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Die spanische Ausgabe erschien 2013 unter dem Titel «Don de lenguas» bei Ediciones Siruela, S.A.

 

Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg, September 2014

Copyright © 2014 by Rowohlt Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg

«Don de lenguas» Copyright © 2013 by Rosa Ribas & Sabine Hofmann

Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt, jede Verwertung bedarf der Genehmigung des Verlages

Umschlaggestaltung any.way, Barbara Hanke/Cordula Schmidt

(Umschlagabbildung: Getty Images © Bert Hardy)

Schrift DejaVu Copyright © 2003 by Bitstream, Inc. All Rights Reserved.

Bitstream Vera is a trademark of Bitstream, Inc.

ISBN Printausgabe 978-3-463-40354-0 (1. Auflage 2014)

ISBN E-Book 978-3-644-31101-5

www.rowohlt.de

 

Hinweis: Alle angegebenen Seitenzahlen beziehen sich auf die Printausgabe.

ISBN 978-3-644-31101-5

Für dich, Celia, du bist unvergessen.

Da lag Mariona. Blond, üppig, hellhäutig und tot.

Wie eine Ratte im Käfig lief Abel Mendoza von einer Seite des ausladenden Schreibtisches auf die andere. Kleine Staubwolken stiegen in die Luft, wenn er einen der Papierstapel durchwühlte, die seit Monaten niemand mehr angerührt hatte. Nach einer Weile wendete er sich den Regalen voller medizinischer Bücher zu. Seine Hände schienen ein Eigenleben zu führen. Wie von selbst zogen sie Bücher heraus, griffen nach Bänden, die auf den Fußboden gefallen waren, rissen geschlossene Schubladen auf und schoben geöffnete wieder zu.

Endlich fand er, was er gesucht hatte. In diesem Moment machte er eine unbedachte Bewegung mit der linken Hand und stieß einen Schädel aus Kunststoff hinunter, dessen eine Hälfte mit Muskelsträngen bedeckt war und ein Auge hatte, die andere war nichts als blanker Knochen. Totenschädel grinsen immer. Selbst wenn sie zu Boden fallen, dabei ein Auge herausspringt und wie ein Tischtennisball auf eine Leiche zuhüpft.

Abel hob den Schädel auf und grinste zurück, trotz seiner Nervosität oder vielleicht gerade deswegen. Inzwischen hatte der Augapfel die Tote erreicht und schlug gegen den einen Schuh, den sie noch am Fuß hatte. Das dumpfe Plopp gab Abel Mendoza den Rest. Er stürzte aus dem Zimmer und flüchtete durch dieselbe Tür, die er einige Minuten zuvor mit einem Dietrich geöffnet hatte.

1

«Mariona Sobrerroca ist ermordet worden.»

Goyanes’ Stimme klang sachlich wie immer. Joaquín Grau nahm den schwarzen Telefonhörer in die andere Hand und massierte seine rechte Schläfe. Der Schmerz, der sich am Morgen dort eingenistet hatte, bohrte sich tiefer in seinen Kopf. Die Stimme am anderen Ende der Leitung jedoch sprach ungerührt weiter.

«Ihr Dienstmädchen hat sie heute früh gefunden, als sie von einem Wochenende bei Verwandten in Manresa zurückkam. Im Haus ist alles auf den Kopf gestellt worden, wahrscheinlich ein Einbruch.»

Grau angelte nach einem Wasserglas, das ihm die Sekretärin auf den Schreibtisch gestellt hatte, und riss mit den Zähnen ein Tütchen Alka-Seltzer auf. Er gab das weiße Pulver ins Wasser, rührte mit heftigen Bewegungen um und leerte das Glas in einem Zug. Dann unterbrach er seinen Gesprächspartner.

«Wer leitet die Untersuchung?»

«Ich habe sie Burguillos übertragen.»

«Nein. Burguillos kommt nicht in Frage.»

Grau hörte, wie Goyanes am anderen Ende der Leitung laut ausatmete. Unbotmäßig laut ausatmete. Grau beschloss, darüber hinwegzugehen.

«Ich möchte, dass Castro den Fall übernimmt.»

«Castro?»

«Selbstverständlich. Er ist der Beste, den ihr habt.»

Dagegen konnte Goyanes nichts sagen.

«In Ordnung.» Goyanes klang verdrossen. «Und ich will so schnell wie möglich Ergebnisse sehen. In einem Monat findet hier der Eucharistische Kongress statt. Bis dahin ist der Fall gelöst und vergessen. Habe ich mich klar ausgedrückt?»

«Gewiss.»

Nachdem er aufgelegt hatte, ging Grau in Gedanken noch einmal das Gespräch durch. Er hatte richtig entschieden, Castro war der geeignete Mann für die Untersuchung. Er war einer der fähigsten Inspektoren der Brigada de Investigación Criminal, der Kriminalpolizei, um nicht zu sagen der fähigste. Außerdem, und das war fast noch wichtiger, gehörte er nicht zu den engsten Vertrauten von Goyanes. Grau war sich nicht sicher, ob er sich auf Goyanes und seine Leute, zu denen auch Burguillos zählte, verlassen konnte.

Sein Stuhl in der Staatsanwaltschaft schien nicht zu wackeln, noch nicht. Aber seine Feinde lauerten sicher nur auf eine günstige Gelegenheit, um ihm zu schaden. Es waren viele, und täglich wurden es mehr. Er musste vorsichtig sein. Goyanes hatte sich zwar seinen Anweisungen gefügt, aber war er nicht distanzierter und weniger beflissen gewesen als sonst? Oder bildete er sich das nur ein? Er musste auf der Hut sein, wachsam und schnell. Der Löwe, dessen Pranke zuerst zuschlägt, gewinnt den Kampf. Grau straffte die Schultern.

Unerbittlich. Das war er, und so würde er handeln. Wie im Krieg, als er Richter an den militärischen Standgerichten war. Man war mit ihm und der großen Anzahl an Todesurteilen, die er zügig verhängt hatte, zufrieden gewesen. Als das Regime nach dem Krieg Stellen im Justizapparat mit vertrauenswürdigen Leuten besetzt hatte, war er als Staatsanwalt nach Barcelona berufen worden. Das große Werk, das sie im Krieg begonnen hatten, war längst nicht vollendet, es blieb noch viel zu tun. Also war er weiterhin unerbittlich.

Grau lehnte sich in seinem Stuhl zurück und sah auf den Poststapel auf seinem Schreibtisch. Niemals würde er seiner Sekretärin erlauben, seine Post durchzusehen. Auch Vertraulichkeiten hatte er nie geduldet. Über sie wusste er selbstverständlich alles Wichtige, aber sie wusste so gut wie nichts über ihn. Sie nicht und auch niemand sonst. Er hatte nie verstanden, wieso Menschen über sich selbst redeten und damit ohne Not ihre Flanke entblößten.

Ihm war immer noch unbehaglich, wenn er den täglichen Poststapel auf seinem Schreibtisch sah. Nach dem Straßenbahnboykott im vergangenen Frühjahr hatte er ein paar Wochen lang seine Briefe mit einem mulmigen Gefühl geöffnet. Der Boykott wegen der Erhöhung der Fahrpreise und der anschließende Generalstreik hatten viele die Stelle gekostet, der Zivilgouverneur von Barcelona hatte seinen Hut nehmen müssen, ebenso der Bürgermeister. Zwei Gewerkschaftsfunktionäre der Falange waren im Gefängnis gelandet, weil sie wenig Enthusiasmus gezeigt hatten, ihre Einheiten als Streikbrecher in die Straßenbahnen zu schicken. Andere Falangisten der alten Garde hatten ihre Posten verloren. Niemand konnte sich darauf verlassen, seine Stellung zu behalten.

Er griff wahllos einen der Briefe heraus, einen Umschlag aus Büttenpapier, den er mit einer präzisen Bewegung des Brieföffners aufschlitzte. Eine Einladung zu einem Empfang. Selbstverständlich würde er hingehen, selbst wenn es nur dazu diente, Gerede und Intrigen hinter seinem Rücken zu unterbinden. Ja, er war auf der Hut.

Und jetzt der Mord an der Sobrerroca. Mariona Sobrerroca. Er war ihr häufiger bei gesellschaftlichen Anlässen begegnet, auch ihrem vor zwei Jahren verstorbenen Mann, Dr. Jerónimo Garmendia. Wie schnell sich doch die Dinge im Leben veränderten! Nun stand ihr prächtiges Haus am Tibidabo leer. Ich werde langsam melancholisch, dachte er. Kopfschmerzen und Melancholie sind eine fatale Kombination. Ich sollte mich zusammenreißen. Einen kühlen Kopf bewahren und mich auf den Fall konzentrieren.

Marionas Tod bedeutete erst einmal Arbeit, eine polizeiliche Ermittlung. Dazu würden sie Nachforschungen in der Barceloneser Gesellschaft anstellen müssen. Das machte die Sache kompliziert. Bei jedem Fall stießen sie auf kleine schmutzige Geheimnisse. Im Grunde waren Polizei und Staatsanwaltschaft Kanalarbeiter, die in Unrat und Kot wateten. Diesen Großbürgern mit ihrem näselnden Katalanisch gefiel es nicht, dass man in ihren Kloaken herumstiefelte, und da sie meist gute Beziehungen zu einflussreichen Leuten hatten, musste man sie mit Samthandschuhen anfassen. Sie beschwerten sich nicht nur sofort, was ärgerlich genug war, sie wussten außerdem ganz genau, bei wem sie sich beschweren mussten.

Hoffentlich führte die Untersuchung zu Ergebnissen, die er vorzeigen und mit denen er sich vor aller Augen unerbittlich zeigen konnte. Joaquín Grau, der mit harter Hand für Frieden und Ordnung in dieser Stadt sorgte. Vielleicht würde er, wie bei anderen Gelegenheiten auch, das eine oder andere Detail unter den Teppich kehren müssen. Er war sich nicht sicher, ob dieser Fall ihm gebührend Möglichkeit zu öffentlichen Auftritten verschaffen würde, die ihn in ein schmeichelhaftes Licht rückten.

Er überlegte einen Moment. Dann nahm er das Telefon und wählte die Nummer von Goyanes. Er kam sofort auf den Punkt:

«Ich möchte, dass der Fall in der Presse Priorität hat.»

«Warum?»

«Weil es wichtig ist, aller Welt zu zeigen, wie in diesem Land das Verbrechen unerbittlich und mit modernsten Mitteln verfolgt wird.»

Ob Goyanes ihm diese Floskeln aus den offiziellen Reden tatsächlich abnahm, war Grau gleichgültig. Sie hatten den Vorteil, nicht laut bezweifelt werden zu dürfen.

«Was meinen Sie mit Priorität in der Presse?», wollte der Kommissar wissen.

«Wir werden einer Tageszeitung Exklusivinformationen geben. Ich habe mich für La Vanguardia entschieden.»

«La Vanguardia? Warum denn gerade die? Erinnern Sie sich noch daran, was sie aus dem Fall Broto gemacht haben?»

«Genau deshalb. Dieses Mal werden wir den Informationsfluss kontrollieren.»

Das Gespräch war noch schneller beendet als das erste.

Er legte den Kopf in den Nacken, schloss die Augen und hoffte, damit den Kopfschmerz zu lindern, der sich jetzt als dumpfes Pochen hinter den Ohren bemerkbar machte.

Bei näherem Hinsehen, dachte er, ließ sich in den Kloaken auch das eine oder andere finden. Die Ermittlungen würden vielleicht einige interessante Informationen zutage fördern – Informationen, die er aufbewahren und später einsetzen könnte, Informationen, mit denen er sich jemanden verpflichten konnte. Möglicherweise sogar Informationen, die eines seiner kleinen Probleme lösen könnten.

Endlich verspürte er ein Gefühl der Erleichterung.

2

Es war neun Uhr morgens, und Ana Martí starrte verschlafen auf ihre halbleere Kaffeetasse, als sie das Telefon im Treppenhaus klingeln hörte. Der Apparat hing in einer Nische unter dem Treppenaufgang in den ersten Stock, in einem Kasten, der mit einem Vorhängeschloss gesichert war. Den Schlüssel hatten lediglich Teresina Sauret, die Hausmeisterin, und die Serrahima aus dem ersten Stock, denen das Haus gehörte. Wenn das Telefon klingelte, nahm die Hausmeisterin das Gespräch an und holte den betreffenden Nachbarn an den Apparat. Allerdings nur, wenn sie Lust dazu hatte, und das war nicht immer der Fall. Entscheidenden Einfluss auf ihre Bereitschaft, die Treppen hinaufzusteigen, hatten Trinkgeld und knisternde Umschläge am Jahresende.

An diesem Tag war es wohl die Aussicht, Ana an die zwei ausstehenden Monatsmieten erinnern zu können, die sie geschwind hinaufgehen ließ. Kurz nachdem das Klingeln des Telefons durch das Treppenhaus geschallt war, stand die Hausmeisterin vor Anas Wohnung im vierten Stock und klopfte.

«Señorita Martí, Telefon.»

Ana öffnete die Tür. Teresina Sauret stand vor ihr. Obwohl ihr massiger, in einen alten Bademantel gezwängter Körper den Ausgang versperrte, drang kühle Luft in die Wohnung. Ana griff nach einer Strickjacke, für den Fall, dass das Gespräch länger dauern sollte, und steckte die Schlüssel ein. Die Hausmeisterin nahm sicher an, sie hätte das Geld für die Miete gesucht, und trat einen Schritt beiseite, um es in Empfang zu nehmen. Ana nutzte die Lücke und schlüpfte aus der Wohnung. Schnell zog sie die Tür zu, die wenige Zentimeter vor dem Kopf der Hausmeisterin ins Schloss fiel, sodass ihr Gesicht fast an den runden, bronzenen Türspion stieß. Die drei anderen Türspione auf der Etage glänzten im Licht einer nackten Glühbirne. In den Stockwerken mit den Mietwohnungen gab es keine Lampen, nur im Hauseingang und in der Beletage hingen welche, vermutlich, um einen guten Eindruck auf die Besucher der Serrahima zu machen. Was für einen Eindruck die Mieter hatten, war den Hausbesitzern gleichgültig.

Die Hausmeisterin zischte etwas. Sie war vorsichtig genug, es so leise zu sagen, dass niemand im Haus den Wortlaut verstehen konnte; aber der giftige Ton reichte vollkommen, damit Ana, die säumige Schuldnerin, die Botschaft verstand.

Ana lief die Treppen hinunter und nahm in der Nische den Telefonhörer aus Bakelit in die Hand, den die Hausmeisterin auf dem Kasten abgelegt hatte.

«Ja, bitte?»

«Ana?»

Die Stimme von Mateo Sanvisens, dem Chefredakteur der Vanguardia.

«Sagt dir der Name Mariona Sobrerroca etwas?»

Was für eine Frage! Seit zwei Jahren schrieb Ana Artikel für die Gesellschaftsnachrichten, und natürlich war ihr Mariona Sobrerroca ein Begriff. Als Witwe eines stadtbekannten Arztes und Spross einer alten katalanischen Familie gehörte sie zur Stammbesetzung eines jeden gesellschaftlichen Ereignisses in Barcelona.

«Selbstverständlich kenne ich sie», antwortete Ana.

Teresina Sauret hatte sich von Anas Tür gelöst und stieg wieder die Treppen hinunter. Jetzt verringerte sie ihr Tempo, um möglichst viel von dem Telefongespräch aufzuschnappen. Nervenaufreibend langsam schlurfte sie an der Nische vorbei.

«Sag lieber, du kanntest sie.»

«Wieso?»

«Sie ist tot.»

«Und ihr braucht bis morgen den Nachruf.»

Der Text entstand schon vor ihrem inneren Auge. Von uns gegangen ist Mariona Sobrerroca i Salvat, Witwe von Dr. Garmendia, Wohltäterin und Förderin … Sanvisens unterbrach brüsk das Klappern der Schreibmaschine in ihrem Kopf.

«Ana, was ist los mit dir? Ist dir bei deinen zahlreichen Opernbesuchen der Verstand abhandengekommen? Meinst du, ich würde dich wegen eines Nachrufs anrufen?»

Sie hatte oft genug als Neger für Sanvisens’ Abteilung gearbeitet, um zu wissen, wann man seine Fragen besser überhörte. Sie nutzte die kurze Stille, um sich mit einem Nicken von der Hausmeisterin zu verabschieden, die endlich am untersten Treppenabsatz angelangt war. Teresina Sauret verschwand in ihrer Wohnung, und das schlurfende Geräusch ihrer Hausschuhe brach wie erwartet direkt hinter der Wohnungstür ab.

«Sie ist umgebracht worden.»

Bei Anas überraschtem Ausruf musste die Hausmeisterin zusammengezuckt sein, denn Ana hörte, wie etwas mit einem dumpfen Knall gegen die Wohnungstür schlug. Hoffentlich hat sie sich ordentlich den Kopf gestoßen, dachte Ana.

«Ich hätte gerne, dass du die Berichterstattung übernimmst, ja?»

Zahlreiche Fragen stürmten auf sie ein. Warum ich? Warum nicht Carlos Belda? Was sagt die Polizei? Was soll ich machen? Warum ich? Sie stellte keine davon, sondern sagte nur ein Wort: «Ja.»

«Dann komm jetzt in die Redaktion.»

Ana legte auf. Sie rannte zu ihrer Wohnung hinauf, schnappte ihre Tasche und stürmte die Treppen wieder hinunter, vorbei an Teresina Sauret, die gerade den Kasten mit dem Telefon abschloss.

«Was für ein Gerenne! Manche Leute haben einfach keine Manieren!»

Ana hörte es gerade noch, als sie das Haus verließ. Sie strebte eilig in Richtung der Ronda, des Rings, der das alte Stadtzentrum von Barcelona umgab. Auf eine Hauswand hatte jemand ein Bild von José Antonio geschmiert und darunter, wie bei einem Appell, anwesend! geschrieben. Niemand hatte gewagt, gegen diesen Vandalismus vorzugehen, und so stand die Kritzelei dort schon seit Wochen.

Da gerade keine Straßenbahn in Richtung Plaza de la Universidad kam, machte sie sich zu Fuß auf den Weg. In der Zeitungsredaktion würde Sanvisens hoffentlich ihre Fragen beantworten. Vielleicht sogar die Frage, warum er sie und nicht Carlos Belda angerufen hatte, der üblicherweise für die Polizeiberichterstattung zuständig war.

* * *

«Carlos ist krank. Er kommt in einer, vielleicht auch erst in zwei Wochen wieder», erklärte ihr Sanvisens nach der Begrüßung. Als sie in der Redaktion angekommen war, hatte er auf seine Uhr geschaut, als ob er die Zeit zwischen dem Anruf und ihrer Ankunft stoppen wollte. Aus Höflichkeit fragte sie: «Was hat er denn?»

«Das Übliche. Er hat deswegen Penizillin bekommen und es nicht vertragen.»

Das Übliche war bei Belda ein Tripper, den er sich bei den Prostituierten im Barrio Chino holte.

«Vielleicht lag es am Penizillin.»

Das war nicht ungewöhnlich. Es kam immer wieder vor, dass Menschen an gepanschten Medikamenten starben oder schwer erkrankten. Das Versetzen von Penizillin wurde mit dem Tode bestraft. Auch das Panschen von Milch oder Brotteig stand unter Strafe. Trotzdem wurde all das praktiziert.

«Kann sein», entgegnete der Chefredakteur.

Mateo Sanvisens war kein großer Freund von Plaudereien. Er war wortkarg und trocken – harsch, sagten manche. Genauso war auch sein hagerer Körper. Er hatte die zähe Konstitution eines erfahrenen Bergsteigers, aus seinen Händen ragten spitz und kantig wie Gebirgsgrate die Knöchel. In seiner Jugend war es ihm gelungen, einige der hohen Gipfel in den Alpen zu besteigen, und die heimatlichen Pyrenäen kannte er besser als jeder Schmuggler. In seinem Büro hingen einige Fotos der höchsten Berge der Welt, auch eins vom Mount Everest.

«Der höchste Berg der Welt, wenn auch wahrscheinlich nicht der schwierigste. Man merkt so etwas oft erst beim Aufstieg. Bald ist er fällig», pflegte er zu sagen.

Daneben hing eine eingerahmte Seite der Vanguardia mit dem Bericht von der Erstbesteigung des Annapurna durch eine französische Expedition vor zwei Jahren, 1950.

Sobald Ana vor seinem Schreibtisch saß, fing Sanvisens an, sie ins Bild zu setzen.

«Ihr Dienstmädchen hat Mariona Sobrerroca gestern tot in ihrem Haus gefunden.»

«Wie ist sie getötet worden?»

«Sie wurde geschlagen und dann stranguliert.»

«Womit?»

Ana schämte sich für ihre dünne Stimme, aber die Aufregung hatte sie heiser gemacht.

«Mit den Händen.»

Sanvisens ahmte die Bewegung nach.

Das Wo und das Wie waren also geklärt, zum Teil auch das Wann.

«Werden wir tatsächlich über den Fall berichten?», fragte Ana weiter.

Berichte über Mordfälle waren bei der Zensur nicht sehr beliebt. Spanien war ein Land, in dem, so hieß es, dank der unermüdlichen Sorge des Regimes Friede und Ordnung herrschten. Verbrechen passten nicht in dieses idyllische Bild. Dementsprechend gab es klare Anweisungen für die Berichterstattung, aber, wie immer, auch Ausnahmen. Es sah so aus, als wäre dieser Fall eine solche Ausnahme.

«Man kann die Sache nicht unter den Teppich kehren. Mariona Sobrerroca ist zu bekannt, und die Familie, vor allem ihr Bruder, hat beste Verbindungen, hier und in Madrid. Deshalb halten es die Behörden für besser, wenn über die Ermittlungen berichtet wird und wir zeigen, mit welcher Tatkraft unsere tüchtige Polizei die Untersuchung durchführt.»

Die Anführungsstriche in Sanvisens’ letztem Satz waren nicht zu überhören.

«Und wenn herauskommt, dass jemand aus ihrer Familie oder ihrem Freundeskreis sie umgebracht hat, jemand aus der besseren Gesellschaft?», fragte sie.

In Anas Vorstellung erschienen, wie die Blätter eines Fotoalbums, verschiedene Bilder aus dem Gesellschaftsteil der Zeitung: Mariona Sobrerroca in der Oper, im Abendkleid und neben den Frauen hochrangiger Politiker; Mariona von Kindern umringt auf einer Veranstaltung des Sozialen Hilfswerks, Mariona bei einer Versammlung der Sección Femenina, der franquistischen Frauenorganisation. Mariona beim Hochamt, auf Empfängen, auf Bällen.

«Ein Paradebeispiel dafür, dass wir vor dem Gesetz alle gleich sind.» Die Ironie war nicht aus der Stimme des Chefredakteurs gewichen. «Aber danach sieht es nicht aus, wahrscheinlich war es ein Raubmord. Wie auch immer, wir werden darüber berichten. Exklusiv.»

Mateo Sanvisens machte eine Pause und blickte suchend auf seinem Schreibtisch umher.

«Die Ermittlungen werden von Inspektor Isidro Castro geleitet, von der Brigada de Investigación Criminal.»

Isidro Castro. Obwohl sie ihn nicht persönlich kannte, schrieb sie nicht zum ersten Mal über ihn. Aber es war das erste Mal, dass sie es unter ihrem eigenen Namen tun konnte.

Castro hatte in den letzten Jahren einige bedeutende Fälle gelöst. Sie erinnerte sich besonders an einen, den Mord an einer Krankenschwester aus dem Hospital Sant Pau. Damals hatte sie die Artikel geschrieben, die schließlich unter Carlos Beldas Namen in der Zeitung erschienen waren.

Castro hatte die Täter einen nach dem anderen gefasst. Der erste verriet einen Komplizen, der wiederum beschuldigte einen dritten. Eine kurze Kette von Denunziationen. Aber selbst wenn sie aus zehn Gliedern bestanden hätte, Castro hätte sie alle miteinander verbunden. Die Arbeitsweise der Polizei war ebenso brutal wie wirkungsvoll, und der Inspektor hatte sich mit den Jahren den Ruf erworben, der Beste zu sein. Bald würde sie ihn persönlich kennenlernen. Wie mochte er aussehen? Wie war derjenige wohl in Wirklichkeit, den sie in ihren Berichten als «verantwortlich für die großartige Ermittlungsarbeit der Brigada de Investigación Criminal» tituliert hatte? Ohne Phrasen wie diese konnte man nicht über Verbrechen schreiben. Verbrechen mussten aufgeklärt, die Ordnung, der natürliche Zustand des Landes, musste wiederhergestellt werden. Ihr Artikel war gut gewesen. Auch wenn jemand anders die Lorbeeren erntete, musste man seine Arbeit gut machen. Vielleicht hatte Sanvisens, obwohl er nichts gesagt hatte, ihre Berichterstattung geschätzt und ihr deshalb den Fall übertragen?

Sanvisens drehte nun Papiere, Zeitungen und Hefte auf seinem Schreibtisch um. Er suchte offenbar etwas für sie.

Ana hatte ihm viel zu verdanken. Allerdings war sie sich über die Gründe seiner Unterstützung nicht im Klaren. Vor dem Krieg waren Sanvisens und ihr Vater Freunde gewesen, dann aber brachten sie ihre unterschiedlichen politischen Standpunkte auseinander. Ihr Vater kam ins Gefängnis und durfte nach seiner Entlassung nicht mehr als Journalist arbeiten. Sanvisens wurde Chefredakteur. Soweit Ana wusste, hatten sie sich nie wieder gesehen. Ihr Vater sprach nie über Sanvisens, und wenn Ana ihn erwähnte, wurde er wütend. Sie selbst versuchte, nicht daran zu denken, dass ihre Arbeit bei der Zeitung vielleicht für Sanvisens eine Art Wiedergutmachung war, denn er saß da, wo eigentlich ihr Vater sitzen sollte. Als Sanvisens ihr das erste Mal angeboten hatte, für die Zeitung zu schreiben, hatte sie ihren Vater quasi um Erlaubnis gebeten. Mit dem Satz «wir sind eine Familie von Journalisten» hatte er zugestimmt. Der Name Mateo Sanvisens blieb jedoch weiterhin tabu.

Und jetzt konnte sie endlich ernsthaft arbeiten, sie durfte über einen Mordfall berichten. Die Frage «Warum ich?» stand ihr offenbar ins Gesicht geschrieben, denn Sanvisens bemerkte:

«Das ist doch das, was du immer wolltest, oder? Jetzt hast du die Gelegenheit.»

Der Traum jeder Zweitbesetzung im Theater oder in der Oper ist eine plötzliche Heiserkeit des Hauptdarstellers – der Moment, um auf der Bühne zu brillieren; die Rolle ist längst auswendig gelernt, so oft hat man sie gehört. Jetzt tritt man ins Rampenlicht und glänzt.

Ana fiel eine letzte Frage ein:

«Ich kann den Artikel mit meinem Namen unterschreiben, oder?»

Sanvisens schien auch mit dieser Frage gerechnet zu haben.

«Was du schreibst, erscheint unter deinem Namen.»

Er hatte die Notiz gefunden und blickte das Zettelchen zerstreut an.

«Mach dich auf den Weg. Du musst um elf im Polizeipräsidium sein. Nimm deinen Personalausweis mit. Olga stellt dir eine Akkreditierung aus.»

Ana wurde schlagartig klar, wohin sie gehen sollte.

«In die Vía Layetana?»

«Ja, das habe ich doch schon gesagt. Gibt es ein Problem?»

«Nein. Ich wollte nur sichergehen.»

Auf keinen Fall wollte sie zugeben, dass ihr die bloße Erwähnung des Gebäudes Angst machte, wie vielen anderen auch. Sanvisens sah sie erstaunt an. Ana wandte den Blick ab, er sollte ihr Unbehagen nicht bemerken, vielleicht würde er Zweifel bekommen, ob sie die richtige Person für diese Arbeit war. Sie musste auf die Bühne treten und glänzen, auch wenn die Szene an einem der bedrohlichsten Orte der Stadt spielte. Ritorna vincitor tönte Aidas Arie in ihrem Kopf.

«Um elf, in der Vía Layetana», wiederholte sie, als ob sie Ort und Zeit im Geist notierte.

«Inspektor Isidro Castro erwartet dich», fügte Sanvisens hinzu.

Ana wollte sich bei Sanvisens bedanken, aber er winkte ab.

«Tu mir den Gefallen und sag beim Rausgehen dem Büroboten, dass er mir in der Apotheke etwas Magnesium besorgt.»

Zur Erklärung legte er kurz die flache Hand auf den Magen, dann drehte er sich um und fing an, auf seine Schreibmaschine einzuhämmern. Daher konnte sie ihn nicht mehr fragen, ob Castro wusste, dass eine Frau die Berichterstattung übernehmen würde.

Eine Frau, die, nachdem sie dem Boten den Auftrag übermittelt hatte, unwillkürlich laut vor sich hinsagte: «Und dieses Mal hat die Tote einen Namen.»

Nicht wie bei dem makaberen Scherz, den sich Carlos Belda in ihren ersten Wochen bei der Zeitung erlaubt hatte.

Zuerst hatte sie die Ratte gesehen. Eine tote aufgedunsene Ratte, die auf einer schmutzigen Treppenstufe lag. Ihr rosiger Schwanz hing auf die Stufe darunter. Niemand hatte sich die Mühe gemacht, sie wegzuschaffen, weder die Polizei noch die Angestellten des Bestattungsinstituts, auch keiner der Neugierigen, die heraufgekommen waren, um einen Blick auf das Geschehen zu erhaschen. Irgendwann würde jemand darauftreten.

Die Frau, über deren Tod Ana hatte berichten sollen, lag im ersten Stock eines verlassenen Gebäudes an der Arco del Teatro, einer Straße, die vom unteren Teil der Avenida del Paralelo abzweigte und in den elendsten Teil des Barrio Chino führte. Einige Kinder hatten den Körper dort gefunden, in eine alte Decke gewickelt.

Ana sah die Leiche nicht, aber das war auch nicht notwendig. Sie hatte das Loch gesehen, in dem die Frau Schutz vor der Kälte gesucht hatte, eine Holzkiste, die früher einmal Teil eines Kleiderschranks gewesen war. Als ob sie sich schon zu Lebzeiten selbst begraben hätte.

«War sie alt?», hatte Ana einen Polizisten gefragt, der das Gebäude bewachte.

«Vierzig ungefähr. Aber diese Zeit hat sie in der Hölle verbracht, so wie sie aussah.»

Belda hatte sie hereingelegt. Über die Leichen der Obdachlosen, die die Polizei Woche für Woche in verlassenen Häusern oder Armenunterkünften fand, wurde nicht berichtet. Solche Nachrichten kamen nicht durch die Zensur. Das hatte Belda genau gewusst. So war alles umsonst gewesen: der Geruch nach Urin und Fäulnis auf der Straße und im Haus, die ausgemergelten oder aufgedunsenen Gesichter, die verängstigten Hunde, die verdreckten Kinder, die mit Steinen nach den Hunden warfen.

Es hätte sie misstrauisch machen sollen, dass ausgerechnet Belda ihr vorgeschlagen hatte, den Ort des Geschehens anzuschauen. Schlimmer als die Enttäuschung, nichts über den Tod der Frau schreiben zu dürfen, war die Demütigung, derart leichtgläubig auf Belda hereingefallen zu sein.

In der Zeitungsredaktion hatte Belda auf sie gewartet, wie ein Kind, das jemandem einen Streich gespielt hat und nun kaum seine Schadenfreude unterdrücken kann. In der gesamten Redaktion der Vanguardia hatte sich niemand so dagegen gewehrt, dass sie dort arbeitete, wie Belda. An jenem Tag hatte sie an seinem Schreibtisch vorbeigehen müssen. Er wartete ab, bis sie nah genug herangekommen war, dann blickte er sie an, nahm die Zigarette aus dem Mund und raunte ihr mit gespielter Enttäuschung im Bühnenflüsterton zu: «Du Ärmste – hast du die Leiche verpasst? Aber vielleicht kannst du ja über die neuste Mode bei den Nutten im Barrio Chino schreiben.»

Er hatte laut gelacht und sich Beifall heischend nach seinen Kollegen umgesehen, die das Gespräch mehr oder weniger freiwillig verfolgten. Einige Lacher konnte er für sich verbuchen. Sie wurden zu schallendem Gelächter, als Ana antwortete:

«Wieso? Über die Unterwäsche, die sie tragen, bist du doch weitaus besser informiert.»

Sie drehte sich um und ließ ihn mit offenem Mund stehen. Erst als Mateo Sanvisens erschien, brachen die Beschimpfungen ab, mit denen Belda sie überhäufte.

Ihr erster Fall war somit ein Tod ohne Leiche gewesen, der nur einen Aktenvermerk in irgendeiner Behörde hinterließ. Abgelegt und vergessen wie die übrigen Toten, die in derselben Woche gefunden worden waren. Eine der vielen namenlosen Toten. Jetzt aber hatte die Tote einen Namen. Und was für einen.

3

«Ich habe das silberne Tafeldingsbums verkaufen können. Seien Sie froh, dass Sie es los sind. So ein Ding braucht sowieso kein Mensch.»

Encarni stellte den Einkaufskorb auf den Tisch. Sie war zufrieden. Der Schwarzmarkthändler hatte gut gezahlt, und sie hatte einkaufen können. Ihr Korb war voll. Sicherlich würde die Señora erlauben, dass sie ihrer Mutter etwas davon mitbrachte.

«Gut.»

Die Señora sah aus, als sei sie nicht recht bei der Sache. Sie saß am Küchentisch, vor ihr stand eine Tasse Kaffee, zwischen ihren Fingern steckte eine Zigarettenspitze. Wahrscheinlich waren Kaffee und Zigarillo ihr Frühstück, obwohl es schon 12 Uhr war.

Encarni fing an auszupacken. Sie bemühte sich, möglichst laut zu sein. Das Zeitungspapier raschelte, zwei Glasflaschen schlugen gegeneinander, als sie den Korb absetzte. Sie mochte es, wenn die Dinge, die sie bewegte, Lärm machten. Wenn die Schubladen quietschten, wenn sie sie herauszog, wenn das Besteck klirrte, wenn sie es hineinwarf, und die Deckel der Töpfe aneinanderstießen. Sie bewegte etwas, und man konnte es hören. Außerdem war der Krach praktisch, wenn sie die Aufmerksamkeit der Señora wecken wollte.

Die Señora drehte den Kopf zu ihr hin, ihr Blick kam aus der Ferne zurück und richtete sich auf Encarnis Gesicht.

«Was hat Ruiz denn gezahlt?»

«Ich habe 90 Peseten dafür bekommen.»

«Gut.» Dann lächelte die Señora. «Das kommt mir viel vor.»

Encarni grinste. Sie war stolz auf ihr Verhandlungsgeschick, aber sie fand, dass ein echter Profi Komplimente kommentarlos einstreichen sollte. Also wechselte sie das Thema.

«Drüben am Tibidabo haben sie eine Tote gefunden.»

Hörte Señora Beatriz ihr noch zu? Schwer zu sagen. Falls sie wieder an ihre alten Papiere und die gelben Karten auf ihrem Schreibtisch dachte, lohnte es sich nicht, ihr irgendetwas zu erzählen. Genauso gut konnte man mit einer Wand oder einem Kleiderständer reden. Aber die Señora hob den Kopf, offensichtlich wollte sie mehr hören. Encarni fuhr fort.

«Eine reiche Witwe. Es muss fürchterlich gewesen sein. Der Geflügelhändler hat gesagt: das reinste Schlachthaus. Alles voller Blut.»

Sie drehte sich um, um die Butter in den alten Kühlschrank zu legen. Sie wickelte sie aus dem Papier, roch daran, um sicher zu sein, dass sie nicht ranzig war, und ließ sie in die Butterdose gleiten.

«Ihr Mädchen hat sie gefunden. Die Ärmste. Sie hatte frei, kam zurück, und da lag diese Witwe. Mausetot. Wie gut, dass mir das nicht passiert ist.»

«Wirklich ein richtiges Glück. Und erst für mich.»

Die Señora klang belustigt. Sie hatte immer noch ihren Morgenmantel an. Die blonden Haare hatte sie unter einen Turban gesteckt, eine feuchte Strähne schaute an einer Seite hervor. Wahrscheinlich hatte sie wieder die ganze Nacht über ihren Büchern gesessen.

Encarni lachte.

«Tut mir leid, Frau Professor. Aber stellen Sie sich vor, im Fischgeschäft von Fermín haben sie gesagt, dass dem armen Mädchen fast das Herz stehen geblieben ist.»

Encarni machte eine Pause, damit der nächste Satz besser wirken konnte.

«Aber das Schlimmste ist die Sache mit dem Auge.»

Die Señora beugte sich vor und schnippte etwas Asche von ihrem Ärmel. Encarni seufzte. Sie würde wieder ein Loch hineinbrennen. Das schien der Señora nicht viel auszumachen, obwohl der Morgenmantel sicher viel Geld gekostet hatte. Vor langer Zeit viel Geld gekostet hatte. Wahrscheinlich hatte sie ihn vor dem Krieg gekauft, solche Modelle sah man heute gar nicht mehr. Wenn sie wollte, konnte sie sehr elegant aussehen. Sie machte sich dann mit irgendwelchen Sachen aus den riesigen Kleiderschränken zurecht. In einem hing sogar eine Soutane.

«Von meinem Onkel Lázaro», hatte die Señora gesagt, als sie sie danach gefragt hatte.

«Und wieso hängt sie in dem Schrank?»

«Keine Ahnung.»

«Für eine Soutane von der Qualität hätte der Priester aus meinem Dorf seine Seele verkauft!»

«Encarni!» – Señora Beatriz hatte so getan, als sei sie entsetzt gewesen. «Wenn du möchtest, können wir sie ihm schicken.»

«Das kostet Unmengen an Porto. Lassen Sie es.»

Sie war froh, dass Beatriz das Thema fallen ließ, denn sie wurde immer noch rot, wenn sie daran dachte, wie der Pfarrer sie in einer Predigt als läufige Hündin bezeichnet und von der Kanzel mit dem Finger auf sie gezeigt hatte, weil er gesehen hatte, wie sie ihren Freund geküsst hatte. Wenn es keine Soutane und der Stoff nicht so gut gewesen wäre, hätte sie sie am liebsten zerschnitten und Putzlappen daraus gemacht.

«Sie haben der Toten ein Auge herausgerissen. Es kullerte auf dem Boden herum.»

Encarni griff nach einer Orange, die über den Küchentisch gerollt war, und legte sie in einen Korb.

«Es kullerte herum?»

«Das erzählt zumindest die vom Obststand. Dabei hat sie mir übrigens einen faulen Apfel in die Tüte getan.»

Encarni holte die Äpfel hervor und reihte sie vor Beatriz auf. Der letzte machte Anstalten, auf Beatriz zuzurollen, aber Encarnis Hand hielt ihn auf und setzte ihn mit einer energischen Bewegung neben die Kaffeetasse.

«Sehen Sie, alle vier makellos. ‹Zeig sie mir noch mal›, hab ich der Obstfrau gesagt. ‹Beim letzten Mal war ein fauler dabei.› ‹Ach, um Gottes willen›, hat sie gesagt, ‹da sind mir doch zwei schlechte hineingerutscht. Diese Mordgeschichte macht mich ganz fertig.›»

Encarni ahmte das katalanisch klingende Spanisch der Obsthändlerin nach.

«Von wegen! Sie erzählt ihre Geschichten nur, damit die Kunden nicht hingucken und sie ihre faulen Äpfel und verschimmelten Orangen verkaufen kann.»

«Könntest du es noch einmal sagen?»

«Was?»

«Das mit den verschimmelten Orangen.»

«Bitte, Señora. Fangen Sie bitte nicht wieder damit an. Nicht schon wieder.»

Zugegeben, sie verdankte ihrem Dialekt mit den andalusischen Zischlauten die Stelle bei der Señora.

Seit zwei Jahren arbeitete sie bei ihr, seit dem Nachmittag, an dem sie müde und erschöpft auf einer der Bänke auf dem Paseo de Gracia gesessen hatte.

Sie hatte Stunden damit verbracht, von Haus zu Haus zu gehen und ein Zimmer zu suchen. Sie war so müde, dass sie die Frau, die links neben ihr saß, nicht bemerkte. Bis diese ein Päckchen Streichhölzer aus ihrer Tasche zog und ein Zigarillo in eine lange schwarze Zigarettenspitze steckte. Eine Frau, die auf der Straße rauchte. Aber sie war keine Prostituierte, sie sah elegant aus, die Kleidung ein wenig altmodisch. Ihr Alter schätzte Encarni auf über vierzig, aber es waren die vierzig Jahre der Reichen, die weniger alt machen als die vierzig Jahre der Armen. Sie hatte ein Buch auf dem Schoß. Nachdem sie ihr Zigarillo angezündet hatte, hielt sie das Buch mit der freien Hand und las weiter. Eine Frau, die rauchte und las. Encarni wurde neugierig.

«Ist es gut?»

Die Frau drehte sich überrascht um.

«Verzeihung?»

«Nein, nichts. Ich habe gefragt, ob das Buch gut ist, das Sie da lesen.»

«Sehr gut. Es ist die Einführung in die französischen Dialekte von Dauzat.»

«Aha. Das klingt gut», sagte sie, verblüfft von der Unverständlichkeit des Titels.

Sie erwartete, dass die Frau sich wieder ihrer Lektüre zuwenden würde, aber das tat sie nicht. Stattdessen fragte sie:

«Sie kommen aus Andalusien, oder?»

«Ja.»

«Aus der Provinz Granada, wenn ich mich nicht irre.»

«Richtig. Aus einem Dorf, das …»

«Das habe ich mir gedacht. Aus der Stadt Granada oder dem Umland, stimmt’s?»

«Aus einem Dorf, das nahe bei der Stadt liegt. El Padul … Woher wissen Sie das?»

«Wegen der s. Genauer gesagt, wegen der s, die Sie nicht aussprechen.»

Die Frau erklärte ihr, dass ihre Art und Weise, bestimmte Laute auszusprechen, typisch für Granada war. Sie sprach mit einer solchen Begeisterung, dass Encarni dachte, sie sei nicht ganz normal. Trotzdem beantwortete sie bereitwillig die nächste Frage:

«Leben Sie schon lange in Barcelona?»

«Ein paar Jahre. Wir wohnen am Montjuïc.»

Sie wollte ihr nicht erzählen, dass sie dort in einer Barackensiedlung wohnte, aber ihr fiel nun ein, warum sie an diesem Tag unterwegs war – um ein für alle Mal von dort wegzukommen.

«Sagen Sie, kennen Sie nicht zufällig jemanden, der ein Dienstmädchen sucht?»

Die Frau musterte sie von oben bis unten. Encarni ertrug es, aber sie hob stolz das Kinn. Sie war sauber angezogen, und wenn die Kleidung hier und da geflickt war, so war sie wenigstens ordentlich geflickt.

«Im Grunde könnte ich jemanden gebrauchen, denn ich habe viel Arbeit. Aber ich kann nicht viel zahlen.»

«Unterkunft, Essen und was Sie mir geben können. Das wäre in Ordnung.»

«Wann könnten Sie anfangen?»

«Morgen früh.»

Die Adresse, die ihr die Frau gab, war eine gute Adresse: die Rambla de Cataluña. Encarni freute sich zu hören, dass es im Haus keinen Ehemann gab, aber es tat ihr leid, dass es auch keine Kinder gab.

Am nächsten Tag erschien sie im Haus der Señora Beatriz Noguer und erfuhr, dass sie eine Professorin war, die aus irgendwelchen politischen Gründen nicht unterrichten durfte, aber Bücher schrieb. Auch Bücher darüber, wie Leute in verschiedenen Ecken der Welt Wörter aussprachen.

Dem s schuldete sie also viel, aus diesem Grund nahm sie einen der Äpfel, hob ihn hoch und deklamierte, als ob sie auf einer Bühne stünde:

«Mansanaz podridaz y naranjaz mohozaz – verfaulte Äpfel und verschimmelte Orangen.»

Kein s war da, wo es eigentlich hingehörte, sie hatte alle s und z vertauscht. Die Señora fing an zu lachen.

Encarni wickelte das Huhn aus. Es war ein bisschen mager, aber sie hatte den Preis heruntergehandelt. Und aufgepasst, dass ihr am Geflügelstand auch alle Innereien dazugepackt wurden.

«Der vom Geflügelstand sagt, es waren die Freimaurer. Sie brauchen die Augen für ihre Rituale. Sie lassen sie bei schwacher Hitze trocknen, sagt er. So wie Dörrpflaumen oder Pilze. Dann schneiden sie sie in Scheiben. Am liebsten nehmen sie blaue Augen, sagt der vom Geflügelstand.»

«Na, dann droht uns ja keine Gefahr.»

«Stimmt. Falls die Freimaurer es sich nicht anders überlegen und auf einmal braune Augen lieber haben wollen.»

Immer waren es die Freimaurer, die an allem schuld sein sollten. Wahrscheinlich gab es überhaupt keine Freimaurer. Genauso wenig wie den Schwarzen Mann, der die unartigen Kinder holte. Und falls es sie gab und falls sie Augen brauchten, würden sie sie mitnehmen und sie nicht im Zimmer herumliegen lassen. Der Geflügelhändler erzählte viel, und das meiste war dummes Zeug.

Sie schaute sich in der Küche um. Alle Einkäufe waren verstaut, alle Dinge an ihrem Platz. Die Señora widmete sich wieder ihrem Zigarillo. Encarni überlegte kurz. Vielleicht sollte sie jetzt mit ihr über die Sache mit dem Kühlschrank sprechen? Die Señora schien recht gute Laune zu haben.

Beatriz’ Stimme drang in ihre Gedanken.

«Ist Post für mich gekommen?»

Nein, es hatte keine Post in dem Kasten am Treppenaufgang gesteckt. Ja, der Briefträger war schon vorbeigekommen und hatte für Ramírez aus dem zweiten Stock einen dicken Brief eingeworfen. Nein, für sie war wirklich nichts dabei gewesen.

Die Señora stand auf. Sie sah unzufrieden aus. Vorbei die gute Laune. Schon seit Tagen schien sie auf irgendeinen Brief zu warten. Encarni seufzte und machte sich daran, Kartoffeln zu schälen.

4

Beatriz starrte aus dem Fenster ihres Arbeitszimmers. Bleigraue Wolken standen über der Stadt. Es hatte angefangen zu regnen, und auf der Rambla de Cataluña hatten die Leute ihre Schirme aufgespannt und den Schritt beschleunigt.

Wieder kein Brief. Beatriz gab ihrem Schreibtischsessel einen kleinen Schubs und drehte sich mit ihm um. Auf den Regalen waren die Buchtitel kaum noch zu erkennen. Sehr wohl erkennen konnte sie allerdings die Lücken. Dunkle Rechtecke zwischen den Bänden, manche schmal, andere breiter. Beatriz bekam jedes Mal Gewissensbisse, wenn sie die schwarzen Lücken sah, aber sie konnte nichts daran ändern. Es ging nicht anders. Die alten Ausgaben brachten mehr als das Tafelsilber. Sie überlegte kurz, wer als Nächstes das Feld würde räumen müssen. Eins von den Emblembüchern? Eine Vergil-Ausgabe? Wahrscheinlich Boethius’ Trost der Philosophie, die Ausgabe, die noch im Regal stand, war 1515 in Lyon gedruckt worden. Gelesen, wie alle Bücher in ihrer Bibliothek, aber in ausgezeichnetem Zustand. Aber vielleicht würde es auch so gehen. Falls der Brief kam und mit ihm die richtige Botschaft. Ihre Fahrkarte nach draußen.

In Spanien würde sie an keiner Universität arbeiten können, noch nicht einmal an irgendeinem Gymnasium. Für eine Einstellung brauchte man eine Bescheinigung, die besagte, dass man dem Regime treu ergeben war. Und die würde ihr niemand ausstellen. Als sie 1948 aus Argentinien zurückgekommen war, hatte sie versucht, an der Universidad de Barcelona zu lehren. Man hatte ihr erklärt, dass die Universität nach dem Bürgerkrieg von subversiven Kräften gereinigt worden war.

«Es tut mir leid, Doctora. Dies ist eine nationale Universität. Für Leute, die unseren Staat unterhöhlen wollen, ist hier kein Platz.»

Beatriz war aufgestanden und gegangen. Sie hätte sich selbst nie als subversiv bezeichnet. Mit Politik hatte sie sich nie beschäftigt, allerdings hatte sie im Bürgerkrieg einen Artikel in einer Zeitschrift publiziert, die entschieden für die Republik eingetreten war.

Nach ihrer Rückkehr aus Buenos Aires war sie zu ihrer Mutter in die große Wohnung in der Rambla de Cataluña gezogen. Ihr Vater lebte damals schon nicht mehr. Sie hatte sich zuerst in ihrem alten Zimmer eingerichtet. Ihre Mutter war zu der Zeit schon sehr krank gewesen. Beatriz hatte ihr aus den französischen Romanen vorgelesen, ihre Mutter hatte ihr mit geschlossenen Augen zugehört und ab und an ihre Aussprache korrigiert: «Kind, du solltest wirklich einmal wieder nach Frankreich fahren.»

Dann wurden die Zeitspannen, in denen ihre Mutter wach war, immer kürzer, die Bemerkungen über Beatriz’ Aussprache immer seltener und ihre Mutter immer durchscheinender. Schließlich hatte Beatriz mit dem Lesen aufgehört und ihr die Lieder vorgesummt, mit denen ihre Mutter sie vor über dreißig Jahren in den Schlaf gesungen hatte. Sie war an einem warmen Tag im Juni gestorben. An demselben Tag hatte Spanien ein Fußballspiel gegen England gewonnen, gegen das perfide Albion, wie der Präsident des nationalen Fußballbundes stolz erklärt hatte. Als sie ihrer Mutter hatte erzählen wollen, welchen Ausdruck er gebraucht hatte, damit sie zusammen darüber lachen konnten, hatte sie sie tot in ihrem Bett gefunden.

Jetzt wohnte sie allein mit Encarni in der großen Wohnung. Aber vielleicht nicht mehr lange. Wenn dieser Brief die richtige Botschaft enthielt. Und wenn nicht? Dann würde sie hier weiter überwintern müssen.

5

«Hurengeschiss. Das hat mir gerade noch gefehlt.»

Isidro Castro, Inspektor der Brigada de Investigación Criminal, hatte eine schlechte Nacht hinter sich. Sein jüngster Sohn, Daniel, hatte ohne Unterlass gehustet.

Um vier hatte der Husten Castro geweckt. Wie jedes Mal stieg in ihm wieder die alte Angst hoch – eine Angst, deren Ursprung er nicht benennen wollte, obwohl er ihn genau kannte. Er war aufgestanden, um nach dem Kleinen zu sehen.

Während er in die Hausschuhe schlüpfte, hörte er aus dem Kinderzimmer wieder einen Hustenanfall und spürte den ersten Stich einer Panikattacke. Ein Blick auf seine schlafende Frau beruhigte ihn etwas. Wenn es wirklich ernst wäre, wenn der Junge tatsächlich in Gefahr wäre, würde ihr Mutterinstinkt sie bestimmt wecken.

Er verließ das Schlafzimmer, ohne Licht zu machen. Der Schein einer Straßenlaterne, der durch die Ritzen eines schlecht schließenden Fensterladens fiel, reichte ihm.

Cristóbal, der Ältere, schlief auf dem Bauch. Er hatte den unruhigen Schlaf seines Vaters geerbt. Vorsichtig, um ihn nicht zu wecken, löste Castro das Knäuel aus langen Beinen, Decken und Laken.

Wie groß der Junge geworden ist. Er deckte ihn zu. Ein krankes Kind war genug.

Daniel hustete wieder, fast so, als wollte er auf sich aufmerksam machen. Castro wandte sich ihm zu. Auf dem Nachttisch zwischen den beiden Betten lagen die Comichefte, die sie vor dem Einschlafen gelesen hatten.

Er berührte die Lampe. Kalt. Sie durften jeden Abend nur eine halbe Stunde lesen, doch die Schlingel warteten, bis die Eltern ins Bett gegangen waren, und lasen dann weiter. Einmal hatte er festgestellt, dass sie mit Kleidern den Spalt unter der Tür abdichteten, damit der feine Lichtstreifen im Flur sie nicht verriet. Natürlich hatte er sie gescholten, aber insgeheim freute er sich, dass sie so aufgeweckt waren. Aber selbst wenn sie dumm gewesen wären, die Hauptsache war, dass sie da waren. Lebten. Atmeten.

Und husteten. Daniel hustete seit Tagen.

«Ein Katarrh», hatte der Arzt gesagt.

Nichts Besonderes in diesem kalten und nassen April. Der Arzt hatte Hühnersuppe verordnet. Und, zu Daniels großer Freude, zwei Tage schulfrei.

Daniel. Dani. Daniel.

Vielleicht war es ja falsch gewesen, ihn nach einem toten Kind zu benennen.

Sein erster Daniel war 1937 gestorben, mit acht Jahren. Castro war davon überzeugt, dass sein Sohn in Sicherheit sein würde, wenn er diese Altersgrenze erst einmal überschritten hätte. Bis dahin waren es jedoch noch sechs Monate. Sechs Monate Angst, sechs Monate Zittern bei jedem Hustenanfall. Seine Frau hätte diese Furcht nicht verstanden, deshalb hatte er ihr nicht davon erzählt. Sie wusste nicht – hoffentlich würde sie es nie wissen –, was es bedeutete, ein Kind zu verlieren. Er hingegen wusste auch, was es hieß, eine Frau zu verlieren.

«Sie sind im Krieg umgebracht worden.»

Mehr sagte er nicht, wenn er danach gefragt wurde.

Seine erste Frau hatte er in Galicien verloren. Nach dem Krieg war er nach Barcelona gekommen, dort hatte er 1941 Araceli geheiratet. Sie stammte aus Navarra und arbeitete als Verkäuferin im Kaufhaus El Siglo. Als sie sich kennenlernten, war sie vierundzwanzig, er ging auf die vierzig zu. Araceli wurde schwanger, und bei ihrer Heirat war sie schon im dritten Monat. Es sollte ein Junge werden, den sie Cristóbal, nach ihrem Vater, nennen wollte. Allerdings erklärte ihr eine Nachbarin, als sie im siebten Monat war, dass ihr spitzer Bauch ein sicheres Anzeichen für ein Mädchen sei.

«Wenn es so ist, nennen wir sie Regula», sagte Castro, als er davon erfuhr. So hatte seine erste Frau geheißen.

«Auf keinen Fall», hatte Araceli protestiert. «Wir werden ihr doch nicht den Namen einer Toten geben!»

Es war das erste und einzige Mal, dass Castro seine Frau schlagen wollte. Als sie sah, dass er die Hand hob, legte sie die Linke schützend auf ihren gewölbten Bauch und hielt mit der Rechten sein Handgelenk fest.

«Ich bin nicht einer von den Dieben und Mördern, mit denen du es im Kommissariat zu tun hast. Ich bin deine Frau.»

Mehr musste sie nicht sagen. Er erwähnte nie wieder den Namen seiner ersten Frau, und sie vergaß, dass das tote Kind, nach dem ihr zweiter Sohn genannt wurde, Daniel hieß.

* * *

Zu der schlechten Laune, die Isidro Castro wegen der vergangenen Nacht hatte, kam an diesem 29. April die Aussicht, dass jemand ihm bei den Ermittlungen im neuen Fall über die Schulter schauen würde, jemand von der Zeitung. Seit sieben Uhr morgens war er im Polizeipräsidium, hinter ihm lagen drei Verhöre, zwei Rüffel, die er zwei Untergebenen verpasst hatte, ein Kampf mit der Schreibmaschine und nun, Krönung des gesamten Vormittags, das Gespräch mit Goyanes.

«Ausgerechnet die Vanguardia

Castro konnte es nicht begreifen. Mit der Vanguardia hatte es vor drei Jahren großen Ärger gegeben, als die Zeitung über den Mord an der Luxushure Carmen Broto berichtet hatte. Die Artikel hatten die Ermittlungen der Polizei in Frage gestellt und damit unzählige Spekulationen über die Verwicklung bekannter Persönlichkeiten in den Mordfall ausgelöst. Die Gerüchte darüber, welche Parteifunktionäre oder sonstigen Würdenträger «freundschaftliche Beziehungen» zur Broto gepflegt hatten, hatten die Polizeispitze allerdings weniger gestört als die Anspielungen darauf, dass die Polizei ihre Arbeit nicht mit der notwendigen Sorgfalt erledigt hatte. Castro erinnerte sich noch gut an den Wutausbruch, den Gil Lamas, der Chef der Brigada de Investigación Criminal, bekommen hatte – gleich bekommt er einen Schlaganfall und fällt tot um, hatte er damals gedacht, als er Gil hinter verschlossener Tür hatte toben hören.

«Gil ist doch auf die Vanguardia schlecht zu sprechen, oder?», fragte Castro, obwohl er gewöhnlich bei solchen Gesprächen keine Fragen stellte, schon gar nicht, seit Goyanes sein Vorgesetzter war.

Der Kommissar sah ihn überrascht an, und obwohl er gewöhnlich keine Erklärungen gab, bekam er eine Antwort: