben kann im täglichen Hin und Her, im ständigen Zusammenspiel gegensätzlicher Kräfte, sind interessante Parallelen zum biblischen Text bei Kohelet. Heraklit geht sogar so weit, sich Gott selbst vorzustellen als „Tag und Nacht, Winter und Sommer, Krieg und Frieden, Überfluss und Hunger“.4 Darum, so meint er, wäre es für den Menschen auch nicht gut, wenn er ans Ziel seiner Wünsche käme. Denn es sei die Krankheit, die die Gesundheit angenehm macht, nur am Übel gemessen trete das Gute in Erscheinung, am Hunger die Sättigung, an der Mühsal die Ruhe. Darum hätten diejenigen Unrecht, die ein Ende allen Kampfes in einem ewigen Frieden herbeisehnen. Denn mit dem Aufhören der schöpferischen Spannungen würde totaler Stillstand und Tod eintreten.

Wenn mich also der Weise aus der Bibel daran erinnert, dass alles seine Zeit hat, dann gibt es offensichtlich wohl auch eine Zeit zum Bücherlesen und zum Bücherschreiben. Und wenn mich noch dazu der Philosoph vor dem Aufhören schöpferischer Spannungen warnt, dann bin ich trotz aller Einwände von besorgten Freunden hoch motiviert, ein weiteres Büchlein zu schreiben. Ich schreibe es nämlich nicht, weil ich etwas wüsste, das andere nicht wissen. Ich schreibe es, um das, was mich täglich in der Begleitung von Menschen bewegt und beschäftigt, durch die Mühe, es in Worte zu fassen, tiefer und (hoffentlich) gründlicher „verstehen“ zu können. Die dabei zu Hilfe gerufenen, biblischen Texte sind erstaunlich jung, voller Kraft und therapeutischer Qualität, sie sind aber auch ein überzeugender Hinweis darauf, dass alles, was wir heute als zentrale Probleme des Menschen diskutieren, bereits wichtig war „in den Zeiten, die vor uns gewesen sind“.

Steh auf und geh:
Der Weg nach innen

Selbstwerdung – ein biblisches Grundanliegen

DIE BIBEL auch noch aus einem den religiösen Kontext übersteigenden, ganz anderen Blickpunkt lesen zu können, verdanke ich einem Buch, das mir 1990 zum Geburtstag geschenkt wurde. Die Lektüre schlug bei mir ein wie ein Blitz und wirbelte mein Weltbild gehörig durcheinander, weil sie „Von einem, der auszog, das Leben zu lernen“12 berichtete und mir nicht nur zum Aufbruch, zur Reise, sondern zu guter Letzt auch zum „Ausbruch“ aus meiner damaligen Lebenssituation Mut machte. Seither weiß ich, dass (auch) biblische Geschichten wie Sprengstoff wirken können. Gleichzeitig sah ich alte Texte mit neuen Augen. Plötzlich ging es nicht mehr nur wie im Theologiestudium um den Text und seine Bedeutung für die religiöse Gemeinschaft. Hier und jetzt ging es mit einem Mal um mich.

Mein Leben wurde verhandelt und infrage gestellt. Meine Gefühle und daraus abgeleitete Perspektiven waren plötzlich wichtig. Das kam mir zunächst nicht nur neu, jung und frisch, sondern durchaus auch „gefährlich“ vor. Aber stärker als das „Gefährliche“ war dann das für mich bis dahin so noch nicht gekannte Gefühl innerer Kraft und Unerschrockenheit. Die Vorsicht und Angst in mir wich meiner Neugier, was zur Folge hatte, dass in meiner Umgebung bald von einer „schweren Glaubens- und Identitätskrise“ gesprochen beziehungsweise die Befürchtung geäußert wurde, dass ein so hoffnungsvoll begonnener Weg kirchlicher Karriere scheitern und in der Sackgasse karrieristischer Bedeutungslosigkeit enden müsse. Niemand aber konnte mich daran hindern, den für mich unverwechselbar eigenen Weg zu gehen.

Die damals voll Argwohn und mit vorwurfsvoll-bitterem Beigeschmack mir immer wieder vorgehaltenen Schlagworte hießen „Selbstwerdung“ und „Selbstverwirklichung“. Sie wären die Ikonen der Neuzeit, wurde ich gewarnt, sie würden die Menschen in die „Egoismus-Falle“ locken und der persönlichen Freiheit des Menschen Tür und Tor öffnen. Dem gegenübergestellt wurden die Norm der Treue zum einmal eingeschlagenen Weg und das Gebot der sich selbst vergessenden Nächstenliebe. Auf diesem Boden gedieh das Misstrauen gegen „Selbstwerdung“ und „Selbstverwirklichung“; diese würden die einseitige Verherrlichung des Lustprinzips bedeuten und als alleiniger Maßstab für Lebensentscheidungen und Lebensführung gelten.

C. G. Jung, neben Freud der zweite Vater der Psychoanalyse, sieht die Selbstverwirklichung anders. Er bezeichnet mit dem Begriff des „Selbst“ die Ganzheit unserer Seele im Gegensatz zum „Ich“, das nur einen Teil unseres seelischen Lebensbereiches ausmacht. Das Selbst ist gleichsam das Zentrum der Person, von dem alle psychischen Kräfte ausgehen. Es ist zunächst reine Möglichkeit, die zur Wirklichkeit werden kann, wenn das Ich seinen Signalen Beachtung schenkt. Das Ziel des Selbst ist die Selbstwerdung, die Ausbildung und Reifung der individuellen Persönlichkeit.

Marie-Luise von Franz, eine Schülerin C. G. Jungs, vergleicht das Selbst deshalb mit dem Samen einer Bergföhre, in dem das Bild der Bergföhre mit all ihren Möglichkeiten grundgelegt ist, verbunden mit dem Impuls, diese Möglichkeiten zu entfalten.13 Durch Anpassung an die speziellen Umstände und Bedingungen wie Erdbeschaffenheit, Steine im Boden, Hangneigung, Windlage, Regenmenge und Sonnenbestrahlung wächst dann die dadurch einmalige Bergföhre. Dieses Wachstum des einmalig Einzelnen nennt C. G. Jung „Individuationsprozess“; die Selbstwerdung eine Dynamik, die einen Menschen ein Leben lang begleitet und bis zu seinem letzten Atemzug nicht abgeschlossen werden kann. Es geht also nicht um ungehemmte Lustbefriedigung, vielmehr darum, die eigene Persönlichkeit zu entwickeln und zu leben. Dass das mit Schwierigkeiten und Herausforderungen verbunden ist, ist ebenso zu verstehen wie auch die Tatsache, dass das immer wieder auch mit Rückschlägen und Enttäuschungen zu tun haben wird.

Selbstwerdung ist so betrachtet die schöpferische Verwirklichung des eigenen Selbst und damit die Grundlage einer gesunden menschlichen Entwicklung. Nur wer zu sehen vermag, dass eine so verstandene „Selbstwerdung“ biblischen Texten nicht nur nicht entgegensteht, sondern in ihnen geradezu ein Grundanliegen erkennt, wird in der Lage sein, diese Texte im Kontext persönlicher Ermutigung zu lesen. Zahlreiche Bilder und Erzählungen in den biblischen Schriften benennen in diesem Sinn die Selbstwerdung als zentrales Anliegen.

Die Weinberggleichnisse

In ihrem Kern vergleichen die Weinberggleichnisse etwa bei Jesaja,14 Lukas,15 und Johannes16 Gott mit einem Gärtner, der mit sehr viel Liebe, Einsatz und Geduld darum bemüht ist, seine Pflanzungen fruchtbar werden zu lassen. In kirchlichen Kanzelreden ist dieses Bild leider mehrfach zu Gerichtsdrohungen umgearbeitet worden, sodass das „Fruchtbringen“ mit einem erhobenen Zeigefinger ausgestattet allzu sehr im Sinne von zu erbringender Leistung gedeutet wurde. Dabei würde ein Blick auf die Natur überdeutlich zeigen, dass Früchte wachsen und nicht gemacht werden, sie entfalten ihr inneres Potenzial und machen sichtbar, woraufhin sie angelegt sind. „Wachsen“ hat mehr mit „gelingen“ als mit „machen“ zu tun. Darin liegt ein erheblicher Unterschied, den der moderne Mensch nicht mehr ohne Weiteres verstehen kann, weil sein Interesse hauptsächlich leistungs- und „wettbewerbsorientiert“ zu sein scheint.

In der momentan herrschenden „Weltordnung“ steht der Lauf auf die besten Plätze nach wie vor im Vordergrund. Ohne Ehrgeiz kein Sieg! Ohne Wettbewerb kein Wachstum! Ohne Wachstum keine Weiterentwicklung! Der springende Punkt dieses gefährlichen Kurzschlusses besteht darin, dass das, was wir bisher für „Weiterentwicklung“ gehalten haben, im Grunde nur „Spezialisierung“ ist. Durch Wettbewerb wird diese Spezialisierung immer weitergetrieben zu etwas, das immer spezieller wird. Um in dieser „Spezialisierungsspirale“ erfolgreich zu sein, braucht man, wie uns Gehirnforscher versichern, nicht viel Hirn, weil wir immer nur mehr von dem tun, was bis jetzt schon gut funktioniert hat. Was uns aber mehr Hirn abverlangt und was wir im Kleinen wie im Großen dringend bräuchten, wäre eine gemeinsame Konzentration auf das „Gelingen“.

Dabei käme es allerdings darauf an, dass Menschen miteinander eine Kultur des Gelingens entwickeln wollten. Das wäre dann eine Kultur, in der nicht mehr länger Konkurrenten um immer knapper werdende Ressourcen kämpfen, sondern sich um eine Beziehungskultur kümmern, in der Menschen einander einladen, ermutigen und begeistern, ein größeres Gemeinsames miteinander zu fördern. Das setzt allerdings bei allen Beteiligten die Bereitschaft für neue, bisher so noch nicht gemachte Erfahrungen voraus. Zum Gelingen kann man aber niemand zwingen! Begeisterung ist nicht durch Verordnung zu verordnen. Deshalb kann Begeisterung nur spürbar werden, wenn Menschen einerseits wissen, was für sie selbst wichtig und dann aber auch, was für alle Beteiligten bedeutsam ist. Ohne ein solches Einverständnis kann Gemeinsames nicht gelingen.

„Gelingen“ ist ein wunderbares Wort, das es im Englischen nicht gibt. Dort spricht man von „success“, von „Erfolg“. Aber „successful“ meint etwas anderes als „gelungen“. Durch Wettbewerb entstehen Leistungssportler und Fachleute, die – je gründlicher, umso mehr – zu „Fachidioten“ werden, die ausschließlich ihren Erfolg im Sinn haben, wobei sehr oft die Betonung auf „ihren Erfolg“ liegt. Um hier besonders erfolgreich zu sein, braucht es eine Welt, die genau so aussieht, wie wir sie im Moment fast überall vorfinden: Wir brauchen nur auszublenden, was uns daran hindert, im Wettbewerb auf Kosten anderer unsere Siege einzufahren. „Wer kurzfristig denkt und möglichst egozentrisch seine Interessen verfolgt, der wird erfolgreich sein“, sagt der Gehirnforscher Gerald Hüther. Was uns aber mehr Hirn abverlangt, ist nicht der Erfolg, sondern unsere Konzentration auf das Gelingen. Während der Wettbewerb nämlich auf die Ressourcenausnutzung konzentriert bleibt, geht es beim Gelingen um die Potenzialentfaltung. Was unsere Gesellschaft dringend braucht, damit möglichst viele ihr Leben als „gelungen“ und „geglückt“ erleben können, ist ein höchst fälliger Wandel von einer „Ressourcenausnutzungskultur“ hin zu einer „Potenzialentfaltungskultur“. Und genau das ist das zentrale biblische Anliegen der Weinberggleichnisse.

Was wir mit „gelingen“ umschreiben, kann man im Grunde gar nicht machen, es muss wachsen. Ich kann mein Bestes geben, kann für optimale Rahmenbedingungen sorgen, weiß aber vorher nie, ob es gelingt. Das Wort „Gelingen“ ist so betrachtet vielleicht auch so etwas wie eine gediegene Umschreibung für das Wort „Nachhaltigkeit“. Gemeinsames kann gelingen, wenn Menschen ihre in jeweils unterschiedlichen Lebenswelten gemachten Erfahrungen so zusammenbringen, dass sie mit einer neuen Vorstellung davon, worauf es im Leben ankommt, wieder auseinandergehen. Das wäre dann ein gelungenes Gemeinsames, von dem viele leben können, auf das aber die großen „Macher“ keinen direkten Zugriff haben.

Zuversicht, Freude, Begeisterung oder Gelassenheit sind „Früchte“, die mit aller Willensanstrengung nicht erzwungen werden können, es sind Effekte, die sich unter bestimmten Voraussetzungen einstellen. Hermann Hesse sagte einmal in diesem Zusammenhang: „Das ist das Herrliche an jeder Freude, dass sie unverdient kommt und niemals käuflich ist!“ So betrachtet ist die Rede von Gott als Gärtner in der Bibel nachhaltig-klug, denn von dem, was wachsen kann, hängt zunächst und zuallererst das ab, was Menschen „Lebensqualität und seelische Gesundheit“ nennen. Paulus schreibt an die Korinther:

„Ich habe gepflanzt, Apollos hat begossen, Gott aber ließ wachsen. So ist weder der etwas, der pflanzt, noch der, der begießt, sondern nur Gott, der wachsen lässt.“17

Die Saatengleichnisse

Eine zweite in diesem Zusammenhang wichtige Gruppe sind die Saatengleichnisse, wie wir sie wieder bei Jesaja18 oder bei Markus19 finden. Auch hier geht es darum, dass Gepflanztes fruchtbar werden soll. Der Akzent ist hier allerdings anders gesetzt. Im Gleichnis vom Sämann20 steht das unterschiedliche Schicksal der Saat im Vordergrund.

Was aus ihr wird, ist abhängig von den „Bodenbedingungen“, eine eminent wichtige psychologische Aussage, die heute durch die Erkenntnisse der Epigenetik ihre Bestätigung erhält. Das Bild vom Samen der Bergföhre, der auf ganz spezielle und individuelle Umweltbedingungen reagieren muss, als Veranschaulichung der Selbstwerdung findet hier seine biblische Entsprechung.21

Einen anderen Hinweis liefert das Gleichnis bei Markus22 von der selbstwachsenden Saat. Hier wird betont, dass zum Fruchtbarwerden zwar das eigene Zutun erforderlich ist, dass aber das Entscheidende wie von selbst geschieht und in seinem inneren Kern auch nicht durchschaubar ist.

Auch das sind anschauliche Bilder für alles, was „Selbstwerdung“ meint und bestätigt die psychologische Erkenntnis, dass Selbstwerdung ein Prozess ist, der sowohl eigenes Zutun erfordert, in entscheidendem Maße aber Effekt ist wie die Frucht in den Weinberggleichnissen. In beiden Bildmotiven geht es um die reife Frucht der Selbstwerdung, um Entfaltung und Verwirklichung der inneren Potenziale eines Menschen. Im Buch der Weisheit heißt es dazu: „Gott hat … keine Freude am Untergang der Lebenden. Zum Dasein hat er alles geschaffen.“23 Biblische Texte stehen unter diesem unbedingten „Ja“ zu allem, was lebt.24

Nach innen hören

Als entscheidende Voraussetzung, den Weg der Selbstwerdung überhaupt beschreiten zu können, wird in der Bibel immer wieder das Hören auf die Stimme Gottes genannt. Ich glaube nicht, der Bibel Unrecht zu tun, wenn wir in dieser Stimme Gottes unsere „ur-eigene innere Stimme“ erkennen.

Das „Wahrnehmungsorgan“ allerdings für diese Stimme ist nicht das Ohr, sondern das „reine Herz“ eines Menschen25, seine „unverbildete“, unverdorbene Mitte. Diese Mitte findet sich nicht in erster Linie bei Weisen und Klugen, sondern, wie es bei Matthäus heißt, bei „Unmündigen“26 oder, wie vorher in den „Seligpreisungen“, bei den „Armen im Geiste“27, bei denen also, die wissen, dass ihr Leben ein Geschenk und nicht das Ergebnis einer persönlichen Leistung ist. Die im Unterschied zu den anderen Quellen bei Matthäus auftretende Erweiterung der Armen „im Geist“ bezieht sich wohl auf Menschen, die in ihrem lauteren Herzen geradezu sokratisch weise wissen, dass sie nichts wissen und deshalb beim Versuch, den Grund ihres Lebens zu verstehen, mit leeren Händen dastehen.

Ich scheue mich in diesem Zusammenhang nicht, aus der Sicht der Psychologie diese innere Stimme mit unserem Unbewussten in Verbindung zu bringen. Dort schlummern nämlich die Potenziale eines Menschen wie im Keller vergessene in der Zwischenzeit zur Kostbarkeit herangereifte Weine, die darauf warten, entdeckt und genossen zu werden. Der Prozess der Selbstwerdung, den der Theologe „Glaube“ nennt, lebt davon, sich von innen her getragen und geführt zu wissen. Gegen den Vorwurf, hier werde Gott „verpsychologisiert“, wandte schon C. G. Jung ein, dass dieses Selbst nie und nimmer an die Stelle Gottes zu setzen wäre, sondern vielleicht ein Gefäß für das ist, was die Theologen „göttliche Gnade“ nennen.28 Das entspricht auch dem Hinweis bei Lukas29, dass die „Gottesherrschaft“ in uns selbst zu finden ist.

Unzählige Legenden aus verschiedenen Zeiten und Kulturkreisen belegen diese menschliche Grundüberzeugung. Eine dieser Geschichten berichtet von zwei Mönchen, die aus ihrer Klosterzelle aufbrechen, weil ihnen versichert wird, wenn sie nur gründlich genug suchten und dabei die ganze Welt durchwanderten, würden sie am Ende das Tor zum Himmel finden können. Alt und erschöpft stehen sie zu guter Letzt tatsächlich vor dieser geheimnisvollen Tür, hinter der sie den Himmel vermuten, stoßen sie erwartungsvoll auf – und stehen in der Klosterzelle, aus der sie vor Jahren ausgezogen sind.

In der Vorrede zu Friedrich Nietzsches Buch „Die fröhliche Wissenschaft“30 findet sich unter der Überschrift „Unverzagt“ ein kurzes, aber in diesem Zusammenhang bedeutsames Gedicht, ein leidenschaftlicher Aufruf, dort, wo wir stehen, zu suchen und dabei nicht auf andere, sondern unverzagt in uns selbst hineinzuhorchen:

Wo du stehst, grab tief hinein!

Drunten ist die Quelle!

Lass die dunklen Männer schrein:

„Stets ist drunten — Hölle!“31

Dem Autor geht es hier um Wahrheits- und Selbstfindung. Der Blick wird vom Suchen zum Finden und von oben nach unten gewendet. Nietzsche nennt es „die Treue zur Erde“ und versteht darunter das Ja-Sagen zum Diesseits in all seiner Widersprüchlichkeit und seinem Leiden. Nicht mehr der Himmel, die Erde ist der Ort der Suche und des Findens, die Quelle, um die sich alles dreht. Und es ist unschwer zu erraten, dass mit den „dunklen Männern“ die in schwarze Talare gehüllten Beamten des Himmels gemeint sind. Es mag verwundern und einige Theologen durchaus verärgern, wenn wir in diesem Zusammenhang Friedrich Nietzsche ein gründlicheres Bibelverständnis attestieren müssen als so manchem Kanzelredner, dessen Argumentation eher dem Blick hinauf und weg von der Erde das Wort redet.

Nach innen wandern

„Reisen wir. Aber wohin?

Frage ich.

‚Heimwärts‘

Aber wo ist das?

Frage ich.

‚Innen‘

Sagt die Stimme.“32

Viele Menschen haben Angst vor ihrem Innenleben. Dort könnte ja tatsächlich „die Hölle“ zu finden sein. Schon Blaise Pascal33 meinte, dass das Unglück des Menschen damit beginne, dass er nicht mit sich allein in einem Zimmer bleiben könne.34