Chaim Noll
Feuer
Roman
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Chaim Noll im Verbrecher Verlag
Figuren, Handlung und Schauplätze dieses Romans sind frei erfunden.
Etwaige Ähnlichkeiten mit real existierenden Personen oder deren Namen sind nicht beabsichtigt.
Erste Auflage
Verbrecher Verlag Berlin 2010
www.verbrecherverlag.de
© Verbrecher Verlag 2014
Lektorat: Kristina Wengorz
Satz und Ebook-Herstellung: Christian Walter
ISBN Print: 978-3-940426-64-2
ISBN EPUB: 9783943167993
ISBN Mobipocket: 9783957320001
Der Verlag dankt Doris Formanek.
»Eigentlich brauche ich eine Psychologin«, sagt Frau Fink zur Pastorin.
»Ich bin Psychologin.«
»Sie? Ich dachte …«
»Wollen Sie meinen Abschluss sehen? Ich habe beides studiert, sowohl evangelische Theologie als auch Psychologie. Meinen Doktor habe ich in Psychologie gemacht. Sie können mir ruhig anvertrauen, was Sie auf dem Herzen haben.«
»Es ist wegen Roswin.« Frau Fink seufzt.
»Wie geht es ihm?«, fragt überflüssigerweise die Pastorin, doch sie weiß: Gerade das Überflüssige schafft Vertrauen.
»Er kann nicht vergessen«, sagt Frau Fink.
»Er soll auch nicht vergessen«, erwidert sanft die Pastorin. »Das wäre wirklich zu viel verlangt. Wir sind schließlich Menschen. Aber wir wollen lernen, der sogenannten Vergangenheit keine übertriebene Bedeutung beizumessen. Durch Vergangenheits-Fixierung verstellen wir uns den Ausblick in die Zukunft.«
Frau Fink seufzt. »Zukunft …«, sagt sie, Trotz in der Stimme. »Eine Zukunft ohne mein Kind … Ich kann mir das nicht vorstellen.«
»Wer sagt, dass Sie ihre Tochter nicht bald wiedersehen?«
Frau Fink schüttelt den Kopf. »Wenn sie noch am Leben wäre, wüsste man es doch.«
»Nein.« Die Pastorin widerspricht entschieden, klopft sogar zur Bekräftigung mit dem Bleistift auf das leere Formblatt Bericht über Einzelgespräch, das vor ihr liegt.
»Nein?«
»Erstens kann Ihre Tochter bereits in einer Klinik sein, unter jenen Erkrankten, bei denen der Schock zu Amnesie geführt hat, zu einer Störung des Erinnerungsvermögens. Einige wissen nicht mal mehr ihren Namen. Unsere Therapeuten geben sich große Mühe. Trotzdem dauert es in manchen Fällen Wochen, bis die Erinnerung zurückkehrt.«
»Wochen …«
Die Pastorin ist eine disziplinierte Frau, die sich ihre Worte überlegt und einem Erstens auch wirklich ein Zweitens folgen lässt. »Zweitens«, fährt sie mit Nachdruck fort, »kann Gisela zu den Erkrankten gehören, die sich noch nicht gemeldet haben. Einige Tausend immerhin, wie wir schätzen.«
»Das heißt, sie ist noch da drin?«
»Wir müssen also geduldig sein und warten«, sagt die Pastorin, als hätte sie Frau Finks letzte Frage nicht gehört, »geduldig und hoffnungsvoll. Und dürfen uns nicht durch trübe Gedanken die Zukunftsbereitschaft verbauen.«
»Aber das sage ich ja«, erwidert Frau Fink, »das ist es, was ich jeden Tag zu meinem Mann sage.«
»Wir wissen, dass Sie guten Einfluss auf ihn nehmen. Seit Sie ihn täglich besuchen, ist er therapeutischen Ansätzen gegenüber aufgeschlossener. Doch es genügt noch nicht. Er ist immer noch einer unserer problematischen Patienten.«
»Das ist nur, weil er sich immer wieder diese Aufnahmen ansieht.«
»Aufnahmen?«, fragt die Pastorin.
Frau Fink schweigt. Sie hat ihrem Mann versprochen, die Kamera niemals zu erwähnen. Sie versucht, ein Gesicht zu machen, als hätte sie nichts Besonderes gesagt. Doch die Pastorin erinnert sich plötzlich, dass Fink von angeblichen Beweisen für die Katastrophe gesprochen hat und jedes Mal, wenn sie nachfragte, rasch das Thema wechselte.
»Bitte, Frau Fink, was für Aufnahmen?«
»Hat er nie davon gesprochen? Er sieht sie sich fast jeden Tag an.«
»Sie nicht?«
»Nein.«
»Warum nicht?«
»Weil ich sie hasse. Es ist ekelhaft, immer wieder Collande und diesen Jungen am Grab des Penners zu sehen und den ausgebrannten Bus und die toten Kinder …«
Die Pastorin schweigt.
»Was soll ich denn machen!«, ruft Frau Fink. »Ich kann ihm die Kamera nicht einfach wegnehmen.«
»Versuchen Sie ihm zu erklären, dass er mit seinem Starrsinn nichts als Schaden anrichtet. Sagen Sie ihm – denn manchmal muss man deutlich werden –, dass er Ihr Leben zerstört. Das Leben Ihrer Tochter. Ihrer ganzen Familie.«
»Er glaubt sowieso nicht, dass Gisela noch lebt.«
»Ihr Mann ist ein guter Christ. Und als Christ muss er wissen, dass es eine schwere Sünde ist, jemanden aufzugeben, bevor man genaue Beweise hat. Noch dazu das eigene Kind. Es ist Verrat. Vielleicht ist Gisela in Not und braucht Ihren Beistand, Ihr Gebet, Ihre gedankliche, geistige Nähe. Der Beistand lieber, nahestehender Menschen hat schon manchen gerettet, der an der Schwelle stand. Sie verstehen, was ich meine?«
»Nur allzu gut«, antwortet Frau Fink, in deren Augen ein schwacher Glanz zurückgekehrt ist. Sie bittet die Pastorin, ihr die letzten Worte noch einmal zu wiederholen, was diese fast wörtlich tut, vielleicht ein wenig ausführlicher, sanfter und tröstender als beim ersten Mal.
In einem hellfarbigen, klimatisierten, freundlich möblierten Raum sind etwa zwanzig Menschen versammelt, darunter Professor Fink und die Holländerin, das Mädchen Nadine und Pater Holthusen, auch Unbekannte aus anderen Gruppen wie jene zum Skelett abgemagerte Frau, die bei ihrer Ankunft hasserfüllte Blicke in die idyllische Gegend geworfen hat. Inzwischen wirkt sie erholt wie die meisten im Raum, ihre Glieder haben sich gerundet, auch Wangen und Kinn, doch darüber führen die dunklen Augen nach wie vor eine fordernde, düstere Sprache. In ihrem Blick steht geschrieben, dass sie Unglück erlitten hat, dass sie gelitten hat durch anderer Menschen Verschulden und dass sie darauf beharrt, um ihrer selbst und um allgemeiner Menschlichkeit willen, diese Schuldigen zur Verantwortung zu ziehen.
Professor Fink wirkt gelassener, seine Gesichtshaut ist rosig, sein Blick ruhig, nur dann und wann zeigt sich ein erschrockenes, zweiflerisches Flackern. Er ist entschlossen, an seinem Bild von der Welt festzuhalten, sich nicht beirren zu lassen, schon, weil es ein wohlerworbenes, durchdachtes Weltbild ist, Ergebnis jahrzehntelanger Studien, tiefgreifender Überlegungen. Derlei gibt man nicht einfach auf, selbst wenn es Pech und Schwefel regnet. Nur manchmal steht ein Schnappschuss der Erinnerung mit so quälender Schärfe vor ihm, dass er für Sekunden sein Ich aus dem Blick verliert, dass er den Vorgang sieht wie ein Kind: klar und nackt, ohne die hilfreichen Regulatoren seiner Kenntnis, seiner wissenschaftlichen Bildung. Mehrmals hat ihm seine Frau vorgeworfen, er könne sein Gedächtnis manipulieren, neige zur Vergesslichkeit, wo er vergessen will, erinnere sich aber hartnäckig an alles, woran ihm liegt. Er sei er auf kleinliche Weise nachtragend, unfähig, ihm zugefügte Kränkung und Zurücksetzung jemals zu vergessen, zugleich von auffallendem Gedächtnismangel, wo es Kränkungen betrifft, die er selbst anderen zugefügt hat. Falls daran etwas Wahres ist, geht es wohl den meisten Leuten so. Fink ist nicht geneigt, sich Vorwürfe zu machen, weil er ein Mensch ist und menschliche Schwächen hat. Er war insgeheim ganz froh über seine Fähigkeit, nur das ihm sinnvoll Scheinende im Gedächtnis zu behalten. Erschreckend ist eher, dass ihm diese Fähigkeit in letzter Zeit abhanden kommt. Dass er immer häufiger an Dinge denkt, an die er nicht denken will. An Bilder und Ereignisse, deren er sich gern, nur allzu gern entledigen würde.
Nadine, neben ihm, wirkt fahl und wächsern, wie jemand, der nicht gut schläft. Bis heute hat sie keine Nachricht von ihren Eltern, Schwestern, Freundinnen. Unterwegs im Wald hat sie sich durch Bewegung und Aufregung betäubt. Sie kann nicht mehr sagen, ob es wirklich Spaß gemacht hat. Manchmal ja, mit Alexander, er ist ihr Typ. Weniger mit dem Gymnasiasten, mit Armin oder mit Professor Fink. Es war immerhin eine Form von Nähe, ein Aufhalten der überhand nehmenden Angst. Der Schock war der plötzliche Stillstand, die Ruhe in diesem Auffanglager. Die nur schlecht durch heuchlerisches Gerede, falsche Betroffenheit maskierte Kälte all der Leute hier, der Psychologen, Therapeuten, Praktikanten. Sie fragt sich jeden Tag, woher ihre Anfälle kommen: womöglich weniger von den Erlebnissen im Wald als von denen danach. Sie spricht zu niemandem darüber. Bemüht sich um ein zuversichtliches Auftreten. Fast immer hat sie ihr Gesicht unter Kontrolle, dann wirkt es so hübsch, nichtssagend, problemlos wie es sein soll.
Gleich neben ihr sitzt der Therapeut, frei in der Runde wie alle anderen, ein noch junger Mann mit künstlerischem Haarschnitt, einer wirren, scheinbar ungebärdigen, in Wahrheit vom Friseur auf diese Weise hergerichteten Lockenfülle und angenehmen, fast schmeichlerischen Manieren. Möglich, dass seine Manieren nur deshalb so sanft wirken, weil um ihn noch immer viel Bitterkeit im Raum ist, viel Harm und Entsetzen in oberflächlich erholten Mienen, manche scharfe, gramvolle Falte in jugendlich glatten oder fraulich weichen Zügen. Der eine oder andere Blick schweift in schwelendem Unmut umher, auf der Suche nach einem Grund zur Erregung. Der Raum selbst gibt dazu wenig Anlass: dezentes Design, abgestimmte Farbtöne, leichte, wie durchsichtigen Metallmöbel und viele tropische Pflanzen – manche blühend – in weißen Kübeln. Die Stühle stehen betont zwanglos in einem weiten, lockeren Kreis, so dass jeder jedem ins Gesicht sehen kann.
Der Therapeut beginnt zu sprechen, ohne die Stimme zu heben. Er spricht ein paar Sätze, die so gut wie nichts aussagen, jedoch Gemeinsamkeit schaffen, beruhigende Einschließung in ein Wir, das tieferem Nachforschen nicht standhalten würde: Die hier Versammelten waren – wie sie es unter sich nennen – ›im Wald‹ oder ›da drin‹ und fühlen sich durch diese Gemeinsamkeit verbunden, während der Therapeut, der das ›Wir‹ ausspricht, in Wahrheit nicht zu ihnen gehört.
»Wir fühlen so oder so …«, sagt er etwa, »wir empfinden dies oder das …« Oder, unverfänglicher: »Die Musik, die wir hörten … die Empfindungen, über die wir anschließend diskutierten …« Auch heute soll zunächst einem Musikstück gelauscht werden, um auf das Thema der therapeutischen Runde einzustimmen. Das heutige Thema heißt ›Der Wald‹. Bei dieser Nennung wird hier und da bitter gelacht, anderswo geseufzt, sogar gestöhnt. Davon unbeeindruckt drückt der Therapeut auf einen Knopf, der die Musikanlage in Gang setzt, und aus den Lautsprechern ertönt Mozarts Konzert für Waldhorn und Orchester.
Schon die ersten Takte verändern die Atmosphäre im Raum. Der erste Satz ist ein mitreißend heiteres, ausgelassenes Stück, mit dem springlebendigen Thema des Waldhorns, dem nach einmaligem, wie durch Büsche und Bäume dringenden Blasen das Orchester folgt, ein wenig gesetzter, doch gleichsam von dieser ansteckenden Heiterkeit mitgerissen wie das Jagdgefolge eines übermütigen jungen Prinzen. So geht es springend, hüpfend, galoppierend, von Hunden begleitet über Stock und Stein, durch Berg und Tal, durch einen lustigen, nicht weiter aufregenden Wald, aus dem Waldesdunkel heraus und wieder hinein, durch Blätterrauschen, Vogelzwitschern, Schatten und Licht, immer weiter, den ganzen ersten Satz hindurch, in uneingeschränkter Freiheit, Jägerfreude und Waldeslust.
Man muss empfindungslos sein oder von verstocktem Übelwollen, wenn man die unwiderstehliche Heiterkeit des Stückes nicht spürt, nicht davon ergriffen und innerlich gelockert wird. Und wirklich sieht man viel Lächeln in der Runde, im Takt aufschlagende Füße, nickende Köpfe, sinnend geschlossene Augen, entspannte Mienen.
In dem anschließenden ernüchterten Schweigen – als würde das Ende des Musikstücks wie ein plötzlicher Entzug empfunden –, spannen sich die Körper wieder an, graben sich gramvolle Falten von neuem in eben genussvoll erschlaffte Gesichter, kehrt in manche Miene der stehende Missmut, die zur Gewohnheit gewordene Bitterkeit zurück. Seufzer sind zu hören. Die meisten hier im Raum kommen nicht darüber hinweg, wie man sie behandelt. Gewiss, man ist höflich zu ihnen, lässt ihnen ärztliche Hilfe angedeihen, der Ort ist angenehm, die Luft gesund, es gibt gut zu essen, jede Art Gymnastik, Massage, Sport und was sonst noch zum Wohlfühlen gehört. Tiere mögen damit zufrieden sein, wenn man sie gut füttert und pflegt, doch Menschen wollen wie Menschen behandelt werden, von gleich zu gleich …
»Das Waldhorn …«, beginnt der Therapeut in beiläufigem Ton. Er spricht einige Zeit über den besonderen Charakter dieses Instruments, über seine Entwicklung von einem schallerzeugenden Gegenstand aus Horn, dem Horn von Böcken und anderen Tieren, wie man es seit der Antike kennt und benutzt, zu einem verfeinerten Instrument aus Metall mit Stimmbögen und Ventilen, das imstande ist, die gesamte chromatische Skala wiederzugeben, sogar die genialen Tonfolgen des Komponisten Mozart.
»Der Komponist benutzt das Waldhornmotiv, um uns den Wald anschaulich zu machen. Denn was ist Wald? Das, was jeder darin sieht. Wald kann alles mögliche sein. Wenn ich von mir sprechen darf: Ich sehe eine Jagdgesellschaft, die in den Wald hineinreitet und plötzlich, mitten in ihrer Bewegung, von ihm umgeben ist. Die Musik muss diesen Gesichtspunkt in ihr Thema aufnehmen: die Interaktion zwischen Mensch und Wald. Ein Mensch, der in einen Wald eintritt … eine der elementaren Begegnungen unseres Daseins … Ich frage jetzt einfach mal, wer möchte etwas dazu sagen, was Sie beim Hineingehen in einen Wald empfinden?«
»Angst«, sagt halblaut eine blasse, spitznasige Frau. Ihr eher nichtssagendes Gesicht ist durch einen mokant verzogenen Mund und stechende Augen aus seiner früheren Alltäglichkeit gerissen. Sie sieht sich beifallheischend im Kreise um. Wirklich hört man hier und da zustimmendes Schnaufen.
»Angst?«, fragt der Therapeut. »Wovor?«
»Vor der Dunkelheit«, antwortet die Frau. Dazu zuckt sie die Schultern als wolle sie sagen: Dumme Frage.
Nadine wechselt einen Blick mit der blassen Frau, in dem geschrieben steht: Typisch für einen, der nicht im Wald war.
»Aber es ist nicht immer dunkel im Wald«, sagt der Therapeut. »Stellen Sie sich einen hellen Frühlingstag vor, wenn von oben, durch die Baumkronen, flimmerndes Sonnenlicht fällt und den Waldboden sprenkelt, mit lustigen Mustern. Dann möchte man wirklich singen ›Lustig ist es im grünen Wald, wo des Zigeuners Aufenthalt …‹«
»Wo des Zigeuners Büchse knallt …«, zitiert halblaut ein Mann die andere Version des populären Liedes, ein Mann mit Schnurrbart und mürrisch hängenden Wangen. Der Therapeut zuckt belustigt die Schultern, als wolle er zu verstehen geben, dass, wer unbedingt Wert darauf lege, allen Dingen der Welt diesen Beigeschmack abgewinnen könne, dass es aber nutzlos, sogar dumm sei und zum Schaden für den Betreffenden selbst. Über das Hin und Her aus Worten und Gesten wird leise gelacht, ein wenig wegwerfend, verächtlich – als sei es eine Zumutung, einen so eindeutig grauenhaften Ort lustig finden zu sollen –, allerdings auch resigniert und schicksalsergeben. Kann man es dem Therapeuten verargen, dass er auf solche Ideen kommt? Er hat nicht erlebt, was wir erlebt haben. Er weiß nichts. Sie alle wissen nichts, die ›Anderen‹, die Unversehrten …
»Ich will nur andeuten«, sagt der Therapeut mit aufmunterndem Lächeln an die spitznasige Frau gewandt, »dass ihre Antwort aus meiner Sicht eine gewisse Voreingenommenheit verrät. Sie setzen voraus, dass es im Wald dunkel ist. Ich stelle mir den Wald aber hell vor, an einem sonnigen, lichtvollen Tag … Habe ich nicht das Recht dazu?«
Er sieht sie an, als erwarte er ganz ernsthaft eine Erwiderung. Sie hält seine Frage offenbar nicht für wert, deswegen die nach unten gekrümmten Lippen zu öffnen. Doch da es unhöflich wäre, ihn noch länger warten zu lassen, entschließt sie sich endlich zu einem leichten Achselzucken.
»Bitte«, sagt der Therapeut begeistert, »Sie finden auch, das ich ein Recht habe, mir den Wald hell und lichtvoll vorzustellen. Wir treten also dort ein, Sie und ich. Was geschieht mit uns? Was sehen und hören wir?«
Niemand antwortet. Der Therapeut lächelt unverdrossen. Er wendet sich an eine dickliche Frau in beigefarbener Wolle, die stumm, gedunsen, apathisch auf ihrem Stuhl hockt. »Bitte, Frau Edith«, sagt er gewinnend, worauf die Angeredete errötet. »Beschreiben Sie uns, wie es ist, wenn man in den Wald geht. Sie waren schon mal im Wald? Erzählen Sie einfach, wie Sie es erlebt haben.«
Frau Edith scheint durch die Anrede des Therapeuten in eine gewisse Aufregung zu geraten, ihr Gesicht ist rosig überhaucht, was ihr besser steht als die lethargische Blässe. Sie wirft dem Therapeuten einen hilfesuchenden Blick zu. In seiner Miene findet sie eine so gläubige, unbedingte Bereitschaft zum Zuhören, eine so kindlich reine Erwartung, dass sie es nicht übers Herz bringt, ihn zu enttäuschen. Sie holt Luft. Sucht nach Worten. Wie war das? An diesem schrecklichen, unvergesslichen Tag? Nach einigem Räuspern und Wiederverstummen entringt sich ihrer bebenden Brust:
»Wir kamen in einen Wald. Alles war nass und voll Blätter. Ich bin immerzu ausgerutscht, ich hatte Sandalen an, weil ich direkt aus dem Büro … Und im Büro trage ich immer Sandalen … Ich bin hingefallen und habe mir den Rock verdorben. Na, dachte ich, das fängt ja gut an …«
Man hatte allseits mit atemloser Spannung gelauscht, verschiedentlich mit dem Kopf genickt, einander zugenickt. Ja, so war es gewesen. An diesem unvergesslich grauenhaften Tag, an dem alles begann. Zu allem Überfluss hatte es am Nachmittag zu regnen begonnen. Als wäre, was in der Stadt geschehen war, nicht genug. Hingefallen. Bei diesem Wort werfen sich zwei Frauen, denen vermutlich das gleiche passiert ist, einen Blick zu. Ein Gefühl von Zusammengehörigkeit breitet sich aus, das den Therapeuten von neuem auszuschließen droht. Als der Satz fällt »Das fängt ja gut an«, wird hier und da gelacht.
Der Therapeut, unbeirrt: »Nasse Blätter … Gut. Aber haben Sie denn sonst nichts gesehen? Ich meine, es gibt doch noch mehr im Wald zu sehen als nasse Blätter. Sie wollen mir doch nicht erzählen, dass Sie, zum Beispiel, keine Bäume gesehen haben …«
»Doch«, sagt Frau Edith, ermuntert vom Erfolg ihrer ersten Sätze, »Bäume waren da auch.«
Hierauf bricht ein Gelächter los, das man dieser reglosen Runde nicht zugetraut hätte. Ein unbändiges, den Raum erfüllendes, lebensvolles Gelächter, laut und gewaltig. Die spitznasige Frau und der Mann mit dem hängenden Schnurrbart, Professor Fink und das Mädchen Nadine, die rothaarige Holländerin und Frau Tabari, sie alle lachen, mit unwiderstehlich in die Breite gezogenen, geöffneten Mündern, lachen, ohne eigentlich zu wissen, warum und worüber, vielleicht aus Befindlichkeiten heraus, die dem Therapeuten – der als einziger im Raum nicht lacht, nur aufmunternd lächelt – unbekannt sind und immer unbekannt bleiben werden, vielleicht auch nur aus lange unterdrückter Lachlust. Bäume waren da auch! Erst nachträglich wird manchem von ihnen bewusst, dass sie tatsächlich kaum einen Blick auf die Bäume geworfen haben, auf keine der Naturschönheiten, um deretwillen man sonst in den Wald geht, dass sie ganz mit sich und ihrem Elend beschäftigt waren, und dass diese Ausschließlichkeit, dieser Autismus des Leidens, in der Tat ein etwas eingeschränkter Zustand ist.
Der Therapeut verbirgt seine Befriedigung hinter seinem ewig gleichbleibenden aufmunternden Lächeln. Es ist ein schwer erklärbares Lächeln, das auf einige seiner Patienten hilflos wirkt, auf andere beruhigend, auf wieder andere arrogant, und das in Wahrheit nur eine Verkleidung seines Gesichts darstellt, seine Arbeitskleidung sozusagen. Täglich sitzt er mit solchen Gruppen in dem nichtssagenden, farblich abgestimmten Raum, hört mit ihnen Musik, lächelt und stellt sanfte Fragen, und sollten ihn dabei jemals Langeweile, Verdruss oder Ungeduld überkommen, tun diese Regungen nichts zur Sache und müssen verborgen bleiben, auch mimisch, hinter einem leichbleibenden, heitere Gemeinsamkeit stiftenden Lächeln.
Und wie er alles dahinter verbirgt, so überdeckt dieses Lächeln nun die Genugtuung über seinen verdienten Erfolg. Er weiß, dass für diesmal der Bann gebrochen ist, dass der Rest der Therapiestunde angeregt vergehen wird, mit Zwischenrufen und Improvisationen, da auch die Missmutigsten und Verdrossensten bei Gelegenheit zu Ausgelassenheit und Aus-sich-Herausgehen neigen. Einige werden sich diesen Frohsinn nachher vorwerfen, ihn als Verrat an ihrem eigenen, tragisch gestimmten Ich empfinden, auch als Verrat an den Opfern, von denen sie wissen, deren Tod sie bezeugen und für immer in sich tragen. Unter vier Augen werden sie sich beklagen, bei der Pastorin und bei den Psychologen, die mit den Einzelgesprächen betraut sind, über sich selbst beklagen, da sie ihrem Schmerz untreu geworden sind, aber auch über ihn, der sie zu solchen Eskapaden verführt. Und doch ist es seine Aufgabe, eben dies zu tun: In veränderter Stimmung sollen sie diesen Raum verlassen, aufgeheitert, in innerer Bewegung.
»Also Bäume …«, ruft er in Lachen und Unruhe hinein, »das hätten wir immerhin festgestellt. Was noch? Bitte, sagen Sie mir, was es noch im Wald gibt …«
Er weist auf einen jungen Mann mit vernarbten Brandverletzungen im Gesicht. »Machen Sie es sich einfach«, fordert er ihn auf. »Bilden Sie Wörter, in denen Wald vorkommt. Irgendwas. Es wird dann schon stimmen …«
»Waldesrauschen«, sagt versuchsweise der junge Mann.
»Großartig! Waldesrauschen. Sie sind eine poetische Natur. Was noch?«
»Waldesruh«, ruft jemand.
»Waldeslust.«
»Waldbrand.«
Das letzte Wort, von der spitznasigen Frau eingeworfen, steht einen Augenblick im Raum, ohne dass es zu provokativer Wirkung gelangen könnte: Zu rasch geht es unter in einem Schwall anderer Bildungen, die aus verschiedenen Mündern kommen.
»Waldmeisterlimonade.«
»Waldhüter.«
»Walderdbeeren«
»Waldweg.«
»Ich ging im Walde …«, ruft Professor Fink mit voller Stimme. Doch als er den fragenden Blick seiner Frau spürt, bricht er ab.
»Bitte, Herr Professor«, fragt der Therapeut, »wie geht es weiter?«
»Ich ging im Walde so für mich hin«, rezitiert Fink, »und nichts zu suchen, das war mein Sinn …«
Da erkennt er, dass seine Frau ihn nicht ängstlich-bremsend wie sonst, sondern hoffnungsvoll anschaut, mit einem gewissen Stolz, weil er seine Zurückhaltung überwunden hat, weil er etwas zu sagen weiß und noch dazu etwas so Schönes und Bedeutungsvolles. Und er richtet sich auf, gibt sich eine Pose von heiterem Mitmachen wie ein Lehrer, der sich an einem Spaß seiner Schulklasse beteiligt, und fährt fort:
Im Schatten sah ich
Ein Blümlein stehn,
Wie Sterne leuchtend,
Wie Äuglein schön …
Seine Frau blickt ihn unverwandt an, mit Augen, die unversehens ins Leuchten geraten. Wie eindrucksvoll er die Verse spricht, voller Gefühl und Bewegung. Wenn er nur die unselige Kamera vergessen und wieder sein könnte wie früher, der optimistische junge Mann, der er war, frei von Ängsten, Anklagen, Verdüsterung, wenn seine Stimme immer so heiter wäre wie jetzt, da er im wohlwollenden Schweigen der Versammelten das Gedicht zu Ende spricht.
Vor der Tür steht ein weißlackierter Kleinbus mit der Aufschrift ADAK Allgemeiner Dachverband der Krankenkassen in mattem Rot. Er ist nagelneu, sein Inneres riecht nach Plastikfolie, Lack und anderen künstlichen Stoffen. Henriette, die Holländerin, steigt ein, gefolgt von der alten Italienerin und dem Bambino. Man bringt sich und das Seine auf gepolsterten Bänken unter, drei Menschen auf zwölf Sitzen. Vorn fällt die Tür zu, jemand hat am Steuer Platz genommen. Schweigend liegt das Verwaltungsgebäude, der Vorplatz mit den bunten Blumen.
Dies also wäre der Abschied … der Abschied wovon? Ehe Henriette darüber nachdenken kann, fährt der Wagen los, fährt leise, weich, wolkenhaft zum Tor hinaus, eine Straße liegt vor ihnen, gewunden, hügelauf und hügelab, Licht und Schatten, Berge und Wald, steiler Fels, warm besonnte Lichtung. Andere Wagen. Ein Traktor mit einem Anhänger voll Holz. Ein lustig bemaltes Lieferauto, auf dem ein lächelnder Mann in blauem Overall eine Installateurfirma preist, die es billiger und dennoch besser macht als alle anderen. Die Italienerin hockt schwarz, in ihr Tuch gehüllt, weiter vorn, den kleinen Jungen neben sich, der lebhafter geworden ist als im Wald, auch rotwangiger, schlanker, größer, und der ein Spielzeugauto in der Hand hält, das genauso aussieht wie die Autos, die ihnen begegnen: bunt, flach, tausendfach. Vom Fahrer ist nichts zu sehen als ein runder Hinterkopf über dem Rand eines grauen Polstersessels.
Der leichte, penetrante Geruch nach Plastik und chemischen Substanzen, der weiche Sitz, der Blick auf wechselnde Szenen und Bilder – auf die man mit dem sanften Hochmut des Vorübereilenden herabblicken kann – wirken auf Henriette einlullend und ermüdend. In der vergangenen Nacht hat sie kaum geschlafen. Sie hat wach gelegen und sich den heutigen Tag vorgestellt, den Flughafen, das Abheben der Maschine, das Überfliegen der Alpen, die lang entbehrten Bilder Italiens, die letzte Schleife, schon im Anflug auf den Flughafen Fiumicino, über einen Streifen Meer und Strand, glitzernd, lichtübergossen. Dann hat sie vom Wald geträumt, vom Gymnasiasten, der ihr nachstellt, durch krachendes Unterholz, mit seinem wilden, begeisterten Gesicht, seinen nach ihr ausgesteckten Händen, ein Traum, dessen Einzelheiten ihr im Erwachen bereits entfallen waren, von dem nichts blieb als das beschämende Gefühl falscher Nähe. Wie kam sie überhaupt in eine solche Lage? Warum war sie nicht zu Hause geblieben, bei ihrem Mann, ihrem Sohn? Wozu die Flüge zur Mutter nach Amsterdam, zwei-, dreimal im Jahr, über Gebirge und Ländergrenzen, als wäre es nichts? Warum die Mutter nicht einfach zu sich holen, damit der unsinnige Zustand ein Ende nimmt? Denn es ist unsinnig, so zu leben, die Mutter an einem Ende Europas, Tochter und Enkel am anderen, unsinnig, herausfordernd, lebensgefährlich, auch wenn alle so tun, als sei es normal …
Sie döst. Sie vergisst, was sie dachte. Das Leben im Wald … Die Schönheit des Schmerzes. Der Erschöpfung. Der Liebe. Der Farben. Ist das nun alles vorbei? Der Flug, den sie vor sich hat, hebt das Besondere auf, das Unerfüllbare, Qual und Sehnsucht in jedem Gedanken, die ständige Trauer, mit der zu leben man sich angewöhnt hatte, anpassungsfähig wie man offenbar ist. All die Zeit im Wald hat sie ihren Sohn als eine Art Engel im Traum gesehen, in wenigen Stunden wird er vor ihr stehen, lebendig, menschlich wie jeder Zwölfjährige. Sie wird ihn wieder jeden Tag sehen, wird sein Zimmer aufräumen und Pasta für ihn kochen, wenn er aus der Schule kommt – wird sie dann noch verstehen können, dass sie wochenlang bei jedem Gedanken an ihn Schmerz und Wehmut empfunden hat?
Der Flughafen. Weich hält der Kleinbus vor einer gläsernen Front, in der er sich spiegelt, weiß, glänzend, in roten Lettern das Wort ADAK, dessen Sinn sie bereits vergessen hat. Unbemerkt hat sie die Sprache gewechselt und mit ihr das Denken. Als sie aussteigen, ihr Gepäck ausladen, spricht die Alte sie an:
»Scusi, Henrietta. Non so da dove l’aero partirà.«
»Non fartene un pensiero. Sono con voi.«
»Grazie. Millie grazie. Tu sei un angelo …«
Auch der Junge sieht sie dankbar an, der Enkel. Es ist die normalste Sache der Welt, dass sich eine Großmutter um ihren Enkel sorgt. Auch ihre Mutter wäre gern näher bei ihr und dem Enkel, sie sagt es nicht, weil sie eine moderne Frau ist und verlernt hat, derlei Verlangen in Worte zu fassen, ohne Frage ist es so, kein Zweifel möglich. Sie wird noch einmal, ein letztes Mal nach Amsterdam fliegen, die Mutter holen, das Haus verkaufen, sie werden in Rom leben, die Großmutter mit ihnen, la nonna, la mamma, wie in Millionen Familien, seit Jahrhunderten.
»Herr Professor! Wie geht es Ihnen?«, fragt Pater Holthusen den Mann, der ihm über den Weg gelaufen ist. Er fragt umso herzlicher, weil er diesen Mann zuerst nicht erkannt hat. Einmal wegen der neuen Kleider – wie hartnäckig halten sich die extremen Eindrücke im Gedächtnis, die Bilder der Verlumptheit, Verwilderung, wie stehen sie noch Wochen später allem Neuen störend im Weg … Zum anderen, weil dieser Mann, Professor Fink, obwohl er an Gewicht zugenommen und seine rosige Gesichtsfarbe wiedergewonnen hat, auf eine schwer zu erklärende Weise bekümmert wirkt. Auch Fink stutzt, als er den Pater erkennt, Holthusen tritt ihm zum ersten Mal in grauem Anzug, dunklem Hemd und priesterlichem Stehkragen gegenüber. Dann reicht er ihm die rechte Hand. In der linken hält er ein in Papier gewickeltes Paket.
»Danke«, sagt Fink. »Und Ihnen, Hochwürden?«
»Wie soll ich sagen? Gehen wir ein Stück durch den Park? Es ist schönes Wetter heute … Ein selten strahlender Herbst.«
»Ja, herrliches Wetter.« Fink wirft einen kurzen Blick auf das Päckchen in seiner Linken und folgt dem Pater über geschwungene Kieswege zwischen Rhododendron und Nadelbäumen, Wege, teils schattig, teils von Sonnenflecken erwärmt.
»Ich möchte mich von Ihnen verabschieden«, sagt der Pater. »Ich reise morgen.«
»Darf man fragen, wohin?« Fink beobachtet jede Regung im Gesicht des hageren Mannes in Grau, der neben ihm geht.
»In ein Kloster in den Alpen. Es wird Sie vielleicht wundern, dies zu hören. Ich möchte in Ruhe nachdenken.«
»Nein, es wundert mich nicht. Ich erwäge, in Vorruhestand zu gehen. Die Ärztekommission hat keine Einwände.«
Holthusen nickt. »Was wir erlebt haben, wird tiefere Spuren in unseren Seelen zurücklassen, als wir für möglich hielten. Sowohl, was wir da drin erlebt haben«, er weist mit dem Arm in Richtung der dunklen Wälder, die jenseits des umzäunten Park-Geländes auf den gegenüberliegenden Hügeln beginnen, »als auch das, was wir hier erlebt haben. Beides war erstaunlich, nicht wahr?«
»Ja. Beides.«
»So erstaunlich, dass es dazu zwingt, grundsätzliche Entscheidungen zu treffen.«
Fink ist überrascht. Er murmelt. »Auch ich habe einige Entscheidungen hinter mir.«
Scheint es ihm nur so, weil er immer noch argwöhnisch ist, oder wirft der Mann neben ihm einen raschen Blick auf das Päckchen in seiner Linken?
»Manchmal ist es besser, nachzugeben«, hört Fink. »Dann, wenn wir mit unserer Weisheit am Ende sind. Und Unheil anrichten, falls wir an ihr festhalten. Was wir wissen, ist unsere Sache, wir sind nicht immer verpflichtet, davon mitzuteilen. Und wir sind schon gar nicht verpflichtet, andere um jeden Preis davon zu überzeugen. Gott ist es, der den Menschen die Wahrheit auferlegt, manchmal als Erleuchtung und Hilfe, manchmal als eine Bürde. Manchmal als etwas Zerstörerisches. Und in diesem Fall ist es besser, man versucht, allein damit fertig zu werden.«
Fink muss seufzen. Was der Mann neben ihm sagt, trifft seine eigenen Gedanken so genau, dass er nicht wagt, etwas zu erwidern, aus Furcht, durch ein verfehltes Wort das hauchzarte Gespinst der Übereinstimmung zu zerstören. Handelt es sich um einen Fall von Gedankenübertragung, von fremdseelischer Einstrahlung, Telepathie? Er hat Leute getroffen, die daran glaubten wie an etwas Alltägliches. Er ruft sich zur Ordnung. Beschließt, trotz aller »Spuren« und »grundsätzlichen Entscheidungen« der Mann zu bleiben, der er ist. Mit einem Ausdruck von Wachsamkeit hört er dem Pfarrer zu, hellhörig gegen mögliche Versuche der Indoktrination.
»In Zeiten, in denen die Menschen ohnehin Schwierigkeiten haben, sich selbst und ihresgleichen zu achten und zu lieben«, hört er Holthusen sagen, »sollte man sie nicht noch mit Wahrheiten konfrontieren, die sie immer tiefer in Unglauben und Verzweiflung stoßen. Wir sind sterbliche Wesen, begrenzt in Zeit und Aufnahmefähigkeit, wir verkraftet nicht alles, auch nicht alle Wahrheit. Was geschehen ist, kann nicht rückgängig gemacht werden. Und kein Mensch kann verhindern, dass morgen ähnliches geschieht. Dazu ist es zu spät. Nur die Liebe gibt uns die Kraft, mit dem Schrecken fertig zu werden. Wie es im Hohelied heißt: Stark wie der Tod ist die Liebe.«
Fink lauscht atemlos. Genauso hat gestern seine Frau gesprochen, in einem langen Monolog unter Tränen. Er hat ihre Meinung nie wirklich in Betracht gezogen, ihr niemals zugetraut, dass sie mit einer Situation besser fertig werden könnte als er. Warum willst du nicht dieses kleine Opfer bringen, hat sie gefragt, ein wenig von deinem Eigensinn, deiner Selbstliebe preisgeben, erst darin erweist sich unsere Liebe zu einem anderen Menschen. Und nur mit unserer Liebe, hat sie hinzugefügt, können wir Gisela retten, wenn sie immer noch in Gefahr sein sollte …
Sie sind unversehens wieder vor dem Hauptgebäude angelangt, in das Professor Fink eintreten wollte, als er den Pater traf. Die Wege in diesem Park führen nicht weit und immer im Kreis, jedenfalls die offiziellen. Fink ist nicht jemand, der Wildwuchs erkundet, sich seitwärts in die Büsche schlägt, die verborgenen Orte einer Anlage aufsucht, obwohl er ahnt, dass es sie gibt: Der Park ist weiträumig, unübersichtlich, nur mit Mühe als kultiviertes Gebilde zu erhalten, er hat hintergründige Dimensionen, unerklärliche Stimmen, eine Neigung zum Wuchern, Sich-Entziehen.
»Ich will Sie nicht länger aufhalten«, sagt Holthusen und strafft sich zum Abschied. Professor Fink spürt plötzlich überströmende Dankbarkeit für diesen Mann, den er kaum kennt, nur von ein paar ungewöhnlichen Tagen aus dem Wald, aus einer Notlage. Von dem er durch Alter, Konfession, Familienstand und vieles andere getrennt ist. Dennoch diese Dankbarkeit, eine unerklärliche Nähe, wie er sie selten gespürt hat … Mit beiden Händen – das Päckchen unter den Oberarm geklemmt – ergreift er die hagere Rechte des graugekleideten Fremden, den er wahrscheinlich nie wieder sieht, der ihm schon jetzt fern erscheinen muss, halbwegs entrückt und entschwebt, auf dem Weg in ein Kloster … »Danke«, murmelt Fink ergriffen, »für Ihre tröstlichen Worte. Sie kamen im rechten Moment. Ich bin kurz davor, einen entscheidenden Schritt zu tun, einen Schritt, der mir gestern noch unvorstellbar schien. Sie können sich nicht vorstellen, was es mich gekostet hat … Ich habe menschlichen Beistands bedurft wie noch nie. Gott segne Sie.«
Mit diesen Worten eilt er davon, lässt den Pater stehen, läuft in die Halle des großen Gebäudes, in den Fahrstuhl, immer das Päckchen in der Hand, drückt den Knopf zur zweiten Etage, wo, wie er weiß, die Pastorin in ihrem Büro sitzt und ihn erwartet.
Sie sind gelaufen so weit sie konnten, in die Himmelsrichtung, die sie für Süden hielten. Gegen Mitternacht haben sie sich in einer Jagdhütte ein paar Stunden hingelegt. Seit sie im Wald waren, fürchten sie sich nicht mehr davor, nachts unterwegs zu sein, in lichtlosen Gegenden, verlassenen Siedlungen, im Gegenteil, es gibt ihnen die gute Laune zurück. Sie sprechen darüber, ihr Gespräch reißt nicht ab, sie genießen es, ungehindert zu reden, ohne Störung, ohne das Gefühl, jemand könnte sie belauschen.
Morgens erreichen sie eine kleine Stadt, vielleicht auch nur ein großes Dorf, jedenfalls gibt es ein hübsches Hotel, wo sie ein Zimmer nehmen, duschen, ausschlafen, frühstücken, in der nächst größeren Stadt telefonisch einen Mietwagen bestellen. Später per Bus in die Stadt, mit dem Mietwagen zum nächsten Flughafen. Sie haben sich entschlossen, vorerst in Europa zu bleiben, in einem vom Tourismus bevorzugten Mittelmeerland, wo man als Landfremder unauffällig leben kann. Von dort wollen sie herausfinden, ob Almas Eltern überlebt haben oder nicht. Ihre – zum Teil unbekannten – Verwandten in anderen Ländern suchen. Vielleicht ist jemand darunter, mit dem sie sich verstehen, der ihnen hilft. Ihr Flugzeug geht in zwei Stunden, sie checken ein, trinken irgendwo an einem rotlackierten Tisch einen Espresso. Es gibt nichts Dringendes mehr zu besprechen, sie haben alles, was es fürs erste zu entscheiden gab, entschieden.
Ihr Gespräch mäandert eine Weile vor sich hin, dann bleibt es hängen, bei einem Buch, von dem sich herausstellt, dass sie es beide gelesen haben. Beide mit Faszination, vielleicht aus einer Ahnung, es könnte sie angehen. Das Buch, vor einigen Jahren berühmt, Monate lang in den Bestsellerlisten, hieß schlicht »Verlust«. Thema der Texte war das Weiterleben nach existenziellen Einbrüchen, nach dem Tod von Eltern, Kindern, Partnern, der Einbuße von Körperteilen oder Fähigkeiten wie Gehör, Gesicht, Gedächtnis, oder nach dem Zusammenbruch dessen, worauf man seine »Identität« gegründet hatte: Eigentum, Beruf, gesellschaftliche Stellung. Die meisten Autoren stimmten darin überein, dass »Verlust« neben all dem Schmerz und Entsetzen, die er mit sich bringt, auch immer einen Neubeginn bedeutet, einen Schub an Entschlossenheit. Als bräuchte es solche Ereignisse, um Kräfte in uns zu mobilisieren, die sonst brach liegen. Um Möglichkeiten zu entdecken, die sonst verborgen blieben. Als sei es notwendig, von Zeit zu Zeit Stabilitäten umzuwerfen, Sicherheiten zu erschüttern, Ordnungen aufzulösen, die uns erstarren lassen.
Alma vermutet darin einen »höheren Sinn«, den Beweis einer übermenschlichen Instanz. Jonathan etwas zutiefst Menschliches, eine Art ewige Unruhe gegenüber dem Bestehenden, das auch immer als etwas Bedrückendes empfunden wird. Sehnt »etwas in uns« heimlich solche Erschütterungen herbei? Darauf ließe sich gut verzichten, findet Alma. Sie denkt oft an ihre Eltern, die an jenem Morgen mit ihren Autos losfuhren, ahnungslos, und nicht zurückgekehrt sind. Nie hätte sie für möglich gehalten, erklärt sie Jonathan, dass sie sich so unversehens an den Gedanken gewöhnen könnte, die beiden wären tot und verschwunden, während sie weiterlebt, morgens aufsteht, sogar Glück und Freude empfindet, eine Liebesgeschichte anfängt. Überhaupt, dass sie so gleichgültig werden könnte gegen alles ringsum, auch gegen das Elend anderer Menschen. Wird bei einer bestimmten Dosis Bedrohung, Lebensgefahr, Angst das Interesse an der Außenwelt beiseite gedrängt von einem fast ausschließlichen Bezogensein auf sich selbst und die nächsten, allernächsten Menschen, die wenigen, die man in den engen Zirkel des eigenen Ego einschließt? Darüber zuckt Jonathan die Schultern: Jedes Lebewesen verhielte sich so, wenn es in Gefahr gerät …
Nach wie vor sind sie und Jonathan im Unklaren darüber, was wirklich in ihrer Heimatstadt geschehen ist. Sie haben niemanden getroffen, weder »im Wald« noch außerhalb, der einen Überblick über die Katastrophe, ihre Ursachen, ihren Verlauf, ihr Ausmaß gewonnen hätte. Oder ernsthafte Anstalten machte, sich einen solchen Überblick zu verschaffen. Versuche, mit anderen darüber zu sprechen, blieben in Einzelheiten stecken, in dramatischen Schilderungen des Erlebten, der in Mitleidenschaft geratenen eigenen Gesundheit, der Sorge um Verlorenes. Alle scheinen von einer schrecklichen Müdigkeit befallen, die abgeneigt macht, mehr zu wissen, als man wissen muss.
Immerhin weiß Jonathan mit Sicherheit, dass seine Mutter lebt. Sie wohnt weit weg vom Ort der Ereignisse, zu ihr ist nicht mal eine Nachricht davon gedrungen. Die Lokalzeitung, in der sie sporadisch ein paar Spalten liest, beim Kaffeetrinken am Morgen, kümmert sich selten um Ereignisse in anderen Sphären. In den letzten Tagen hat er ein paar Mal mit seiner Mutter telefoniert, doch ihre Unkenntnis des Geschehenen machte die Gespräche noch mühseliger als sonst, sie ließ durchblicken, dass sie über sein wochenlanges Schweigen gekränkt war, seine Erklärungen (»Mir ist etwas Unvorhergesehenes passiert …«) für Ausreden hielt, obgleich sie, wie sie mit verschnupft klingender Stimme zu verstehen gab, längst daran gewöhnt sei und kaum noch erwarte, von ihm jemals die Wahrheit zu hören. Und wirklich, er hat sie schon seit Jahren nicht mehr eingeweiht in das, was er tut, womit er sein Geld verdient, wer seine Freundinnen und Freunde sind, woran er denkt oder dass er manchmal Gedichte schreibt, die sich nun ohnehin, mit seinen Papieren und Habseligkeiten, in Rauch und Vergangenheit aufgelöst haben.
Sie sehen dabei frisch und munter aus, ein sorgloses junges Paar. Jonathan ist rasiert, seine Gesichtshaut straff. Auch sie hat sich erholt, sogar ein wenig zugenommen, in ihren Wangen ist ein Hauch Farbe. Heute morgen haben sie sich neu eingekleidet, das neue Zeug gleich im Laden angezogen und ihre von Flucht und Übernachtung im Wald verschmutzten Kleidungsstücke in einem Müllcontainer verschwinden lassen. Sie fühlen sich wohl in der neuen Haut, lächeln, reden mit gesenkten Stimmen, die Gesichter nahe beieinander. Ab und zu hebt Jonathan den Kopf, wenn eine Durchsage kommt, lauscht, ob sie ihren Flug betrifft. Flüge können verspätet sein, umgelegt werden, ganz ausfallen. Man muss mit allem rechnen, mit der verrücktesten Möglichkeit. Er hat seine Rechte, über deren Handrücken eine lange Narbe läuft, zwischen den Kaffeetassen zu ihr geschoben und umfasst ihre Linke, haltsuchend und besitzergreifend zugleich.
Frau Silberblick, im Vorübereilen, ist nicht sicher, ob sie richtig sieht. Sie erkennt das Paar am Tisch, gerät nachträglich in Zweifel, lächelt, ohne es zu wollen, sieht auch Jonathan und Alma lächeln, mit einer Spur Verlegenheit, die ihr nicht entgeht.
Sie fühlt sich fiebrig und fahrig wie immer, wenn sie schlecht geschlafen hat. Wie von der Kommission versprochen wurde ihr Fall dezent und zuverlässig geregelt, die Geschwindigkeit, in der es geschah, hatte etwas Unheimliches. Bestellung des Flugtickets, Anruf bei ihrem in China weilenden Mann, ein Mietwagen am Flughafen Tel Aviv. Sie hat Verwandte dort, aber es wäre peinlich, einfach anzurufen und zu sagen: Da bin ich, holt mich ab. Wie soll sie ihren Sinneswandel erklären? Jahre lang hat sie ihren Verwandten Fotos geschickt: ihre Villa mit davor parkendem Mercedes, ihre Söhne in bunten Skianzügen vor weißen Schneeflächen, sie selbst in Designerklamotten auf Vernissagen. Sie hat von Sicherheit gesprochen, von Zivilisation und Frieden, und wie selbstverständlich den Eindruck verbreitet, dass es ihr, der gut situierten Europäerin, besser ginge als ihnen.
Hat sie sich in dem Land, das sie verlässt, jemals zu Hause gefühlt? Sie hat nicht mal darüber nachgedacht. Sie haben hier gelebt, die Sprache gesprochen, ihr Geschäft gegründet, und, Gott sei’s gedankt, haben Jossis Aktivitäten diese Geschäfte längst aus dem engen Rahmen herausgeführt, der die Festlegung auf ein einzelnes Land bedeutet. Sie können heute wohnen, wo sie wollen. Auch dort, wohin sie jetzt fliegt, in das Land, das es vor hundert Jahren noch nicht gab und das daher im Grunde allen ein wenig fremd ist, auch denen, die es ihr »Zuhause« nennen. Dort ahnt kein Mensch, was hinter ihr liegt. Man wird sie behandeln wie eine reiche, verwöhnte, von der Härte des Lebens verschonte Frau. Hätte es Sinn zu widersprechen? Sie werden gar nicht mitbekommen haben, was geschehen ist, wie auch, und man soll sie nicht von Anfang an für geisteskrank halten. Sie wird schweigen müssen, das Missverständnis hinnehmen. Ausgerechnet dort, in einem Land, in dem jeder seine Meinung, seine Geschichte, sein Glück, seinen Schmerz laut in die Welt hinausschreit, ausgerechnet dort wird sie schweigen müssen.
Es wird anders kommen. In diesem Land kommt immer alles anders. Eine Ahnung, die ihr jetzt nicht hilft. Aber so viel ist sicher: In diesem Land schweigt niemand. Dort gilt es als so selbstverständlich, laut zu sagen, was man denkt, dass sich niemand darum kümmert, ob er oder sie deshalb von anderen für verrückt gehalten wird. Jossi wird es nicht ganz leicht fallen, dort zu leben. Er mag diese Art Offenheit nicht, bleibt lieber im Hintergrund, macht still seine Geschäfte. Ihre Söhne, Schwiegertöchter … Sie wird sehen. Manche Familie lebt verstreut. Aber Nechama soll kommen, sobald sie Ferien hat. Wenigstens einem ihrer Kinder muss sie sich anvertrauen. Wozu hat sie ihr diesen Namen gegeben: Nechama, Trösterin?
Sie hat unwillkürlich im Schritt innegehalten, als ihr die beiden am Tisch vor die Augen kamen, und diese sehen es, erwarten, dass sie von ihrer Bahn abweicht, auf sie zukommt, die bei solcher Gelegenheit üblichen Worte sagt. Jonathan spürt, wie er sich anspannt, und Alma ist einen Atemzug lang versucht, ihre Hand unter seiner wegzuziehen, etwas Falsches ist auf einmal in der Geste. Er fühlt das Zucken ihrer Hand, hält sie nun erst recht, bewegt die seine sanft hin und her, ein leises Streicheln. Er kann hinreißend sein, ihr die geheimsten Gedanken und Wünsche von den Augen ablesen, aber er kann auch grob und wildwütig sein … Sie wird ihn erziehen. Erst ihn, dann ihre Kinder. Der Gedanke daran lässt sie lächeln. Sie würde gern weiter darüber nachdenken, doch nun kommt Frau Silberblick ins Bild, die unvermeidliche Begegnung.
Ohne Almas Lächeln wäre Frau Silberblick wahrscheinlich einfach weitergelaufen, mit einem Kopfnicken oder Winken. Ein Zögern, ein Hin und Her von widersprechenden Signalen in ihrem bewegten Körper, ein kaum merkliches Innehalten im Schritt von Wimpernschlags Dauer. Während dieser kurzen Zeitspanne zeigt ihr Gesicht einen Ausdruck angestrengten Nachdenkens, so angestrengt, als schmerze oder quäle sie etwas, dieser Ausdruck löst sich in Verwunderung auf, weicht einer Miene resoluter Entschlossenheit. Sie geht die paar Schritte hinüber zum Tisch, wo Jonathan aufsteht, wie er es als Kind gelernt hat, als Zeichen der Höflichkeit gegenüber Frauen oder Älteren.
Frau Silberblick steht vor ihm, einen nagelneuen Koffer auf Rollen hinter sich, dessen Bügel von einer ihrer Hände umklammert wird, während die andere auf der eleganten Schultertasche liegt, die an einem blitzenden, wahrscheinlich unzerreißbaren Metallband an ihrer Seite hängt. Sie schweigt und sieht die beiden Jüngeren mit ihren großen, glänzenden Augen an.
»Setzen Sie sich zu uns«, sagt Alma, die gleichfalls aufgestanden ist.
»Wollen Sie was trinken?«, fragt Jonathan. »Einen Kaffee, einen Aperitif …«
»Danke, das ist lieb, wirklich. Aber ich muss so schrecklich früh einchecken. Wegen der Sicherheit. Darum bin ich ein wenig in Eile.«
Jonathan nickt vage, obwohl ›Sicherheit‹ bisher keine Vokabel war, die er akzeptiert hätte. Doch wie er Frau Silberblick dieses Wort aussprechen hört, wirkt es auf einmal plausibel. Es gibt vieles, worüber man sich in Ruhe ein paar Gedanken machen müsste. Ein kurzer Seitenblick zu Alma, ob sie weiß, wie mit dieser Situation umzugehen ist.
Alma gesteht sich in diesem Augenblick ein, dass sie gehofft hatte, sich durch ihre Flucht mit einem Schlag von allem zu befreien, von der falschen Nähe zu wildfremden Menschen, von der Schicksalsgemeinschaft im Wald, von dem Schweigen, in dem sie endete. Entgegen aller Logik zählt sie Jonathan nicht dazu, hat ihn nie als Fremden angesehen: Zusammen haben sie sich befreit, sind entwischt, haben nicht wie die anderen durch ihre Unterschrift den Befund der Kommission anerkannt, wonach sie an einer psychischen Störung mit Halluzinationen und Wahnvorstellungen leiden. Sie haben sich die Möglichkeit offen gelassen, eines Tages zu sprechen. Hat Frau Silberblick unterschrieben? Was blieb ihr übrig? Sie hat Kinder, Verpflichtungen, Interessen, kann nicht einfach unter einem Zaun durchkriechen wie Alma und Jonathan. Die Art, wie sie um sich blickt, wie sie einem gerade in die Augen sieht, deutet darauf hin, dass sie es womöglich doch nicht getan hat. Dass sie einen Weg gefunden hat, es nicht tun zu müssen. Was ist daran so wichtig? Macht es einen großen Unterschied, ob man unterschrieben hat oder nicht? Wir vergöttern den Kompromiss als Lösung aller Probleme, doch insgeheim wissen wir: es gibt Kompromisse, die den, der sich darauf einlässt, kompromittieren. Für den Rest des Lebens schädigen, schwächen. Frau Silberblick sieht Alma so seelenruhig in die Augen, als wolle sie ihr Einverständnis mit diesem Gedanken zu verstehen geben, ein selbstverständliches, kühles Einverständnis: Ja, mein Kind, du siehst richtig. Ich bin unbeschadet davon gekommen wie ihr. Übrigens können wir damit nicht viel anfangen. Es ist ein Sieg im Geheimen. Da alle anderen unterschrieben haben, sich im Verschweigen des Vorgefallenen einig sind, würde euch und mir, falls wir das Schweigen brechen, niemand glauben. Hat es unter solchen Umständen Sinn, dass wir reden?
Die drei stehen um den runden Tisch mit den weißen Tassen, Wassergläsern, der metallenen Zuckerdose, auf die sie starren und in der jeder sein eigenes Spiegelbild sieht, verkleinert und verzerrt, nachdem sie alle wie auf Kommando den Blick gesenkt haben, um ihn wenig später, wieder wie auf ein unhörbares Signal, zu heben. Frau Silberblick verzieht ihre geschminkten Lippen zu einem Lächeln, in dem mehr liegt, als Worte sagen könnten, ihr Verbundensein durch ein gemeinsam zu hütendes Geheimnis, so schwer