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Geheimsache NSU

Geheimsache NSU

Zehn Morde, von Aufklärung keine Spur

Herausgegeben von

ANDREAS FÖRSTER

In Zusammenarbeit mit

FRANK BRUNNER, HAJO FUNKE, MANFRED GNJIDIC,

ANTON HUNGER, THOMAS MOSER, RAINER NÜBEL,

THUMILAN SELVAKUMARAN und AHMET SENYURT

Mit einem Epilog von

ESTHER DISCHEREIT

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© 2014 Klöpfer und Meyer, Tübingen.

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Inhalt

Vorwort

ANDREAS FÖRSTER

Tatort Theresienwiese

Der Anschlag auf zwei Polizisten in Heilbronn ist ein Schlüsselfall zum NSU-Komplex. Die offizielle Version vom Tathergang hinterlässt offene Fragen

FRANK BRUNNER

Braunes Netzwerk im Ländle

Der Ku-Klux-Klan in Baden-Württemberg zog offenbar Polizisten und V-Leute an. Mindestens ein Spitzel hatte NSU-Verbindungen. Zeugen sterben unter ungewöhnlichen Umständen

THUMILAN SELVAKUMARAN

Vertuschte FBI-Spur

Beobachteten Mitarbeiter der US-Bundespolizei den Kiesewetter-Mord? Eine interne Kommunikation zwischen Geheimdiensten und Kanzleramt stützt diesen Verdacht

ANDREAS FÖRSTER UND AHMET SENYURT

Staatliche Aufbauhilfe

Wie der Thüringer Verfassungsschutz daran mitwirkte, dass der Freistaat zu einer Neonazi-Hochburg wurde

ANDREAS FÖRSTER

Die Nagelbombe

Waren beim Anschlag in der Kölner Keupstraße Sicherheitskräfte vor Ort?

THOMAS MOSER

Der Schattenmann

Als Halit Yozgat 2006 in seinem Internetcafé in Kassel erschossen wurde, war ein Verfassungsschützer am Tatort

THOMAS MOSER

Showdown in Eisenach

Nach einem Banküberfall liegen Uwe Böhnhardt und Uwe Mundlos tot in einem Wohnmobil. Einige Spuren im Fahrzeug werden zerstört, andere führen ins Milieu von Rockern und Kriminellen

ANDREAS FÖRSTER

Abgeordnete, die aufklären wollen und nicht können

Der NSU-Untersuchungsausschuss des Bundestages scheitert an der Exekutive

THOMAS MOSER

Der Prozess

Mit der Hauptverhandlung vor dem Oberlandesgericht München soll das NSU-Problem beendet werden

THOMAS MOSER

Ich, der Fälscher

Wie Recherchen, die an der Version der Bundesanwaltschaft zweifeln lassen, diskreditiert werden – mit medialer Hilfe

RAINER NÜBEL

Jenseits des Rechts

Der Sieg der Geheimdienste über Parlament und Öffentlichkeit, Brandstifter mit Staatsauftrag und die Blockade der Aufklärung: Kritische Bestandsaufnahme eines Politikwissenschaftlers

HAJO FUNKE

Der kurze Draht zum Amt

Mit der heißen Ware Information lassen sich viele Berichterstatter instrumentalisieren. Nur so kann die Quelle immer wieder angezapft werden

ANTON HUNGER

Verlorene Würde

Es ist nicht das erste Mal, dass Behörden und Politik notwendige Aufklärung und nötigen Beistand verweigern. Auch im Fall El-Masri schauten sie weg. Déjà vu eines Anwalts

MANFRED GNJIDIC

Dissidenz im Dienst

Der NSU-Komplex wird aufgeklärt, das Blockadesystem durchbrochen – selbst im Musterländle des Mauerns. Eine renitente Prognose

RAINER NÜBEL

Die Gesichter der Nachbarn

Ein Epilog

ESTHER DISCHEREIT

Zeitleiste NSU-Komplex

Die Autoren

Vorwort

»So einen Fall wie mich, das hat’s noch nicht gegeben.« Das hat Beate Zschäpe gesagt, zu einem BKA-Beamten, der sie 2012 in einem VW-Bus auf einem Haftausflug nach Thüringen begleitete.

Beate Zschäpe hat recht. Wann gab es schon einmal einen Fall, in dem die Beweislast gegen die vermutlichen Täter gleichzeitig so klar und so widersprüchlich erscheint? Wann wurde je in einem Strafverfahren ein solcher Druck auf die Ermittler seitens der Politik ausgeübt, Widersprüche und Beweislücken zu kaschieren, um ein gewünschtes Ergebnis zu erreichen? Wann ist schon einmal mit einer solch geballten politischen Macht versucht worden, die Versäumnisse und das Mittun von staatlichen Behörden in einer Verbrechensserie zu vertuschen?

Dabei hatte die Bundeskanzlerin doch ihr Wort gegeben: »Wir tun alles, um die Morde aufzuklären und alle Täter ihrer gerechten Strafe zuzuführen«, sagte Angela Merkel am 23. Februar 2012 auf der Trauerfeier für die vom NSU ermordeten Menschen. Die Morde seien auch ein Anschlag auf unser Land gewesen, fügte die Kanzlerin damals noch hinzu und versprach, dass in Bund und Ländern alles getan werde, um die Taten des NSU aufzuklären und die Helfershelfer und Hintermänner aufzudecken.

Das Versprechen ist bislang nicht eingelöst worden. Gut zweieinhalb Jahre nach dem Auffliegen der rechten Terrorgruppe »Nationalsozialistischer Untergrund« fällt die Bilanz der Aufklärung ernüchternd aus. Zwar stehen die Überlebende des mutmaßlichen NSU-Trios, Beate Zschäpe, und vier ihrer möglichen Helfershelfer in München vor Gericht. Ob die fünf Angeklagten aber auch verurteilt werden, wenn möglicherweise im Sommer 2015 der Prozess endet, ist längst nicht sicher – zu viele Indizien und Beweise der Anklage stehen auf wackligen Füßen.

Was darauf zurückzuführen ist, dass die Ermittlungsbehörden vielen Spuren und Hinweisen, die tiefer in das undurchsichtige Geflecht aus gewaltbereiten Neonazis, zwielichtigen Verfassungsschutzspitzeln und Geheimdiensten führen, nicht nachgegangen sind. Zu groß war offenbar der politische Druck, in möglichst kurzer Zeit eine einigermaßen belastbare Anklage für einen Prozess zu zimmern, die eine Mitverantwortung staatlicher Behörden für die NSU-Mordserie konsequent ausspart.

Kanzlerin Merkel sprach auf der Trauerfeier im Februar 2012 davon, dass die Morde des NSU eine Schande für unser Land sind. Aber es ist auch eine Schande, wie bei der Suche nach den Ursachen des rechten Terrors die Mitverantwortung staatlicher Behörden vertuscht werden soll und sich die Ermittler politischen Vorgaben unterwerfen. Ebenso schändlich ist es, dass mit Klaus-Dieter Fritsche einer der Hauptverantwortlichen für das Versagen der Geheimdienste und Mitverantwortlicher für die rechtswidrige Vernichtung von Verfassungsschutzakten nach dem Auffliegen des NSU heute im Kanzleramt die deutschen Nachrichtendienste anleitet. Fritsche hat als langjähriger Vizepräsident des Bundesamtes für Verfassungsschutz und späterer Innenstaatssekretär maßgeblich jene Geheimdienststrategie zu verantworten, die das Entstehen einer rechtsterroristischen Organisation in Deutschland erst ermöglichte.

Die von der Bundesanwaltschaft in ihrer Anklage vertretene Theorie einer abgeschotteten dreiköpfigen Terrorzelle, von der weder Freund noch Feind wussten, ist für den Staat die praktikabelste Lösung: Die beiden angeblichen Todesschützen sind nicht mehr am Leben, so dass man ihnen die Täterschaft nicht nachzuweisen braucht; die Hauptangeklagte schweigt, weil sie keine entlastenden Beweise vorbringen kann oder es (noch) nicht will, was Anklage und Verteidigung die Möglichkeiten einer Verständigung im Prozessverlauf offenhält; Polizei und Verfassungsschutz werden lediglich Fehler und Versäumnisse in ihrer Arbeit zugeschrieben, was ihre Mitverantwortung für die NSU-Mordserie unter eine – auch juristisch – haftungspflichtige Grenze verschiebt. Deutschland hat damit, so hofft das politische Berlin, wieder einmal ein dunkles Kapitel seiner Geschichte abgeschlossen.

Doch ist das wirklich so? Auch wenn viele Journalisten, insbesondere die der sogenannten Leitmedien, den Fall NSU ganz im Sinne der politisch Verantwortlichen für aufgeklärt und abgeschlossen erklären – in der Öffentlichkeit bestehen und wachsen sogar noch die Zweifel daran, dass die quasi staatsoffizielle NSU-Version auch die tatsächliche ist. Warum sollen sich die angeblich so eiskalten Killer Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt am 4. November 2011 plötzlich das Leben genommen haben, als sich zwei Streifenbeamte ihrem Wohnwagen näherten, fragen sich viele zum Beispiel. Oder: Warum wird der Mord von Heilbronn nur diesen beiden Tätern zugeschrieben, wenn doch so viele Zeugenaussagen auch aus Sicht der Ermittler auf einen größeren Täterkreis hindeuten? Kann es wirklich nur Zufall sein, dass ein Verfassungsschützer – wie in Kassel geschehen – zur Tatzeit am Ort eines Mordes ist, von dem er noch dazu nichts mitbekommen haben will? Was ist von Bundesbehörden zu halten, die wie im Fall Heilbronn eine Spur zu möglichen Tatzeugen aus einer US-Sicherheitsbehörde ignorieren? Wer waren die zivilen Beamten, die ein Zeuge unmittelbar nach der Bombenexplosion in der Kölner Keupstraße am Tatort gesehen hat? Wie kann es sein, dass V-Leute des Verfassungsschutzes mit finanzieller und logistischer Unterstützung staatlicher Behörden den Aufbau extremistischer Strukturen in der rechten Szene fördern und damit die Basis bereiten für die Entstehung terroristischer Gruppen? Warum sind beim Verfassungsschutz und im Bundesinnenministerium nach dem Auffliegen des NSU massenhaft Akten vernichtet worden, die mit Aktivitäten staatlicher Behörden in der rechten Szene zu tun hatten? Ist die Geschichte um den NSU, seine Hintermänner und Auftraggeber vielleicht doch viel komplexer, weitreichender und verstörender, als uns von den Ermittlern weisgemacht wird? Ist es womöglich tatsächlich – wie es Beate Zschäpe sagt – ein Fall, wie es ihn noch nicht gegeben hat?

Wir, die zehn Autoren dieses Buches, sind in unseren Beiträgen diesen und weiteren Fragen nachgegangen. In den vergangenen zweieinhalb Jahren haben wir die Sitzungen der NSU-Untersuchungsausschüsse im Bundestag sowie in den Landtagen von Sachsen und Thüringen verfolgt. Wir beobachten seit Mai 2013 die Verhandlung gegen Zschäpe und die vier mutmaßlichen NSU-Helfer im Münchner Oberlandesgericht. Wir haben Zeugen befragt, Tatorte in Augenschein genommen, mit den Hinterbliebenen der Opfer gesprochen, Hunderte Ermittlungsakten studiert. Wir haben Fakten verglichen, Widersprüche in der Beweisführung der Ankläger herausgearbeitet, Indizien und Spuren überprüft, die von den Fahndern als nicht relevant eingestuft wurden, obwohl sie vielversprechende Anhaltspunkte für weitere Ermittlungen bieten.

Viele Ergebnisse unserer Recherchen und Analysen sind in die Beiträge in diesem Buch eingeflossen. Auch wird hier das Verhalten der Behörden aus politologischer und juristischer Sicht bewertet sowie das Schicksal der Opfer und ihrer Hinterbliebenen in den Blick genommen. Damit ist ein politisch brisantes und spannend zu lesendes Zeitdokument entstanden, das die offizielle Darstellung der Abläufe, Verantwortlichkeiten und Ursachen der blutigsten Terrorserie im wiedervereinigten Deutschland in Frage stellt.

Dennoch kann unsere Bestandsaufnahme nur eine vorübergehende sein. Ständig kommen neue Details und Indizien in diesem komplexen Fall an die Öffentlichkeit. Das ist den Recherchen engagierter Journalisten zu verdanken, die sich mit behördlichen Stellungnahmen nicht zufriedengeben, und den akribisch arbeitenden Nebenklägeranwälten, die im Münchner NSU-Prozess oftmals gegen den massiven Widerstand einer seltsamen Allianz aus Anklägern und Verteidigern Beweisbeschlüsse durchsetzen und bis dato zurückgehaltene Ermittlungsergebnisse in das Verfahren einbringen.

Damit bleibt auch unser Erkenntnisstand vorläufig. Manche Fragen und Widersprüche, auf die wir heute stoßen, können morgen vielleicht geklärt werden, dafür kommen neue Spuren und Indizien hinzu. Wir bleiben am Ball. Wie auch viele andere kritische Journalisten und Publizisten, die ihre Aufgabe in der Kontrolle von Politik und Staat sehen und mit dazu beitragen wollen, dass sich die Bürger ein eigenes Bild machen können von der Lage in unserem Land. Denn es sind die Bürger, die das Versprechen der Bundesregierung einfordern müssen, die Taten des NSU umfassend aufzuklären und alle Helfershelfer und Hintermänner der Mordserie aufzudecken. Es ist an der Zeit.

Stuttgart/Berlin

ANDREAS FÖRSTER

 

Herausgeber

Tatort Theresienwiese

Der Anschlag auf zwei Polizisten in Heilbronn ist ein Schlüsselfall zum NSU-Komplex. Die offizielle Version vom Tathergang hinterlässt offene Fragen

FRANK BRUNNER

Kurz bevor die Welt um ihn herum verschwindet, schaut Polizeimeister Martin Arnold noch einmal in den Rückspiegel. Deshalb sieht er ihn kommen, diesen Mann, der aus dem Schatten des Trafohäuschens tritt, neben dem er und seine Kollegin mit ihrem grün-silbernen 5er-BMW parken. Der Mann im Spiegel ist im mittleren Alter, trägt ein helles Kurzarmhemd, dunkle Jeans, dunkle Schuhe, dunkle Haare. Noch ein paar Schritte und er erreicht die Beifahrertür. In diesem Moment bemerkt Arnold eine zweite Gestalt auf der anderen Seite des Wagens, dort, wo seine Streifenpartnerin hinterm Steuer die Pause mit einer ihrer Gauloises genießt. Es ist ein sonniger Tag, 25 Grad Celsius, die Beamten haben die Seitenscheiben heruntergelassen; sie reden, rauchen. Bis die Männer auftauchen. »Nicht mal hier hat man seine Ruhe«, hört Arnold die Kollegin sagen. Dann geht alles ganz schnell. Der junge Polizist sieht noch die weißgrauen Härchen auf den Armen des Mannes, registriert ein Geräusch, spürt, wie er aus dem Fahrzeug fällt und mit dem Gesicht auf die Kieselsteine kracht. An dieser Stelle enden seine Erinnerungen. So schildert er es später den Ermittlern der Sonderkommission, teilweise unter forensischer Hypnose. Denn wie durch ein Wunder hat Martin Arnold den Kopfschuss aus unmittelbarer Nähe überlebt. Für seine Kollegin Michèle Kiesewetter kommt an jenem 25. April 2007 jede Hilfe zu spät.

Der Mord an der 22-jährigen Polizistin zählt zu den rätselhaftesten Verbrechen der vergangenen Jahre. Noch immer ist unklar, was sich abspielte, damals, auf der Theresienwiese in Heilbronn. Zunächst verdächtigten die Fahnder einige Schausteller, die am Tattag auf dem Gelände kampierten, dann jagten sie zwei Jahre lang das »Heilbronner Phantom«, eine vermeintliche Serientäterin, deren DNA an Kiesewetters Streifenwagen und an 40 weiteren Tatorten gefunden wurde. Doch das Erbgut gehörte einer Frau, die in einem Verpackungsbetrieb mit jenen Wattestäbchen hantierte, die zur Spurensicherung verwendet wurden. Im März 2009 deckte der stern diese Polizeipanne auf. Nach Angaben des Magazins diskutierten Kriminalisten bereits im Juni 2008 über die Möglichkeit kontaminierter Spurentupfer. Trotz starker Zweifel an der Phantom-Spur erklärten der Chef des baden-württembergischen Landeskriminalamts (LKA) Klaus Hiller und Landespolizeipräsident Erwin Hetger noch wenige Wochen vor der stern-Veröffentlichung, dass sich das Netz um die Polizistenmörderin immer enger ziehe.

Im November 2011 scheint der Fall endlich geklärt. Seinerzeit fliegt eine Gruppe auf, die sich »Nationalsozialistischer Untergrund« (NSU) nennt und die zwischen 2000 und 2006 neun Menschen mit ausländischen Wurzeln getötet haben soll. Die mutmaßlichen Mörder müssen sich dafür nicht verantworten. Uwe Böhnhardt und Uwe Mundlos, die – obwohl seit 1998 zur Fahndung ausgeschrieben – jahrelang unbehelligt untertauchen konnten, werden tot in einem Wohnmobil in Eisenach gefunden. »Selbstmord«, sagen die Ermittler. Neben den leblosen Männern finden Beamte ein ganzes Arsenal geladener Waffen, darunter zwei Heckler & Koch. Es sind die Dienstpistolen von Michèle Kiesewetter und Martin Arnold, die nach dem Anschlag in Heilbronn gestohlen wurden.

Als Kriminalisten anschließend das letzte Versteck des NSU, eine Wohnung im sächsischen Zwickau, durchsuchen, folgt die nächste Überraschung: Das Haus gleicht einer Ruine, nachdem es Beate Zschäpe, eine mutmaßliche Komplizin von Böhnhardt und Mundlos, angezündet haben soll. Im Brandschutt stoßen die Männer von der Spurensicherung auf ein nahezu unversehrtes Bekennervideo, eine mit dem Blut Kiesewetters befleckte Hose sowie auf eine Radom und eine Tokarew – die Tatwaffen von Heilbronn. Zschäpe wird derzeit vor dem Oberlandesgericht München der Prozess gemacht. Aber bisher schweigt die 39-Jährige. Daher bleiben viele Fragen offen: Warum gerieten Kiesewetter und ihr Kollege ins Visier der Neonazis? Ein Anschlag auf deutsche Polizisten passt nicht ins rassistische Muster der Morde an Migranten. Die Bundesanwaltschaft spricht von »Zufallsopfern«, die nur deshalb angegriffen wurden, weil sie »Vertreter des verhassten Staates« gewesen seien. Aber warum fuhren die Attentäter hunderte Kilometer nach Heilbronn, um dann eine unbekannte Polizistin zu erschießen? Vor allem aber: Wie konnten Böhnhardt und Mundlos am helllichten Tag in einer belebten Gegend völlig unbemerkt ein solches Verbrechen begehen?

Mord mit vielen Unbekannten

Die Version der Strafverfolger geht so: Irgendwann, wahrscheinlich im Jahr 2006, beschließen Uwe Böhnhardt und Uwe Mundlos Polizeibeamte zu töten. Im April 2007 mieten sie oder einer ihrer Unterstützer in Chemnitz ein Wohnmobil. Damit fahren die beiden kurz darauf – der genaue Tag ist unbekannt – aus »nicht bekannter Motivation« nach Heilbronn. Böhnhardt und Mundlos parken den Camper an einem unbekannten Ort und steuern »wahrscheinlich« mit ihren mitgeführten Fahrrädern aus einem unbekannten Grund auf unbekanntem Weg die Theresienwiese an, wo sie kurz vor 14 Uhr die zwei Beamten in ihrem BMW entdecken. Die beiden Neonazis beschließen spontan, »ihren grob gefassten Tatplan« umzusetzen, und ignorieren dabei das hohe Risiko, von Schaustellern beobachtet zu werden, die nur 200 Meter weiter die Buden für das jährliche Frühlingsfest aufbauen. Die Männer schleichen sich von hinten an den Streifenwagen, ziehen Handschuhe über und schießen auf die ahnungslosen Polizisten. Danach stehlen sie Pistolen, Munition, Handschellen, eine Reizgasdose und ein Multifunktionstool. Mit der Beute verlassen Böhnhardt und Mundlos unbeobachtet das Areal und flüchten zurück zum Wohnmobil, wo sie die Räder verstauen. Mit ihrem Fahrzeug rasen die Täter nun Richtung Stuttgart. Gegen 14.30 Uhr passieren sie in Oberstenfeld, etwa 20 Kilometer vom Tatort entfernt, unerkannt eine Kontrollstelle der Polizei, wo Beamte das Kennzeichen des Wagens notieren.

Es ist eine Geschichte mit vielen Unbekannten. Niemand hat Böhnhardt und Mundlos am Tattag in Heilbronn gesehen. Was bleibt, sind die bei den Neonazis gefundenen Tatwaffen, die Dienstpistolen der Polizisten im NSU-Versteck, eine Jogginghose, die Mundlos gehören soll, mit Kiesewetters DNA und ein mutmaßliches Bekennervideo des Trios, in dem der Polizistenmord thematisiert wird.

Vielleicht hat sich der Anschlag auf die zwei Beamten genauso abgespielt, wie die Bundesanwaltschaft vermutet. Vielleicht trugen die zwei mutmaßlichen NSU-Terroristen, die für ihren Banküberfall kurz zuvor andere Waffen nutzten, die Polizeipistolen tatsächlich als Trophäen bei sich. Auch das vermuten die Strafverfolger. Vielleicht stimmt auch deren These, dass Mundlos die blutige Hose vier Jahre lang nicht gewaschen hat, weil sie ihn an »das Gefühl der Machtausübung« bei der Tat erinnerte. Möglicherweise existieren plausible Erklärungen dafür, warum das Trio belastendes Material in seinem Versteck hortete oder weshalb in der Hitze des brennenden Hauses in Zwickau zwar Waffen schmolzen, aber die DVDs mit den Bekennervideos unbeschädigt gefunden wurden. Vielleicht wissen wir eines Tages sogar, warum die Mordserie nach dem Tod der Polizistin endete.

Doch selbst dann bleiben jede Menge Ungereimtheiten. Wer die Ermittlungsakten dieses Falles sichtet – Tausende Seiten mit Fotos, Vernehmungsprotokollen und Fallanalysen –, der stößt auf ein Konvolut aus vielversprechenden Spuren, die nicht weiter verfolgt wurden, auf Zeugenaussagen, die zunächst als glaubwürdig eingestuft wurden, aber später angeblich nicht mehr tatrelevant waren, und findet Ermittlungsergebnisse, die der offiziellen Version der Bundesanwaltschaft widersprechen. Möglicherweise könnten Mitarbeiter amerikanischer Behörden die fehlenden Puzzleteile liefern. Geheime Unterlagen von Bundesnachrichtendienst (BND) und Militärischem Abschirmdienst (MAD) legen nahe, dass zum Zeitpunkt des Überfalls in Heilbronn eine FBI-Operation stattfand. Was also geschah am 25. April 2007?

Es ist kurz vor 9.30 Uhr an diesem Mittwoch, als die sechs Beamten der Bereitschaftspolizei Böblingen das Gebäude der Heilbronner Polizeidirektion betreten. Unter ihnen Michèle Kiesewetter und Martin Arnold. An diesem Tag sollen sie die Kollegen beim Einsatz »Sichere City« unterstützen. Es geht um Präsenz, Prävention und Abschreckung gegen Rowdies, Diebe, Dealer. Polizeiroutine. Viertel nach 10 Uhr beginnen Kiesewetter und Arnold den Streifendienst. In ihrem BMW-Kombi fahren die Polizisten Richtung Zentrum, kontrollieren am Trinkertreffpunkt »Fontäne« die üblichen Verdächtigen, überprüfen kurz darauf beim Friedhof einen offensichtlich drogensüchtigen Mann.

Eigentlich sollte Michèle Kiesewetter an diesem Tag ganz woanders sein. Nicht in dieser Stadt, nicht in diesem Auto, nicht in Uniform. Denn normalerweise hätte die junge Frau frei. Am vergangenen Donnerstag ist sie deshalb in ihr Heimatdorf, ins thüringische Oberweißbach gefahren, hat Eltern und Freunde besucht, sich ein bisschen erholt vom Job bei der Beweissicherungs- und Festnahmeeinheit (BFE) 523 der Bereitschaftspolizei Böblingen. Doch die Polizistin möchte lieber arbeiten und bricht ihren Urlaub ab. »Nach dem Wochenende bin ich wieder in Böblingen«, sagt sie am Telefon dem Kollegen, der die Dienstpläne zusammenstellt. Michèle Kiesewetter liebt ihren Beruf. Das bestätigen alle, die später von den Mordermittlern danach gefragt werden. »Ihre Meinung war mir wichtig«, sagt ein Kollege. »Ich habe sie als fröhlichen Menschen erlebt«, sagt ihr Chef. »Sie hatte ein klares Ziel vor Augen«, sagt ihre Mutter. Eine Woche untätig rumsitzen, das sei ihr zu viel, sagte Michèle Kiesewetter. Deshalb ist sie jetzt in Heilbronn.

Gegen 11.30 Uhr gönnen sich die beiden Beamten eine Auszeit. Sie halten vor einer Bäckerei, kaufen belegte Brötchen, fahren dann weiter Richtung Theresienwiese. Das Festgelände, zentral gelegen und doch etwas abseits vom Trubel, ist bei manchen Polizisten ein beliebter Rückzugsort. Auch Michèle Kiesewetter kennt den Platz. Denn es ist nicht ihr erster Einsatz in Heilbronn. Im Sommer 2006 war sie als »nicht öffentlich ermittelnde Polizeibeamtin« in der Stadt, kaufte als Lockvogel Heroin. Bei einem weiteren verdeckten Einsatz öffnete sie kurz vor der Razzia in einer Diskothek von innen den Notausgang, sodass ihre Kollegen das Etablissement durchsuchen konnten.

Neun Monate später parkt Michèle Kiesewetter den Streifenwagen auf der Theresienwiese. Mit Martin Arnold bildet sie heute zum ersten Mal ein Team; sie erzählt dem Kollegen von ihren Plänen, sich in Karlsruhe zu bewerben. Dort lebe eine Tante von ihr. Vielleicht der nächste Schritt in Kiesewetters Karriere. Die begann Anfang 2003. Damals kam die Zusage für eine Ausbildung an der Polizeischule Biberach. Die junge Frau, die nach der Realschule zunächst eine Fachoberschule besucht hat, zog nach Baden-Württemberg; seit September 2005 ist sie Polizeimeisterin. Michèle Kiesewetter erzählt noch, dass ein befreundeter Kollege ebenfalls nach Karlsruhe wechseln möchte und man gemeinsam eine Wohnung suche. Dann ist die Pause zu Ende, die Polizisten kehren zurück ins Polizeirevier, absolvieren mit anderen Kollegen eine Schulung, bevor sie kurz vor 14 Uhr erneut die Theresienwiese ansteuern.

Zur gleichen Zeit ist Peter S. mit dem Fahrrad unterwegs. Vom Radweg, der Richtung Hauptbahnhof führt, kann er die Theresienwiese gut überblicken. Die ist schon fast hinter ihm verschwunden, als er aus den Augenwinkeln den Streifenwagen entdeckt. Hier stimmt was nicht, sagt ihm sein Gefühl. »Der Wagen stand offen, etwas hing aus der Tür«, erzählt er später den Ermittlern. Peter S. radelt zurück und sieht zwei Menschen voller Blut. Weil er kein Handy dabei hat, rast er zum Bahnhof, bittet den Taxifahrer Mustafa K., die 110 zu wählen. Genau um 14.12 Uhr klingelt das Telefon in der Einsatzzentrale. Fünf Minuten danach sind die ersten Beamten vor Ort, kurz darauf trifft die Notärztin ein. Martin Arnold wird mit lebensgefährlichen Kopfverletzungen ins Krankenhaus gebracht. Michèle Kiesewetter ist tot. Mit allen verfügbaren Kräften fahndet die Polizei nach den Tätern. Hubschrauber steigen auf, Spezialeinheiten werden alarmiert. Noch am selben Tag beginnt die »Sonderkommission Parkplatz« mit ihrer Arbeit.

Glaubwürdige Augenzeugen

Die Ermittler werten Tausende Mobilfunknummern aus, die zur Tatzeit in Tatortnähe eingeloggt waren, befragen Zeugen, Kollegen und Angehörige, sichten später Videoaufzeichnungen von Tankstellen, Restaurants und Geschäften. Mal vermuten sie hinter dem Verbrechen eine unbekannte Serientäterin, dann den Chef einer serbischen Diebesbande oder russische Kriminellenkreise, in denen »Polizistenmord eine statusaufwertende Tat darstellt«. Hinweise auf einen rechtsextremen Hintergrund sucht man in den Ermittlungsakten vergebens. Im Gegenteil: »Ein politisch motivierter Anschlag gegen Staatsorgane ist eher auszuschließen (…), die Tat weist insgesamt zu viele Elemente einer allgemein-kriminellen Tat auf«, heißt es in der Operativen Fallanalyse des LKA vom 22. Mai 2009.

Zu den wenigen konkreten Spuren zählen die Beobachtungen von fünf Zeugen, die – unabhängig voneinander – ein halbes Dutzend Personen vom Tatort flüchten sahen. Die von Lieselotte W. beispielsweise. Sie glaubt die Schüsse gehört zu haben, beobachtet dann von ihrem Wagen aus, wie ein Mann, dessen gesamte linke Seite mit Blut verschmiert ist, in eine Limousine mit Mosbacher Kennzeichen flüchtet. Oder Anton M. Ihm kommen auf dem Neckaruferweg zwei Männer und eine Frau entgegen. Erstaunt beobachtet er, dass einer der Männer kurz vor dem Zusammentreffen eine Treppe zum Fluss hinunterläuft und dort seine Hände wäscht. Sie sind voller Blut. Wenig später spazieren Zeliha und Muzaffer K. dort vorbei. Das Ehepaar beobachtet einen Mann, der die Treppe nach oben läuft, in den Park rennt und augenscheinlich versucht, sich vor einem Polizeihelikopter zu verstecken. Ein anderer Beobachter, der in den LKA-Akten als »anonymer Rentner« geführt wird, sagt aus, dass er von einer Person fast umgerannt wurde, bevor diese in ein Auto springt, in dem ein Fahrer sitzt und ein weiterer Passagier auf der Rückbank.

Besonders interessant jedoch sind die Aussagen eines Augenzeugen, dessen Identität die Ermittler geheim halten. Aus gutem Grund. Der Mann arbeitet seit Jahren als Informant im Bereich Organisierte Kriminalität für die Polizei in Baden-Württemberg und in anderen Bundesländern. Falls Personalien des Zeugen und seine Zusammenarbeit mit den Strafverfolgungsbehörden bekannt würden, sei von einer »erheblichen Gefährdung für dessen Leib und Leben auszugehen«, heißt es in den Akten der Kriminalpolizei Heilbronn. Bei den Beamten gilt der Tippgeber als äußerst glaubwürdig. »Die Hinweise der Vertrauensperson (VP) waren bisher in den allermeisten Fällen zutreffend und führten in den Verfahren zu erfolgreichen Abschlüssen/Verurteilungen«, schreibt ein Kriminalhauptkommissar in einem internen Vermerk. Die VP könne »zielgerichtet Informationen erheben« und diese »detailliert und deckungsgleich« weitergeben. Wenige Stunden nach dem Mord an Michèle Kiesewetter meldete sich »VP 1749«, wie der Informant in den Akten genannt wird, bei der Polizeidirektion Heilbronn und lässt seine Beobachtungen protokollieren:

Es ist kurz vor 14 Uhr an jenem 25. April 2007, als der Mann nach einer Wohnungsbesichtigung im Stadtteil Horkheim zügig in die Heilbronner Innenstadt läuft. Er folgt dem Fußweg am Neckar entlang, passiert die Tankstelle und nähert sich gegen 14.30 Uhr dem Abzweig zur Sontheimer Brücke, die zur anderen Flussseite führt. Auf einmal bemerkt der Mann links vor sich einen blauen Audi 80 mit Mosbacher Kennzeichen, der mit laufendem Motor neben der Straße parkt. »Das Merkwürdige daran war, dass das Fahrzeug mit seinen linken Rädern auf der Straße und mit den rechten Rädern auf dem Grünstreifen stand; somit stand es leicht schräg, deshalb fiel mir der Wagen auch auf«, erinnert er sich später bei der Polizei. Der Zeuge steuert nun direkt auf den Audi zu, nur noch fünf Meter, dann wird er den Wagen erreichen. Plötzlich hört er mehrere Fahrzeuge hupen und Sekunden später bemerkt er, warum:

Ein großgewachsener Mann, etwa 30 Jahre alt, kurze, dunkelblonde Haare, blaue Jeans, weißes Shirt, weiße Turnschuhe, in der linken Hand eine schwarze Wollmütze, springt aus einer Böschung des Wertwiesenparks auf die Straße und sprintet quer über die fünfspurige, stark befahrene Straße. In diesem Augenblick dreht sich der Fahrer des Audis zur Rückbank, öffnet von innen die rechte hintere Tür und ruft »dawai, dawai« – Russisch für »schnell, schnell«. Der Mann ist jetzt auf Höhe des rechten Kotflügels angelangt, er hechtet mit einem Sprung in die Limousine, dreht sich – während der Wagen mit quietschenden Reifen wendet und Richtung Sontheimer Brücke davonfährt – herum und zieht die Tür zu. Dass der langjährige Polizeiinformant den Beamten davon berichtet, hat einen Grund: Der rechte Arm des Mannes sei von der Hand bis über den Ellenbogen blutverschmiert gewesen, auf dem Shirt habe er ebenfalls einen Blutfleck bemerkt, erzählt der Zeuge.

Die LKA-Spezialisten vergleichen die Schilderung von »VP 1749« mit den Berichten der anderen Hinweisgeber und kommen zu dem Schluss: »Es erscheint sehr wahrscheinlich, dass sich die Aussagen der Zeugen (…) gegenseitig ergänzen beziehungsweise stützen.« Demnach wären insgesamt sechs Personen an der Tat beteiligt, heißt es in den Ermittlungsakten weiter.

Strafverfolger rudern zurück

Experten der Sonderkommission zeichnen nach den Berichten der Zeugen Phantombilder. Auch aus den Erinnerungen von Kiesewetters Kollegen Martin Arnold fertigte ein Kriminaltechniker Wochen nach der Tat eine entsprechende Illustration. Erstaunlich: Kein Konterfei ähnelt Böhnhardt oder Mundlos. Drei der insgesamt 15 Phantombilder will die »Soko Parkplatz« veröffentlichen, um nach möglichen weiteren Tätern zu fahnden – darunter auch die nach Arnolds Aussagen entstandene Abbildung sowie jene Darstellung, die auf den Angaben des Polizeiinformanten beruht. Doch der zuständige Heilbronner Staatsanwalt Christoph Meyer-Manoras untersagt eine Herausgabe der Phantombilder. Der V-Mann-Zeuge, den die Ermittler als zuverlässig beschreiben, sei unglaubwürdig. Außerdem beruft sich Meyer-Manoras auf ein neurologisches Gutachten, nachdem die Angaben von Martin Arnold nicht verwertbar seien.

In Unterlagen der Bundesanwaltschaft vom März 2012, die für den NSU-Untersuchungsausschuss des Bundestages zusammengestellt wurden, steht dagegen: »Keines der Phantombilder kann als irrelevant bewertet werden.« Ebenfalls in dieser Zeit mussten das Bundeskriminalamt und das LKA Baden-Württemberg zugeben, dass »nach wie vor keine Klarheit über Ablauf und Anzahl der beteiligten Personen« bestehe. Im Ermittlungsbericht der Bundesanwaltschaft vom 22. Oktober 2012 vermerkt das BKA: »Ein eindeutiger Nachweis, dass zumindest Uwe Böhnhardt und Uwe Mundlos am Tattag in unmittelbarer Tatortnähe waren, konnte bislang nicht erbracht werden.«

Doch nur zwei Wochen später behauptet die Bundesanwaltschaft das genaue Gegenteil. Der Mord sei von Mundlos und Böhnhardt verübt worden, »Anhaltspunkte, dass mehr als zwei Personen an der Tat beteiligt waren, bestehen (…) nicht«, heißt es in der Anklageschrift gegen Beate Zschäpe vom 5. November 2012. Und weiter: »Soweit einige Zeugen in Tatortnähe blutverschmierte Personen beschreiben, kann es sich schon aus zeitlichen Gründen nicht um Uwe Böhnhardt und Uwe Mundlos gehandelt haben.« Denn laut GBA saßen die beiden Rechtsextremisten zu diesem Zeitpunkt bereits in einem Wohnmobil und flohen aus der Stadt. Eine 180-Grad-Wende.

Denn bislang konnte die Bundesanwaltschaft die These nicht belegen, dass sich im Camper tatsächlich Böhnhardt und Mundlos befanden. Ausgeschlossen ist das keineswegs. Angenommen, die beiden mutmaßlichen NSU-Mitglieder fuhren in dem Wohnmobil nach Heilbronn um Polizisten zu töten. In diesem Fall gäbe es Indizien dafür, dass Michèle Kiesewetter kein Zufallsopfer war. Um das zu verstehen, muss man die Umstände der anderen Attentate beleuchten: Die Ermittler fanden heraus, dass Böhnhardt und Mundlos bei fünf der neun Morde und den Bombenanschlägen in Köln kurz zuvor ein Wohnmobil gebucht und unmittelbar nach der Tat zurückgegeben hatten. Im Frühjahr 2007 reservierten die zwei das Reisemobil zunächst vom 16. bis zum 19. April. Später verlängerte Böhnhardt die Mietdauer telefonisch um eine Woche bis zum 26. April. Falls die beiden Neonazis in dieser Zeit einen Mord geplant hatten, warum verschoben sie ihn? Eine Antwort könnte Kiesewetters Dienstplan sein. Ab dem 16. April hatte die Polizistin dienstfrei, am 19. April fuhr sie zu ihren Eltern nach Oberweißbach. Von dort erklärte sie sich bereit, am 25. April für einen kranken Kollegen einzuspringen. An diesem Tag starb Michèle Kiesewetter. Sollte es einen Zusammenhang geben zwischen geändertem Einsatzplan und der geänderten Mietdauer, dann wäre die Beamtin gezielt getötet worden.

Aber unabhängig davon, wer tatsächlich in dem Wohnmobil gesessen hat, bleibt die Frage nach den blutverschmierten Verdächtigen am Tatort. Warum schließt die Bundesanwaltschaft kategorisch aus, was sie und die Ermittler zuvor noch für einleuchtend hielten – dass am Polizistenmord mehr als zwei Täter beteiligt waren? Diese Frage stellt sich auch Yavuz Narin. Der Anwalt vertritt Angehörige von Theodoros Boulgaridés, der am 15. Juni 2005 am Tresen seines Schlüsseldienstes in München erschossen wurde. »Gab es später Dinge, die die Zeugenaussagen unplausibel werden ließen?«, erkundigt sich Yavuz am 30. Januar 2014 vor dem Münchner Oberlandesgericht (OLG) bei dem mittlerweile pensionierten LKA-Beamten Herbert T. »Mir ist kein Fall bekannt, in dem es so viele Zeugen gibt, die ergänzend aussagen«, antwortete T.

Doch die Zeugenaussagen korrespondieren nicht nur untereinander. Sie passen auch zu den Fallanalysen der Profiler. Dort heißt es unter anderem, dass sich »die Täter beim Entwenden der Waffen über die blutenden Opfer beugen mussten und dabei ihre Kleidung großflächig verschmutzt worden sei«. Sollte jedoch die Bundesanwaltschaft mit ihrer Zwei-Täter-These richtig liegen, dann hätten sich nicht nur die Zeugen, darunter ein verlässlicher Polizeiinformant, geirrt, sondern auch Ermittler von LKA und BKA. Einer von ihnen, der erfahrene Kriminalist T., wirkte verbittert, als er vor dem OLG berichtete, wie ihn die Staatsanwaltschaft anwies, die Phantombilder in der Schublade zu lassen.

Im Juli 2013 gelangen die Porträts dann doch noch an die Öffentlichkeit – und sorgen für eine erneute Wende in dem Fall. Nachdem einige Medien, darunter die Stuttgarter Internet-Wochenzeitung Kontext, die Bilder publiziert hatten, meldet sich Günter S., ein früherer Beamter des baden-württembergischen Verfassungsschutzes, beim Stuttgarter Innenministerium. Der Mann auf einem der Phantombilder erinnere ihn an Torsten O., einen früheren Informanten, erklärt Günter S. V-Mann O. habe ihm 2003 von einer rechtsterroristischen Gruppe mit dem Namen »NSU« berichtet sowie Namen von Mitgliedern der braunen Truppe genannt. Einer davon: Uwe Mundlos. Seinerzeit sei das Amt diesem Hinweis nicht nachgegangen, so der frühere Geheimdienstler.

Sollten die Angaben von Günter S. zutreffen, dann wäre das ein Skandal. Und zumindest einen kleinen Teil davon hätte die Heilbronner Staatsanwaltschaft zu verantworten, die verhinderte, dass Phantombilder veröffentlicht werden, die eventuell Licht in den rätselhaften Mordfall gebracht hätten. Erklärungsbedürftig wäre allemal, warum ein V-Mann des Verfassungsschutzes ausgerechnet zur Tatzeit am Tatort war. Das Innenministerium betont, zwischen dem Phantombild und Torsten O. bestehe »keine Ähnlichkeit«. Doch völlig abwegig ist es nicht, dass es sich bei O. und dem Mann auf der Theresienwiese um dieselbe Person handelt. Der Rentner, nach dessen Angaben das Phantombild gezeichnet wurde, erinnert sich noch gut an diese Begegnung. Eine dreiviertel Stunde vor dem Mordanschlag habe sich der Mann zusammen mit drei weiteren Personen am Rande der Theresienwiese aufgehalten. »Zwei standen, zwei kauerten im Gras; sie redeten nicht und waren keine Schausteller, die vier sahen aus, als ob sie auf irgendetwas warten«, erzählt der Zeuge dem Journalisten Thomas Moser. »Etwa zwei Meter groß, ein Kerl wie ein Schrank«, sei der Mann gewesen, so der Rentner weiter. Das deckt sich mit den Erinnerungen von Ex-Verfassungsschützer Günter S. Der beschreibt seinen früheren Informanten Torsten O. so: »Zirka 1,90 Meter groß mit stattlicher Figur.« Doch was der Hüne – V-Mann oder nicht – beobachtet hat an jenem 25. April 2007, bleibt bislang im Dunkeln.

Agententreff in Tatortnähe

Offiziell bestätigt ist dagegen, dass an diesem Tag zwei weitere V-Leute der Heilbronner Polizei in Tatortnähe waren. So steht es in einem Bericht des LKA an die Bundesanwaltschaft. Wo sich die Informanten genau aufhielten, ist unklar. Beide Männer erklärten jedoch unabhängig voneinander, dass die möglichen Täter aus dem Milieu der Organisierten Kriminalität (OK) stammten.

Tatsächlich hatten die Ermittler konkrete Hinweise in diese Richtung. Das zeigt ein interner E-Mail-Verkehr zwischen Beamten des LKA Baden-Württemberg vom April 2009. Daraus geht hervor, dass die Kriminalisten Handy-Rufnummern, die am Tattag zwischen 13 Uhr und 14.30 Uhr in Heilbronner Funkzellen eingebucht waren, zu einem Abgleich an Europol übermittelten. Die Europäische Polizeibehörde mit Sitz in Den Haag fand eine oder mehrere dieser Nummern in ihren Datenbanken und schickte die Kreuztreffer als Textdokument an die deutschen Ermittler. Der Name dieser Datei: »Aw from AWF EEOC.doc«. Die Großbuchstabenfolge steht für »Analysis Work Files Eastern European Organized Crime«. Die Nummern tauchen also in Europol-Datenbanken auf, in denen Fälle der Organisierten Kriminalität aus Osteuropa gespeichert werden. Zum Zeitpunkt des Mordes müssen Personen in Heilbronn gewesen sein, die Verbindungen zu solchen Gruppen haben. Die Aussage von Vertrauensperson »VP 1749«, nach der jene flüchtende Person mit blutverschmiertem Arm vom Fahrer mit den russischen Worten »dawai, dawai« angesprochen wurde, bekommt so zusätzliches Gewicht.

Die Stuttgarter LKA-Ermittler nahmen die Europol-Recherche zunächst ernst. »Da diese Treffermitteilungen möglicherweise neue Ermittlungsansätze bieten, bitte ich dich um Mitteilung, wann genau die jeweiligen Treffernummern eingebucht waren (Zeit, Gesprächsdauer, Teilnehmer, AB-Nummer etc.), damit wir die Dinge auch bewerten können«, schreibt eine Mitarbeiterin der Abteilung »Auswertung« an ihren Kollegen. Außerdem will sie herausfinden, ob die möglichen Täter bereits auf der Theresienwiese lauerten, als die zwei Polizisten gegen 11.30 Uhr erstmals an diesem Tag auf dem Gelände auftauchten: »Wäre es nicht sinnvoll, auch die Nummern an Europol zu schicken, die den Zeitraum am Vormittag betreffen, wo der GP-BMW (das Fahrzeug von Kiesewetter und Arnold, Anm. d. Autors) am Tatort war?«, fragt die Beamtin. Doch ihr Vorschlag wird damals abgelehnt. Es solle »keinen neuen Datenversand an Den Haag« geben, entscheidet ein Vorgesetzter. Und selbst die bereits von Europol übermittelten Treffer werden zunächst nicht ausgewertet, heißt es in einem internen LKA-Papier vom 18. Juni 2009. Es ist zumindest unkonventionell, wenn Ermittler bei der Suche nach Mördern darauf verzichten, solchen Hinweisen umfassend nachzugehen.

Ähnlich bemerkenswert ist die Geschichte eines baden-württembergischen Verfassungsschutzmitarbeiters, der am Anschlagstag in Heilbronn war. Bereits 2011 hatte der stern berichtet, dass deutsche Agenten und Angehörige des US-Militärgeheimdienstes DIA möglicherweise den Mord an der Polizistin während einer Observation beobachtet hatten. Der Report sorgte für helle Aufregung und das Stuttgarter Innenministerium versicherte eilig, Geheimdienstleute seien zu diesem Zeitpunkt nicht in Heilbronn gewesen.

Eine Falschdarstellung der Behörde. Im August 2013 berichten die Stuttgarter Nachrichten, Verfassungsschutzpräsidentin Beate Bube habe bestätigt, dass sich ein Agent des Landesverfassungsschutzes am Tattag in Heilbronn mit einer Person aus dem Bereich Islamismus treffen wollte, um diese als Informanten zu gewinnen. Einer von Bubes Mitarbeitern widerspricht seiner Chefin. Die Reise habe »einer hochrangigen Zielperson aus dem Bereich Rechtsextremismus« gegolten, zitiert das Blatt den anonymen Insider. Uneins ist man sich beim Verfassungsschutz anscheinend auch über den Reiseverlauf des Mitarbeiters. »Während es noch am Mordtag auf den Fluren des Landesamtes in der Taubenheimstraße hieß, der Werber sei wegen der Polizeikontrollen gar nicht erst nach Heilbronn hereingekommen und deshalb umgekehrt, gab sein früherer Chef dem Untersuchungsausschuss zu Protokoll, der Mitarbeiter kam auf dem Rückweg nicht mehr raus, weil er in diese Polizeikontrollen dann auch hineingeraten ist«, so die Stuttgarter Nachrichten. Entlarvend ist in diesem Zusammenhang auch eine interne E-Mail von Ende November 2011, die im Bundestags-Untersuchungsausschuss bekannt wurde. Darin schreibt ein Stuttgarter Verfassungsschützer an die Chefetage: Gegenüber den bayerischen Kollegen habe man die »Anwesenheit« des eigenen Kollegen nicht erwähnt.

Geschichte eines Elitepolizisten

Merkwürdig ist auch die Geschichte von Thomas B. Zur Tatzeit ist der Zugführer der Beweissicherungs- und Festnahmeeinheit 523 nicht in Heilbronn. Später wird der Polizist eine ganz eigene Version vom Verbrechen präsentieren. Im Jahr 2007 ist Thomas B. der Vorgesetzte von Michèle Kiesewetter. Schon damals kann er auf eine bewegte Karriere zurückblicken. Nach seiner Polizeiausbildung wechselte der heute 44-Jährige 1991 zum Sondereinsatzkommando (SEK) Baden-Württemberg, wo er es bis zum stellvertretenden Präzisionsschützenführer brachte. Parallel dazu studierte er und trainierte mit ausländischen Spezialeinheiten. Bei den slowenischen SES übte B., Schiffe zu stürmen, im libyschen Tripolis besuchte er einen Personenschutz-Lehrgang und in Los Angeles ließ er sich vier Wochen lang bei der US-Spezialeinheit SWAT weiterbilden. 2004 wechselt der Elitepolizist zur Bereitschaftspolizei Böblingen. Einen zwischenzeitlichen Karriereknick musste Thomas B. im April 2010 verkraften. Damals suspendierte man ihn für zehn Monate vom Dienst. Grund war die »Libyen-Affäre«, bei der gegen 30 deutsche SEK-Beamte ermittelt wurde, die in ihrer Freizeit Sicherheitskräfte des libyschen Staatschefs Muammar Al-Gaddafi ausgebildet haben sollen. Doch im Januar 2011 kehrt er als Zugführer auf seinen ursprünglichen Posten bei der Beweissicherungs- und Festnahmeeinheit 523 der Böblinger Polizei zurück.

Am Tag als Michèle Kiesewetter stirbt, hat Thomas B. dienstfrei – wie fast alle Kollegen des Einsatzzuges 523. Die Sonne scheint und er ist alleine in seiner Wohnung in Gerlingen, einer kleinen Gemeinde am Stadtrand von Stuttgart; sein Sohn lernt in der Schule, die Lebensgefährtin, selbst Polizistin, arbeitet. Also schnappt sich Thomas B. am Vormittag sein neues Rad und fährt von Gerlingen aus zum Bärensee. In einem Waldgebiet westlich des Sees klingelt sein Handy. Am anderen Ende der Leitung ist seine Lebensgefährtin, die ihm von einer Schießerei mit Polizisten in Heilbronn erzählt. Von da an läutet das Telefon ununterbrochen. Irgendwann ist Polizeiobermeister Timo H. am Apparat. Michèle sei tot, er stehe direkt neben ihr, sagt H. hörbar geschockt. »Von da an fing ich einfach an zu funktionieren und habe jedes Zeitgefühl verloren«, erzählt Thomas B. bei einer Vernehmung im Mai 2011.

Thomas B. düst mit dem Bike nach Hause, etwa 20 Minuten braucht er dafür. Er duscht sich, steigt in seinen Seat und fährt nach Heilbronn. Unterwegs habe er sich einem Konvoi ziviler Polizeifahrzeuge angeschlossen, die ebenfalls unterwegs zum Tatort waren. »Die ganze Zeit war ich ständig am Telefon«, erinnert sich B. Die Spurensicherung ist bereits vor Ort, als Thomas B. auf der Theresienwiese eintrifft. Er sieht Michèle Kiesewetter neben dem Polizeifahrzeug liegen und – reagiert ungewöhnlich. Genau 15.26 Uhr wählt er die Handynummer seiner toten Kollegin. So steht es in den Ermittlungsakten. Eine einleuchtende Erklärung, warum Thomas B. vom Tatort aus die anderthalb Stunden zuvor ermordete Polizistin anruft, sucht man in den Unterlagen vergebens.

Dafür äußert er sich in späteren Zeugenvernehmungen ausführlich über mögliche Mordmotive. »Ich glaube nicht, dass es sich hierbei um einen gezielten Anschlag auf die Kollegen Kiesewetter und Arnold (…) gehandelt hat«, sagt Thomas B. am 4. Mai 2007. Sein Freund Brian G., ein ehemaliger Angehöriger der US-Special-Forces, der mehrere Jahre auf dem Balkan stationiert war, habe behauptet, dass der Polizistenmord mit dem Ermittlungsverfahren »Da Capo« gegen eine kriminelle Gruppe aus Ex-Jugoslawien zusammenhänge. Tatsächlich wohnte der verurteilte Haupttäter in Heilbronn. Tatsächlich war Thomas B. zumindest am Rande in die Ermittlungen involviert. Und tatsächlich hatte es nach seinen Angaben zuvor Anschläge auf ihn und seine Lebensgefährtin gegeben, beispielsweise gelockerte Radmuttern und eingeschnittene Autoventile an den Fahrzeugen der beiden. »Durch die Gespräche mit Brian und anderen fachkundigen Soldaten wurde ich darauf hingewiesen, dass dieser Polizistenmord definitiv etwas mit meiner Jugo-Geschichte zu tun hat. Auch heute kann und will ich mir diesen Zusammenhang nicht vorstellen, allerdings haben mich die letzten Jahre gelehrt, eher auf meine Freunde aus dem Kreise der Spezialeinheiten zu hören als auf meine deutschen Kollegen, die mich lange Zeit sehr kritisch gesehen, belächelt und erst hinterher die Zusammenhänge gesehen haben«, erklärt Kiesewetters Chef am 23. Mai 2011.

Der LKA-Ermittler hakt nach: »Was meinst du mit ›hinterher die Zusammenhänge gesehen haben‹?« Im Gegensatz zu seinen Kollegen habe der US-Elitesoldat Brian G. die Manipulationen an den Fahrzeugen sehr ernst genommen und vorausgesagt, dass er sich in einer latenten Gefahr befinde, denn Ventil-Anschnitte gegen ermittelnde Polizeibeamte seien auf dem Balkan an der Tagesordnung, unter anderem um schwere Verkehrsunfälle zu provozieren. Auf den Einwand von Thomas B., er könne jedoch keine Verknüpfung zwischen der Heilbronn-Tat und seiner Gefährdungsgeschichte erkennen, habe Brian G. erwidert, dass man mit diesem »lauten Mord«, also mit großkalibrigen Waffen mitten in der Stadt am helllichten Tag, ein »klares Zeichen der Potenz setzen« wollte. Aus Sicht von Ex-Special-Forces-Mann Brian G. waren die beiden Polizisten »Ersatzziele« für einen Anschlag, der eigentlich Thomas B. galt oder aber eine grausame Warnung an den früheren SEK’ler. Ob aus der Einschätzung von G. Ermittlungen resultierten, geht aus den Akten nicht hervor.