Geschichte einer Weltaffäre
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London EC4A 3TW, United Kingdom
2., aktualisierte Auflage, 2014
Alle Rechte vorbehalten.
Aus dem Englischen von Luisa Seeling und Henning Hoff
Die Originalausgabe erschien 2014 unter dem Titel The Snowden Files. The Inside Story of the World’s Most Wanted Man bei Guardian Books und Faber & Faber Ltd. in London.
© The Guardian
www.theguardian.com
Art Direction & Gestaltung: Paul Finn, Fitzroy & Finn
www.fitzroyandfinn.co.uk
ISBN 978-3-942377-10-2
«Die Beherrschung des Internets»
TITEL EINES ÜBERWACHUNGSPROGRAMMS VON GCHQ
Vorwort von Alan Rusbridger
Prolog: Das Treffen
1TheTrueHOOHA
2Ziviler Ungehorsam
3Die Quelle
4Palast der Rätsel
5Der Mann im Zimmer
6Scoop!
7Der meistgesuchte Mann des Planeten
8Alle Signale, zu jeder Zeit
9Sie hatten Ihren Spaß
10Don’t Be Evil
11Auf der Flucht
12Der Shitstorm
13Die Besenkammer
14Überbringer im Visier
15Exil
Ein Jahr später
Edward Snowden ist einer der außergewöhnlichsten «Whistleblower» der Geschichte. Nie zuvor hat jemand streng geheime Dokumente der mächtigsten Geheimdienste der Welt en masse abgeschöpft, mit dem Ziel, sie öffentlich zu machen. Aber genau das hat er getan.
Sein Können ist ohne Beispiel. Vor der heutigen Generation der Computernerds war nie jemand auf die Idee gekommen, dass es möglich sein könnte, sich mit dem elektronischen Äquivalent ganzer Bibliotheken voller dreifach verschlossener Aktenschränke und Safes davonzumachen — mit Tausenden Dokumenten und Millionen Worten.
Seine Motive sind bemerkenswert. Snowden wollte das wahre Verhalten der amerikanischen National Security Agency (NSA) und ihrer Verbündeten enthüllen. Nach allem, was man zum gegenwärtigen Zeitpunkt weiß, interessiert ihn Geld nicht — seine Dokumente hätte er für viele, viele Millionen an ausländische Geheimdienste verkaufen können. Auch hegt er keinerlei linke oder marxistische Überzeugungen, aufgrund derer man ihn als «unamerikanisch» brandmarken könnte. Im Gegenteil: Er ist ein begeisterter Verfechter der amerikanischen Verfassung und, wie andere seiner Mit-«Hacktivisten», ein Anhänger des staatsliberalen Politikers Ron Paul, dessen Ansichten oft weit rechts von den Positionen der Republikaner anzusiedeln sind.
Was Snowden enthüllt hat, ist von Bedeutung. Seine Dokumente zeigen, dass die Methoden, die die Geheimdienste zur elektronischen Aufklärung einsetzen, völlig außer Kontrolle geraten sind, was vor allem der politischen Panik geschuldet ist, die den Terroranschlägen vom 11. September 2001 folgte.
Von der Kette der Gesetze gelassen mit der Vorgabe, Amerika zu schützen, haben die NSA und ihr britischer Juniorpartner Government Communications Headquarters (GCHQ) — insgeheim verbündet mit Internet- und Telekommunikationsgiganten, die die Hardware kontrollieren — all ihr technisches Geschick eingesetzt, um «das Internet zu beherrschen». Letztere ist ihre Formulierung, nicht unsere. Die demokratische Kontrolle ist vage, in Geheimhaltung erstickt und offensichtlich unzulänglich.
Das Resultat ist eine Welt, die ausspioniert wird. Die Technologien, die der Westen als Kräfte zur Untermauerung individueller Freiheiten und Demokratie propagiert hat — Google, Skype, Mobiltelefone, GPS, You-Tube, Tor, E-Commerce, Internetbanking und so weiter — verwandeln sich in Überwachungsmaschinen, die selbst George Orwell, den Autor von 1984, hätten staunen lassen.
Der Guardian — und ich bin froh, das zu schreiben — war die erste Zeitung, die Snowdens Enthüllungen publiziert hat. Wir haben es als unsere Pflicht angesehen, die Tabus der Geheimhaltung zu brechen, bei aller nötigen, auch von Snowden gewünschten Rücksichtnahme, was die Sicherheit von Einzelnen und den Schutz von genuin heiklem Geheimdienstmaterial angeht.
Ich bin stolz darauf, dass wir das getan haben: Heftige Debatten und Forderungen nach Reformen haben nun rund um die Welt begonnen — in den Vereinigten Staaten selbst, in Deutschland, Frankreich, Brasilien, Indonesien, Kanada, Australien, ja sogar im respektvollen Großbritannien. Der Guardian war am Ende gezwungen, die Veröffentlichungen von der sicheren Warte seiner New Yorker Niederlassung weiterzuführen, aufgrund von juristischen Verfolgungen daheim. Ich denke, dass Leser dieses Buches leicht den Wert erkennen werden, den die Verabschiedung eines britischen Gegenstücks zum ersten Zusatzartikel der amerikanischen Verfassung hätte, der die Freiheit der Presse garantiert. Es ist eine Freiheit, die uns alle schützen kann.
Alan Rusbridger
Chefredakteur des Guardian
London, Februar 2014
Mira Hotel, Nathan Road, Hongkong Montag, der 3. Juni 2013
Ich will nicht in einer Welt leben, in der alles, was ich sage, alles, was ich tue, jeder, mit dem ich mich unterhalte, jeder Ausdruck von Kreativität oder Liebe oder Freundschaft aufgezeichnet wird …
Alles begann mit einer E-Mail. «Ich bin ein hochrangiger Geheimdienstmitarbeiter …» Kein Name, keine Berufsbezeichnung, keine Details. Glenn Greenwald, ein in Brasilien lebender Kolumnist der britischen Tageszeitung The Guardian, begann, mit der mysteriösen Quelle zu korrespondieren. Wer war sie? Die Quelle sagte nichts über sich; sie war nicht zu greifen, ein Online-Gespenst. Möglicherweise sogar eine Fiktion.
Denn wie konnte sie schon echt sein? Nie zuvor hatte es bei der National Security Agency ein größeres Geheimnisleck gegeben. Jeder wusste, dass der in Sachen Sammeln von Geheimdiensterkenntnissen führende Dienst in Fort Meade nahe der amerikanischen Hauptstadt undurchdringlich war. Was die NSA tat, war ein Geheimnis. «NSA, No Such Agency» — eine solche Behörde gab es gar nicht, wie es augenzwinkernd im Washingtoner Umland hieß.
Doch diese seltsame Person schien Zugang zu einigen bemerkenswerten, streng geheimen Dokumenten zu haben. Die Quelle sandte Greenwald Auszüge hochbrisanter NSA-Akten und lockte ihn damit. Wie dieser Geist sie mit solch offenbarer Leichtigkeit hatte entwenden können, war ein Rätsel. Angenommen, sie waren echt, schienen sie eine Story von globaler Tragweite zu enthüllen. Sie legten nahe, dass das Weiße Haus nicht nur seine Feinde ausspionierte (böse Buben, Al-Qaida, Terroristen, die Russen) oder seine angeblichen Verbündeten (Deutschland, Frankreich), sondern auch die Kommunikationsdaten von Millionen amerikanischer Bürger.
Eng mit dieser amerikanischen Massenschnüffelei verbunden war Großbritannien. Das britische Gegenstück zur NSA, Government Communications Headquarters (GCHQ), lag tief in der englischen Provinz. Großbritannien und die Vereinigten Staaten tauschten schon seit dem Zweiten Weltkrieg ihre Geheimdiensterkenntnisse aus. Aus ungnädiger Sicht agierten die Briten als verlässliche Schoßhündchen der Amerikaner. Besorgniserregenderweise belegten die Akten, dass die NSA Millionen Dollar für britische Überwachungsaktivitäten bereitstellte.
Nun sollte Greenwald seinen «Deep Throat» treffen. Die Quelle versprach weitere Enthüllungen, wenn er von seinem Heimatort Rio de Janeiro nach Hongkong fliegen würde, Tausende Flugmeilen entfernt und unter Kontrolle des kommunistischen Chinas. Greenwald fand die Wahl des Ortes «bizarr» und verstörend: War die Quelle dort in leitender Position stationiert?
Das Treffen sollte im Mira Hotel in Kowloon stattfinden, einem schicken, modernen Gebäude im Herzen des Touristenviertels, nur eine kurze Taxifahrt von der Star-Ferry-Anlegestelle entfernt, von wo die Fähren zur Hongkonginsel verkehren. In Greenwalds Begleitung war Laura Poitras, ebenfalls eine Amerikanerin, Dokumentarfilmerin und Pfahl im Fleische des US-Militärs. Sie war die Kupplerin gewesen — die Erste, die den Kontakt zwischen Greenwald und dem Geist hergestellt hatte.
Die beiden Journalisten hatten genaueste Instruktionen erhalten. Man würde sich in einer ruhigeren, aber nicht völlig abgeschiedenen Ecke des Hotels treffen, neben einem großen Plastikalligator. Man würde vorher festgelegte Sätze wechseln. Die Quelle würde einen Zauberwürfel in der Hand halten. Oh, und ihr Name lautete: Edward Snowden.
Es schien, als sei der mysteriöse Kontaktmann ein erfahrener Spion. Vielleicht einer mit einem Faible für Dramatik. Alles, was Greenwald über ihn wusste, wies in eine bestimmte Richtung: dass er ein ergrauter Geheimdienstveteran war. «Ich dachte, er müsste ein ziemlich altgedienter Bürokrat sein», erinnerte sich Greenwald später. Vielleicht über 60 Jahre alt, in blauem Blazer mit goldenen Knöpfen, schütterem grauem Haar, rustikalen schwarzen Schuhen, Brille, Krawatte mit Club-Emblem … Greenwald hatte ihn schon vor Augen. Vielleicht der CIA-Stationschef in Hongkong; der Stützpunkt lag gleich um die Ecke.
Diese Theorie, so irrig sie war, basierte auf zwei Indizien: dem sehr privilegierten Zugang zu streng geheimen Dokumenten, den die Quelle offenbar genoss, und die Reife ihrer politischen Einschätzungen. Mit dem ersten Schub von Geheimdokumenten hatte sie ein politisches Manifest geschickt. Es enthielt das Motiv — die Enthüllung des Ausmaßes dessen, was die Quelle für einen Überwachungsstaat hielt, der «anlasslos» agierte. Die Technologie, um Menschen auszuspionieren, habe die Grenzen des Rechts weit überschritten, hieß es darin. Die nötige Kontrolle darüber sei gar nicht mehr möglich.
Das Ausmaß der NSA-Ambitionen sei außerordentlich, erklärte die Quelle. Im vergangenen Jahrzehnt habe sich das Volumen digitaler Informationen, die zwischen Kontinenten ausgetauscht würden, stark vergrößert. Es sei sogar geradezu explodiert. Vor diesem Hintergrund habe der Geheimdienst seinen ursprünglichen Auftrag der Sammlung von Erkenntnissen über das Ausland ausgeweitet. Heutzutage sammele er Daten über jeden. Und speichere sie. Dies schließe sowohl Daten aus den Vereinigten Staaten als auch aus dem Ausland ein. Die NSA betreibe nichts weniger als elektronische Massenüberwachung. Zumindest hatte das die Quelle behauptet.
Das Paar traf vor der vereinbarten Zeit beim Krokodil ein. Sie setzten sich. Und warteten. Greenwald überlegte kurz, ob Alligatoren in der chinesischen Kultur eine bestimmte Bedeutung besäßen. Er war sich nicht sicher. Nichts passierte. Die Quelle tauchte nicht auf. Seltsam.
Sollte das erste Treffen nicht zustande kommen, so lautete der Plan, sollten die beiden am gleichen Vormittag etwas später zum gleichen anonymen Korridor zurückkehren, der die glitzernde Einkaufshalle des Mira mit einem der Restaurants verband. Greenwald und Poitras kamen wieder. Und warteten ein zweites Mal.
Und dann sahen sie ihn — ein blasser, dürrer, nervöser, lächerlich junger Mann. Kaum alt genug, sich zu rasieren, schoss es dem geschockten Greenwald durch den Kopf. Der Mann trug ein weißes T-Shirt und Jeans. In seiner rechten Hand hielt er einen abgegriffenen Zauberwürfel. Lag eine Verwechselung vor? «Er sah aus, als sei er 23. Ich war völlig verwirrt. Nichts ergab einen Sinn», sagte Greenwald später.
Der junge Mann — sofern es sich tatsächlich um die Quelle handelte — hatte verschlüsselte Instruktionen geschickt, wie die erste Verifizierung vonstattengehen sollte:
Greenwald: «Um wie viel Uhr öffnet das Restaurant?»
Die Quelle: «Um 12 Uhr mittags. Aber gehen Sie da nicht hin, das Essen ist Mist …»
Der Wortwechsel hatte eine gewisse Komik. Greenwald — nervös — sagte seinen Satz auf, bemüht, keine Miene zu verziehen. Dann sagte Snowden einfach: «Kommt mit.» Die drei gingen schweigend zu einem Aufzug. Niemand sonst war zugegen — zumindest niemand, den sie sehen konnten. Sie fuhren in den ersten Stock und folgten dem Zauberwürfelmann auf das Zimmer 1014. Er öffnete die Tür mit einer Magnetstreifenkarte, und sie gingen hinein. «Ich folgte ihm blind», sagte Greenwald.
Es war von Anfang an eine seltsame Mission gewesen. Aber nun hatte das Ganze den Anflug eines aussichtslosen Unterfangens. Dieser schmalbrüstige Studententyp war sicherlich zu milchgesichtig, um Zugang zu hochsensiblem Material zu haben. Optimistisch malte sich Greenwald aus, dass es sich womöglich um den Sohn der Quelle handelte, oder einen Sekretär. Falls nicht, war die Begegnung reine Zeitverschwendung, ein Streich von Jules Verne’schen Ausmaßen.
Poitras hatte sich ebenfalls insgeheim über vier Monate mit der Quelle unterhalten. Sie hatte das Gefühl, ihn zu kennen — oder zumindest seine Online-Version. Auch sie hatte Schwierigkeiten, mit der Situation zurechtzukommen. «Ich fiel fast in Ohnmacht, als ich sah, wie jung er war. Es dauerte 24 Stunden, mein Gehirn neu zu verkabeln.»
Doch im Laufe des Tages erzählte Snowden seine Geschichte. Er war, so sagte er, ein 29 Jahre alter externer Mitarbeiter der National Security Agency. Zuletzt war er im regionalen NSA-Operationszentrum in Kunia auf der Pazifikinsel Hawaii stationiert gewesen. Zwei Wochen zuvor hatte er seinen Job hingeworfen, seine Freundin praktisch verlassen und ihr Lebewohl gesagt und heimlich ein Flugzeug nach Hongkong bestiegen. In seinem Gepäck befanden sich vier Laptops.
Die Festplatten der Laptops waren stark verschlüsselt. Auf ihnen befanden sich die Dokumente, die er von den internen Servern von NSA und GCHQ entwendet hatte. Genauer gesagt: Zehntausende Dokumente. Die meisten waren als «Top Secret», also «streng geheim», klassifiziert. Manche waren als «Top Secret Strap 1» deklariert — in Großbritannien eine noch höhere Geheimhaltungsstufe für abgefangenes Material — oder sogar «Strap 2»: so geheim, dass es geheimer kaum ging. Niemand, außer ein kleiner Kreis von Geheimdienstlern, hatte Dokumente dieser Art je zu Gesicht bekommen. Die Veröffentlichung dessen, was er dabeihatte, so deutete Snowden an, würde das größte Geheimnisleck der Geschichte.
Greenwald fielen die gesammelten Überreste einer Reihe von Tagen mit Zimmerservice auf — Tabletts, halbaufgegessene Nudelgerichte, schmutziges Geschirr. Snowden erklärte, er habe das Hotel nur dreimal verlassen, seit er zwei Wochen zuvor unter seinem richtigen Namen ins Mira eingecheckt habe. Es saß auf dem Bett, während Greenwald ihn mit Fragen bombardierte: Wo er gearbeitet habe, wer sein Chef bei der CIA gewesen sei, warum er das mache? Greenwalds Glaubwürdigkeit stand auf dem Spiel. Das Gleiche galt für seine Redakteure beim Guardian. Und wenn Snowden «echt» war, konnte jeden Moment ein CIA-Einsatzkommando das Zimmer stürmen, die Laptops konfiszieren und ihn davonschleifen.
Snowden, das spürten sie nun, war echt. Seine Informationen konnten durchaus wahr sein. Und seine Gründe, ein Whistleblower zu werden, waren ebenfalls stichhaltig. Seine Position als Systemadministrator bedeutete — so erklärte er flüssig, überzeugend, abgeklärt —, dass er als einer der wenigen einen Überblick über die außerordentlichen Überwachungskapazitäten der NSA gewinnen konnte und dass er die Schattenreiche kannte, in denen der Geheimdienst operierte.
Die NSA konnte «jeden» abhören, angefangen vom Präsidenten, berichtete er. Theoretisch war der Geheimdienst angehalten, nur telefonische und elektronische Aufklärung, bekannt als SIGINT (für «signals intelligence»), von ausländischen Zielen zu betreiben. Doch in der Praxis war diese Beschränkung ein Witz, erzählte Snowden Greenwald: Der Geheimdienst saugte bereits Metadaten von Millionen Amerikanern auf. Aufzeichnungen von Telefonverbindungen, E-Mail-Überschriften, Betreffzeilen, gesammelt ohne Eingeständnis oder Einverständnis. Aus ihnen ließ sich ein vollständiges Bild eines Individuums zeichnen — von Freunden, Liebhabern, Freud und Leid.
Gemeinsam mit GCHQ hatte die NSA heimlich die unterseeischen Glasfaserkabel angezapft, die rund um die Welt verliefen. Dies erlaubte es den Vereinigten Staaten und dem Vereinigten Königreich, den größten Teil globaler Kommunikation mitzulesen. Geheimgerichte zwangen Telefongesellschaften, Daten weiterzugeben. Außerdem steckte so ziemlich das ganze Silicon Valley mit der NSA unter einer Decke, sagte Snowden — Google, Microsoft, Facebook, sogar Steve Jobs’ Apple. Die NSA behauptete, sie habe «direkten Zugang» zu den Servern der Technikgiganten.
Während sie sich selbst beispiellose Überwachungsgewalt gaben, verbargen die amerikanischen Geheimdienste die Wahrheit über ihre Aktivitäten, sagte Snowden weiter. Wenn James Clapper, US-Geheimdienstdirektor, den Kongress wissentlich über die Programme der NSA belogen habe, habe er eine Straftat begangen. Die NSA verletze in skandalöser Weise die amerikanische Verfassung und das Recht auf Privatsphäre. Sie hatte sogar geheime «Hintertüren» in Online-Verschlüsselungssoftware eingebaut — die genutzt wird, um Banküberweisungen sicherer zu machen — und so das System für jeden aufgeweicht.
So wie Snowden es erzählte, schien das Verhalten der NSA einem dystopischen Roman des 20. Jahrhunderts entnommen. Es kam einem bekannt vor, als etwas aus den Werken Aldous Huxleys oder George Orwells. Aber das schlussendliche Ziel der NSA schien noch darüber hinauszugehen: alles von allen überall zu sammeln und es für unbestimmte Zeit zu speichern. Es signalisierte einen Wendepunkt: das Ende der Privatsphäre. Der Geheimdienst hatte das Internet gekapert — einst ein Ort der Individualität und freier Selbstentfaltung. Snowden benutzte den Begriff «Panopticon», den der britische Philosoph und Vordenker Jeremy Bentham geprägt hatte. Er beschrieb damit einen ausgeklügelten runden Gefängnisbau, in dem die Wärter die Gefangenen zu jeder Zeit beobachten konnten, ohne dass diese wussten, dass sie überwacht wurden.
Und das war der Grund, bekräftigte Snowden, warum er sich entschlossen hatte, an die Öffentlichkeit zu gehen. Sein Leben und seine Karriere wegzuwerfen. Er erzählte Greenwald, dass er nicht in einer Welt leben wolle, «in der alles, was ich sage, alles, was ich tue, jeder, mit dem ich mich unterhalte, jeder Ausdruck von Kreativität oder Liebe oder Freundschaft aufgezeichnet wird».
In den Wochen danach würden Snowdens Behauptungen eine epochale Debatte einleiten. Sie würden das Weiße Haus und Downing Street in Rage versetzen. Und sie würden ein internationales Chaos verursachen, als Snowden aus Hongkong entwischte, versuchte, in Lateinamerika Asyl zu erhalten, und in Wladimir Putins Russland steckenblieb.
In Amerika und Europa (allerdings zunächst nicht in James Bonds Großbritannien) gab es leidenschaftliche Debatten über die richtige Balance zwischen Sicherheit und bürgerlichen Freiheiten, zwischen freier Meinungsäußerung und Privatsphäre. Der fiebrigen Polarisierung der amerikanischen Politik zum Trotz verbanden sich rechte Anhänger liberaler Staatsauffassungen mit Demokraten des linken Flügels, um Snowden zu unterstützen. Selbst Präsident Obama räumte ein, dass eine Debatte überfällig und Reformen angezeigt seien. Das hielt die amerikanischen Behörden allerdings nicht davon ab, Snowdens Pass für ungültig zu erklären, ihn wegen Spionage anzuklagen und seine sofortige Überstellung aus Russland zu verlangen.
Der Kampf darum, Snowdens Geschichte zu veröffentlichen, stellte die Journalisten ihrerseits vor dramatische Probleme — juristische, logistische und redaktionelle. Eine Zeitung von Ruf, ihre globale Website und ein paar Verbündete in den Medien gerieten mit einigen der mächtigsten Menschen der Welt aneinander. Und er führte dazu, dass Computerfestplatten des Guardian in einem Keller zerstört wurden, unter den Augen zweier britischer GCHQ-Computernerds. Diese Maschinenstürmung war eine der surrealsten Episoden in der Geschichte des westlichen Journalismus und seines Ringens mit der Staatsgewalt.
Als er in seinem Hongkonger Hotelzimmer saß und den Schalter umlegte, um all dies in Gang zu setzen, war Snowden die Ruhe selbst. Laut Greenwald war er von der Richtigkeit seines Tuns überzeugt, emotional und psychologisch. Snowden war sich bewusst, dass nach den Enthüllungen wohl seine Inhaftierung folgen würde. Aber während des folgenschweren Sommers strahlte er Gelassenheit und Gleichmut aus. Er war sich seiner inneren Überzeugungen sicher. Nichts konnte sie erschüttern.
Ellicott City, nahe Baltimore Dezember 2001
Zuletzt ist nichts heilig als die Integrität des eigenen Geistes.
Ende Dezember 2001 hatte jemand, der sich «TheTrueHOOHA» nannte, eine Frage. TheTrueHOOHA war ein 18 Jahre alter Amerikaner, ein begeisterter Spieler von Computerspielen («Gamer»), mit beeindruckenden Computerkenntnissen und einer scharfen Intelligenz. Seine wahre Identität war unbekannt. Aber jeder, der sich auf Ars Technica, einer beliebten Technologie-Website zu Wort meldete, tat das anonym. Die meisten waren junge Männer. Alle waren dem Internet leidenschaftlich zugetan.
TheTrueHOOHA fragte nach Tipps, wie er seinen eigenen Webserver ans Laufen bringen könne. Es war ein Samstagmorgen, kurz nach 11 Uhr. Er schrieb: «Für mich ist es das erste Mal. Seid lieb. Das ist mein Dilemma: Ich will mein eigener Host sein. Was brauche ich?»
Bald darauf meldeten sich Ars-Stammbesucher mit hilfreichen Hinweisen. Seinen eigenen Webserver zu betreiben war keine allzu große Sache, aber man brauchte mindestens einen Pentium-200-Computer, jede Menge Speicherplatz und einen ordentlichen Internetanschluss. TheTrueHOOHA gefielen diese Antworten. Er schrieb: «Ah, der große Schatz an Geek-Wissen, der Ars ausmacht.» Um 2 Uhr morgens war er immer noch online (wenn auch recht müde: «Gähn. Zeit fürs Zubettgehen. Muss morgen früh raus für mehr Geek-Zeug, wisst ja», schrieb er).
TheTrueHOOHA war vielleicht neu bei Ars. Aber seine Antworten waren flüssig und selbstsicher. «Wenn ich wie ein streitlustiger, selbstgefälliger 18 Jahre alter Emporkömmling rüberkomme, der keinen Respekt vor Älteren hat, dann seid ihr auf der richtigen Fährte», tippte er. Von seinen Lehrern hielt er offenbar nicht viel: «Community Colleges beschäftigen nicht gerade die klügsten Professoren, nicht wahr?»
Aus TheTrueHOOHA wurde ein fleißiger Ars-Besucher. Über die folgenden acht Jahre schrieb er annähernd 800 Kommentare. Auch chattete er regelmäßig in anderen Foren, insbesondere bei #arsificial. Wer war er? Er schien einer großen Bandbreite an Jobs nachzugehen; er beschrieb sich selbst wahlweise als «arbeitslos», als gescheiterter Soldat, als «System-Redakteur» und als jemand, der vom amerikanischen Außenministerium eine Unbedenklichkeitsbescheinigung erhalten hatte.
Hatte er etwas von einem Fantasten? Seine Heimat war die amerikanische Ostküste im US-Bundesstaat Maryland, unweit der Hauptstadt Washington. Doch mit Mitte 20 war er bereits geheimnisumwitterter Weltreisender. Er tauchte in Europa auf — in Genf, London, Irland (anscheinend ein angenehmes Land, abgesehen von dem «Sozialismusproblem»), Italien und Bosnien. Er reiste auch nach Indien.
Was genau er tat, darüber schwieg sich TheTrueHOOHA aus. Aber es gab ein paar Indizien. Obwohl er keinen Abschluss hatte, wusste er erstaunlich viel über Computer, und er schien die meiste Zeit online zu verbringen. Also so etwas wie ein Autodidakt. Politisch schien er ein eingeschworener Republikaner zu sein. Er glaubte zutiefst an persönliche Freiheitsrechte und verteidigte beispielsweise Australier, die ihre eigenen Cannabispflanzen anbauten.
Von Zeit zu Zeit konnte er recht unausstehlich sein. Einen Mit-«Arsian» ließ er zum Beispiel wissen, dass er ein «Schwanz» sei; andere, die seinen Friss-oder-stirb-Ansichten in Sachen soziale Absicherung widersprachen, waren «beschissene Minderbemittelte». Selbst gemessen an den anarchischen Standards von Chatrooms — ganz so wie in einer Bar, in der sich jeder dazuhocken konnte — war TheTrueHOOHA ein rechthaberischer Typ.
Die anderen User erfuhren nie TheTrueHOOHAS Offline-Namen. Allerdings erhaschten sie einen flüchtigen Blick auf sein Äußeres. Im April, ein paar Monate vor seinem 23. Geburtstag, postete er Amateuraufnahmen von sich als Fotomodell. Sie zeigen einen hübschen jungen Mann mit blasser Haut und Rändern unter den Augen, eine etwas vampirische Erscheinung, die misslaunig in die Kamera starrte. In einer Aufnahme trägt er ein seltsames Lederarmband.
«Süß», kommentierte ein User. «Nichts übrig für das Armband, wie?», fragte TheTrueHOOHA zurück, als sich jemand erkundige, ob er schwul sei. Er bestand darauf, heterosexuell zu sein. Und er fügte lässig hinzu: «Meine Freundin ist Fotografin.»
Die Chatlogs von TheTrueHOOHA decken ein buntes Themenfeld ab: Computerspiele, Frauen, Sex, Japan, die Börse, seine desaströse Zeit bei der US-Armee, seine Eindrücke des multiethnischen Großbritanniens, die Freuden des Waffenbesitzes («Ich habe eine Walther P-22. Sie ist meine einzige Pistole, aber ich liebe sie zu Tode», schrieb er 2006). Auf ihre eigene Weise ergaben die Logs einen Bildungsroman, geschrieben von einem Vertreter der ersten Generation, die mit dem Internet aufwuchs.
Ab 2009 verflüchtigen sich die Einträge allmählich. Irgendetwas passiert. Der frühe Übermut verschwindet; die letzten Wortmeldungen sind düster und grüblerisch. Bitterkeit schleicht sich ein. Im Februar 2010 schreibt er eines seiner letzten Postings. TheTrueHOOHA erwähnt eine Sache, die ihn beunruhigt: die alles durchdringende Überwachung durch die Regierung. Er schreibt:
«Die Gesellschaft scheint wirklich einen blinden Gehorsam gegenüber Schlapphüten entwickelt zu haben. Ich frage mich, wie gut sich Briefumschläge, die unter magischem Kerzenlicht des Staates durchsichtig wurden, sich 1750 verkauft hätten? 1800? 1850? 1900? 1950? Sind wir da reingeschlittert, wo wir heute stehen, und hätten das Ganze leicht stoppen können? Oder gab es da einen ziemlich plötzlichen Gezeitenwechsel, der sich wegen einer alles durchdringenden staatlichen Geheimhaltung unentdeckt vollzog?»
TheTrueHOOHAs letzte Nachricht datiert vom 21. Mai 2012. Danach verschwindet er, eine elektronische Signatur, die sich in der Unendlichkeit des Cyberspace verliert. Aber ein Jahr später, wie wir heute wissen, reist TheTrueHOOHA, auch bekannt als Edward Snowden, nach Hongkong.
Edward Joseph Snowden wurde am 21. Juni 1983 geboren. Freunde nennen ihn «Ed». Sein Vater, Lonnie Snowden, und seine Mutter Elizabeth — Wendy genannt — lernten sich auf der Schule kennen und heirateten mit 18 Jahren. Lon diente als Offizier bei der US-Küstenwache; Snowden verbrachte seine frühen Jahre in Elizabeth City, an der Küste North Carolinas, wo die Küstenwache ihren größten Luft- und Marinestützpunkt unterhält. Er hat eine ältere Schwester, Jessica. Wie viele andere Angehörige der amerikanischen Streitkräfte hat Snowden senior starke patriotische Ansichten. Er ist ein Konservativer. Und Anhänger einer liberalen Staatsauffassung.
Aber er ist auch ein nachdenklicher Konservativer. Snowdens Vater weiß sich auszudrücken, ist belesen und zitiert gern die Werke des Dichters Ralph Waldo Emerson, der im 19. Jahrhundert dafür plädiert hatte, dass ein Mann, mit den Diktaten eines korrupten Staates konfrontiert, seinen eigenen Prinzipien folgen müsse. Als er der Küstenwache beitrat, schwor Lon Snowden, die amerikanische Verfassung und die Bill of Rights zu verteidigen. Er meinte es ernst. Für ihn war der Schwur mehr als leere Phrasen: Er untermauerte den heiligen amerikanischen Vertrag zwischen Bürger und Staat.
Als Snowden klein war — ein Junge mit dichten blonden Haaren und einem breiten Lächeln —, zogen er und seine Familie nach Maryland, ins Umland der Hauptstadt Washington, DC. Snowden ging in Crofton, gelegen im Verwaltungsbezirk Anne Arundel, zur Grund- und Mittelschule: eine Stadt mit hübschen Villen zwischen DC und Baltimore. Keine von Snowdens ehemaligen Schulen wirkt auf den ersten Blick einladend; beide versprühen den Charme fensterloser Bunker. (Die erste hat immerhin einen Garten mit Büschen, Schmetterlingen und einem einsamen Baum vorzuweisen, der neben dem Parkplatz steht.) Als Teenager wechselte Snowden auf die nahe gelegene Arundel-Highschool, die er eineinhalb Jahre lang besuchte.
Wie sich sein Vater erinnerte, begann es mit Snowdens schulischer Ausbildung schiefzulaufen, als er erkrankte, wahrscheinlich am Pfeifferschen Drüsenfieber. Er verpasste «vier oder fünf Monate lang» den Unterricht. Und ein weiterer Faktor störte seine Ausbildung: Seine Eltern hatten sich auseinandergelebt. Ihre problembeladene Ehe ging ihrem Ende entgegen, und er fiel bei seinem Highschool-Abschlussexamen durch. 1999, als 16jähriger, schrieb er sich am Anne Arundel Community College in Arnold, Maryland, ein. Der weitläufige Campus hat Baseball- und Footballstadien zu bieten, und ein sportives Motto: «You can’t hide that wildcat pride.» («Den Stolz der wilden Katzen kannst du nicht unterdrücken.»)
Snowden belegte Computerkurse und machte später sein «GED» («General Educational Development»), was einem Highschool-Abschluss entsprach. Aber sein frühes Scheitern blieb Ursache für anhaltende Scham und defensives Verhalten. Im Februar 2001 reichte seine Mutter die Scheidung ein. Drei Monate später wurde sie rechtskräftig.
Nach der hässlichen Trennung wohnte zunächst Snowden mit einem Zimmergenossen in einer gemieteten Studentenbude und zog dann zu seiner Mutter nach Ellicott City, das westlich von Baltimore liegt. Das mütterliche Haus ist Teil eines abgeschlossenen Wohnkomplexes namens Woodland Village, der über ein eigenes Schwimmbad und einen Tennisplatz verfügt. Das graue, zweistöckige Reihenhaus liegt neben einem grasbewachsenen Hang. Es gibt einen Kinderspielplatz; Geranien und Funkien wachsen im Innenhof. Mittelalte Damen gehen mit ihren großen, gestriegelten Hunden Gassi. Ein freundlicher Ort. Nachbarn erinnern sich, Snowden durch die offenen Vorhänge gesehen zu haben, gewöhnlich vor seinem Computer sitzend.
Der Ort, in dem sie lebten, war nach Andrew Ellicott benannt, einem Quäker, der 1730 aus England emigriert war. Im späten 18. Jahrhundert war Ellicott City ein prosperierender Ort, mit Mühlen am östlichen Flussufer und wehrhaften Häusern aus dunklem, heimischem Granit. Es gab sogar eine englische Kanone. Baltimore mit seinem Hafen war nicht fern. Zu Beginn des 21. Jahrhunderts waren die Mühlen längst verschwunden oder in Museen umgewandelt. In einigen Fällen waren sie buchstäblich hinweggespült worden. Der größte Arbeitgeber in Maryland war nun die amerikanische Bundesregierung. Washington lag nur eine kurze Pendlerstrecke entfernt.
Snowden wuchs insbesondere im Schatten einer bestimmten Regierungsbehörde auf. Von der Haustür seiner Mutter braucht man nur 15 Minuten mit dem Auto dorthin. Auf halber Strecke zwischen Washington und Baltimore gelegen, ist es streng verboten, sie zu betreten. Sie hat offenkundig einen geheimen Auftrag. Halb versteckt hinter Bäumen steht ein gigantisches grünes, würfelartiges Gebäude. Seltsame Antennen sprießen aus seinem Dach. Es verfügt über einen gewaltigen Parkplatz, ein mächtiges Kraftwerk und ein weißes, golfballähnliches Radom, das Satellitenschüsseln überwölbt. Umgeben von elektrischen Zäunen strahlt der Bau strengste Geheimhaltung aus. Die Aufschrift auf dem Eingangsschild am Rande des Baltimore–Washington Parkways lautet: «Nächste Ausfahrt NSA. Nur für Mitarbeiter.»
Diese verschwiegene Metropole ist die Zentrale der National Security Agency (NSA), der 1952 gegründete Auslandsaufklärungsdienst. Als Teenager wusste Snowden alles über die NSA. Seine Schule lag praktisch um die Ecke. Viele Nachbarn seiner Mutter arbeiteten dort. Sie machten sich jeden Morgen auf den Weg durch die grünen Hügel von Maryland, um allabendlich vom fast fünf Quadratkilometer großen Komplex bei Fort Meade zurückzukehren. Bekannt als «Palast der Rätsel» («Puzzle Palace») oder SIGINT-City beschäftigt die NSA dort 40 000 Menschen. Sie ist der größte Arbeitgeber für Mathematiker in den Vereinigten Staaten.
Für Snowden standen die Chancen, je in diese dämmerlichtige Regierungswelt einzutreten, eher schlecht. In seinen frühen 20ern konzentrierte er sich ganz allgemein auf Computer. Das Internet war für ihn «die wichtigste Erfindung der gesamten Menschheitsgeschichte». Er unterhielt sich online mit Leuten, «die alle möglichen Ansichten hatten, denen ich alleine nie begegnet wäre». Er verbrachte seine Tage damit, im Web zu surfen und Tekken, ein japanisches Rollenspiel, zu spielen. Er war aber nicht nur ein Computernerd; er hielt sich mit Kung-Fu fit und ging, laut einem Eintrag auf Ars, mit «asiatischen Mädchen aus».
Aber ihm war bewusst, dass das alles nicht gerade eine Karriere darstellte. 2003 schrieb er: «Ich bin ein MCSE [Microsoft Certified Solutions Expert] ohne Abschluss oder Unbedenklichkeitsbescheinigung, der in Maryland lebt — sprich: arbeitslos.» Snowdens Vater war derweil nach Pennsylvania gezogen; er würde bald wieder heiraten.
Der amerikanisch geführte Einmarsch im Irak von 2003 ließ Snowden ernsthaft über eine Militärkarriere nachdenken. Wie sein Vater — der am Ende drei Jahrzehnte bei der US-Küstenwache verbrachte — erklärte Snowden später, er habe den Wunsch verspürt, seinem Land zu dienen: «Ich wollte im Irakkrieg kämpfen, weil ich als menschliches Wesen die Verpflichtung spürte, dabei zu helfen, ein Volk von der Unterdrückung zu befreien.» Seine Motive scheinen idealistisch, auf einer Linie mit den damals von Präsident George W. Bush angeführten Zielen wie der Sturz von Saddam Hussein.
Snowden dachte darüber nach, den amerikanischen Spezialkräften beizutreten. Das Militär bot ein auf den ersten Blick attraktives Programm, unter dem sich Rekruten ohne Vorkenntnisse oder Erfahrungen als Elitesoldaten erproben konnten. Im Mai 2004 wagte er den Schritt und meldete sich freiwillig in Fort Benning im US-Bundesstaat Georgia, einem großen Militärstützpunkt. Das Programm umfasste acht bis zehn Wochen Grundausbildung, gefolgt von einem Infanteriekurs für Fortgeschrittene. Am Ende stand eine Leistungsbeurteilung, ob der jeweilige Rekrut für die Spezialkräfte geeignet sei.
Seine Zeit beim amerikanischen Militär war ein Desaster. Snowden war in guter körperlicher Verfassung, aber machte als Soldat eine wenig überzeugende Figur. Er war kurzsichtig, mit einem Sehvermögen von -6,5/-6,25 Dioptrien. («Mein Blickfeld endet etwa zehn Zentimeter vor meinen Augen; mein Augenarzt hat immer seinen Spaß mit mir», schrieb er einmal.) Auch hatte er ungewöhnlich kleine Füße. «Die Zivilisten von Fort Benning brauchten eine Dreiviertelstunde, um Kampfstiefel aufzutreiben, die mir passten», teilte er auf Ars mit — ein Vorkommnis, das mit einer unangenehmen Zurechtweisung durch den Ausbilder endete.
Auch stellte er fest, dass wenige seiner neuen Kameraden seine noblen Absichten oder sein Verlangen teilten, unterdrückten Bürgern beim Abstreifen ihrer Ketten zu helfen. Stattdessen waren seine Vorgesetzten schlicht darauf aus, andere Menschen zusammenzuschießen. Vorzugsweise Muslime. «Die meisten Leute, die uns ausbilden, scheinen davon motiviert zu sein, Araber töten zu wollen, nicht, irgendwem zu helfen», sagte er.
Während der Infanterieausbildung brach er sich dann beide Beine. Nach über einem Monat der Unsicherheit entließ ihn die Armee.
Zurück in Maryland, ergatterte er eine Stelle als «Sicherheitsspezialist» am Zentrum für Höhere Sprachstudien der University of Maryland. Das war 2005. (Er scheint als Wachmann angefangen zu haben, wandte sich dann aber wieder der Informationstechnologie zu.) Snowden arbeitete in einer verdeckten NSA-Außenstelle auf dem Campus der Universität. Vielleicht dank seiner kurzen Militärkarriere hatte er den Einstieg in die Welt der amerikanischen Geheimdienste geschafft, wenn auch auf niederer Ebene. Das Zentrum arbeitete eng mit der «Geheimdienst-Community» («intelligence community») zusammen — oder «IC», wie sie sich selbst nannte — und bot Sprachkurse für Fortgeschrittene an.
Snowden hatte vielleicht keinen Abschluss vorzuweisen, aber Mitte 2006 angelte er sich eine Stelle im Bereich Informationstechnologie bei der CIA. Er stellte schnell fest, dass seine außergewöhnlichen Computerfertigkeiten allerlei interessante Türen innerhalb der Regierungsbehörden öffneten. «Erst mal vorneweg: Diese Abschlusssache ist Quatsch, zumindest bei Jobs daheim. Wenn man ‹wirklich› zehn Jahre nachweisbare IT-Erfahrung hat …, kann man eine sehr gut bezahlte IT-Stelle bekommen»; schrieb er im Juli 2006. «Ich habe keinen Abschluss, noch nicht einmal ein Highschool-Abschlusszeugnis, aber ich verdiene viel mehr, als sie dir zahlen, obwohl ich nur auf sechs Jahre Erfahrung verweisen kann. Es ist schwierig, da ‹reinzukommen›, aber wenn du erst einmal eine ‹echte› Position hast, hast du es geschafft.»
Snowden war aufgefallen, dass der Dienst für die US-Regierung aufregende Möglichkeiten bot, einschließlich Auslandsreisen und großzügige Vergünstigungen. Man brauchte gar nicht James Bond zu sein — sich einfach auf eine «normale Stelle für IT-Spezialisten» zu bewerben reichte schon. Er beschrieb das amerikanische Außenministerium als «den Ort, an dem man zurzeit sein muss».
Eine der Vergünstigungen war der Zugang zu Geheiminformationen: «Oh ja, wenn man im IT-Bereich für das State Department arbeitet, ist eine Unbedenklichkeitsbescheinigung auf der Stufe ‹streng geheim› nötig.» Er gab auch strategische Karrieretipps. Das Außenministerium sei «derzeit unterbesetzt». Und weiter: «Stellen in Europa sind umkämpft, aber du bekommst viel schneller einen Fuß in die Tür, wenn du Interesse bekundest, in ein Höllenloch im Nahen Osten zu gehen. Bist du erst einmal drin, dann halte deine Scheißstelle durch, und dann kannst du dir einen der begehrten Posten aussuchen.» Später schrieb er: «Gott sei Dank gibt’s Kriege.»
Die schnellen Jobwechsel zahlten sich für ihn aus. 2007 sandte ihn die CIA zu seinem ersten Auslandseinsatz nach Genf in die Schweiz. Er war 24 Jahre alt. In seiner neuen Stelle sollte er die Sicherheit der CIA-Computernetzwerke und die der Computer amerikanischer Diplomaten gewährleisten, die in der Genfer Mission arbeiteten (die Diplomaten mochten mächtig sein, viele verfügten in Sachen Internet aber nur über Grundwissen). Er war der für Fernmeldeinformationssysteme zuständige Beamte der Mission. Er musste sich außerdem um die Heizung und die Klimaanlage kümmern.
Die Schweiz war eine Offenbarung und ein Abenteuer. Zum ersten Mal lebte Snowden im Ausland. Genf war ein Drehkreuz für alle möglichen Spione — amerikanische, russische und andere. Es hatte kommerzielle und diplomatische Geheimnisse zu verbergen. Die Stadt beheimatete eine große Gruppe Bankiers, aber auch mehrere UN-Sekretariate und die Zentralen multinationaler Unternehmen; etwa ein Drittel der Bevölkerung stammte aus dem Ausland. Es ging bürgerlich, gemächlich und organisiert zu. Die meisten Einwohner waren wohlhabend, aber es lebte dort auch eine Migrantenunterschicht. (Snowden äußerte Erstaunen darüber, wie schnell heruntergekommen aussehende Nigerianer die vielen Sprachen der Schweiz beherrschten.)
Die amerikanische Mission, unter deren diplomatischer Deckung Snowden arbeitete, lag im Stadtzentrum — ein Glas-und-Beton-Bau aus den 1970er Jahren, den man durch ein schmiedeeisernes Tor betrat und der von einer Hecke und einer Mauer geschützt wurde. Die russische Mission war gleich um die Ecke. Snowden wohnte in einer geräumigen, regierungseigenen Vier-Zimmer-Wohnung, von der aus man die Rhone überblickte — in der Nummer 16 Quai du Seujet im Stadtteil Saint-Jean Falaises. Was den Lifestyle anging, war der Posten praktisch unschlagbar. Ein paar Straßen weiter lag der Genfer See, an dem der US-Botschafter seine Residenz unterhielt. Dahinter warteten die Alpen mit Kletter-, Ski- und Wanderabenteuern.
Die Chatlogs auf Ars Technica lassen auf einen jungen Mann schließen, der zumindest am Anfang die Welt durch die Brille amerikanischer Provinzialität betrachtete. Zunächst hegte Snowden den Schweizern gegenüber gemischte Gefühle. In einem Chat klagte er, dass alles so teuer sei («Ihr Jungs würdet nicht glauben, wie teuer der Scheiß hier ist.»), dass einem in Restaurants kein kostenloses Leitungswasser angeboten wurde, und über den exorbitanten Preis für einen Hamburger: 15 Dollar.
Es gab noch weitere Momente des Kulturschocks — das metrische System oder den Schweizer Wohlstand («Jesus Christus, sind die Schweizer reich. Jeder Scheiß-McDonald’s-Angestellte verdient mehr als ich!»). Alles in allem aber freundete er sich mit seiner neuen pittoresken Umgebung an. In einem Wortwechsel schrieb er:
‹TheTrueHOOHA› |
die Straßen sind keinen Meter breit |
‹TheTrueHOOHA› |
mit 9000 Autos drauf, zwei Tramlinien und einer Busspur |
‹TheTrueHOOHA› |
und einem Fahrradweg |
‹TheTrueHOOHA› |
da dürften am laufenden Band Außenspiegel abgefahren werden |
‹TheTrueHOOHA› |
ich habe Angst, dass ich mit jemandem zusammenstoße und dann den Schaden habe |
‹User3› |
haben sie dort eine große Gruppe an Einwanderern, die die niederen Jobs verrichtet? |
‹TheTrueHOOHA› |
ja. Jede Menge unidentifizierbare südostasiatische Leute und Osteuropäer, die kein Englisch oder Französisch sprechen |
‹TheTrueHOOHA› |
aber versteh mich nicht falsch — der Ort ist fantastisch |
‹TheTrueHOOHA› |
es ist, als lebte man auf einer Postkarte |
‹TheTrueHOOHA› |
es ist nur alptraumhaft teuer und schrecklich klassenorientiert |
‹User4› |
TheTrueHOOHA: wo bist du? .ch? |
‹TheTrueHOOHA› |
Ja. Genf, Schweiz |
‹User4› |
scharf! |
‹TheTrueHOOHA› |
Ja … bislang ist alles ziemlich cool |
In Genf war Snowden einer bunten Mischung an Ansichten ausgesetzt, radikale eingeschlossen. Mit seinem Kampfsportclub nahm er an der Feier zum chinesischen Neujahr teil. «Einmal gab er mir eine private Einzelstunde, und ich war erstaunt über seine Fähigkeiten — und ziemlich belustigt darüber, dass er unfähig war, es gegenüber einer Anfängerin wie mir locker angehen zu lassen», schrieb Mavanee Anderson, eine Freundin aus Genfer Tagen, später in der Chattanooga Times Free Press aus Tennessee.
Snowden war verhältnismäßig provinziell an der amerikanischen Ostküste aufgewachsen. Doch nun lebte er in Europa, was er der US-Regierung verdankte. Seine CIA-Stelle brachte noch weitere Privilegien mit sich. Wenn er Strafzettel erhielt, zahlte er sie nicht und berief sich auf seine diplomatische Immunität. Er nutzte Gelegenheiten, mehr von Europa zu sehen. Ars Technica nach zu urteilen reiste Snowden nach Sarajevo, wo er von seinem Hotelzimmer aus dem Ruf eines Muezzins zum Gebet lauschte. Er besuchte Bosnien, Rumänien und Spanien — und verbreitete seine Urteile über das dortige Essen und die Frauen.
Manchmal fragte sich Snowden, ob die Schweiz «ein bisschen rassistisch» sei. Dann wieder war er von der Schweizer Einstellung in Sachen persönlicher Freiheit beeindruckt, und davon, dass Prostitution legal war. Snowden entpuppte sich auch als Geschwindigkeitsfreak und nahm in Italien an Motorradrennen teil.
Snowden mochte seine Freizeit mit alternativ eingestellten Leuten verbringen, aber er war ein leidenschaftlicher Anhänger des Kapitalismus und freier Märkte. Sein Glaube war sowohl praktisch als auch theoretisch. In seiner Schweizer Zeit spekulierte er häufig an der Börse, stieß ungerührt Aktienpakete ab und beobachtete den Wirtschafts- und Finanzcrash von 2008, der die Vereinigten Staaten und Europa abstürzen ließ, mit fasziniertem Schrecken. Manchmal machte er Gewinn, aber oft verspekulierte er sich auch.
Im Internet chattete er über seine Abenteuer. Er verteidigte den Goldstandard. Dem Thema Arbeitslosigkeit begegnete er mit Geringschätzung — sie sei, so schrieb er auf Ars, «notwendig» und eine «Korrektur des Kapitalismus». Als ein User fragte, wie er «mit zwölf Prozent Arbeitslosigkeit» umgehen würde, schlug Snowden zurück: «Fast jeder war vor dem Jahr 1900 selbstständig. Was ist an zwölf Prozent Arbeitslosigkeit so schrecklich?»
Die Persönlichkeit, die Snowdens politisch freigeistige, konservative Ansichten am besten widerspiegelte, war Ron Paul, der berühmteste US-Vertreter einer liberalen Staatsauffassung, der über eine enthusiastische Anhängerschaft verfügte, besonders unter jüngeren Wählern. Paul verbrachte, mit Unterbrechungen, 30 Jahre im Kongress, forderte das republikanische Parteiestablishment heraus und stellte den politischen Konsens infrage. Er war ein erbitterter Gegner des Sozialismus, der keynesianischen Wirtschaftspolitik und der amerikanischen Notenbank. Auch sprach er sich gegen US-Interventionen im Ausland aus. Er hasste Überwachung durch die Regierung.
Snowden unterstützte 2008 Pauls Kampagne für das Präsidentenamt. Auch der republikanische Kandidat John McCain beeindruckte ihn; er beschrieb ihn als «erstklassigen Anführer» und «einen Kerl mit echten Werten». Er war kein wirklicher Obama-Anhänger. Aber er hatte auch nichts gegen ihn. Während des Wahlkampfs erklärte Snowden, er könnte vielleicht für Obama stimmen, sollte der sich irgendwie mit McCain verbinden — eine unwahrscheinliche Konstellation. TheTrueHOOHA schrieb auf Ars: «Was wir vor allem brauchen, ist ein Idealist. Hillary Clinton wäre eine Seuche für das Land, denke ich.»
Nachdem Obama gewonnen hatte und Präsident geworden war, entwickelte Snowden eine intensive Abneigung gegen ihn. Er kritisierte die Versuche des Weißen Hauses, Sturmgewehre zu verbieten. Der Leitstern in Snowdens Denken, zu jener Zeit und später, war die amerikanische Verfassung; in diesem Fall der zweite Verfassungszusatz und das Recht, Waffen zu tragen. Snowden hielt nicht viel von «affirmative action», von positiver Diskriminierung, die Minderheiten in den Vereinigten Staaten fördern soll. Er war auch gegen eine Sozialversicherung, aufgrund seiner Überzeugung, dass der Einzelne sich nicht hilfesuchend an den Staat wenden solle, auch nicht in Zeiten der Not.
Ein paar User zogen ihn dafür auf, einer schrieb: «Ja, genau. Zum Teufel mit alten Leuten!»
TheTrueHOOHA antwortete erbost: «Ihr beschissenen Minderbemittelten … Meine Oma ist beschissene 84 Jahre alt, und wisst ihr was? Sie verdient sich als verdammte Frisöse ihr Geld … Wenn ihr mal groß seid und tatsächlich Steuern zahlt, versteht ihr es vielleicht.»
Ein anderes Thema regte ihn sogar noch mehr auf. Der Snowden des Jahres 2009 empörte sich über Regierungsbeamte, die Geheiminformationen an Zeitungen durchsickern ließen — das schlimmste Verbrechen überhaupt, so die Ansicht eines vor Wut schnaubenden Snowden. Im Januar veröffentlichte die New York Times einen Artikel über einen israelischen Geheimplan, den Iran anzugreifen. Darin hieß es, Präsident Bush habe eine Bitte Israels um die Bereitstellung bunkerbrechender Bomben, um die riskante Mission auszuführen, «abgewimmelt». Stattdessen habe Bush den Israelis gesagt, er habe «neue Geheimoperationen» gegen das vermutete iranische Atomwaffenprogramm autorisiert.
Die New York Times erklärte, ihre Geschichte basiere auf einer 15monatigen Recherche samt Interviews mit früheren und aktuellen US- sowie europäischen und israelischen Regierungsmitarbeitern, anderen Experten und internationalen Atomwaffeninspektoren.
Die Reaktion von TheTrueHOOHA auf Ars Technica ist es wert, in voller Länge wiedergegeben zu werden: