jään sull’ truuiks surmani, mul kõige armsam oled sa (ich bleib dir treu bis in den Tod, du bist mein Allerliebstes). Zeilen aus der estnischen Nationalhymne Mu isamaa, mu õnn ja rõõm (Mein Vaterland, mein Glück und meine Freude), die zur Zeit der sowjetischen Besetzung verboten war.
Ein Glossar sowie eine Auflistung der Hauptpersonen des Romans befinden sich am Ende des Buches.
Estnische Sozialistische Sowjetrepublik, Sowjetunion
Wir waren dann noch an Rosalies Grab, legten Wiesenblumen auf den mondbeschienenen Grashügel und verharrten einen Augenblick schweigend, zwischen uns die Blumen. Ich wollte nicht, dass Juudit ging, ich wollte sie nicht fortlassen, und deshalb musste ich laut etwas sagen, was man in solchen Situationen nicht sagen sollte:
»Wir werden uns nicht wiedersehen.«
Ich hörte das Knirschen in meinen Worten, doch erreichte ich damit, dass ihr ein wässriger Glanz in die Augen stieg, eben jener wässrige Glanz, der mich so oft ins Wanken gebracht und aus meinem Verstand ein Boot aus Borke gemacht hatte, das leicht aus dem Gleichgewicht zu bringen war. Jetzt schaukelte es auf den Wellen in ihren Augenwinkeln. Vielleicht wollte ich meinen eigenen Schmerz lindern und drückte mich deshalb in einer unbeholfenen Sprache aus, vielleicht wollte ich nur grausam sein, damit sie unterwegs mich und meine Fühllosigkeit verfluchen konnte, oder vielleicht verlangte ich noch nach einem letzten Beweis dafür, dass sie nicht gehen wollte – ich war mir der Regungen ihres Herzens immer noch unsicher, obwohl wir so vieles gemeinsam durchgestanden hatten.
»Du bereust es, dass du mich nach alldem zu dir genommen hast«, flüsterte Juudit.
Angesichts ihres Scharfblicks erschrak ich und strich mir verlegen über den Nacken. Am Abend hatte sie mir noch die Haare geschnitten, ein paar davon waren mir in den Kragen gefallen und kitzelten.
»Das macht nichts, ich versteh es«, fuhr sie fort.
Ich widersprach nicht, obwohl ich das hätte tun können. Dennoch glaubte ich nicht , dass ich im Wald ohne Juudit mehr erreicht hätte, um die ich mich noch zusätzlich zu allem anderen hatte kümmern müssen. Die Männer sahen das anders. Ich hatte sie jedoch in den Schutz des Waldes bringen müssen, als ich hörte, dass sie aus Tallinn auf den Hof der Arms geflohen war, als die Russen näher rückten. Das war für uns keine zuverlässige Familie, der Wald war besser. Juudit war wie ein Vogel mit gebrochenen Flügeln in meiner Hand gewesen, in geschwächtem Zustand, das Nervenfieber hatte wochenlang angehalten. Erst als unser Feldscher im Kampf gefallen war, hatten die Männer es zugelassen, dass Frau Vaik uns zu Hilfe kam, uns und Juudit. Wieder war es mir gelungen, sie zu retten, aber sobald sie den vor uns liegenden Weg betrat, würde ich sie nicht mehr schützen können. Dennoch hatten die Männer recht: Frauen und Kinder gehörten ins Haus, Juudit musste in die Stadt zurück. Die Schlinge um uns zog sich zu, und der Schutz des Waldes schwand dahin. Verstohlen überprüfte ich ihre Miene: Ihr Blick war auf den Weg gerichtet, auf dem sie sich entfernen würde, den Mund leicht geöffnet, sog sie mit aller Kraft die Luft ein, und der schneidende Atem, den sie ausstieß, bemühte sich, meinen Entschluss ins Wanken zu bringen.
»So ist es das Beste. Das Beste für uns alle. Du gehst zurück in das Leben, aus dem du fortgegangen bist«, sagte ich.
»Es ist nicht mehr dasselbe. Das wird es niemals mehr sein.«
»Dann kam der Wachmann Mark, führte sie einzeln an den Graben und richtete sie mit seiner Pistole hin.« 12 000
Aus den Materialien des Prozesses gegen die Massenmörder Juhan Jüriste, Karl Linnas und Ervin Viks, der vom 16.–20. Januar 1962 in Tartu stattfand. Estnischer Staatsverlag, 1962.
Estnische SSR, Sowjetunion
Das Brummen wurde lauter; ich wusste, was dort hinter den Bäumen näher rückte. Ich warf einen Blick auf meine Hände, sie waren ruhig. Einen Augenblick später würde ich der sich nähernden Autokolonne entgegenlaufen und nicht an Edgar denken, nicht an seine Nerven. Aus dem Augenwinkel sah ich, wie er mit zittrigen Bewegungen an seinen Reithosen herumnestelte, sein Gesicht hatte eine für den Kampf unpassende Farbe. Erst kürzlich waren wir in Finnland ausgebildet worden, und ich hatte mich um Edgar gekümmert wie um ein Kind, damit er zurechtkam. Im Kampf war das anders. Unsere Aufgabe war hier und jetzt. Jetzt! Ich rannte los, die Granaten schlugen mir gegen die Schenkel, hastig zog ich eine aus dem Stiefelschaft, und meine Finger sahen sie schon durch die Luft fliegen. Das Hemd der finnischen Armee, das ich auf der Ausbildungsinsel angezogen hatte, fühlte sich immer noch neu an, es verstärkte die Kraft in meinen Beinen. Bald würden alle Männer meines Landes nur die Ausrüstung der Armee Estlands und niemandes sonst tragen, nicht die fremder Eroberer, nicht die von Verbündeten, nur die eigene. Das war unser Ziel, wir würden uns unser Land zurücknehmen.
Ich hörte, wie die anderen mir folgten, wie der Boden sich unter unserer Kraft bog, und lief dem Motorengebrumm noch schneller entgegen. Ich roch den Schweiß des Feindes, im Mund schmeckte ich schon Wut und Eisen, in meinen Stiefeln rannte jemand anders, derselbe fühllose Kämpfer, der neulich im Kampfgetümmel in den Graben gesprungen war und gegen die Männer des Vernichtungsbataillons Handgranaten geworfen hatte, Verschluss, Zugdraht und Wurf, Verschluss, Zugdraht und Wurf, das war jemand anders, Verschluss, Zugdraht und Wurf, und dieser Jemand stürmte jetzt dem Brummen entgegen. Unsere Maschinengewehre waren auf die Kolonne gerichtet. Das waren mehr Leute, als wir erwartet hatten, es waren unendlich viele, Russen und Angehörige des Vernichtungsbataillons mit estnischer Haltung, und sie hatten unendlich viele Wagen und Maschinengewehre. Aber wir erschraken nicht, die Feinde erschraken, uns trieb der Zorn an, und er trieb uns mit solcher Kraft, dass die Gegner für einen Moment anhielten, die Reifen des Mootor-Busses drehten einen Augenblick durch, unser Zorn nagelte sie an dem Augenblick fest, als das Feuer eröffnet wurde; mit den anderen zusammen griff ich den Bus an, und wir töteten sie alle.
Meine Arme zitterten von den Kugeln, die ich ausgesandt hatte; das Gewicht der Handgranate, die ich geworfen hatte, hing mir noch schwer am Handgelenk, aber allmählich begriff ich, dass der Kampf vorüber war. Als meine Beine sich daran gewöhnt hatten, stillzustehen, und keine Patronenhülsen mehr zu Boden regneten, bemerkte ich, dass das Ende des Kampfes keine Stille gebracht hatte. Es hatte Lärm gebracht, das Wandern der gierig aus dem Boden aufsteigenden Maden hin zu den Leichen, das geschäftige Rascheln der Handlanger des Todes hin zu dem frischen Blut, und es stank, der Kot und die erbrochene Magensäure stanken. Meine Augen waren geblendet, der Pulverrauch verzog sich, und es war, als erschiene am Rand der Wolke ein strahlender goldener Wagen, bereit, die Gefallenen aufzunehmen, die Unseren, die Männer vom Vernichtungsbataillon, Russen, Esten, alle im selben Wagen. Ich blinzelte. Mir dröhnten die Ohren. Ich sah, wie die Männer keuchten, sich die Stirn wischten, auf der Stelle schwankten wie Bäume. Ich versuchte, zum Himmel zu spähen, nach dem schimmernden Wagen, aber man erlaubte mir nicht, gegen die verbeulte Flanke des Mootor-Busses gelehnt zu verharren. Die Muntersten handelten schon so, als kauften sie auf dem Markt ein: Es galt, den Toten die Waffen abzunehmen, nur die Waffen, die Patronengürtel und -taschen. Wir staksten durch Leichenteile und zuckende Gliedmaßen. Als ich der Leiche eines Feindes gerade den Munitionsgürtel abgenommen hatte, umklammerte jemand mit festem Griff meinen Fußknöchel. Der Griff war überraschend stark und zog mich zu dem am Boden röchelnden Mund hinab. Meine Knie gaben nach, noch ehe ich hatte zielen können, und so sackte ich kraftlos neben den Sterbenden, überzeugt, dass meine letzte Stunde geschlagen hatte. Der Blick des Mannes war jedoch nicht auf mich gerichtet, seine mühsamen Worte waren an jemand anders gerichtet, an einen geliebten Menschen, ich verstand nicht, was der Mann sagte, er sprach russisch, aber so, wie ein Mann nur zu seiner Braut spricht. Das hätte ich auch gewusst, wenn ich das Foto in der schmutzigen Hand des Mannes und auf dem Foto das weiße Kleid nicht gesehen hätte. Jetzt war es rot gefärbt vom Blut des Bräutigams, ein Finger bedeckte das Gesicht der Frau, ich riss mein Bein mit einer heftigen Bewegung los, und das Leben wich aus den Augen des Mannes, in denen ich gerade noch mich selbst gesehen hatte. Ich zwang mich, aufzustehen, ich musste weiter.
Als die Waffen eingesammelt waren, ertönte in der Ferne wieder das Dröhnen von Automotoren, und Sergeant Allik gab den Befehl zum Rückzug. Ich hätte gewettet, dass das Vernichtungsbataillon auf Verstärkung warten würde, bevor es einen neuen Angriff unternahm oder einen Lagerplatz suchte. Auf jeden Fall würde es uns verfolgen. Unsere MG-Leute waren schon bis zum Waldrand gekommen, als ich sah, wie eine bekannte Gestalt immer noch auf einer Leiche herumsprang: Mart. Seine Füße hatten schon den Schädel zerschmettert, das Gehirn vermischte sich mit der Erde, aber Mart schlug immer weiter mit dem Gewehrkolben zu, als wolle er ihn durch den Körper hindurch in die Erde rammen. Ich rannte zu ihm hin und versetzte ihm eine mächtige Ohrfeige, die bewirkte, dass sein Griff sich vom Gewehr löste. Mart widersetzte sich, ohne etwas zu sehen, ohne mich zu erkennen, brüllte einen unsichtbaren Feind an und fuchtelte in der Luft herum. Es gelang mir, meinen Gürtel um ihn zu schlingen und ihn zum Verbandsplatz zu führen, wo die Männer eilig die Sachen zusammentrugen. Ich flüsterte, dass man diesen Mann im Auge behalten müsse, und tippte mir an die Stirn. Der Feldscher warf einen Blick auf den keuchenden Mart und den Schaum in dessen Mundwinkeln und nickte. Sergeant Allik trieb die Männer zur Eile an, riss jemandem den Flachmann aus der Hand und brüllte, ein Este kämpfe nicht in betrunkenem Zustand so wie der Iwan. Ich suchte nach Edgar, vermutete, dass er getürmt war, aber mein Vetter hockte auf einem Stein, die Hand vor dem Mund und das Gesicht schweißnass. Ich fasste ihn an der Schulter, und als ich ihn wieder losließ, rieb er seinen Mantel mit einem schmuddeligen Taschentuch an der Stelle, wo ich ihn mit meinen blutbefleckten Fingern angefasst hatte.
»Ich kann das nicht. Sei mir nicht böse.«
Ein plötzlicher Widerwille erfüllte mich, in mir blitzte die Erinnerung daran auf, wie meine Mutter Kaffee versteckt und ihn heimlich nur für Edgar gekocht hatte, nicht für die anderen. Ich schüttelte den Kopf. Ich musste mich konzentrieren, den Kaffee vergessen, musste Mart vergessen und wie ich mich mit dem Mann identifizierte, der sich in seinem verwirrten Blick zeigte und der dem Mann ähnelte, der in meinen Stiefeln in den Kampf gelaufen war. Ich musste den Feind vergessen, der sich an mein Bein geklammert und in dessen Blick ich mich selbst erkannt hatte, wie auch die Tatsache, dass ich mich in Sergeant Alliks Gesichtsausdruck nicht erkannt hatte. Auch nicht in dem des Feldschers. In niemandes Miene, bei dem ich instinktiv spürte, er werde überleben. Dies war mein dritter Kampf nach meiner Rückkehr aus Finnland, und ich war immer noch am Leben und hatte an meinen Händen das Blut des Feindes. Woher also diese plötzlichen Zweifel? Warum erkannte ich mich nicht in denjenigen, von denen ich wusste, dass sie den Frieden mit eigenen Augen sehen würden?
»Hast du vor, noch andere von den Unsrigen zu suchen, oder willst du mit denen hierbleiben und kämpfen?«, fragte Edgar.
Ich wandte das Gesicht den Bäumen zu. Wir hatten eine Aufgabe: die Rote Armee zu schwächen, die Estland besetzte, und die Nachricht von ihrem Vorrücken an die Verbündeten in Finnland weiterzugeben. Ich erinnerte mich sehr gut an unseren Stolz, als wir unseren neuen finnischen Waffenrock angelegt und am Abend feierlich saa vabaks Eesti meri, saa vabaks Eesti pind gesungen hatten. Nach unserer Ankunft in Estland hatte meine Einheit nur ein paar Telefonleitungen gekappt, dann verstummte unser Funkgerät und wir beschlossen, dass wir nützlicher wären, wenn wir uns anderen Kämpfern anschließen würden. Sergeant Allik hatte sich als mutiger Mann erwiesen, die Waldbrüder rückten mit enormem Tempo vor.
»Vielleicht brauchen die Flüchtlinge Schutz«, flüsterte Edgar. Er hatte recht. Die im Wald vorrückende Schar wurde von vielen guten Männern angeführt, sie würden allerdings nur langsam vorankommen, denn der einzige Weg aus dem Kessel führte durch einen Sumpf. Wir hatten gekämpft wie die Verrückten, um den Flüchtlingen einen zeitlichen Vorsprung zu verschaffen und den Feind aufzuhalten, aber würde unser Sieg dafür ausreichen? Edgar erahnte meine Wankelmütigkeit. Er fügte hinzu: »Wer weiß, wie es zu Hause aussieht. Von Rosalie haben wir nichts gehört.«
Noch ehe ich darüber nachdenken konnte, hatte ich schon genickt und ging Bescheid sagen, dass Edgar und ich uns um den Schutz der Flüchtlinge kümmern wollten. Dabei hatte Edgar das sicherlich nur gesagt, um sich vor einem weiteren Angriff zu drücken und seine Haut zu retten. Mein Vetter kannte meine Schwächen. Wir alle hatten daheim Bräute, Verlobte und Ehefrauen zurückgelassen, aber nur ich benutzte meine Liebste als Vorwand, um aus dem Kampf auszuscheiden. Dennoch versicherte ich mir, dass meine Entscheidung vollkommen ehrenhaft, ja vernünftig war.
Der Hauptmann hielt es für eine gute Idee, dass wir gingen. Trotzdem fühlte ich mich unterwegs merkwürdig isoliert. Vielleicht lag das daran, dass mein Gehör im linken Ohr noch nicht wiederhergestellt war, oder daran, dass die letzten Worte des toten Feindes an seine Braut mir im Kopf immer noch nachhallten. Ich hatte das Gefühl, als hätte nichts von dem Geschehenen sich tatsächlich ereignet, aber der Geruch des Todes ging nicht von meinen Händen ab, obwohl ich sie lange in dem Bach wusch, auf den wir gestoßen waren. Die Handlinien – die des Lebens, des Herzens und des Kopfes – zeichneten sich noch immer dunkelbraun ab, das getrocknete Blut drang tiefer in mein Fleisch ein, und ich setzte meinen Weg Hand in Hand mit den Toten fort. Manchmal fiel mir ein, wie meine Beine in den Kampf gelaufen waren, wie meine Hand, ohne zu zögern, das Schnellfeuergewehr hatte singen lassen und ich, als mir die Munition ausgegangen war, nach der Pistole gegriffen und danach Steine benutzt hatte, die am Boden lagen, und wie ich zuletzt den Kopf eines Rotarmisten gegen den Kotflügel des Mootors geschlagen hatte. Aber das war nicht ich gewesen, sondern der andere.
Mein Kompass war im Kampf verloren gegangen, und wir stapften durch fremde Wälder. Ich ging jedoch zielstrebig weiter, so als wüsste ich, wohin wir unterwegs waren, und wurde etwas munterer, als ich wieder einen Vogel singen hörte. Über kurz oder lang würde Edgar bemerken, dass ich den Weg nicht kannte, aber er würde sich kaum beklagen, für uns war es sicherer, uns von den Flüchtlingen fernzuhalten, auf die das Vernichtungsbataillon Jagd machte. Das brauchte ich nicht laut auszusprechen. Ein paar Mal schlug Edgar vor, wir sollten in Ruhe die Ankunft der Deutschen abwarten, alles andere wäre nicht sinnvoll, und in dieser Situation lohne es sich nicht mehr, ein Risiko einzugehen. Ich hörte nicht auf ihn, sondern ging weiter: Ich würde auf den Hof der Arms gehen, um Rosalie und ihre Familie zu beschützen, würde auch bei den Simsons nach dem Rechten sehen und, falls die Kämpfe andauern sollten, einen zuverlässigen Waldbruder suchen und mich seiner Truppe anschließen. Edgar folgte mir, wie er mir auch auf der Reise zu der Schulung über den Finnischen Meerbusen gefolgt war. Das aus den Spalten im Eis hervorquellende Wasser hatte damals die Wangen des Vetters blass werden lassen, und er wäre am liebsten umgekehrt. Als die Skier Eis ansetzten, schlug ich auch für ihn die Klumpen ab. Dann liefen wir wieder hintereinander her, ich voraus, Edgar mir nach, genau wie jetzt. Diesmal wollte ich jedoch einen gehörigen Vorsprung haben, damit sein Keuchen im Rauschen der Bäume unterging. Vorhin hatten mir die Finger gezittert, als ich den Tabaksbeutel hervorzog, und ich wollte nicht, dass Edgar das sah. Wieder und wieder hatte ich das Gesicht des Mannes, der sich an mein Bein geklammert hatte, vor Augen, ich beschleunigte das Tempo, der Rucksack erschwerte meine Schritte, dennoch ging ich schneller, ich wollte das Gesicht des Mannes hinter mir lassen, des Mannes, der vermutlich durch meine Kugel gestorben war und dessen Braut niemals erfahren würde, was mit ihm passiert war, und dessen letzter Gedanke gewesen war: Ich liebe dich. Es gab noch andere Gründe dafür, dass ich hatte fortgehen und die anderen, die sich auf den nächsten Angriff vorbereiteten, hatte zurücklassen wollen. Die verbündeten Teutonen hatten schon früher Misstrauen in mir geweckt.
Sie hatten unseren Trupp der Roten Armee in den Rücken geschickt, obwohl wir nur ein paar Granaten, Pistolen und ein kaputtes Radio mithatten, weiter nichts. Nicht mal eine ordentliche Estlandkarte hatten wir bekommen. Sie hatten uns in den Tod geschickt, das war gewiss. Dennoch hatte ich die Befehle ausgeführt und meine Zweifel verschwiegen. So als hätten wir aus den vergangenen Jahrhunderten nichts gelernt, aus den Zeiten, in denen die baltischen Barone uns das Fell über die Ohren zogen.
Bevor ich nach Finnland ging, hatte ich vorgehabt, mich den Truppen des Grünen Hauptmanns anzuschließen, sogar erwogen, ein Attentat zu verüben. Aber ich änderte meine Pläne, weil man mich bat, an der von den Finnen organisierten Ausbildung teilzunehmen, als das Meer tatsächlich zugefroren war und der Weg nach Finnland leicht wurde. Das hielt ich für ein schicksalhaftes Zeichen; in den Reihen der Waldbrüder waren Angeberei und Nachlässigkeit von der Art aufgetreten, mit der man keinen Krieg gewinnen, keinen Feind vertreiben, niemanden aus Sibirien zurückholen oder Häuser wieder in Besitz nehmen kann. Die Aktivitäten des Grünen Hauptmanns erschienen mir riskant – er trug ein Notizbuch bei sich, in dem er alle persönlichen Angaben der Männer seines Trupps vermerkte, und entwarf auf Papier genaue Pläne seiner Angriffe und Tunnel. Marts Tochter bestätigte meine Zweifel. Sie erzählte mir, dass das Vernichtungsbataillon die Verpflegungsbücher ihrer Mutter gefunden habe, in deren Spalten sie notiert hatte, wer zu ihr zum Essen kam und wann, denn der Grüne Hauptmann hatte versprochen, sie würde später für alle Mühe und die Lebensmittel entschädigt werden. Jetzt war Marts Haus nur noch eine rauchende Ruine, Mart selbst hatte den Verstand verloren, und seine Tochter war irgendwo vor uns mit anderen Leuten auf der Flucht. Einige der in den Verpflegungsbüchern genannten Brüder waren schon hingerichtet worden.
Mir wurde klar, dass die Unseren auf diese Jahre mit gutem Gewissen zurückblicken wollten, dann, wenn Estland wieder frei wäre: dass es für die Legalität ihres Handelns und die Beachtung der guten Sitten Beweise, dokumentiertes Material, geben sollte. Anständiges Verhalten war jedoch etwas, das wir uns nicht leisten konnten, und die Aktionen der Bolschewiken hatten gezeigt, dass unser Land und unser Heim in der Gewalt von Wesen ohne Gesittung waren. Laut kritisierte ich den Hauptmann jedoch nicht, als studierter Mann und Held des Freiheitskriegs wusste er von Kriegsführung mehr als ich, und in seinen Lehren lag viel Klugheit. Er hatte Truppen geschult, sie schießen und morsen gelehrt und dafür Sorge getragen, dass die im Wald wichtigste Fertigkeit, das Laufen, jeden Tag ausreichend trainiert wurde. Hätte der Grüne Hauptmann nicht immer diese gewissenhaften Aufzeichnungen gemacht, wäre ich vielleicht bei seiner Truppe in Estland geblieben. Oder wenn seine Männer nicht diese Kamera gehabt hätten. Ich war schon einige Zeit bei ihnen, als sie eines Morgens mit viel Trara ein Gruppenbild vorbereiteten. Ein mir unbekannter Mann löste sich von den anderen, und ich folgte seinem Beispiel unter dem Vorwand, ich gehörte ja gar nicht zu der Truppe. Die Männer posierten vor dem Unterstand, die Arme einander auf die Schultern gelegt, mit Handgranaten am Gürtel, und ein Spaßvogel steckte den Kopf in das Koffergrammofon. Im Vordergrund stand ein Rucksack voller Geld der Kommunisten, das aus dem Tresor der Gemeindeverwaltung stammte und aus dessen Fundus der Grüne Hauptmann am Vortag ganze Bündel an die Angestellten der Gemeindeverwaltung ausgeteilt hatte, weil man ihn wegen dieser Sache sowieso belangen würde. Nehmt nur reichlich, hatte er gesagt, diese Rubel haben wir von der Sowjetunion zur Rückgabe an das Volk beschlagnahmt.
Der Hauptmann war schon eine Legende, ich würde mich zu so etwas nicht eignen, ich wollte kein Held sein. War das Schwäche? War ich wirklich besser als Edgar?
Rosalie wäre stolz gewesen auf die Fotos: sowohl auf die während der Schulung als auch auf die bei der Truppe des Grünen Hauptmanns aufgenommenen. Ich wollte jedoch den Fehler des Hauptmanns nicht machen und hatte deshalb mit widerstrebenden Fingern Rosalies Foto zerschnitten. Ihr Blick hatte mich in vielen verzweifelten Momenten getröstet, und ich würde ihr Bild brauchen, falls mir das Leben aus den Adern rinnen und im Boden versickern sollte, ich brauchte es jetzt schon, während wir über Stock und Stein wanderten und ich die kämpfenden Brüder hinter mir gelassen hatte, ich brauchte ihren Blick. Edgar, der hinter mir hertrottete, hatte niemals ein Andenken an seine Frau bei sich getragen. Als er in der Waldhütte auftauchte, in der ich auf den Aufbruch nach Finnland wartete, gab er mir zu verstehen, ich dürfe zu niemandem ein Sterbenswörtchen darüber verlauten lassen, dass er in seine Heimat zurückgekehrt war. Die Sorge des Deserteurs war verständlich, die schwachen Nerven seiner Mutter waren bekannt. Dennoch konnte ich mir nicht vorstellen, ebenso zu handeln wie er und Rosalie keinerlei Lebenszeichen zu senden. Ich hörte Edgar hinter mir keuchen und begriff nicht, warum er seine Frau in dem Glauben lassen wollte, dass er als Zwangsmobilisierter immer noch in den Reihen der Roten Armee diente. Ich wollte so bald wie möglich zu Rosalie, Edgar erwähnte nichts von einem Wiedersehen mit seiner Frau. Ich vermutete schon, er wolle sie in niederträchtiger Weise verlassen, habe eine neue Flamme gefunden, vielleicht in Helsinki. Edgar erledigte seine Angelegenheiten oft allein, rannte ständig ins Restaurant Klaus Kurki. Gegen meinen Verdacht sprach jedoch die Tatsache, dass sein Blick nie verriet, dass er an eine Frau dachte, und er sich längst nicht so vom Alkohol verlocken ließ wie wir anderen, davon zeugte sein stets frischer Atem, wenn er ins Quartier zurückkehrte. Dabei trug mein Vetter immer die Sportkleidung, die man uns kostenlos gegeben hatte, auch wenn er Stoff und Schnitt abschätzig betrachtete. In dieser Kleidung hätte er nicht mit einer Dame spazieren gehen oder sie von den zwanzig Mark ausführen können, die wir pro Tag bekamen, geschweige denn die Helsinkier Freudenhäuser kennenlernen. Dieses Geld reichte gerade eben für Zigaretten, Socken und das sonst Nötige.
Die anderen musterten meinen Vetter verstohlen, empfanden ihn als andersartig, und ich befürchtete schon, man werde ihn als ungeeignet für die Aufgabe von der Insel schicken. Deshalb übte ich intensiv mit ihm, nachdem er an der Schläfe vom Rückstoß des Gewehrs verletzt worden war und seine Angst vor dem Schießen besorgniserregende Ausmaße annahm. Gleichzeitig wunderte ich mich, wie er in der Roten Armee zurechtgekommen und warum er um die Taillengegend so stämmig geworden war, die Verpflegung bei der Roten Armee bestand wohl kaum aus Speck und Weizenbrot. Allerdings war der Bauch, den er sich auf der Insel Staffan angefuttert hatte, mittlerweile verschwunden, in Finnland gab es alles nur auf Karten.
Meinem Vetter wurde vieles verziehen, weil er von Natur aus ein Maulheld war. Als Referenten von der finnischen Generalität zu uns kamen, konnte er mit seinem Wissen über die Rangabzeichen in der Roten Armee und seinem mittlerweile fließenden Russisch glänzen und versuchte sogar, den anderen das Fallschirmspringen beizubringen, obwohl er selbst kein einziges Mal gesprungen war. Die Abende verbrachte er damit, die für die Rückkehr nach Estland notwendigen Papiere zu fälschen, und mir flüsterte er zu, er plane eine Elitetruppe, deren Fundament auf der Insel gelegt worden sei. Ich ließ ihn faseln, denn im Gegensatz zu den anderen war ich die notorischen Lügen meines Ziehbruders gewohnt. Sie dagegen hörten sich sein Gequatsche aufmerksam an – wir hatten genügend Freizeit, Momente, in denen die anderen sich darauf konzentrierten, jede Lotta wie die erste Eva anzustarren. Ich verbrachte meine Zeit damit, an Rosalie und an die Frühjahrsaussaat zu denken. Im Juni hatten wir von den Deportationen erfahren. Von meinem Vater hatte ich nichts mehr gehört, seitdem er im Vorjahr verhaftet worden war. Meine Mutter jammerte damals, Vater hätte doch so schlau sein müssen, die Internationale zu singen, dabei den Hut abzunehmen und sich über die Angelegenheiten des Kartoffelvereins zurückhaltender zu äußern. Auch der Nationalisierung hätte er sich nicht widersetzen dürfen, aber ich wusste, dass Vater das nicht fertiggebracht hätte. Sein Verhalten hatte die Simsons jedoch den Hof gekostet, den Sohn in den Wald getrieben und ihn selbst ins Gefängnis gebracht. Er sollte ein abschreckendes Beispiel sein. Gleichzeitig beruhigte man die Leute, den Boden werde ihnen niemand wegnehmen, aber wer glaubte schon den Bolschewiken?
Edgar kümmerte der Verlust unseres Hofs nicht weiter, obwohl meine Familie sein Studium bezahlt hatte, jenes Studium, von dem Edgar den anderen immer wieder Geschichten erzählte, vom Studentenleben in Tartu, und Studenten hatte es in unserem Trupp reichlich gegeben, mehr als Leute vom Land. Seine geringe Lebenserfahrung klang durch, wenn Edgar und die anderen Studenten über diejenigen lachten, die sie für naiver hielten als sich selbst. Für sie war ungebildet ein Schimpfwort, und sie definierten einen Menschen danach, ob er drei Klassen besucht hatte oder mehr. Manchmal klangen die Reden der Burschen, als hätten sie zu viele englische Spionageromane gelesen, und sie hegten große Illusionen, dass sie die Insel Staffan als Topspione verlassen würden und die Tage der Roten Armee gezählt wären. Dieses Evangelium verkündete Edgar allen voran. Einige von ihnen hielt ich für Abenteurer, Feiglinge gab es darunter jedoch nicht, und das gab mir ein wenig Vertrauen und zerstreute meine Skepsis in der Frage, was aus dieser Truppe wohl werden würde. Die Grundlagen hatten wir uns angeeignet, wir alle waren Funker geworden, hatten das Morsen geübt, und obwohl Edgar beim Laden der Waffen ungeschickt war, hatte das Morsen zu seinen Seidenfingern gepasst, die bis zu hundert Zeichen pro Minute schafften. Meine Hände passten besser zu den Sterzen des Pflugs. Immerhin waren wir uns einig über die wichtigsten Ziele und die englische Orientierung.
Ich hatte meine eigenen Pläne: Anstelle von Rosalies Foto trug ich schon seit der Insel ein loses Blatt Papier bei mir, das gelocht war; das ganze Material mit mir herumzutragen, war zu riskant. Auch hatte ich mir ein Heft mit Wachstuchdeckel als Tagebuch gekauft. Ich hatte vor, Beweise für die von den Bolschewiken angerichtete Zerstörung zu notieren. Die würden dann gebraucht, wenn der Frieden käme. Dann würde ich die Dokumente Männern übergeben, die im Umgang mit Worten geschickter waren als ich und die die Geschichte dieses Freiheitskampfes aufschreiben würden. Das Wissen um die Bedeutung dieser Aufgabe stärkte mich moralisch, wenn mich Zweifel befielen, ob ich vielleicht nur aus Feigheit nicht an der Verwirklichung der großen Pläne mitarbeitete, oder wenn ich eine Wahl traf, mit der ich eine Teilnahme am Kampf vermied. Dennoch erfüllte ich eine Aufgabe, auf die mein Vater stolz gewesen wäre. Ich würde nichts aufschreiben, was anderen schaden konnte, und auch nichts, was zu viel über unsere Kontaktpersonen verriet. Ich würde sie nicht namentlich nennen und vielleicht auch keine Ortsangaben machen. Ich würde mir eine Kamera besorgen, aber nicht für Gruppenbilder mit unseren Brüdern. Augen von Spionen glommen überall. Ihr Blick war voller Gold, der von uns anderen voller Erde.
Estnische SSR, Sowjetunion
Die Getreidespeicher brannten, und am Himmel sprossen Rauchsäulen. Busse, Lastautos und Personenwagen füllten mit ihrer Hektik die Straßen, die Reifen kreischten, sie wollten weg ebenso wie die Menschen, Explosion! Luftabwehrfeuer. Glassplitter wie Regenschauer. In der Küche ihrer Mutter riss Juudit den Mund auf; die Mutter selbst war aufs Land zu ihrer Schwester Liia geflüchtet und hatte Juudit allein zurückgelassen, damit sie auf die Bombe wartete, die Bombe, die allem ein Ende setzen würde. Die Landstraßen von Tallinn Richtung Narva waren schon seit einiger Zeit von den vollgeladenen Wagen der Evakuierten verstopft, und dem Vernehmen nach war ein Evakuierungskommissariat gegründet worden: Kommissariate für die Evakuierung des Viehs, für die Evakuierung von Getreide und Linsen, für die Evakuierung jedweder Materie – die Bolschewiken wollten beim Abzug alles, einfach alles mitnehmen, sogar die halben Kartoffeln, sie würden nichts zurücklassen, weder für die Deutschen noch für die Esten. Aus der Armee waren Männer abkommandiert worden, um die Felder abzuräumen. Alles Richtung Narva, alles in die Häfen. Explosion.
Juudit hielt sich die Ohren zu, drückte die Hände fest an den Kopf. Sie hatte sich schon damit abgefunden, dass die Stadt zerstört sein würde, bevor die Deutschen kämen, nur hätte sie sich gewünscht, ihr letztes Stündlein hätte unter alltäglicheren Umständen geschlagen: dass die letzten Geräusche, die sie hörte, das Klirren von Löffeln gegen Teller, das Geräusch einer Büchse, die sich klirrend mit Haarnadeln füllt, oder der dumpfe Klang einer Milchkanne wäre, die auf den Tisch gestellt wird. Vögel! Ihr Singen! Aber Luftwaffe und Flak hatten die Vögel verschlungen, sie würde sie nie wieder hören. Keine Hunde. Nicht das Miauen der Katzen, das Krächzen der Krähen, das Poltern in der oberen Etage, die Kinder im Erdgeschoss, das Rennen der Laufburschen, nicht das Knarren der Schubkarren, nicht das Scheppern des Eimers, wenn die Nachbarsfrau sich den Kopf am Rahmen der unter Juudits Fenster befindlichen Haustür stieß. Auch Juudit hatte sich probehalber eine Waschschüssel auf den Kopf gesetzt, allerdings im Haus und heimlich, hatte vor dem Spiegel posiert und sich gewundert, warum die Modistinnen keinen Hut kreiert hatten, den man auf eine kleine Waschschüssel oder einen Eimer setzen konnte. Der Erfolg wäre garantiert. Weil die Frauen so kindisch, so verrückt waren, dass ihnen als Kopfschutz gerade eine solche Albernheit wie ein Eimerhut gepasst hätte. Die blechernen Geräusche gehörten jedoch schon der Vergangenheit an, einer Vergangenheit, zu der ein Alltag gehört hatte. Der war von Verlusten geprägt und von den Bolschewiken gefärbt, aber doch ein Alltag gewesen, mit alltäglichen Geräuschen. Der Bruder hatte Juudit im Frühjahr zu ihrer Mutter in die Valge-Laeva-Straße gefahren, damit sie dort wohnte, für alle Fälle. Dennoch waren die Tage einfach so weiter vergangen, obwohl der Bruder und seine Frau im Juni abgeholt worden waren. Seitdem hatte Juudit von Johan und der Schwägerin nichts mehr gehört, und in Johans Haus wohnten jetzt fremde Leute, wichtige Personen aus dem Kommissariat. Juudits Mann war schon vorher in die Rote Armee eingezogen worden. Elisa wiederum, die im Erdgeschoss unter der Mutter gewohnt hatte, war wegen konterrevolutionärer Tätigkeit verurteilt worden – sie stand im Verdacht, gewusst zu haben, dass ihre Untermieterin Karin die Absicht hatte, das Land zu verlassen. Auch Juudit war im Fall Karin verhört worden. Dennoch waren auch danach die Tage vergangen und hatten, indem sie vergingen, den Alltag gebildet, der immer noch besser war als diese Tage der Verwüstung. Auf dem Land bei Tante Leonida molk Rosalie weiterhin die Kühe, obwohl die Familie ihres Verlobten Opfer des Terrors geworden, den Simsons der Hof weggenommen und Rolands Vater verhaftet worden war. Rolands Mutter war in das Haus der Arms gezogen und wurde dort von Rosalie gepflegt. Dafür war Juudit Rosalie dankbar. Sie hätte ihre Quasi-Schwiegermutter nicht ertragen, nicht einmal in der Not, sie besaß nicht Rosalies Geduld. Wenn Juudits Mann das wüsste, hätte er wieder einen Grund zum Tadel, seine sogenannte Mamma verdiente es nicht, von der Frau ihres Lieblings so gleichgültig behandelt zu werden. Vielleicht nicht, aber Rosalie kümmerte sich sicherlich besser um die Schwiegermutter als Juudit und würde zu deren Freude die Stube früher oder später mit kleinen Knirpsen füllen. Das würde Juudit nicht mehr erleben.
Sie überlegte, welches Bild und welche Geräusche sie vor dem Ende als letzten Gedanken aus dem Alltag ihrer Vergangenheit auswählen sollte. Vielleicht einen Tag aus der Kindheit, eine Erinnerung an Rosalie und an alltägliche Geräusche aus der Küche, einen Augenblick, der sich genauso anhörte wie all die Morgen der Friedenszeit, die ihr signalisierten, dass der Tag genauso werden würde wie die vorangegangenen, einen Tag, an dem der unter Mutters Fenster stehende Furnierstuhl aus der Luther-Fabrik über den Boden geschrappt war und dieses Geräusch Juudit geärgert hatte, einen Tag, an dem Juudit nichts Wichtigeres im Kopf gehabt hatte, einen, an dem derartige Nichtigkeiten sie geärgert hatten. Oder vielleicht wollte sie vor ihrem Tod doch lieber einen Tag vor Augen haben, als sie noch ein lediges Fräulein war, aus der Zeit, als es nichts Aufregenderes gab als ein in Seidenpapier geschlagenes Kleid im Karton, ein Kleid für die künftigen Freier; an ihren Ehemann würde sie auf keinen Fall denken. Sie biss sich auf die Lippe – der Mann ging ihr nicht aus dem Kopf, selbst wenn sie sich darum bemühte. Wenn die Explosion, die vorhin das Zimmer erhellt hatte, das Haus getroffen hätte, wäre die Ehe ihr letzter Gedanke gewesen. Eine neue Maschinengewehrgarbe brachte ihre Muskeln zum Zucken, aber die Explosionen machten ihr nichts aus, und sie ging nicht mehr in Deckung.
Der Gedanke, mit der Stadt zusammen unterzugehen, war ihr am Tag vor Mutters Abreise in den Sinn gekommen, und er war dort geblieben, als hätte sie sich niemals etwas anderes gewünscht. Immerhin mochte sie Tallinn, ihre Schwiegermutter jedoch nicht, und die Schwiegermutter war jetzt im Haus der Arms. Die Mutter hatte Juudit zu überreden versucht, sich auch dorthin zu begeben, fast die ganze Familie befand sich jetzt in der Obhut von Tante Leonida, in solchen Momenten war es gut, bei seinen Angehörigen zu sein.
»Gottlob ist deinem Vater das alles erspart geblieben. Wir wollen die zusätzlichen Esser jetzt so aufteilen, dass ich bei meiner einen Schwester unterkomme und du bei der anderen. Nur für kurze Zeit. Und Juudit, du solltest zumindest versuchen, mit deiner Schwiegermutter auszukommen.«
Juudit hatte die Folgsame gemimt, damit die Mutter sich auf den Weg machte. Sie würde nicht zu Tante Leonida gehen. Was den Sieg betraf, war Juudit nicht so hoffnungsvoll wie ihre Mutter, aber im Stillen war sie dankbar für die Lungenentzündung, die den Vater dahingerafft hatte, als im Land noch alles gut war, er hätte das Wüten der Bolschewiken in den Dörfern und Johans Verschwinden nicht ertragen können. Die Sowjetunion besaß einen unerschöpflichen Vorrat an Männern, warum sollte sich die Lage gerade jetzt ändern? Warum hatte sie sich nicht vor den Junideportationen geändert, warum nicht, bevor der Bruder verhaftet wurde? Der tosende Kampf wälzte sich mit den schweren, verdreckten Rädern der Geschützwagen voran und würde sie alle umbringen. Das war’s dann. Juudit schloss die Augen, das Zimmer war hell: Die Lichtstreifen in der Luft erinnerten an das Feuerwerk des Strandsalons in Pirita zu Johanni, da war sie ein Jahr im Stand der Ehe gewesen. Damals hatten Juudits Ohren funktioniert, und ihre Sorgen waren von anderer Art gewesen, ihre Sehnsüchte hatten sich auf ihren Ehemann beschränkt, oder, besser gesagt, auf das, was er ihrer Vorstellung nach war. Und in der Mittsommernacht in Pirita hatte sie gehofft, so sehr gehofft. Sie versetzte sich in Gedanken tief in die Sommernacht von Pirita, konzentrierte sich auf die brennenden Teertonnen, auf den Wald, der geschnauft hatte wie ein im Sommer erwachter Igel. Sie hatte auf der Zunge das leicht ranzige Aroma des Lippenstifts geschmeckt, der ein wenig verschmiert war, aber das kümmerte sie nicht, denn das war ein Zeichen dafür, dass ihr Mund geküsst worden war, und die Musiker gaben ihr Bestes, das Lied sang von der Jugend, die ein vergänglicher Traum war, von wilden Rentieren, die unbekümmert aus dem Bach tranken, und die Nacht war von Gezwitscher erfüllt gewesen, das aus dem blühenden Farnkraut kam, und dieses Gezwitscher paarte sich mit zweideutigem Lächeln, und Juudits unverheiratete Freundinnen kicherten und schüttelten trotzig ihre Bubikopffrisuren, sie hatten noch alles vor sich und die Mittsommerzauber alle Chancen, sich zu erfüllen. Juudit spürte, wie abträglich der Stand der Ehe der Haut ihrer Wangen, der Elastizität ihres Fleisches und der Leichtigkeit ihres Atems war. Weil es daran nichts Erstrebenswertes gab, spielte sie vor ihren Freundinnen die erfahrene Frau, die ein wenig bessere, ein wenig klügere, und sie hielt mit der Lässigkeit der erfahrenen Gattin ihren Mann bei der Hand und bemühte sich gleichzeitig, den bitteren Samen des Neides zu verdrängen, des Neides auf die Freundinnen, die noch niemanden erwählt hatten und die noch nicht für den Altar erwählt worden waren. Doch dann zog ihr Mann sie auf die Tanzfläche und sang die Worte des Lieds mit, nach der seine Frau so klein war wie eine Taschenuhr, und die Zärtlichkeit in seiner Stimme führte sie von den anderen fort, das Orchester spielte schon ein neues Stück, die sorglosen wilden Rentiere waren vergessen, und Juudit erinnerte sich, warum sie ihren Mann geheiratet hatte. In dieser Nacht. Heute würde es gelingen.
Erschrocken flogen Juudits Augen auf, sie hatte wieder an ihren Mann gedacht. Dort, wo der Finnische Meerbusen lag, ging offensichtlich die Sonne auf. Aber das war kein Sonnenschein, sondern das Lodern des Roten Tallinns, die Geschwader schrien wie ängstliche Vögel. Geräusche von Rückzug. Juudit tastete sich langsam durchs Zimmer und lehnte sich gegen die Wand. Sie konnte nicht glauben, dass die Bolschewiken abzogen. Nachdem sie in einer Ecke des Schlafzimmers zusammengesackt war, begriff sie, dass die Maschinen der Luftwaffe nur an den fliehenden Schiffen interessiert waren, nicht an Tallinn. Über dieses Wissen konnte sie sich jedoch nicht freuen. Ihre zuckenden Beine wussten nur allzu gut, was das Brummen eines Flugzeugs bedeutete: Man musste ein Versteck finden, Schutz suchen, irgendwohin laufen, so wie damals, als sie auf dem Land Rosalie und der Tante beim Schnapsbrennen geholfen hatte und der urplötzlich am Himmel erschienene Feind die Tante veranlasst hatte, den Kessel umzustoßen, und sie waren unter die Bäume gerannt, hatten keuchend den Tiefflieger angestarrt, dessen Bauch zum Glück leer war.
Juudit drückte den Rücken gegen die Wand, die Beine fest am Boden. Sie hatte sich auf eine Explosion eingestellt. Obwohl die Luft schwer war vom Qualm des Krieges, waren doch nicht alle bekannten Düfte verschwunden. Von den Tapeten ging immer noch der Geruch betagter Menschen aus, sicher und vergangen. Juudit berührte mit der Nase die Tapete. Deren Muster war ähnlich und ebenso altmodisch wie das in den Zimmern von Johans Haus, in denen Juudit mit ihrem Mann gewohnt hatte, als sie darauf warteten, dass ihr eigenes Haus fertig wurde. Das Haus war nicht fertig geworden, sie würde es niemals einrichten. Und sie würde niemals in ihrem eigenen Heim die neuen Seerosentapeten sehen, die sie im Tapetiladu Fr. Martinson ausgesucht hatte, nachdem sie mehrmals ihre Meinung geändert und an jedem Blumenmuster nacheinander gegenüber ihrem Mann, ihrem Bruder und ihrer Schwägerin herumgenörgelt hatte, die als Einzige verstanden hatte, wie wichtig die Wahl der Tapeten war. Nachdem sie ihre endgültige Wahl getroffen hatte, verließ sie das Geschäft, erleichtert darüber, dass sie keine Tapetenmuster mehr zu prüfen und sie zu Hause miteinander zu vergleichen brauchte – zunächst bei Fr. Martinson und dann wieder zu Hause. Ausgelassen hatte sie einen Mietwagen genommen, um ihrem Mann die frohe Botschaft zu überbringen, der sich erleichtert zeigte, dass das Tapetenproblem gelöst war, und diesen Beschluss hatten sie und die Schwägerin im Restaurant Nõmme gefeiert. Von dem Kuchen war etwas Schlagsahne an ihrer Nase hängen geblieben, deren Haut glatt und glühend war, denn damals hatte sie ihr Gesicht jeden Abend mit Zucker geschält. Man stelle sich vor, mit Zucker! Hatten sie an jenem Abend Cocktails getrunken, hatten sie getanzt? Hatte ihr Mann sich ihnen später angeschlossen und hatte Juudit wieder gedacht, an diesem Abend, diesen Abend würde es klappen? Hatte sie das auch damals gedacht, so wie sie es ein ums andere Mal gedacht hatte?
Das von Juudit erwartete Ende kam nicht. Am Morgen schwankte, brannte und rauchte Tallinn, aber die Stadt stand noch, und sie selbst war immer noch am Leben, die Rote Armee aber fort. Die fröhlichen Ausrufe draußen veranlassten Juudit, zu dem mit Papier zugeklebten Fenster zu kriechen und es trotz der Splitter zu öffnen. Die Wehrmacht füllte die Straße aus, Helme und Fahrräder wie Heuschrecken, die sich in dieser Fülle nicht zählen ließen, die Gasmaskenbehälter schaukelten, und die Soldaten verschwanden unter einem Blumenregen. Juudit streckte die Arme hinaus, in der Luft perlte das Lächeln wie die Blasen in frischer Limonade, die Hände wedelten den Befreiern einen nach Mädchen duftenden Windhauch entgegen, und die Hände waren wie Blätter an einem Sommerbaum, beweglich und bebend, manche Hände rissen die Plakate der Kommunistischen Partei herunter, die feierlichen Bilder der Führer. Münder zerrissen, Köpfe barsten, Hälse brachen, Fersen drückten sich in Augen und zerrieben sie auf dem Boden, stopften wütenden Staub in die papierenen Münder der Führer, Papierfetzen verbreiteten sich mit dem Wind wie Konfettiregen, die allgegenwärtigen Glassplitter knirschten wie reiner Schnee. Der Wind schlug das Fenster zu, Juudit erschrak.
So hatte es nicht kommen sollen. Wo war das Ende geblieben, das sie erwartet hatte? Juudit war enttäuscht, die Entscheidung war ausgeblieben. Sie atmete am Fenster die Luft des freien Tallinns. Zögernd, zur Probe. So als würde ein falsches Atmen den Frieden vertreiben oder hätte eine Bestrafung zur Folge für die Frau, die nicht an den Sieg der Deutschen und den Rückzug der Sowjetunion geglaubt hatte. Auf die Straße zu laufen, wagte sie nicht, es waren auch unziemliche Gedanken, die ihre unruhigen Beine zurückhielten. Sie waren ihr in den Kopf geschossen, als das kleine Nachbarsmädchen in den Hof gerannt kam und rief, Vater kommt nach Hause! Der Ruf des Mädchens hatte Juudit wieder an ihre Lage erinnert, und sie musste sich am Stuhl festhalten wie ein alter Mensch.
Bald würden sich die von der Roten Armee geplünderten Geschäfte füllen und ihre Türen öffnen, die Ladenfräulein hinter den Theken würden wieder die Einkäufe in Papier wickeln, und man würde die Kläranlage reparieren, die Brücken würden an ihre Plätze zurückkehren, alles Geraubte, Zerstörte und Geschlachtete würde sich in seinen alten Zustand zurückspulen wie ein rückwärts laufender Film. Die Stadt war noch voller Wunden und ausgesaugt, die Landstraßen bogen sich unter den Pferdekadavern und den Leichen der Rotarmisten, die von Käfern wimmelten, doch bald würde das alles fort sein. Man würde die Häfen instand setzen. Die Schienenwege ausbessern. Die Bombentrichter in den Straßen verfüllen. Aus den Ruinen würde Friede steigen, Mörtel die gähnenden Schächte in den Gebäuden bedecken, es würden keine unterbrochenen Straßen mehr die Fortbewegung aufhalten, und die Kerzen würde man vom Tisch in die Schublade wischen können, das elektrische Licht würde hinter den Verdunkelungsvorhängen aufflammen, die Verschleppten würden vielleicht zurückkehren, Johan nach Hause kommen, niemand würde je wieder abgeholt werden, nie wieder jemand verschwinden, bei Nacht würde nicht mehr an die Tür geklopft, und Deutschland würde den Krieg gewinnen, könnte es eine bessere Zukunft geben? Der Alltag würde einkehren. Aber obwohl Juudit vorhin genau den ersehnt hatte, war ihr dieser Gedanke im Nu unerträglich geworden, und die Gleichgültigkeit, die sie nur einen Augenblick zuvor empfunden hatte, in Angst vor der Zukunft umgeschlagen. Der Alltag, den sie bekommen würde, war nicht der, den sie wollte. Jenseits des Fensters wartete die von den Bolschewiken geräumte Stadt – die ersten Stiefel der heimkehrenden Esten wirbelten auf der Straße schon den Staub auf, bald würde sie sich mit einem gemischten Sortiment von estnischen, deutschen und lettischen Waffenröcken und um sie herumschwirrenden Mädchen, Fräulein, Verlobten, Witwen, Töchtern, Müttern, Schwestern, einer endlosen Schar schnatternder, schluchzender und tänzelnder Frauenzimmer füllen.