Felix LeeMACHT UND MODERNE
Chinas großer Reformer
Deng Xiaoping
DIE BIOGRAPHIE
EINLEITUNG
1. Die Katastrophe von Tiananmen
2. DENG – der Revolutionär (1904–1945)
3. DENG – der Opportunist (1945–1966)
4. DENG – der Gestürzte (1966–1973)
5. DENG – der Reformer von Maos Gnaden (1973–1976)
6. DENG – der revolutionäre Reformer (1976–1978)
7. DENG – der Herrscher über China (1978–1984)
8. DENG – der Schattendiktator (1984–1989)
9. DENGs Finale (1989–1997)
10. DENGs Vermächtnis
ANHANG
Wer das heutige China auch nur ansatzweise verstehen will, kommt an dem Namen Deng Xiaoping nicht vorbei. Diese Erkenntnis hat sich bei mir rasch eingestellt, seit ich Anfang 2012 begonnen habe, als Korrespondent für die taz und andere deutschsprachige Zeitungen aus Peking zu berichten.
Der Führungswechsel in der Kommunistischen Partei im Herbst 2012, die Politik des Präsidenten Xi Jinping in den folgenden Monaten – die Machtübergabe lief exakt nach dem Drehbuch, das Deng zu seinen Lebzeiten für solche Fälle vorgegeben hatte. Xi wiederum zeigt sich dem Begründer des chinesischen Wirtschaftswunders in jeder Hinsicht verpflichtet. Wie Deng treibt er auf pragmatische Weise Wirtschaftsreformen voran. Doch ebenso wie Deng sichert er der Kommunistischen Partei mit harter Hand den vollen Zugriff auf die Macht im Lande. Erlaubt ist, was funktioniert – das hat Xi von seinem Vorbild gelernt.
Denn Deng war nicht nur der Befreier Chinas von den Schrecken und dem gegenseitigen Misstrauen der Mao-Zeit. Er war auch der »Schlächter vom Tiananmen-Platz«, in dessen Verantwortung es in den frühen Morgenstunden des 4. Juni 1989 lag, Panzer gegen friedlich demonstrierende Studenten loszuschicken. Zugleich hat Deng seinem Land den Weg zu Wohlstand und internationalem Einfluss gewiesen und sich damit so sehr um die Bekämpfung von Armut verdient gemacht wie keine zweite Figur des 20. Jahrhunderts. Kurz: Deng ist wie China. Vielschichtig, zerrissen, scheinbar widersprüchlich – und doch verblüffend konsistent, sobald es gelingt, seiner inneren Logik zu folgen. Diese innere Logik aufzuspüren ist Ziel dieser Biographie.
Als Zehnjähriger habe ich Mitte der 1980er Jahre für einige Zeit die Transformation des Landes unter Deng miterlebt. Meine Verwandtschaft war einst Opfer der wahnsinnigen Politikexperimente Maos. Meine Großeltern wurden enteignet, ein Teil der Verwandtschaft wurde aufs Land geschickt, ein Onkel von Rotgardisten gefoltert. Später hat meine Familie erheblich von Dengs Öffnungspolitik profitiert. Mein Vater war als Vertreter eines großen deutschen Automobilkonzerns einer der Ersten, der Geschäftsbeziehungen mit der Volksrepublik knüpfte.
Meinen Verwandten und Bekannten war in den 1980er Jahren der Kontrast zu Dengs Vorgänger noch sehr bewusst: Nur wenige Jahre zuvor hatten sie in Einheitskleidung angestanden auf grauen sozialistischen Straßen, um Waren des täglichen Bedarfs zu erwerben. Sie waren froh, wenn am Abend die Schale Reis auch mit ein wenig Gemüse angereichert war. Später erlebten sie ein fröhliches Konsumwunder, das sich bis heute zu einer verrückten Welt der Mega-Shoppingmalls mit zahllosen Läden von H&M bis Gucci entwickelt hat.
Damals schon war der Name Deng häufig zu hören. Der listige Kommunistenführer hatte zwar selbst offiziell nur untergeordnete Ämter, doch allen war klar, dass er das Sagen hat. Seine Persönlichkeit, sein Blick fürs Wesentliche und seine Organisationsfähigkeit haben dem Riesenreich einen enormen Entwicklungsschub ermöglicht. Zugleich stellte er sich immer wieder als prinzipienlos und opportunistisch heraus – die Kehrseite seiner pragmatischen Haltung dem Leben gegenüber. Auch für die Chinesen ist, je nachdem, wen man fragt, Deng bis heute ein Held oder ein Schurke.
Obwohl im deutschsprachigen Raum bisher nur wenig Literatur über Deng Xiaoping erschienen ist, habe ich nicht bei null angefangen. Im Gegenteil: Ich stehe auf den Schultern großer Vorgänger. Bei der Spurensuche nach dem Leben, dem Charakter und dem Vermächtnis Dengs konnte ich auf umfangreiches und detailliertes Material zurückgreifen, das bereits auf Englisch und Chinesisch erschienen ist. Besonders verpflichtet fühle ich mich dem amerikanischen Historiker Ezra F. Vogel und dem britischen Diplomaten Sir Richard Evans für ihre bahnbrechenden Monographien zu Deng.
Peking, im Januar 2014
Felix Lee
Gegen Mitternacht fuhren auf dem Platz die ersten Schützenpanzer auf. Schüsse waren schon seit vielen Stunden zu hören. Sie hallten zwischen den monumentalen Fassaden der Großen Halle des Volkes und des Nationalmuseums. Um die fünftausend Demonstrantinnen und Demonstranten hielten sich zu diesem Zeitpunkt noch auf dem Tiananmen-Platz auf, dem Platz vor dem Tor des Himmlischen Friedens. Er war übersät mit Müll, zerfledderten Transparenten. In der schwülheißen Pekinger Sommerhitze hatte sich der beißende Geruch von Fäkalien, Schweiß und Essensresten festgesetzt.
Die meisten der noch verbliebenen Demonstranten hatten die Zelte verlassen, in denen sie sieben Wochen lang gewohnt hatten, in denen sie diskutieren konnten und die ihnen Schutz unter Gleichgesinnten zu bieten schienen. Nun, unter dem donnernden Geräusch der Schüsse zeigte sich, was sie wirklich waren: dünnes Gewebe, das die Soldaten mit einem Machetenhieb zerfetzen konnten. Auf der rechten Hälfte des Platzes stand noch die Freiheitsstatue, die Studenten der Kunsthochschule wenige Tage zuvor errichtet hatten. Auch sie wirkte nicht mehr rebellisch, stolz und majestätisch, sondern erschien plötzlich wieder als das, was sie tatsächlich war: eine eilig aus Pappmaché gebastelte Figur.
Erstaunlich ruhig hatten sich die noch verbliebenen Studenten auf der Treppe des zweiten Denkmals auf dem Platz versammelt: dem Gedenkstein, den Mao einst errichten ließ, um an die Heldentaten kommunistischer Soldaten zu erinnern – die Siege über die Japaner und über die bürgerliche Republik unter den Nationalchinesen. Sie skandierten Parolen, doch die Stimmen der jungen Männer und Frauen wurden übertönt von den scheppernden Lautsprechern mit den Anweisungen der Sicherheitsbehörden: »Heute Abend ist es zu einem schweren konterrevolutionären Putsch gekommen. Banditen verübten wilde Angriffe auf Truppen der Volksbefreiungsarmee, errichteten Barrikaden, verprügelten Soldaten und Offiziere beim Versuch, die Regierung der Volksrepublik China zu stürzen.« Tagelang habe sich die Volksbefreiungsarmee zurückgehalten. Doch jetzt müsse sie entschlossen gegen den Putsch vorgehen. Die Studenten hatten das Signal verstanden: In den nächsten Stunden wird scharf geschossen.1
Sieben Wochen lang hatten Studenten, Professoren, Arbeiter, ja sogar Staatsbedienstete friedlich auf dem Platz des Himmlischen Friedens demonstriert. Nach mehr als einem Jahrzehnt wirtschaftlicher Reformen und der Öffnung des Landes nach außen hatten sie darauf gesetzt, dass nun auch für China die Zeit gekommen sei für mehr Mitbestimmung, Demokratie und Menschenrechte. Die Künstlerszene boomte, staatskritische Schriften kursierten und Studentinnen, Studenten, Professoren und andere Intellektuelle hatten in den vergangenen Monaten und Jahren an Universitäten eine nie gekannte offene Streitkultur erlebt. Einige von ihnen hatten einige Jahre im Ausland verbracht und das Leben der westlichen Welt kennengelernt. Der liberale Geist, gefördert nicht zuletzt auch durch die Staatsspitze, verstärkte den Eindruck: Kritische Debatten seien geradezu erwünscht.
Doch in der Nacht zum 4. Juni 1989 zerschlugen sich all diese Hoffnungen. Verhandlungen und Vermittlungsversuche zwischen den Studenten und den kommunistischen Betonköpfen in der Führungsspitze waren gescheitert. KP-Chef Zhao Ziyang, der große Sympathien für das Anliegen der Studenten gezeigt hatte, war in der Öffentlichkeit nicht mehr zu sehen und offenbar von seinen Genossen außer Gefecht gesetzt worden. In den Tagen zuvor war er noch zu den Studenten auf dem Tiananmen-Platz gekommen und hatte mit Tränen in den Augen darum gebeten, die Proteste abzubrechen.
Es hatte noch einige Tage gedauert, bis die Führung innerhalb der Armee Einheiten von Soldaten gefunden hatte, die dem Befehl zum Angriff gehorchten und bereit waren, auf die eigene Bevölkerung zu schießen. Die Pekinger Garnison hatte den Befehl zuvor noch rundheraus verweigert.
Am frühen Morgen des 4. Juni aber rückten die Soldaten vor – junge Befehlsempfänger vom Lande. Gegen drei Uhr in der Nacht hatten die Streitkräfte die letzten Vorbereitungen zur Einnahme des Tiananmen-Platzes abgeschlossen. Leuchtkugeln stiegen auf. Einer kleinen Schar von Demonstranten gelang es noch, der Einsatzleitung abzuringen, in der südöstlichen Ecke des Platzes zumindest einen schmalen Korridor zum freiwilligen Abzug der Studenten zu ermöglichen. Darunter befanden sich der spätere Friedensnobelpreisträger Liu Xiaobo und der Rocksänger Hou Dejian. Hou war in den Tagen zuvor in den Hungerstreik getreten. Einige Demonstranten verließen so noch den Platz. Doch dann fielen auch schon die ersten Schüsse. Bis zum Morgengrauen waren alle Zelte plattgewalzt, der Platz geräumt. Die Hoffnungen auf eine Demokratisierung der bevölkerungsreichsten Nation der Welt wurden in dieser Nacht zerstört. Den Schießbefehl erteilt hatte Deng Xiaoping, das informelle Staatsoberhaupt der Volksrepublik China.
Mehr als ein Jahrzehnt lang war Deng in den Augen der Welt Chinas großer Hoffnungsträger. Dengs Politik hatte im angenehmen Gegensatz zu der seines Vorgängers Mao Zedong gestanden, der sich als manisch, autokratisch, brutal, machtgierig und unberechenbar erwiesen hatte. Deng dagegen hatte im Allgemeinen rational und im Interesse des Volkes gehandelt. Doch mit der brutalen Niederschlagung der Demokratiebewegung auf dem Tiananmen-Platz entpuppte sich China wieder als autoritärer Willkürstaat wie zu Maos Zeiten. Und Deng zeigte sich als Unterdrücker, der seinem Vorgänger Mao letztlich kaum nachstand. Wie konnte das geschehen? Was hatte Deng bewogen, so brutal zuschlagen zu lassen? Warum hat er selbst seine eigenen Protegés und engsten Verbündeten, die Reformer Hu Yaobang und Zhao Ziyang, fallengelassen und sich ausgerechnet auf die Seite der Betonköpfe und seiner Widersacher geschlagen? Was war in Deng gefahren?
Ohne den Einsatz der Panzer auf dem Tiananmen-Platz wäre Deng sehr wahrscheinlich als Chinas großer Reformer in die Geschichtsbücher eingegangen. Er hatte zuvor den wahrscheinlich größten Beitrag zur Bekämpfung der Armut geleistet, der je einem Politiker in der Menschheitsgeschichte gelungen ist. Nun wird er jedoch als eine sehr zwiespältige Figur gesehen. Dabei hat sich das, war er zuvor in Gang gesetzt hatte, zu einer außergewöhnlichen Erfolgsgeschichte entwickelt. China ist zur zweitgrößten Volkswirtschaft der Welt aufgestiegen. Unbestritten ging es der großen Mehrheit der Chinesen unter Deng sehr viel besser als in den Jahrzehnten zuvor.
Auch persönlich sind die Chinesen während der Herrschaft Dengs in den Genuss von Freiheiten gekommen, die zuvor unvorstellbar waren. Die Jugend hörte Rock, trug Jeans und diskutierte gut informiert die politische Weltlage.
Deng selbst hatte einst, eine Selbstaussage seines Vorgängers Mao aufgreifend, über sich gesagt: »(…) ich würde jedenfalls froh und zufrieden sein, wenn nach meinem Tod die kommenden Generationen mich ›mit dreißig Prozent positiv und siebzig Prozent negativ‹ bewerteten.«2 Das sagte er 1977 – lange vor der Niederschlagung der Demokratiebewegung auf dem Tiananmen-Platz. Heute, 25 Jahre nach dem 4. Juni 1989, stellt sich mehr denn je die Frage: Wer war Deng wirklich?
So sehr Deng Xiaoping China zu Wohlstand verholfen hat – in seinem Heimatdorf ist dieser Wohlstand nicht angekommen. Tatsächlich gehören das Dorf Paifang und der gesamte Bezirk Guang’an, rund 160 Kilometer von der 30-Millionen-Metropole Chongqing entfernt, bis heute zu einer der ärmsten Regionen Chinas. Erst um die Jahrtausendwende überschritt das durchschnittliche Pro-Kopf-Einkommen 300 US-Dollar – im ganzen Land lag es da bereits bei über 800 Dollar. Als Deng 1997 verstarb, lebten mehr als 2500 Familien in Guang’an noch immer in Höhlen.
Deng zeigte bis zu seinem Tod nicht das geringste Interesse an seiner Heimat. Im Gegenteil: Alles, was mit seiner Herkunft zusammenhing, schien er zu Lebzeiten zu meiden. Bereits im Alter von 16 Jahren verließ er das Haus seines Vaters – und kehrte nicht ein einziges Mal zurück. Er war nicht beim Begräbnis seines Vaters Deng Wenming dabei. Er interessierte sich nicht einmal dafür, unter welchen Umständen sein Vater genau ums Leben gekommen war. Bis heute ist nicht geklärt, ob Deng Wenming 1940 von Banditen umgebracht wurde oder von Kommunisten, die schon damals Jagd auf Großgrundbesitzer machten.
Selbst als Staatsoberhaupt der Volksrepublik vierzig Jahre später hielt es Deng nicht für nötig, seiner Heimat auch nur ein Grußwort zu schicken. Andere berühmte chinesische Spitzenpolitiker und ihre Nachkommen, allen voran Mao Zedong, ließen ihre Heimatdörfer zu wahren Kultstätten herrichten. Ihre Anhänger pilgern bis heute dorthin und huldigen ihnen. Nicht so Deng. Er lehnte jegliche Form von Personenkult ab. Der Eindruck liegt nahe, dass er bewusst mit seiner Heimat nichts mehr zu tun haben wollte.
Deng wurde wahrscheinlich am 22. August 1904 geboren. Einige Quellen nannten lange Zeit den 12. Juli als Geburtsdatum. Dabei handelt es sich sehr wahrscheinlich um den Geburtstag nach dem traditionellen chinesischen Kalender. So genau merkten sich die Menschen den Tag der Geburt damals im ländlichen China ohnehin nicht. Geburtstage spielten keine Rolle und wurden auch nicht gefeiert. Viele Vertreter dieser Generation wissen häufig nicht einmal ihr genaues Geburtsjahr.
Guang’an befindet sich in der Provinz Sichuan, dem sogenannten Roten Becken. Eingeschlossen zwischen dem tibetischen Hochland und dem südchinesischen Bergland ist Sichuan zwar seit Jahrtausenden ein wichtiger Teil Chinas. Doch lange Zeit war die dichtbesiedelte Region mit dem chinesischen Kernland fast ausschließlich durch den Fluss Yangzi verbunden, dem gewaltigen Strom, der China von West nach Ost durchschneidet. Das feuchtheiße Klima und der mineralienreiche Schlamm des Yangzi machen die Region bis heute sehr fruchtbar. Zur Zeit von Dengs Geburt gehörte Sichuan zu einer der am dichtesten besiedelten Regionen der Welt mit unzähligen Kanälen, Bauernhöfen, Reisterrassen und Gemüsefeldern. Das Rote Becken war schon seit dem Altertum überbevölkert und galt als arme Region. Viele der Bauern konnten sich nur mit viel Mühe selbst ernähren.
Dengs Vorfahren väterlicherseits sollen ursprünglich Hakka gewesen sein, eine Volksgruppe der Han-Chinesen, die vor allem in der südchinesischen Küstenregion beheimatet war. Hakka pflegen seit langer Zeit ihre ganz eigenen Sitten, sprechen eine eigene Sprache und gelten seit jeher als pragmatisch und tüchtig. In der Qing-Dynastie war es im übrigen China üblich, Mädchen im Kindesalter die Füße zu binden und zu verstümmeln, damit sie als erwachsene Frauen beim Laufen nur Trippelschritte machen. Hakka verlangten diese Form der körperlichen Verstümmelung nicht. Schließlich schränkte das ihre Arbeitsfähigkeit erheblich ein.
Ob der Pragmatismus, den Deng später zeigen sollte, etwas mit seinen Vorfahren zu tun hat, sei einmal dahingestellt. Er selbst betonte stets, dass er die Hakka-Sitten weder kenne noch seine Familie sie zu seinen Lebzeiten je gepflegt hätte. In der Region Guang’an wird sich jedoch bis heute erzählt, dass die Familie Deng ihre eigenen Sitten bewahrte und nicht zuletzt aufgrund ihres Pragmatismus zu Wohlstand gekommen war.3
Deng stammt aus einer der reichsten Familien im Ort. Zu seinen prominentesten Vorfahren gehört Deng Shiming. Er war Ende des 18. Jahrhunderts ein hoher Beamter unter dem mächtigen Kaiser Qianlong. Als Deng noch ein Kind war, gab es in seinem Heimatdorf ein Tor, das der Kaiser seinem Urahn zu Ehren errichtet hatte. Rote Garden zerstörten dieses Tor während der Kulturrevolution. Ihr Motiv war Hass auf Deng. Dazu im späteren Verlauf mehr.
Sämtliche Nachkommen Deng Shimings gehörten in der Region zur wohlhabenden Schicht. Deng Xiaopings Vater Deng Wenming etwa war Grundbesitzer und soll zwischendurch sogar reichster Mann im Dorf gewesen sein. Die Familie lebte in einem stattlichen Haus. Deng Wenming ließ von seinen ihm unterstellten Bauern Getreide anbauen, betrieb eine Seidenraupenzucht und handelte in der Region mit Waren. In der Provinzhauptstadt Chengdu besuchte Deng Wenming zumindest für kurze Zeit eine höhere Schule und belegte einige Kurse in chinesischem Recht. Später stand er zwischendurch der lokalen Polizei vor und war Lehrer in der einzigen Schule der Kreisstadt. Aber auch Deng Xiaopings Mutter entstammte einer wohlsituierten Familie. Sie soll zwar Analphabetin gewesen sein, wie die meisten Frauen im ländlichen China zu der Zeit, aber sie galt als tüchtig, anpackend und alltagsschlau.4 Wie viele wohlhabende Familien damals legte auch sie großen Wert darauf, dass ihre Kinder im Gegensatz zu ihr eine gute Bildung erhielten.
Deng Xiaopings Vater galt als religiös. Er war sowohl praktizierender Buddhist als auch Daoist und gehörte einer in dieser Zeit einflussreichen Gruppe von Grundbesitzern an, der »Älteren Bruder-Gemeinschaft«. Sie herrschte quasi über die Region.5 Zugleich war er jedoch ein leidenschaftlicher Spieler, der einen Großteil des Familienvermögens beim Mahjong verlor. Damit verkörperte er so ziemlich alles, was die Kommunisten als bourgeois ablehnten und später verfolgen würden. Hohe Verluste im Glücksspiel zwangen den Vater später auch zum Verkauf von Teilen seines Grundbesitzes. Auch das dürfte ein Grund dafür gewesen sein, warum sein Sohn es später stets vermied, seine Herkunft allzu sehr in den Vordergrund zu rücken, und sie lieber verheimlichte. Er selbst sprach in der Öffentlichkeit nie über seine Kindheit.
Dorfbewohner berichten später, dass Deng eine weitgehend glückliche Kindheit verbrachte und in einer großen, fürsorglichen und warmherzigen Familie aufwuchs.6 Sie erinnern sich an Deng als einen lebhaften, aufmerksamen Jungen und als einen »Sonnenschein«, der imstande war, hintereinander Hunderte von Purzelbäumen zu schlagen.7 Schon als Kind war Deng außergewöhnlich klein. Seine geringe Körpergröße versuchte er durch Mut und Verstand auszugleichen.
Er prahlte daher auch mit seiner Schlauheit. Dorfbewohner erzählen, dass er als junger Schüler aus Büchern zitieren konnte, die er nur dreimal gelesen hatte.8 Anders als das konfuzianische Familienideal es vorsieht, soll Deng seine eigenen Ideen stolz verteidigt haben, statt einfach auf die Älteren zu hören.
Deng hatte drei leibliche Geschwister, eine ältere Schwester und zwei jüngere Brüder. Wahrscheinlich noch bevor er 1920 sein Heimatdorf verließ, erkrankte seine Mutter. Sie starb sechs Jahre später an Tuberkulose. Sein Vater Deng Wenming heiratete dann noch zwei weitere Male. Eine Frau gebar ihm einen vierten Sohn, sie starb aber ebenfalls früh. Deng Wenmings letzte Frau Xia Bogen, nur ein Jahr älter als Deng Xiaoping, brachte eine Tochter in die Ehe und gebar dem Vater drei weitere Töchter. Die meisten seiner Halbgeschwister lernte Deng Xiaoping erst viele Jahrzehnte später kennen.
Sein Vater gab dem Sohn ursprünglich den Namen Deng Xiansheng (), was übersetzt so viel heißt wie »der erstgeborene Heilige«. Als Deng Xiaoping mit fünf eingeschult wurde, nannte ihn ein Lehrer Deng Xixian, was »talentierter Hoffnungsträger« bedeutet und darauf hindeutet, dass Dengs Intelligenz und Begabung schon früh aufgefallen sein muss. Den Namen Xiaoping (»kleiner Frieden«) gab er sich erst Jahre später, als er als Kommunist im Untergrund einen Tarnnamen brauchte.
Viel ist über Dengs Kindheit nicht bekannt. Für die damaligen chinesischen Verhältnisse auf dem Land war der Vater progressiven Ideen gegenüber aufgeschlossen und interessiert am Geschehen im Rest der Welt. Als Deng Xiaoping fünf Jahre alt war, schickte ihn sein Vater auf eine Art Vorschule, ein Jahr später kam er auf eine für damalige Verhältnisse moderne Volksschule und dann auf die einzige Mittelschule in Guang’an, die bereits nicht mehr nur dem alten konfuzianischen Lehrplan folgte, sondern den Schülern auch Englisch und Weltkunde beibrachte.
Während Deng noch zur Schule ging, fanden im Land bedeutsame Umwälzungen statt. Nach mehr als 250-jähriger Herrschaft über China wurde im Zuge der sogenannten Xinhai-Revolution das Kaiserhaus der Qing-Dynastie gestürzt. Der ohnehin machtlose Kindkaiser Puyi musste abdanken. Am 1. Januar 1912 rief der Revolutionsführer Sun Yat-Sen die Republik aus. Es folgten politisch turbulente Jahre.
Deng und sein Vater beobachteten das politische Geschehen mit großem Interesse. Selbst auf dem abgeschiedenen Land in Sichuan erfuhren sie von den Protesten rund um die sogenannte 4.-Mai-Bewegung von 1919. Tausende von wütenden Studenten waren in Peking, Shanghai und Guangzhou auf die Straßen gegangen, um gegen den Versailler Vertrag zu demonstrieren. Die Kolonialmächte hatten darin festgelegt, die einst deutschen Niederlassungen auf der ostchinesischen Halbinsel Jiaozhou (Kiaotschou) an die Japaner abzutreten. Die chinesische Regierung, die kaum Einfluss auf die Verhandlungen hatte, hatte den Vertrag mitunterzeichnet. Der Widerstand richtete sich daher auch gegen sie.
Dieser Protest bildete zugleich die erste politische Massenbewegung in China. Ihre Aktivisten setzten sich unter anderem zum Ziel, westliche Werte wie Demokratie, Gleichheit und Freiheit in der neu gegründeten Republik China einzuführen. Bis heute berufen sich Kommunisten und die Nationalchinesen (Kuomintang) auf Taiwan auf diese Bewegung von 1919. Auch Deng beteiligte sich an antijapanischen Boykottaktionen. Und so wie zahlreiche Gründungsmitglieder der Kommunistischen Partei politisierte sich Deng, als er diese Ereignisse mitverfolgte. Es war vorgesehen, dass Deng die Mittelschule bis zu seinem 18. Lebensjahr beenden sollte, um die Aufnahmeprüfung für eine der höheren Schulen in den Metropolen Chengdu oder Chongqing zu bestehen und dann in die Fußstapfen seines Vaters zu treten. Doch als er 14 Jahre alt war, entdeckte sein Vater in der Zeitung eine Anzeige einer Schule in Chongqing, die junge Chinesen auf eine Ausbildung in Frankreich vorbereitete. Zu dieser Zeit waren Universitäten in China gerade erst im Entstehen. Wer wirklich die neue Republik mitgestalten und das perspektivlos erscheinende Leben auf dem Land hinter sich lassen wollte, bemühte sich um einen Studienaufenthalt im Westen. Der junge Deng wollte diese Chance daher unbedingt nutzen. Auch wenn seinem Vater klar gewesen sein muss, dass sein ältester Sohn damit nicht seine Nachfolge antreten würde, unterstützte er ganz offensichtlich das Ansinnen seines Juniors. Er spürte wohl den Freiheitsdrang seines Sohnes und dass sein Sohn zu Höherem berufen war.
Zusammen mit seinem Onkel Deng Shaosheng, der nur wenige Jahre älter war als er, verließ Deng Xiaoping im Frühsommer 1919 sein Heimatdorf. Beide Dengs besuchten zunächst für einige Wochen die Schule im 160 Kilometer entfernten Chongqing. Die Ausbildung in Chongqing umfasste Französisch sowie erste industrielle Fertigkeiten. Gegründet von dem von Frankreich begeisterten Li Yuying, der auch Anhänger des Republikgründers Sun Yat-Sen war, hatte die Initiative sich zum Ziel gesetzt, Chinesen zum Studium und zur Arbeit nach Frankreich zu bringen, um Erfahrungen und Wissen zurück nach China zu tragen.
Die Träger dieser Initiative verfolgten allerdings auch politische Hintergedanken. Li war Gründer der »Gesellschaft für fleißiges Arbeiten und grundlegende Studien«, einer politischen Vereinigung, die zwar an und für sich die noch junge Republik unterstützte, aber auch mit den Lehren des Anarchismus liebäugelte. Deng zeigte sich begeistert und trat dieser Organisation bei. Sie wurde zu seinem ersten politischen Betätigungsfeld.
Der junge Deng war zugleich zum ersten Mal fern der Heimat. Er hatte anscheinend keine Probleme damit – Heimweh war ihm fremd. Als er am 11. September 1921 mit seinem Onkel und weiteren zweihundert Arbeiterstudenten über den Hafen von Shanghai auf einem Schiff in Richtung Marseille aufbrach, hatte er bereits mit seiner Heimat gebrochen. Er verzichtete auf einen Abstecher in sein Heimatdorf. Es sah seinen Vater und seine Mutter nie mehr im Leben wieder. Stattdessen machte er in der damals pulsierenden Hafenmetropole Shanghai seine ersten Erfahrungen mit dem Kolonialismus. Westliche Mächte wie Frankreich, Großbritannien und das Deutsche Reich hatten in Shanghai kleine Kolonien errichtet. In diesen »Konzessionen« erlebte Deng erstmals, wie demütigend viele der Ausländer mit seinen Landsleuten umgingen. Sie trieben ihre chinesischen Angestellten durch die Gassen. Viele Chinesen mussten ihre ausländischen Herren auf Sänften tragen und zum Teil erniedrigende Arbeiten für sie leisten. Rechte hatten die chinesischen Angestellten keine. Deng verbrachte zwar nur wenige Tage in Shanghai. Diese Bilder hinterließen bei ihm aber einen bleibenden Eindruck.
In den ersten Jahren nach der Republikgründung herrschte Chaos in China. Viele Regionen hatten sich von der Zentralregierung abgespalten und praktisch eigene Staaten gegründet. Der allseits geachtete Revolutionär und Republikgründer Sun Yat-Sen schaffte es 1912 nicht, Staatspräsident zu werden. Stattdessen drängte der Militär Yuan Shikai an die Spitze. Yuan war schon unter der Qing-Dynastie General. Er lehnte die junge Republik ab. Sun hatte seiner Ernennung nur deswegen zugestimmt, weil er keine andere Möglichkeit sah, die bürgerkriegsähnlichen Zustände in den Griff zu bekommen. Er fürchtete eine komplette Machtübernahme durch das Militär – schwere Zeiten für die noch junge Republik.
Als Yuan sich 1915 zum Kaiser einer konstitutionellen Monarchie ernannte, brach im ganzen Land endgültig der Bürgerkrieg aus. Yuan unterlag zwar und musste abdanken. Doch selbsternannte Warlords, zum großen Teil ehemalige Generäle von Yuan Shikai, ergriffen die Macht und bekriegten sich in den Folgejahren untereinander. Spätestens zu diesem Zeitpunkt war China de facto kein funktionierender Staat mehr. Sun Yat-Sen zog sich in seine Heimatprovinz Guangdong zurück und bemühte sich von dort aus weiterhin um Demokratie und die nationale Einheit Chinas.
Zugleich aber sprudelten in dieser Zeit die politischen Ideen. Viele Intellektuelle brachen mit dem bis dahin vorherrschenden Konfuzianismus und setzten sich stattdessen für Wissenschaftlichkeit, Demokratie und Individualismus ein. Sie wollten China ökonomisch, sozial und politisch umkrempeln und zu einem modernen Staat nach westlichem Muster machen.
Andere lehnten jedoch genau dies ab. Im Einfluss der Kolonialherren aus dem Westen sahen sie gerade die Ursache für die Misere, in der das einst so mächtige China steckte. Sie suchten nach einem dritten Weg. Die extreme soziale Ungleichheit schien ihnen recht zu geben: Auf der einen Seite wohnten die Reichen in den Villenvierteln Shanghais im märchenhaften Luxus – auf der anderen Seite herrschte bei der Mehrheit der Bevölkerung das nackte Elend.
Spätestens mit der Russischen Revolution von 1917 hielt der Kommunismus auch in China Einzug. Vielen chinesischen Intellektuellen erschien die neu entstandene Sowjetunion als Alternative auch für China. Mit Unterstützung der 1919 in Moskau gegründeten Kommunistischen Internationalen (Komintern) traf sich im Sommer 1920 in Shanghai eine Handvoll Aktivisten und gründete eine erste kommunistische Parteizelle. Weitere Parteizellen entstanden wenige Monate später in den Städten Wuhan, Changsha, Guangzhou und Jinan.
Von diesen Gründungstreffen hatte Deng nichts erfahren. Er war noch nicht Teil dieser Bewegung. Jahre später bereute er es bitter, nicht dabei gewesen zu sein, hätte seine Teilnahme ihn doch noch vor Mao zum Teil der ersten Gründergeneration gemacht.
Deng fand erst über den Umweg über Frankreich zum Kommunismus. Im Oktober 1920 betraten er und sein Onkel Deng Shaosheng nach einer mehr als einmonatigen Schifffahrt um den halben Globus im Hafen von Marseille französischen Boden. Das Programm sah vor, dass sie zunächst eine französische Mittelschule in der Provinz besuchten, um die Sprache zu erlernen. Beide erhielten Plätze in der kleinen Stadt Bayeux in der Normandie.
Sie waren nicht die einzigen Chinesen in Frankreich. Mehr als 1600 chinesische Arbeiterstudenten hatte die Organisation von 1919 bis Anfang 1921 nach Frankreich vermittelt. Doch die »Gesellschaft für fleißiges Arbeiten und grundlegende Studien« hatte sich übernommen. Deng und sein Onkel hatten sich gerade in der Mittelschule eingeschrieben, da erhielten sie die Nachricht, dass der Organisation das Geld ausgegangen war. Gründer Li Yuying war – trotz seines Reichtums – nicht mehr bereit, dieses Netzwerk weiter zu finanzieren. Sein Interesse hatte sich verschoben.
Die chinesischen Arbeiterstudenten, die sehr viel Hoffnung in dieses Programm gelegt hatten, traf es wie ein Schlag, als der Rektor der Peking-Universität Cai Yuanpei, der das Programm mitinitiiert hatte, ihnen mitteilen ließ: Sie seien von nun an auf sich allein gestellt.
Anfangs schickte Dengs Familie ihm und seinem Onkel noch etwas Geld. Doch das reichte nicht für den Lebensunterhalt. So wie die meisten anderen chinesischen Arbeiterstudenten waren sie gezwungen, selbst Arbeit in Frankreich zu finden. Das war allerdings gar nicht so einfach. Die meisten von ihnen kamen aus verhältnismäßig begüterten Familien in China. Nun aber mussten sie für Franzosen die Drecksarbeit erledigen. Dafür verdienten sie noch ein ganzes Stück weniger als das, was sonst üblich war. Die Franzosen betrachteten sie als primitive Gastarbeiter aus dem Ausland, nicht als Chinas künftige Elite.
Deng fand zunächst eine Anstellung in einem Stahlwerk der Schneider-Werke in Le Creusot, einer kleinen Stadt zwischen Paris und Lyon. In der vom chinesischen Staat herausgegebenen offiziellen Biographie ist die Rede davon, dass er Jobs annahm, »die nicht weiter von Belang« gewesen seien.9 Aus dem Archiv der Schneider-Werke geht hervor, dass er als »unqualifizierter Hilfsarbeiter« in einer 50-Stunden-Woche schwere Metallplatten von den Transportern aufs Band schleppen musste. Mit einer Größe von nicht einmal 1,55 Metern muss das für Deng Schwerstarbeit gewesen sein.10 Nach nur drei Wochen hängte er die Arbeit an den Nagel. Er zog es vor, sein Dasein arbeitslos in Paris zu fristen, statt für einen Hungerlohn von gerade einmal 6,60 Francs am Tag zu malochen – was noch weniger war, als ein Lehrling damals verdiente. Sein Onkel hingegen wollte bleiben. Sie gingen fortan getrennte Wege. Deng Xiaoping hat ihn nie mehr wiedergesehen.
In den nächsten Wochen und Monaten jobbte Deng in einer Fabrik für Papierblumen, fand Anstellung bei einer Gummifabrik und arbeitete als Küchenhilfe. 1925 fand er in dem Pariser Vorort Boulogne-Billancourt eine Anstellung in der Montage der Renault-Autowerke.
Deng hatte sich zum Ziel gesetzt, über die Fabrikarbeit genug Geld zu verdienen, um doch noch ein Studium in Frankreich aufnehmen zu können. Nur einmal, im Winter 1922/1923, dachte er, er habe genug zusammenbekommen, und schrieb sich ein weiteres Mal an einer Schule ein. Nach drei Monaten musste er aber wieder aufgeben. Was er verdiente, reichte schlicht nicht aus.11
Es gibt widersprüchliche Angaben darüber, wie viele Fachkenntnisse sich Deng in Frankreich aneignete – oder auch nur wie viel Französisch er lernte. Da er die meiste Zeit als Fabrikarbeiter beschäftigt war und zumeist nur einfache Arbeit am Band verrichtete, wird vermutet: nicht sehr viel. US-Außenminister Henry Kissinger gestand Deng in den 1970er Jahren, dass er nie wirklich Französisch gelernt habe: »›Sprachen sind schwierig‹, sagte er.«12 Er kokettierte keineswegs: Auf sämtlichen Empfängen mit frankophonen Staatschefs soll es über ein simples »Bonjour« und »Comment allez-vous« nie hinausgereicht haben.
Doch so perspektivlos die Lage für die chinesischen Arbeiterstudenten in Frankreich schien – der Zusammenhalt untereinander war groß. Unter ihnen war eine Reihe von Männern, die ein paar Jahre älter als Deng und bereits politisiert waren. Noch ehe sie nach Frankreich gekommen waren und den Widerspruch von Kapital und Lohnarbeit am eigenen Leib zu spüren bekamen, hatten sie ihn nach marxistischer Lesart zu deuten gewusst. Das imponierte Deng. Die chinesischen Arbeiterstudenten waren untereinander gut vernetzt und organisierten unter anderem Proteste vor dem französischen Arbeitsministerium in Paris.
Im April 1921 lernte Deng den sechs Jahre älteren Zhou Enlai kennen, der bis zu seinem Lebensende sein Mentor bleiben würde. Der sehr viel erfahrenere Zhou führte Deng in seine Kreise ein. Zhou war zu dieser Zeit schon einer der Anführer einer Gruppe von jungen Chinesen in Paris, die mit dem Kommunismus sympathisierte. Deng fühlte sich in diesem Kreis sichtlich wohl. Er war zwar der Jüngste von ihnen und ideologisch wenig geschult. Doch der junge Deng verschaffte sich unter den Genossen sehr schnell Anerkennung, indem er sich als Organisationstalent erwies. Die anderen wurden für ihn wie ältere Brüder, wie er sie sich bis dahin immer gewünscht hatte. In Zhous Pariser Privatwohnung, einem nur wenige Quadratmeter großen Zimmer, in das gerade einmal ein Bett, ein Schrank und ein Schreibtisch hineinpassten, richteten sie das Büro der Kommunisten ein. Deng half in den folgenden Monaten beim Aufbau des Parteibüros mit. In dieser Zeit überzeugte Zhou den jungen Deng, der europäischen Sektion der chinesischen Kommunistischen Jugendliga beizutreten, die kurz zuvor als Ableger der Kommunistischen Partei gegründet worden war.13
Deng wurde unter anderem Mitherausgeber des von Zhou gegründeten Publikationsorgans »Rotes Licht«. Für dieses Heft verfasste Deng seine ersten Artikel. In den meisten aus dieser Zeit erhaltenen Artikeln wetterte Deng vor allem gegen die chinesische Jugendpartei, eine Organisation in Frankreich, die mit der Kommunistischen Jugendliga konkurrierte. Dengs Texte waren kämpferisch und sehr polemisch geschrieben.14 Bereits in diesen Texten vertrat er die Meinung, dass China eine autoritäre Führung brauche, um im Kampf gegen die imperialistischen Mächte bestehen zu können.15 Diese Überzeugung sollte sich bei ihm in den folgenden Jahrzehnten verfestigen.
Von der »Diktatur des Proletariats«, einem bekanntermaßen wichtigen Baustein des kommunistischen Gedankengebäudes, schrieb er hingegen nicht. Aber die Texte zeigen, dass Deng von Beginn seiner politischen Laufbahn an davon überzeugt war, dass nur eine politische Elite das neue China führen könne. Und davon war er bis zu seinem Lebensende überzeugt.
Zugleich weisen die Texte darauf hin, dass sich Deng unter den Genossen in Paris durch besonders radikale Positionen profilieren wollte – was ihm auch gelang und was in der Parteizentrale in Shanghai Aufsehen erregte und ihm schnell Ansehen einbrachte. Deng wurde daraufhin für die Propaganda eingesetzt, er eröffnete ein Parteibüro in Lyon und war Drahtzieher einer Reihe von Protesten und Demonstrationen in dieser Zeit.
Ohne sich genau mit den damals sich schon abzeichnenden parteiinternen Richtungskämpfen auszukennen, schlug sich Deng früh auf die Seite der Genossen, die für eine enge Zusammenarbeit mit Moskau und der neu gegründeten Sowjetunion warben. In dieser kurzen Zeit kam er nicht nur in engen Kontakt zu Zhou, sondern auch zu weiteren später einmal einflussreichen Führern der KP, die vor allem in der Gründungszeit der Volksrepublik China ab 1949 wichtige Funktionen übernehmen würden. Dazu gehörten Li Fuchun (Wirtschaftsplanung), Chen Yi (Außenpolitik), Li Weihan (Propaganda) und Nie Rongzhen (Militär). So manches Mal in seiner politischen Laufbahn konnte Deng auf ihre Unterstützung zurückgreifen.
Bereits ein Jahr später, im Juli 1923, wurde Deng in das Zentralkomitee der Kommunistischen Jugendliga gewählt. Ein weiteres Jahr darauf wurden alle Mitglieder der Jugendliga auch automatisch Mitglied der Kommunistischen Partei. Dengs Parteieintritt war damit vollzogen.
Ende 1925 beteiligte sich Deng an einem Überfall auf die chinesische diplomatische Gesandtschaft in Paris. Bei dieser Aktion zwangen sie einen chinesischen Minister, der sich zu der Zeit zu Besuch in Paris aufhielt, ein Protestschreiben zu unterzeichnen, das sich gegen die ausländischen Truppen in China wandte. Die Forderung war nur symbolischer Natur, dennoch sorgte es für großes Aufsehen in Frankreich und in China. Mit dem Überfall in Paris gerieten Deng und seine Genossen verstärkt ins Visier der französischen Sicherheitskräfte. Am 8. Januar erstürmte die Gendarmerie mehrere Wohnungen, in denen die chinesischen Kommunisten vermutet wurden, und führten eine Razzia durch. Deng entging nur knapp einer Verhaftung. Er hatte sich am Vortag über Berlin auf den Weg nach Moskau gemacht.
So wenig offizielle Details über Dengs fünfjährigen Aufenthalt in Frankreich bekannt sind – hier lernte Deng den Westen kennen, den Marxismus, die Arbeitswelt und den Aufbau einer Partei. Er begriff, wie China in der Außenwelt dastand.16 Vor allem aber entdeckte der junge Deng in Zhou und den anderen Genossen Gleichgesinnte, an denen er sich orientieren konnte. Er fühlte sich gut in die Gruppe aufgenommen.
Einige Biographen beschreiben Deng bei seiner Ankunft in Frankreich als einen patriotischen und unsicheren Jugendlichen, der sich um den Zustand seines Heimatlandes sorgte und bestrebt war, industrielle Fertigkeiten zu erlernen, um sein Land bei der Industrialisierung zu unterstützen. Als er Frankreich verließ, war er ein selbstbewusster und erfahrener Revolutionär.17 Als viel wichtiger als der Ort Frankreich stellte sich die Tatsache heraus, dass er es in so jungen Jahren überhaupt ins Ausland geschafft hatte und auf diese Gruppe um Zhou stieß. Ohne dieses Umfeld aus später einmal ranghohen Kommunistenführern hätte Deng es wahrscheinlich nie weit gebracht.
Am 12. März 1925 starb der Gründervater der Republik China, Sun Yat-Sen, mit 58 Jahren unerwartet an Leberkrebs. Sun hatte zuvor noch ganz offiziell Hilfe der Komintern angenommen und sich bereit erklärt, seine Nationalpartei, die Kuomintang, in eine leninistische Partei umzuorganisieren. Er wollte mit den Kommunisten eine vereinigte Front bilden, um von seiner Basis in Südchina aus mit Gewalt zunächst das Land zu vereinigen. Zu Beginn der 1920er Jahre war China noch weiter zersplittert. Die Zahl der Warlords erhöhte sich auf mehrere Hundert, die über ihre Territorien zum Teil wie Könige herrschten und sich gegenseitig bekriegten. Die Nationalregierung in Peking war praktisch machtlos. Erst nach einer Periode politischer Vormundschaft wollte Sun sein Land in eine Demokratie überführen.
Im Prinzip deckte sich diese Strategie mit den Vorstellungen der kommunistischen Genossen um Zhou und Deng in Frankreich. Und doch hatten sie sich zu diesem Zeitpunkt bereits – zwar nicht offiziell, aber doch intern – von Sun abgewandt. Sie hielten die Kuomintang ihrerseits für korrupt. Und der rechte Flügel um den von Sun angeheuerten General und Schwiegersohn Chiang Kai-Shek war ihnen nicht geheuer. Chiang hatte südlich der Stadt Guangzhou die Führung der neu gegründeten und einflussreichen Whampoa-Militärakademie übernommen. Die Trauer um Suns Tod hielt sich bei den Genossen im fernen Europa in Grenzen, und das Misstrauen gegenüber Chiang sollte sich als berechtigt erweisen.
Deng wollte noch nicht zurück nach China, sondern hoffte, dass er in Moskau das nachholen könnte, was in seiner Zeit in Frankreich nicht geklappt hatte: ein Studium. In der sowjetischen Hauptstadt angekommen, besuchte Deng in den ersten Wochen zunächst die Kommunistische Universität für die Arbeiter des Ostens, eine Institution, die wenige Jahre zuvor entstanden war, um speziell Arbeiter aus Mittel-, Zentral- und Ostasien innerhalb und außerhalb der Sowjetunion auszubilden. Hunderte von Kommunisten aus China schrieben sich in Laufe der 1920er Jahre ein, unter anderem auch der spätere Staatspräsident von Maos Gnaden, Liu Shaoqi.
Doch Deng fiel der Lernstoff auf dieser Universität schwer, und er wechselte zur eigens von den Sowjets in Moskau eingerichteten Sun-Yat-Sen-Universität. Diese erst wenige Wochen zuvor eingerichtete Hochschule, die sowohl von der Kuomintang als auch der KPdSU finanziert wurde, hatte explizit zum Ziel, Revolutionäre für China auszubilden, und war innerhalb der sowjetischen Führung höchst umstritten. Fünf Jahre später schloss die Einrichtung unter Stalin wieder ihre Pforten.
Der Lehrstoff war kaum zu bewältigen – vor allem für jemanden wie Deng, dem das akademische Studium nicht lag, wie er später selbst zugeben würde.18 Der Lehrplan umfasste sieben Fächer: Geschichte, Philosophie, Politische Ökonomie, Wirtschaftsgeographie, Leninismus und Militärstudien. Russisch war Pflicht, Deutsch, Englisch und Französisch standen zur Wahl. Auch wenn Deng sich nie als begnadeter Theoretiker und Denker einen Namen machte, lernte er in dieser Zeit, das ihm gebotene Lehrmaterial kritisch zu beurteilen und mit Vorsicht zu genießen.19 Die Dozenten bekannten sich zwar zur Kommunistischen Internationalen, erwiesen sich jedoch als ausgesprochen patriotische Russen. Für sie galt die Devise: Die sowjetischen Interessen kommen zuerst, die »Befreiung der anderen Völker« war nur Beiwerk. Dieser sowjetische Chauvinismus stieß Deng schon damals übel auf.
Zu Beginn von Dengs Studium zählte die Universität zweihundert bis dreihundert Studenten aus China, als Deng sie wenige Monate später wieder verließ, waren es doppelt so viele. Die Hälfte von ihnen bestand aus Kommunisten, Mitgliedern der Kommunistischen Jugendliga oder beidem.20 Die Übrigen waren Mitglieder der Kuomintang, viele von ihnen Nachkommen einflussreicher Beamter und Generäle der Nationalregierung. Unter Dengs Mitschülern befand sich auch der Sohn von Chiang Kai-Shek, Chiang Ching-Kuo, der später über Taiwan herrschen würde. Über das persönliche Verhältnis von Deng und Chiang junior ist nur wenig überliefert.
Deng blieb insgesamt elf Monate in Moskau. Eine seiner Mitschülerinnen war Feng Funeng, die Tochter des Warlords und Generals Feng Yuxiang, der zu der Zeit über weite Teile Nordchinas herrschte. Feng Yuxiang war Christ und der Ansicht, als Heerführer müsse er auch Vorbild für seine Untertanen sein, weshalb er in China populär war. Feng stand mit der sowjetischen Führung in unmittelbarem Kontakt und hatte sie bereits einmal um Geld, Waffen und militärische Beratung gebeten. Nachdem er 1926 einige Niederlagen gegen andere Warlords erlitten hatte, kam er erneut nach Moskau. Dabei lernte er Deng kennen und bat ihn und eine Reihe weiterer kommunistischer Studenten zur Rückkehr nach China. Was Deng genau dazu veranlasst hat, sich Feng anzuschließen, ist nicht genau bekannt. Ende 1926 verließ Deng Moskau und erreichte im Frühjahr 1927 die alte Kaiserstadt Xi’an in der nordchinesischen Provinz Shanxi, wo Feng sein Hauptquartier errichtet hatte.
Um das Reich zu einigen, hatte Sun Yat-Sen zu seinen Lebzeiten einen Feldzug gegen die vielen Warlords geplant. Die von ihm gegründete Whampoa-Militärakademie südlich von Guangzhou war Teil dieses Plans. Doch Sun starb, bevor er ihn umsetzen konnte. Dafür wollte sein General Chiang Kai-Shek diesen Plan in die Tat umsetzen. Im Sommer 1926 startete er einen ersten Feldzug gegen die Warlords – mit Erfolg. Innerhalb von nur einem halben Jahr gelang es Chiang, große Teile Südchinas über den Yangtse-Fluss bis hinauf zum Gelben Fluss unter seine Kontrolle zu bringen und gleich mehrere Elitetruppen der gegnerischen Einheiten zu zerschlagen. Diese Erfolge stärkten Chiangs Selbstbewusstsein, der autoritärer war, als sein Vorgänger Sun es jemals gewesen war, und auch keinen Hehl aus seinem Hass auf die eigentlich zu diesem Zeitpunkt noch verbündeten Kommunisten machte. Auch sonst wurden Stimmen innerhalb der Kuomintang laut, die ohnehin brüchige Einheitsfront mit den Kommunisten aufzukündigen. Allein Song Qingling, die Witwe von Sun Yat-Sen, die zugleich Schwägerin von Chiang war, ist es zu verdanken, dass das Bündnis noch einige Zeit hielt. Sie und der linke Flügel der Kuomintang wollten auch weiterhin auf die Unterstützung der Sowjetunion setzen. Chiang und der rechte Flügel hingegen weigerten sich, die Amerikaner und Briten als Übeltäter hinzustellen. Im Gegenteil: Chiang suchte ihre Unterstützung, und es gelang ihm, die Steuer- und Zollhoheit von ihnen zurückzuerlangen, die in der Qing-Dynastie an die ausländischen Kolonialherren verlorengegangen war. Die Zahl der ausländischen Konzessionen, also der Mini-Kolonien, reduzierte sich unter Chiang deutlich.
Nachdem im Mai 1925 die Briten zwei antiimperialistische Demonstrationen hatten blutig niederschlagen lassen, setzte im ganzen Land eine gewaltige Streik- und Boykottbewegung gegen die Ausländer ein. Die Kommunisten setzten sich an die Spitze dieses Protestes. Chiang stand zunehmend selbst am Pranger, was seine Aversion gegen die Kommunisten noch verschärfte. Zehn Monate später, am 20. März 1926, ergriff Chiang erstmals die Initiative, entmachtete in seiner Heimatprovinz Guangdong die Kommunisten und setzte den sowjetischen Berater ab. Damit war der Bruch des rechten Kuomintang-Lagers um Chiang mit Chinas Kommunisten eingeleitet. Als Deng im Frühjahr 1927 nach China zurückkehrte, war Chiangs Jagd auf die Kommunisten in vollem Gange.
Was die Aufgabe Dengs nach seiner Ankunft in der nordchinesischen Stadt Xi’an genau war, geht aus den vorhandenen Dokumenten nicht hervor. Er selbst behauptete später, dass er in der Nordwest-Armee für den linksgerichteten Warlord Feng Yuxiang als politischer Agitator gearbeitet hatte. Zudem soll Deng dafür zuständig gewesen sein, die Rückkehrer der Sun-Yat-Sen-Universität in Moskau in den Dienst der Kommunistischen Partei zu stellen.
Nur wenige Wochen nach Dengs Rückkehr fand am 12. April 1927 das sogenannte Shanghai-Massaker statt. Die in Shanghai stark vertretenen ausländischen Mächte forderten von Chiang, einen Generalstreik niederzuschlagen, der sich gegen sie richtete. Doch um es sich mit dem linken Flügel seiner Kuomintang nicht zu verwirken, wählte Chiang einen indirekten Weg. Der offiziell unter chinesischer Kontrolle stehende Teil von Shanghai wurde zu dieser Zeit ohnehin stark von sogenannten Triaden beherrscht, organisierten Kriminellen, die zum Teil eng mit den Ausländern bei den Konzessionen zusammenarbeiteten und unter anderem durch den Verkauf von Drogen sehr viel Geld machten. Die drei größten Triaden waren auch eng mit Chiang befreundet.
Chiang rückte im März 1927 mit seinen Truppen bis an die Shanghaier Stadtgrenzen vor und gestattete es Angehörigen der Triaden, sich aus seinen Beständen mit Gewehren, Schwertern und Pistolen zu bewaffnen. Die so ausgerüsteten Gangster strömten in die Gassen der Stadt und verübten ein Massaker an sämtlichen Kommunisten und ihnen nahestehenden Arbeiterorganisationen. Innerhalb weniger Stunden wurde praktisch die gesamte Zentrale der KP zerschlagen und ihre Parteibasis in der so wichtigen Hafenstadt umgebracht oder vertrieben. Zum Dank machte Chiang einen der Triadenführer zum Generalmajor der Kuomintang sowie zum stellvertretenden Gouverneur von Shanghai.
Das war ein herber Schlag für die Kommunistische Partei. Eine Reihe von einflussreichen Führern kam bei dem Blutbad ums Leben. Auch Zhou Enlai wurde festgenommen und konnte nur durch den Einfluss eines befreundeten Beamten fliehen. Die Straßenschlachten weiteten sich auf andere Großstädte aus – und provozierten wiederum Gegenattacken der Kommunisten. In der Stadt Wuhan erschossen die Kommunisten eine Gruppe von Arbeiterführern, die sich gegen die Kommunisten gestellt hatten, in Changsha richteten sie mehrere Geschäftsleute hin. Der Bürgerkrieg zwischen den Nationalisten und den Kommunisten erreichte einen neuen Höhepunkt. Der linke Flügel der Kuomintang war erbost und wollte in Guangzhou den Parteiausschluss von Chiang bewirken. Der zeigte sich jedoch unbeeindruckt und verlegte die Zentrale nach Nanjing, von wo aus er nun die Republik regieren wollte.