Thomas Pfanner
Psychozoikum
SF – Thriller
© 2014 AAVAA Verlag
Alle Rechte vorbehalten
1. Auflage 2014
Umschlaggestaltung: AAVAA Verlag
Coverbild: Fotolia, 57777848 - élévation du corps© BLACK ME
Printed in Germany
AAVAA print+design
Taschenbuch: ISBN 978-3-8459-1179-3
Großdruck: ISBN 978-3-8459-1180-9
eBook epub: ISBN 978-3-8459-1181-6
eBook PDF: ISBN 978-3-8459-1182-3
Sonderdruck: Mini-Buch ohne ISBN
AAVAA Verlag, Hohen Neuendorf, bei Berlin
www.aavaa-verlag.com
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Alle Personen und Namen innerhalb dieses eBooks sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden Personen sind zufällig und nicht beabsichtigt.
SF-Autoren beschreiben eine Zukunft, von der sie hoffen, sie möge niemals eintreten.
In diesem Buch sind einige heutige Entwicklungen auf die Spitze getrieben, nach dem Motto: Gib Menschen die Möglichkeit, grausam und egoistisch die Menschheit in den Abgrund reißen zu können, und sie werden sie auf der Stelle nutzen.
Dass ich die Gelegenheit fand, in diesem Buch gleichzeitig eine Erklärung für das Verschwinden der Neandertaler zu präsentieren, stellt meine persönliche Belohnung dar.
Ansonsten möchte ich daran erinnern, dass ich nur der Überbringer der schlechten Nachrichten bin, nicht der Verursacher.
Ich danke den Frauen um mich herum, Josi, Madita, Viola, und Mona Lisa.
Und Jimmy, Chris Shanton’s Roboter-Hund!
Th. Pfanner, 2013
Die Angst machte die Luft in der Kabine noch stickiger. Es stank regelrecht nach Panik. Als ob dies noch nicht genug wäre, vereinigten sich zahlreiche unterdrückte Rufe mit dem vielstimmigen Weinen der Frauen und Kinder zu einer ganz und gar unheilvollen Geräuschkulisse. Der kleine gedrungene Mann am Fenster schürzte angewidert die Lippen und schaute nach draußen, um nicht zu sehr mit dem ganzen Elend konfrontiert zu werden. Auch dort nur Nebel und Dunkelheit. Er seufzte aus tiefstem Herzen und stellte sich der Erkenntnis, dass er die Unausweichlichkeit der Situation nicht weiter ignorieren konnte. Zutiefst verärgert spürte er beinahe körperlich, dass die ganze Angelegenheit wieder einmal an ihm hängen bleiben werde. Niemand sonst besaß die Entschlossenheit, den Überblick und die richtige Ausbildung, um ihn herum nur elende Amateure, die sich hemmungslos den verschiedensten Spielarten menschlichen Versagens hingaben, von der einfachen Panik bis zum völligen Durchdrehen.
Er wandte den Kopf und betrachtete die Szenerie nun ernsthaft und erstmals unter taktischen Gesichtspunkten. Die relativ enge Kabine der Boeing Supercruise ließ nur Platz für sieben Sitzreihen, zwei an jeder Seite und drei in der Mitte. In den beiden Durchgängen patrouillierten die Entführer. Tief vermummt gestikulierten sie mit ihren Maschinenpistolen, eilten hektisch hin und her, immer auf der Suche nach möglicherweise aufflammendem Widerstand. Sie packten hier und da einzelne Menschen an den Haaren, und zeigten mit ihren Waffen auf die Köpfe ihrer Opfer, steigerten dergestalt unablässig Angst und Panik bei den Passagieren, und dadurch wiederum ihre eigene Unsicherheit.
Die Eskalation schraubte sich unaufhaltsam ihrem Höhepunkt entgegen. Kühl schätzte er die verbleibende Zeit auf weniger als fünfzehn Minuten. Bis dahin würden ein paar Passagiere endgültig durchdrehen, schreiend aufspringen und einen sinnlosen Fluchtversuch in die Arme schießender Terroristen unternehmen, der mit ihrem unverzüglichen Ableben enden musste. Oder einer der Bewaffneten verlor die ohnehin kaum noch vorhandene Geduld und zündete die an einer der Türen befestigte Bombe. Oder sie flogen alle zusammen in ein Hindernis, einen letzten Fluch auf den Lippen.
In dem sich langsam steigernden Durcheinander versuchten drei Flugbegleiterinnen mit letzter Kraft, beruhigend auf beide Seiten einzuwirken, dabei sehr bemüht, selbst nicht die Nerven zu verlieren. Der kleine Mann schaute unbewegt umher, ließ einige Sekunden lang diese nahezu perfekte Choreografie aus menschlichen Schwächen und Bösartigkeiten auf sich wirken, dann fügte er sich in das Unvermeidliche, seufzte noch einmal inbrünstig und machte sich bereit. Er fasste eine der Flugbegleiterinnen ins Auge. Schwankend näherte sie sich seinem Platz, unsicher mit einer Kanne Saft und ein paar Bechern balancierend. Wie konnten diese fliegenden Kellnerinnen nur annehmen, einen verblendeten Fanatiker mit Orangensaft besänftigen zu können? Unwirsch winkte er sie heran. Fast dankbar kam sie die paar Schritte zu ihm hin und beugte ihr wächsernes Gesicht herunter, sodass er die abstoßende Mischung aus teurem Parfum und kaltem Schweiß auch wirklich gut riechen konnte.
Er verzog das Gesicht, umklammerte ihr eiskaltes Handgelenk und unterstützte durch einen kräftigen Druck seine eindringliche Aufforderung: »Bringen Sie mir das Piloten-Handbuch für diese Maschine.«
Die Stewardess blickte ihn entsetzt an, Schweiß tropfte von ihrer Stirn auf seinen Schoß, die Augen versuchten, nach hinten zu den Entführern zu sehen, die Trinkbecher tanzten auf dem Tablett. Die Angst zwang sie fast zu Boden, was jedoch nicht weiter auffiel, da allen anderen Anwesenden ähnlich zumute war. Die Passagiere, das Personal, sogar die Entführer, alle lösten sich langsam in Angst und Panik auf. Bis auf den kleinen Mann und seine Begleiterin. Die Stewardess schien sich in eine Art Starre flüchten zu wollen, sah ihn nur groß an und bibberte vor sich hin. Er rollte mit den Augen, blies genervt die Luft durch die Backen und wiederholte mit Ärger und scharfer Betonung: »Bringen Sie mir das verdammte Buch, in dem drinsteht, wie dieser Vogel geflogen wird. Tun Sie es schnell, sonst sterben wir alle. Los doch!«
Mit schnell hin und her wandernden Bewegungen der Augäpfel versuchte die Stewardess, einen Grund zu finden, aus ihrer Starre auszubrechen. Das Zittern verstärkte sich, vom hinteren Teil der Maschine nahte unverständliches Geschrei und die Frau neben ihm sah den Zeitpunkt für gekommen, sich einzumischen: »Machen Sie es, er versteht was davon«, sprach sie fast sanft mit dunkler Stimme. Und als hätte sie
damit einen Schalter umgelegt, kam Leben in die Stewardess, die sich abrupt umdrehte, dabei zwei Becher verlor, und wie ein Roboter dem Cockpit entgegen strebte, nirgendwo anders hinsehend wie zur Tür, hinter der das Verlangte lag. Die Frau auf dem Nebensitz sprach ihn an, ohne sich zu ihm umzudrehen: »Etwas mehr Einfühlungsvermögen könnte nicht schaden, Uslar. Wenn die Kleine einen Fehler macht, sehen wir ganz schön dumm aus. Du solltest zusehen, die Aktion hier ohne Probleme durchzuziehen.«
Der kleine Mann schüttelte nur in der ihm ureigenen Form von Fassungslosigkeit den Kopf und antwortete in der Art, in der Lehrer zum hundertsten Mal den Dativ erklären: »Johimbe! Wenn du immer alles besser weißt, warum machst du es nicht gleich selbst? Ich arbeite daran, uns beiden den Hintern zu retten, ein wenig Unterstützung deinerseits könnte da wirklich nicht schaden. Immerhin sollen wir aufgrund der absolut nicht nachvollziehbaren Gedankengänge unseres geliebten Chefs als eine Art Team zusammenarbeiten. Aber statt dessen sitzt du reglos in deinem Sessel und denkst vermutlich in melancholischer Weise an unbeschwerte Kindertage zurück.«
Die Frau atmete so scharf ein, dass ihre sehr eng geschnittene Oberbekleidung bedrohlich knirschte, und sah den mindestens einen Kopf kleineren Mann nun mit blitzenden Augen von oben herab doch noch an.
»Wie du sehr wohl weißt, hatte ich nicht einen einzigen unbeschwerten Kindertag. Und genau deshalb werde ich auch niemals melancholisch, was du aber auch weißt. Was mich aber unheimlich auf die Palme bringt, ist deine unterirdische Selbstgefälligkeit, mit der du uns alle in Gefahr bringst. Du solltest wenigstens ansatzweise die Panik der Passagiere nachahmen, sonst wird diesen unglaublich hirnlosen Entführern am Ende doch noch auffallen, wer da neben mir sitzt.«
Uslar formte die Lippen zu einem lautlosen blablabla, wischte sich jedoch sofort die Pose vom Gesicht, als die Stewardess herankam, mit starrem Blick an ihnen vorbei sah, staksig vorbeiging und im Gehen das kleine Handbuch ansatzlos aus dem Handgelenk in ihre Sitzreihe warf. Uslar fing es mit einer erstaunlich schnellen Bewegung in der Luft auf und ab da nahm er nichts mehr wahr. In den nächsten Minuten spielte sich eine unwirkliche Szene ab. Uslar hielt das Handbuch verkrampft auf seinem Schoß fest und versenkte sich mit höchster Konzentration darin, sah sich jede Seite etwa vier Sekunden lang an, schloss für weitere vier Sekunden die Augen, blätterte dann mit einer heftigen Bewegung um und las wiederum vier Sekunden. Dabei pendelte sein Oberkörper sanft vor und zurück, der Rücken krümmte sich, als ob er das Buch umzingeln wollte, und erst jetzt begann er zu schwitzen.
Vorne am Cockpit entstand gleichzeitig ein Tumult, als der Pilot in die Kabine gezerrt, von einem der Attentäter niedergeschlagen, mehrmals getreten und schließlich angespuckt wurde. Das allgemeine Gejammer steigerte sich zusehends zu einem entsetzlichen Geheul, was die Bewaffneten wiederum noch stärker unter Stress setzte. Ein Blick auf ihren Nebenmann brachte Johimbe die Erkenntnis, dass es knapp werden könnte, wenn sie das Ende seiner Studien abwartete. Niemand konnte vorhersagen, wann dessen von autistischer Konsequenz geprägte Lernphase abgeschlossen sein würde. Sie entschloss sich, in Anbetracht der kritischen Situation nun doch zu handeln. Kühl wog sie ihre Chancen ab. Zwei Mann vorne am Cockpit, einer hinter ihr. Sie sah keine Probleme. Sie wartete, bis der eine Mann von hinten an ihr vorbei wollte, und erhob sich ganz langsam. Der Vermummte drehte sich zu ihr um, hob die Waffe, um mit dem Kolben auf sie einzuschlagen, hielt jedoch unvermittelt inne. Johimbe sah ihm tief in die Augen, was für den Mann schon ein echtes Schauspiel darstellte, da sie einerseits den kleinen, stämmigen Araber sicher um zwanzig Zentimeter überragte, andererseits über außerordentlich große und ausdrucksstarke hellblaue Augen verfügte. In Höhe seiner Augen steckte sie eine Hand in die Lücke zwischen den beiden Knöpfen, die versuchten, ihren perfekt runden Busen in das leicht militärisch wirkende Hemd eingeschlossen zu halten. Als sie mit dem Daumen einen dieser Knöpfe aufschnippte, war die Hypnose fast komplett, das Sturmgewehr begab sich auf den Weg nach unten.
In diesem Augenblick begannen die Probleme. Aus den Augenwinkeln sah sie, wie vorne beim Cockpit einer der Attentäter seine Waffe fallen ließ, in sein Hemd griff, ein Messer herausriss und es in einer schnellen Bewegung dem am Boden liegenden Mann in den Hals stieß. Allgemeines Geschrei vermochte den jubelnden Kampfruf des Mörders nicht zu übertönen. Der von ihr hypnotisierte Mann zwinkerte, die Augen begannen, sich wieder scharf zu stellen, keine Zeit mehr. Entschlossen ließ sie ihre Hände nach vorne zucken und zerdrückte dem Mann mit dem brutalen Griff beider Daumen den Kehlkopf, bemächtigte sich der Waffe des mit ungläubigem Staunen in den Augen Fallenden, drehte sich mit der erbeuteten AK77 um, zielte und drückte ab. Nichts! Sie bemerkte nicht unerschrocken, dass offensichtlich eine spezielle Sorte Attentäter über diese Erde wandelte, die im Einsatz die Waffe sicherte. Die beiden Anderen beim Cockpit sahen von ihrem Opfer hoch, die Befriedigung über das gerade angerichtete Blutbad wich einer spontanen Verärgerung und sie begannen, ihre Sturmgewehre auf das neue Ziel zu richten. Das Umlegen eines Sicherungshebels dauerte hingegen nicht annähernd so lange wie das Greifen und hHochreißen kompletter Gewehre. Ein kurzer Feuerstoß, und die beiden Männer kippten, von hervorspritzendem Blut umrahmt, nach hinten. Unglücklicherweise starb auch eine Stewardess, die sich zu dicht am Geschehen befand, zufällig diejenige, die ihnen das Handbuch geliefert hatte.
Doch das bekümmerte Johimbe nicht weiter, eher schon der Umstand, dass einige Geschosse die Außenhaut der Maschine durchschlagen hatten und nun ein scharfes Pfeifen das Absinken des Kabinendrucks signalisierte. Ärgerlich warf sie die Waffe hin und wandte sich an den Mann, der völlig unberührt von allen Geschehnissen weiter die Seiten des Handbuchs in sich aufsog: »Uslar, beweg dich, es wird ernst.«
Er beachtete sie nicht, stierte nur auf das Buch und pendelte mit dem Oberkörper. Sie sah zu den Passagieren, Panik griff um sich, einige Leute liefen durch die Gänge, um sich die Toten anzusehen, dabei mit denen zusammenstoßend, die von den Toten weg zu den Toiletten strebten. Johimbe musste jetzt handeln, sonst würden die schmalen Gänge zwischen den Sitzreihen verstopft sein von Menschen, die auch auf ihren Kommando-Ton nicht mehr hören würden. Kurz entschlossen schnappte sie sich Uslar, griff mit beiden Händen unter seine Arme und trug ihn vor sich wie ein kleines Kind, das sich gerade bis zum Stehkragen vollgemacht hatte. Dies fiel ihr leicht, war er doch nicht nur wesentlich kleiner als sie, sondern auch dürr und leichtgewichtig. Wieder einmal zahlte sich das tägliche Training aus, ihre athletische Figur erinnerte sehr deutlich an eine Kurzstreckenläuferin, wenn auch eine mit weichen Gesichtszügen und großem Busen.
Ohne sich die Mühe zu machen, die Leute anzusprechen, schob sie Uslar vor sich her, drängte mit seinem Körper einzelne im Weg stehende Personen weg, wodurch das Handbuch ein- oder zweimal an seinen Körper gedrückt wurde. Ohne Reaktion auf die Ereignisse legte er es sich wieder zurecht, wie in Trance regte er sich nicht, selbst als sie ihn unsanft und mit Schwung in den Pilotensessel fallen ließ. Sie besah sich die Sache einige Sekunden von oben, der Tumult in der Kabine wurde stetig lauter, obwohl sich die Luft spürbar verdünnte. Sie bemerkte, dass er nur noch wenige Seiten zu bewältigen hatte und verkürzte entschlossen den Lauf der Dinge. Mit leichtem Schwung schlug sie ihm aufs Ohr, nahm ihm gleichzeitig das Buch weg und warf es hinter sich. Uslar wurde wach, schüttelte benommen den Kopf und blickte halb angewidert zu ihr hoch und keifte: »Bist du blöd? Ich bin noch nicht fertig.«
Sie zögerte eine Sekunde, gerade lange genug, um sich für das Wort und gegen eine weitere Ohrfeige zu entscheiden und erwiderte barsch: »Aber wir sind alle fertig. Während deiner virtuellen Abwesenheit wurden ein paar Leute getötet und ein paar Löcher in die Außenhaut gestanzt. Die Luft wird knapp und der Verstand der Leute hier löst sich ebenfalls in Wohlgefallen aus. Also nimm die Hände an den Knüppel und mach einen Sinkflug, aber bitte recht hastig.«
Er traf keinerlei Anstalten, ihrer Aufforderung nachzukommen, nahm sich statt dessen die Zeit, seine Mimik in den Normalzustand zu bringen, also reichlich bedient und entnervt auszusehen. Außerdem nahm er sich wie immer die Zeit, einen Kommentar abzugeben: »Einfach so ist das alles passiert, wie? Johimbe, du hast nicht zufällig etwas damit zu tun, nein? Und wieder einmal soll ich die Kastanien aus dem Feuer holen, wenn Madame für eine mittlere Katastrophe gesorgt hat.«
»Wer zum Teufel soll denn sonst etwas damit zu tun haben? Du warst ja mit lesen beschäftigt.«
Sie wollte noch mehr sagen, doch Uslar kam ihr zuvor, indem er ohne Erwiderung den Kopfhörer aufsetzte, mehr um sie los zu werden denn aus den sachlichen Gründen, die sich hinter ihnen in der Kabine Bahn brachen. Er orientierte sich kurz und ging dann die Kontrollen der Maschine in der gleichen Weise durch, wie er es zuvor mit dem Handbuch getan hatte, wobei er das drängende Quäken der Automatenstimme ignorierte, mit der der Bordrechner einen Sinkflug anmahnte. Sie atmete ihren Ärger aus und setzte sich auf den zweiten Pilotensessel, um sich anzusehen, auf welche Weise der kleine Mann wohl ihrer aller Rettung bewerkstelligen würde. Tatsächlich dauerte es nicht lange. Ein Ruck ging durch Uslar, er griff plötzlich zu dem kleinen Sidestick, betätigte mit fliegenden Händen einige Schalter und Taster.
Die Nase der Maschine kippte schnell und gründlich nach unten, eine Hupe gab kurze, laute Töne von sich, die Automatenstimme quäkte nun fortwährend und viel lauter als zuvor »pull up! pull up!«, die Passagiere einigten sich sekundenschnell auf einen einheitlichen, lang gezogenen Schrei. Die Maschine selbst schüttelte sich unwillig, die Delta-Tragflächen begannen kräftig zu vibrieren, und in dem ganzen Durcheinander tippte Uslar konzentriert und ohne Anzeichen von Hektik ein paar Kommandos in den Bordrechner. Johimbe spähte aus dem Seitenfenster und verfolgte mit, wie die Häuser und Felder unter ihr rasch größer wurden.
Sie machte sich keine Sorgen, kannte sie doch seinen ausgeprägten Hang zu Rettungen in letzter Sekunde. Außerdem widersprach es ihrem Naturell, die Möglichkeit ihres baldigen Todes zu berücksichtigen. Als sie auch die Hochspannungsmasten mühelos erkennen konnte, jagte Uslar die Turbinen auf Maximum und zog das Flugzeug unter protestierenden Geräuschen aus der Verkleidung in die Waagerechte. Während der Lärm der Motoren das Knirschen der Hülle fast völlig übertönte, die Passagiere dankbar und mit zunehmender Sprachlosigkeit bemerkten, dass sie unter Umständen doch noch nicht sterben würden, sprach Uslar schon über Funk mit dem Tower. Was er hörte, schien ihm nicht zu gefallen, er schüttelte mehrfach ungläubig den Kopf, schlug sich zweimal mit der flachen Hand gegen die Stirn, und murmelte unhörbare Flüche. Schließlich fand er die Sprache wieder, für ein einziges Wort, mit höchster Verachtung ausgespuckt:
»Amateure!«
Sie kannte ihn gut genug, um zu wissen, dass er dieses Wort nur im Falle größerer Probleme benutzte. Um sicherzugehen, fragte sie nach: »Was kann es denn außerhalb dieses Flugzeugs noch für Schwierigkeiten geben?«
Uslar zog die Maschine in einen leichten Steigflug und knurrte abfällig: »Das wird dir gefallen. Diese völlig bescheuerten Terroristen haben in ihrem unendlich sinnentleerten Wahn den überwiegenden Teil des Treibstoffes abgelassen. Das heißt, wir müssen in den nächsten...«, er nahm einige Einstellung am Zentraldisplay vor, »neun Minuten landen. Köln-Bonn ist durch glückliche Umstände sieben Minuten entfernt. Es reicht also gerade für einen einzigen Landeanflug. Kein sicherer zweiter Versuch möglich, erst recht keine Chance auf einen Ausweichplatz. Und nun höre ich, dass der Platz geschlossen ist. Das Allerbeste ist aber der Grund: Man beliebt zu streiken!«
Johimbe betrachtete grübelnd den kleinen Mann, wie er unbeeindruckt von seinen eigenen Äußerungen damit begann, einen Landeanflug einzuleiten. Sie verstand auch nicht, wo genau das Problem liegen sollte.
»Uslar, das kann es doch nicht sein. Das EU-Direktorat ist ermächtigt, jeden Streik mit Waffengewalt aufzulösen, wenn durch diesen Streik die Produktivität der Konzerne gefährdet ist. Und da das aus Prinzip immer und überall so ist, hat es seit 2021 keinen einzigen Streik gegeben, der länger als dreißig Minuten dauerte.«
Uslar schüttelte den Kopf, nahm in einer schnellen Bewegung den Kopfhörer ab und warf ihn hinter sich. Dann erklärte er ihr voller Abscheu auf die Gruppen, über die er sprach: »So einfach ist das diesmal nicht. Die Gewerkschaft Puccini bestreikt den Flughafen. Sie nennen es jedenfalls einen Streik. Das haben die offenbar gut geplant, denn es handelt sich um etwa siebentausend Teilnehmer. Die Polizei hat nicht genug Leute, weil sie in Köln gerade eine dieser Arbeitsplatz-Lotterien veranstalten. Durch diesen glücklichen Umstand fiel ihnen der Platz kampflos in die Hände, was den Burschen nicht oft gelingt, wenn sie an normalen Tagen eine zünftige Prügelei anfangen. Die Gewerkschafts-Fuzzis haben jedoch leider nebenbei durch irgendwas den Zorn der Deutschen Proletariatspartei erregt, weshalb die auch mit ein paar tausend Mann aufmarschiert sind, um die Brüder, quasi in privater Mission, zur Arbeit zu zwingen. Das haben die Gewerkschafter mit Gegenwehr beantwortet und jetzt ist da unter Aufsicht eines Sprengels EU-Miliz eine riesige Schlägerei im Gange. Mit allem, was dazugehört: Keulen, Messer, Ketten. Wie im alten Rom.«
Er legte deutliche Verachtung in die Stimme, weil er das aber immer tat, wenn es galt, die Aktionen anderer Leute zu kommentieren, sorgte sie sich nicht sonderlich.
»Fein, dann können wir unbemerkt landen und uns verkrümeln, bevor die Behörden Zeit finden, uns zur Kenntnis zu nehmen. Du kannst doch auch ohne Leitstrahl landen.«
Er wedelte abfällig mit der Hand: »So schön ist die Welt schon lange nicht mehr. Diese Genies prügeln sich mitten auf dem Rollfeld. Ich sagte doch: wie im alten Rom. Für gewöhnlich meine ich es genau so, wie ich es sage. Also schalten wir zweitausend Jahre zurück: Ein freies Feld, ein oder zwei Schlachtreihen stehen sich Auge in Auge gegenüber, wildes Gehaue und Geschrei, überall wimmernde Verletzte, alles rennt durcheinander, Chaos pur. Selbst wenn ich da lande und eine Schneise durch den Pöbel ziehe, haben wir anschließend den versammelten Rest am Hals, der uns als kleine Racheaktion lynchen will. Und da wir unsere Jerichos nicht dabei haben, schaffen die das auch. Und sollten wir wider Erwarten doch fliehen können, haben wir ein neues Problem in Gestalt unseres Chefs, der uns wegen der vielen unnötigen Toten zur Schnecke machen wird. Das ist die Lage. Irgendwelche Vorschläge?«
Nun sorgte sie sich doch. Wenn Uslar eine längere Rede hielt, dann gab es keinen Spielraum für schnelle Reaktionen. Andernfalls hätte er geschwiegen und gehandelt. Rasch ging sie die Möglichkeiten durch.
»Gibt es noch mehr, was da unten los ist? Es gibt doch in Köln-Bonn auch eine Rollbahn, die militärisch genutzt wird. Die ist vielleicht frei.«
Uslar zog die Maschine noch etwas weiter hinauf, warf einen Blick aus dem Seitenfenster, korrigierte die Einstellung für die Ruder, und sprach dann weiter.
»Bevor du dich übermäßig freust, auf dieser Rollbahn steht seit zwanzig Stunden ein Jet, der von der KIF gekapert wurde. Die stehen da mitten auf der Bahn, ein paar Unterhändler liegen im Gras, und immer wenn einer mit den Terroristen verhandeln will, grölen die unverständlichen religiösen Quatsch ins Mikro. Die müssen alle völlig besoffen sein.«
»Langsam komme ich durcheinander. Das ist aber nicht dieselbe Truppe, die unser Flugzeug kaperte, oder?«
Uslar zuckte die Achseln, er wusste es nicht und aus Prinzip war es ihm auch so egal. Ein hirnloser Fanatiker blieb ein hirnloser Fanatiker, ganz gleich, welche größenwahnsinnige Organisation ihn losgeschickt haben mochte. Der Zeitpunkt der Entscheidung raste heran, sie überflogen gerade das große Autobahnkreuz bei Siegburg. Uslars düstere Miene hellte sich plötzlich auf.
»Keine Ahnung, die sind wohl mehr von der allgemeinen durchgeknallten Sorte, nichts Spezielles. Ist auch egal. Ich habe eine Idee, was wir machen könnten.«
»Und zwar?«, fragte sie gedehnt. Glänzende Augen im scharf geschnittenen Gesicht ihres Begleiters machten sie immer misstrauisch.
»Ich mache doch zwei Überflüge. Das sollte sie verscheuchen.«
Johimbe riss die Augen auf, deutete seinen plötzlichen Wechsel von angespannter Genervtheit zu freudiger Erregung richtig und schnallte sich mit fliegenden Händen fest. Keinen Augenblick zu früh, mit einem entschlossenen Grunzen nahm Uslar die Schubhebel fast ganz zurück und drückte die Maschine wieder tiefer, so abrupt, dass es sie vom Sitz hob und hart gegen die Gurte drückte. In der Kabine gab es diesmal kein Geschrei, es breitete sich lediglich so etwas wie ein kollektives Luftanhalten aus. Ein Blick in die Miene ihres Nebenmannes riet ihr, die Augen zu schließen, doch das wäre gegen ihre Gewohnheiten gewesen. Der kleine Mann schwitzte stark, Schweiß tropfte von der Spitze seiner beeindruckenden Nase und draußen stürzte das Rollfeld heran.
Die darauf herumwogenden Flecken vergrößerten sich mit rasender Geschwindigkeit und entpuppten sich als umfangreiches Kampfgetümmel. Als sie meinte, fast schon das Weiße in den Augen der Kämpfenden zu erblicken, gab Uslar vollen Schub und fing den Fall ab. Im Vorbeiflug überkam sie die Erinnerung an Weizenfelder, vom Sturm flach gelegt. So sah es da unten jetzt aus. Unter und neben der dahintobenden Supercruise warfen sich Hunderte zu Boden und diese Reaktion pflanzte sich fort wie eine Windbö im Weizenfeld. Dann endete das Rollfeld und Uslar ließ die Boeing steil steigen. Fast unmittelbar danach kippte er die Maschine nach links in eine enge Kurve, sodass Johimbe sehr zügig ihren Blick auf den Flugplatz zurück erhielt.
Was sie sah, beruhigte sie ein wenig. Die wabernden Flecken bewegten sich in schöner Eintracht in Richtung der Grasflächen zu beiden Seiten der Rollbahn. Dann fuhr auch schon das Fahrwerk aus, Uslar schwenkte mit kurzen, ruppigen Manövern auf die korrekte Richtung ein und im nächsten Moment verstummten die Triebwerke. Uslar fluchte wild, das Flugzeug setzte mit einem heftigen Krachen auf und sprang wieder in die Höhe. Die zweite Bodenberührung fiel kaum sanfter aus, doch diesmal gelang es ihm, die Nase der Boeing zu senken und beim dritten Aufsetzen auch am Boden zu halten. Trotzdem blieb ein Problem. Uslar sah sich auf eine merkwürdig unbeteiligte Weise die Menschenmassen an, die ihrerseits dem antriebslos vorbeipreschenden Flugzeug entgeistert hinterher schauten. Durch das laute Poltern des Fahrwerks zum schreien gezwungen, herrschte Johimbe den kleinen Mann an: »Bremsen, Uslar, bremsen! Häng hier nicht rum, es ist noch nicht vorbei.«
Uslar hatte wieder seinen normalen Gesichtsausdruck angenommen und so antwortete er auch wieder auf die gewohnte Art: »Stimmt. Ich kann aber erst ab hundertfünfzig Knoten abwärts die Bremsen benutzen, sonst verglühen sie.«
Mit einem aggressiven Knurren fuhr sie den kleinen Mann an: »Du blöder Hirsch! Was nützen intakte Bremsen, wenn wir zerschellen? Brems jetzt. Sofort!«
Die beiden sahen sich zwei Sekunden lang in die Augen. Uslar zuckte mürrisch die Achseln und tat, wie sie es forderte. Die Landebahn endete fast, da packten die Bremsen und mit lauten, schabenden Geräuschen wurde der Jet langsamer. Allerdings genügte die Wirkung nicht ganz. Unter enormer Lärmentwicklung stürmte die Maschine über den Asphalt hinaus in die Grasflächen hinein, riss nacheinander zwei Zäune weg und bahnte sich ihren Weg durch die angrenzende Heidelandschaft. Mit angehaltenem Atem verfolgte Johimbe, wie die Waldgrenze schnell näher rückte. Dann brach das Bugfahrwerk, der Rumpf krachte zu Boden und pflügte eine Schneise durch den weichen Boden. Dies bewirkte eine zusätzliche Bremsleistung und so kam die ganze Fuhre kurz vor den ersten Bäumen in einer mächtigen Wolke aus Dampf und Erdbrocken zum Stillstand. Im Cockpit atmeten beide im gleichen Augenblick aus. Johimbe öffnete den Mund, um dem kleinen Mann ordentlich die Meinung zu geigen, doch der kam ihr zuvor.
»Bevor du dich hier aufbläst, solltest du dich vordringlich um die Rettung deines Hinterns kümmern. Wir müssen hier flott verschwinden, bestimmt kommt gleich eine größere Abordnung unserer Freunde vom Rollfeld hier an, um uns überschwänglich für die Spielpause zu danken.«
Das sah sie ein und verzichtete vorläufig auf Maßnahmen gegen ihren unsäglichen Partner. Gemeinsam begaben sie sich hastig in die Kabine, öffneten die Tür und sahen sich zum Abschied noch einmal kurz um. Niemand sagte etwas, alle, Passagiere wie Personal, blickten ihnen starr vor Entsetzen nach.
»Warum nehmen wir kein Taxi?«
Uslar machte wie üblich aus seiner schlechten Laune keinen Hehl. Johimbe sah auf den kleinen Mann mit dem unverhältnismäßig großen Kopf hinunter und fragte sich wieder einmal, mit welchem Verbrechen sie es verdient hatte, so einen Antikumpel und Miesmacher als Partner zugeteilt zu bekommen. Sicher, ihr fielen einige Taten aus ihrer Jugend ein, dafür jeden Tag diesen hässlichen Gnom ansehen zu müssen, erschien ihr jedoch als Strafe um einiges zu brutal. Sie war stolz auf ihren nahezu perfekten Körper, in den sie jede freie Stunde investierte, und sie verabscheute Menschen mit körperlichen Defekten.
Ihr Partner vereinigte gleich eine ganze Reihe von Defekten auf sich. Er war furchtbar klein, kaum mehr als einen Meter sechzig, seine Beine krümmten sich wie bei einem altgedienten Puszta-Reiter, der Rücken zeigte erste Anzeichen eines Buckels und ganz sicher gab es nirgendwo an diesem Mann mehr Muskeln, als zum Tragen der Knochen unbedingt notwendig war. Auch das Gesicht bestach nicht gerade durch Schönheit. Selbst wenn für einen kurzen Augenblick die Mundwinkel diese unschöne abwärtsgerichtete Hufeisenform des Mundes einmal auflösten, so blieb immer noch die beeindruckend große und mehrfach geknickte Nase und die wächserne, ungesunde Haut. Dazu gesellte sich noch ein mittelprächtiger halbkugelförmiger Bauch, und aus dem wirren, kurzen Haar rieselten bei jeder Bewegung die Schuppen. Glücklicherweise bewegte er sich nur ungern und dann auch nur schleppend vom Fleck.
Unglücklicherweise redete er dafür sehr viel und fast immer in einem Tonfall, mit dem er seine Mitmenschen zuverlässig auf die Palme brachte. So wie jetzt. Sie betrachtete ihn mit einer Mischung aus milder Verachtung und distanzierter Analyse. Es wunderte sie wirklich, wie er immer wieder die Einsätze überlebte. Er war nicht nur schwächer und langsamer als jeder Gegner, er machte seine Mitmenschen auch durch sein Gehabe und seine genervten Sprüche mit erstaunlicher Regelmäßigkeit furchtbar wütend, noch dazu richtete er seine Attacken mit besonderer Vorliebe gegen stärkere und bösere Mitmenschen.
So wirkte er wie eine Art Leuchtfeuer, das den Abschaum der Menschheit auf sich aufmerksam machte. Und zu allem Überfluss demonstrierte er ständig seinen Unwillen, sich an taktische Erfordernisse anzupassen.
»Das ist doch so sonnenklar, sogar ein Herr Uslar müsste das begreifen. Wer mit einem Taxi fährt, wird registriert. Jede verfluchte Reklametafel am Wegesrand ist mit Überwachungselektronik ausgestattet, die ganze Gegend ist voll gepflastert mit diesen Dingern. Jedes Taxi ist verwanzt, jeder Taxifahrer wird von dem einen oder anderen Konzern dafür bezahlt, die Augen offen zu halten, ganz besonders nach unseren Leuten. Wir dürfen aber im Umkreis von sieben Kilometern nicht registriert werden. Direktive Nummer elf. Deshalb fahren wir mit dieser wunderbaren U-Bahn zu unserem Ziel. Das tun wir immer, seit wir bei diesem Verein angeheuert haben. Oh Herr, schmeiß Hirn vom Himmel!«
Uslar grunzte nur, dachte aber nicht daran, klein beizugeben. Er fand es prima, sie genervt zu erleben.
»Quitschi-Quatschi! Ich sitze in diesem Lumpensammler, weil die Zentrale nicht in der Lage ist, die uns betreffenden Reg-Daten in Echtzeit zu löschen. Dauernd haben wir deswegen Probleme.«
Als wollte ihm das Schicksal auf der Stelle recht geben, bremste die Bahn abrupt an einem kleinen Bahnhof ab, gleichzeitig kam in die Menschen Bewegung. Nicht wirklich erstaunt verfolgten sie mit, wie alle Passagiere fluchtartig den Waggon verließen und durch den halb verfallenen Haltepunkt das Weite suchten. Dafür stiegen etwa fünfzehn neue Gäste ein. Die sahen auch gleich mit deutlichem Missfallen, dass da zwei einsame Personen nicht an Flucht dachten, und kamen sofort zur Sache.
Die U-Bahn fuhr wieder an und der Pulk junger, kräftiger Männer verteilte sich aufreizend lässig dicht vor ihnen. Ein paar der Glatzköpfe lehnten sich in ihrer frei interpretierten Militärkleidung an die Haltestangen und tranken aus den mitgebrachten Plastik-Dosen langsam Bier, wobei sie alle Johimbe gierig anstarrten. Für dieses Mal teilte sie Uslars Stimmung, sichtlich genervt durch die nicht erbetene Störung stand sie auf und stellte sich bequem in den Mittelgang.
Ein Zischen ertönte, die Biertrinker schoben sich auseinander und machten einem großen Bodybuilder Platz, der sich dicht vor Johimbe aufbaute. Er beschäftigte sich mit seinem Baseballschläger, den er mit eingestanzten Nägeln aufgewertet hatte und vollführte damit sexistische Bewegungen. Gerade laut genug, um von seinen Kumpels gehört zu werden, sagte er provozierend: »Na Süße, gleich wirst du genagelt. Ich hoffe doch, du wehrst dich ein paar Minuten lang. Ich liebe kräftige Frauen.«
Uslar verspürte keinerlei Freude an dem Geplänkel, was nicht wirklich überraschend war. Er verspürte seit Jahren keine Freude mehr, immer mehr Menschen und Ereignisse kotzten ihn an. Und nun so was, alltäglich heutzutage, doch immer noch ähnlich willkommen wie eine Herde Kakerlaken auf Beutezug. Unverwandt blickte er nach draußen in die Schwärze der Tunnelröhre, während er scheinbar mit sich selbst sprach, wenn auch in der richtigen Lautstärke, um gehört zu werden.
»Tse, Tse, ein Biber ist unter uns. Der Schwanz breit und platt und schlaff.«
Der Bodybuilder wandte ruckartig den Kopf, musterte Uslar von Kopf bis Fuß, und entschied dann, es mit einem harmlosen Irren zu tun zu haben, der wahnsinnig genug war, es mit ihm aufnehmen zu wollen. Daher ätzte er fast nachsichtig: »Schau mal an, ein Jude, der noch lebt. Was hast du mit dem arischen Mädchen vor, du Untermensch, hä? Meinst du, es reicht fürs lecken der Füße?«
Die anderen Glatzen grölten und holten ihre Werkzeuge heraus. Uslar verzog die Mundwinkel zu einem noch verdrießlicheren Ausdruck, rollte kurz mit den Augen, griff gleichzeitig zu der Pistole, die hinten im Hosenbund steckte, brachte sie nach vorne, zielte eher achtlos, aber rasch und ohne anzuhalten, schoss zwei Mal und antwortete in das krachende Umfallen des Bodybuilders mit einer Mischung aus ätzender Stimme und gelangweiltem Tonfall:» Schau mal an, ein Nazi, der plötzlich tot ist. Warum kann Dummheit nicht knistern, dann würde man euch Hirntote schon von Weitem hören. Alles Amateure.«
Johimbe schenkte den sichtlich erschreckten Überlebenden ein falsches Lächeln, zog völlig unberührt ihrerseits die Waffe und sprach Uslar so laut an, dass es die Anderen gerade noch hören konnten: »Und warum bitteschön legst du die Anderen nicht auch um? Oder hast du die Einsatz-Doktrin sieben vergessen?«
Uslar zuckte die Achseln.
»Ich bin heute nicht in Stimmung. Wir sollen uns in der Zentrale melden, schon vergessen? Das macht mich immer unwirsch. Ging noch nie ohne Anschiss ab.«
Johimbe wandte sich Uslar zu, ließ aber die Glatzen nicht aus den Augen. Die stellten aber keine Gefahr mehr dar, flohen sie doch halbwegs geordnet in den hintersten Teil des Zuges, darauf bedacht, möglichst viel Abstand zu gewinnen. Da der Zug leer war, konnten sie aber auch dort jedes Wort hören, zumal die beiden Streithähne ihre Lautstärke darauf abstimmten. Das Verabreichen von Angstgefühlen machte ihnen Spaß, wenigstens darin waren sie sich einig. Außerdem hatte man sie dazu ausgebildet.
»Ach gar. Und deshalb verschonst du gleich eine ganze Kamarilla von Schmeißfliegen, die per Definition nicht nur vom Boss, sondern auch vom EU-Direktorat zur Liquidation freigegeben sind? Uslar, du arbeitest unsauber, wenn ich das mal sagen darf.«
Uslar nahm den Streit sehr ernst, wie er eigentlich alles furchtbar ernst nahm. Er vermochte es nur nicht ernsthaft genug zu vermitteln, weil er seine zynische Ausdrucksweise nicht abstellen konnte. Wütend schaute er zu ihr hoch. »Unsauber, ja? Das passt ja wieder zu dir, nur die Frau Gedöhnsrat von der heiligen Inkarnation der Schreckschrauben ist berufen, alles perfekt zu machen. Warum hast du dann nicht mal eben diese lästige Kleinigkeit erledigt, als es darum ging, das Flugzeug zu landen? Nicht perfekt genug, darf ich das so annehmen?«
Johimbe wurde es zu bunt. Dass dieser Gnom auch aus allem und jedem immer eine Grundsatzfrage machen musste.
»Nein, du Troll-Imitation. Das nennt man Arbeitsteilung. Ich die Menschen, du die Maschinen, so halten wir es doch seit ein paar Jahren. Unglaublich lange und mühselige Jahre, wie ich hinzufügen möchte. Insofern hättest du diese Kerle ruhig mir überlassen können. Dafür bin ich zuständig.«
»Oh, schön, Du hast aber nicht reagiert. Das pomadige Anstarren männlicher Muskelberge kann man wohl kaum als tätige Gegenwehr bezeichnen. Ergo musste ich ran, ich, der gar nicht perfekte Troll hat schneller reagiert als die gnadenlose Killer-Queen. Somit warst du zu langsam und damit nicht perfekt. Tor für Luxemburg.«
Er machte eine verächtliche Siegergeste und traf Anstalten, den Zug zu verlassen. Gerade fuhren sie an der richtigen Haltestelle vor und aus dem hinteren Eingang quoll ein Trupp glatzköpfiger Schläger und rannte, was das Zeug hielt. Uslar und Johimbe traten aus dem am weitesten entfernten Ausgang am anderen Ende des Zuges und kümmerten sich überhaupt nicht um die Fliehenden. Im Gehen stritten sie weiter, Johimbe wechselte langsam zu grundsätzlicheren Themen.
»Zu schnell sein, das Hauptübel von euch Kerlen. Gleich nach der Unsitte, Gespräche nicht bis zum Ende durchstehen zu können. Würdest du die Güte haben und deinen Job machen, anstatt hier patzige Vorträge zu halten?«
Uslar blieb stehen, drehte sich um und fauchte: »Ich mache meinen Job. Wenn nur ganz wenige Leute ihre Job so machen würden wie ich, säße die Menschheit heute nicht bis zu den Nasenlöchern in der Scheiße. Abgesehen davon haben sich die Nazis so verhalten, wie man es von ihnen erwartet: Sie sind beim ersten Anzeichen von ernsthaftem Widerstand geflohen und haben ihren Freund zurückgelassen. Und ganz unter uns: Ich habe Zeit gewinnen wollen. Wenn man sich auf die wirklich wichtigen Ziele beschränkt, erreicht man damit einen unfassbar großen Zeitvorteil. Ein Zeitvorteil, den du in typisch weiblicher Manier durch heilloses Gesabbel soeben verspielt hast.«
Die letzten Worte spuckte er vor ihre Füße und wandte sich danach endgültig ab, um im Sturmschritt die Unterwelt zu verlassen. Sie knirschte mit den Zähnen, und bevor sie ihm folgte, knurrte sie vor sich hin: »Häng mir noch einmal typisch weibliche Fehler an und ich schneide dir die Ohren ab und verspeise sie zum Frühstück.«
Nicht weit von der U-Bahn-Station entfernt befand sich ihr Ziel. Die Seniorenwohnanlage Sonnenstift lag zwischen Rhein und ehemaliger Bundesstraße mitten im Bettler-Viertel. In diesen harten Zeiten befanden sich alle Altenheime in Bettler-Vierteln, zum einen, weil dies angesichts des allgemeinen Verfalls schlicht sehr wahrscheinlich war, zum anderen wegen der Abneigung der verbliebenen gut situierten Bürger, hilfebedürftige Personen in ihren Vierteln zu dulden. Bettler jeden Alters prägten denn auch das Straßenbild, von ihren persönlichen Müllhaufen streckten sie teils barmend, teils aggressiv den beiden ihre offenen Hände entgegen.
Die Häuserzeilen befanden sich im Endstadium des Verfalls, keine intakten Fenster weit und breit, kein Wasser, hie und da eine Fassade bereits zusammengebrochen, überall Spuren gewalttätiger Auseinandersetzungen. Niemand aus den besseren Stadtteilen wagte sich in die Gegend, wenn es keinen guten Grund hierfür gab, und den gab es eigentlich nur einmal: Um die eigene Oma abzuliefern.
Entsprechend aufgeregt verhielten sich die Bettler, die rigoros um die besten Plätze entlang des Weges rangelten. Die zerlumpten Gestalten konnten sich offenkundig nicht einmal auf einheitliche Plätze zur Verrichtung der Notdurft einigen, es stank höchst einheitlich, öfters gab es am Wegesrand auch den Grund hierfür zu besichtigen. Aus diesem Bild des Schreckens ragte das Hochhaus der Seniorenwohnanlage wie ein schmutzig-grauer Leuchtturm heraus. Wachmänner mit Schrotflinten und E-Schockern bewachten mit grimmigen Mienen die Zufahrt.
Johimbe und Uslar zeigten ihre Ausweise und wurden durchgelassen. Im Gebäude angelangt achteten sie nicht auf die verstörte Ansammlung halbwegs gut gekleideter, aber sehr alter Menschen, die durch die großen Scheiben fassungslos auf das Treiben auf der Straße blickten, sondern durchmaßen zielstrebig die Eingangshalle und das angrenzende Bistro und betraten schließlich einen Fahrstuhl mit der Aufschrift Privat! Zutritt streng verboten.
Sie drückten keine Knöpfe, sondern warteten ab, bis sich die Tür schloss. Dann trat Johimbe vor die rückwärtige Glaswand, streckte ihren linken Arm von der Hüfte aus von sich weg, bildete mit kräftigem Druck eine Faust und ließ dann ruckartig den kleinen und den Zeigefinger aus der Faust herausschnellen. In diesem Augenblick entstand dicht über dem Handgelenk ein Hologramm. Grelle Farben wirbelten durcheinander und formten einen Buchstaben und zwei Zahlen. Johimbe sprach dazu in die Glaswand: »Selina Saskia Johimbe, Bevollmächtigte Nummer neun, T73, Code JP197.«
Sie machte Platz für ihren Begleiter, der mit den gleichen Bewegungen das Hologramm produzierte und der Glaswand seine Identität erklärte: »Drusus Xerxes Ramses Uslar, Bevollmächtigter Nummer dreiundzwanzig, T73, Code JO 196.«
Mit einer ruckartigen Bewegung schlossen beide die Fäuste wieder, woraufhin die Hologramme verschwanden. Der Fahrstuhl setzte sich ohne weitere Umstände in Bewegung. Uslar nutzte die Zeit für einen mürrischen Einwand.
»Ich hasse es, T73 auf Englisch auszusprechen. Da komme ich mir vor wie ein Vertreter für Gesundheitstee. Nehmen Sie Tee Nummer 73, und die Prostata kneift nie wieder. Alberner Mummenschanz.«
Johimbe betrachtete den kleinen Mann mit distanzierter Nachdenklichkeit.
»Sag mal, Uslar, gibt es eigentlich irgendetwas auf diesem verfluchten Planeten, was von dir nicht gehasst wird? Eine winzige Kleinigkeit?«
Er sah zu ihr auf und zeigte ihr ein unehrliches Grinsen.
»Nein, meine Schönste. Keine Chance. Ich halte Gott für einen Psychopathen und die Menschheit für sein absolut unterirdischstes Erzeugnis.«
Die Tür öffnete sich und so verzichtete sie auf eine passende Antwort. Ein paar Bewaffnete erwarteten sie und sahen aufmerksam zu, wie ein grauer Mensch im Laborkittel ihre Identität nochmals mit einem tragbaren CT-Scanner überprüfte. Nachdem er den Daumen hob, entspannte sich die Szene und sie durften durch eine gepanzerte Tür treten. Ein großer Raum tat sich auf, an dessen anderem Ende eine Frau mittleren Alters auf sie wartete und ihnen eine weitere, diesmal aus massivem Holz bestehende Tür öffnete.
Damit waren sie am Ziel. Sie befanden sich nun in einem relativ kleinen Raum, der von einem überaus großen und sehr alten Schreibtisch geteilt wurde. Vor dem Schreibtisch standen zwei bequeme Stühle bereit, hinter dem Schreibtisch pendelte ein Mann sachte in seinem schweren Ledersessel hin und her. Ungefragt nahmen die beiden Platz und Uslar ergriff das Wort: »Hey, Chef, was soll das eigentlich mit dieser Identitätsprüfung? Ich hasse diese Typen, die da vorne nur darauf warten, mich umzulegen, falls die Laborratte was falsch macht. Außerdem kann man mich ohnehin nicht fälschen.«
Der Mann hinter dem Schreibtisch lächelte schmal. Nach Johimbes Maßstäben galt er als akzeptabel: Groß und schlank, fast muskulös, wirkte er trotz seiner fast fünfzig Jahre jugendlich und elastisch. Seine Haut glänzte makellos und gut gepflegt, dazu kleidete er sich teuer und nach der letzten Mode. Mit sanfter und fast gelangweilter Stimme erwiderte er: »Mein lieber Drusus, Sie wissen doch sehr genau, zu welchen Schandtaten die Konzerne fähig sind. Man könnte selbst Sie klonen, konditionieren oder in eine Humanbomb umwandeln. Wir haben in der Vergangenheit schon Beauftragte auf diese Weise verloren. Also zieren Sie sich nicht, es ist zu unser aller Schutz notwendig.«
Uslar grummelte ein paar Worte in seinen nicht vorhanden Bart und ließ es auf sich beruhen. Der Chef lächelte breiter und nahm einen vorsichtigen Schluck aus seiner Espresso-Tasse. Seinen Gästen bot er nichts an. Dann wandte er sich an Johimbe: »Nun, Selina, wie ich höre, war Ihr Einsatz in Cork von Erfolg gekrönt.«
Sie nickte ernst und sagte mit einem Seitenblick auf ihren Kollegen: »Ja, wir konnten diese informelle Übereinkunft zwischen Chemie-Monopol und Drogen-Kartell beerdigen. Leider gab es durch die tätige Mithilfe dieses neben mir sitzenden hirnlosen Wurms etliche Tote unter der Zivilbevölkerung.«
Der Angegriffene maulte zurück: »Wie lustig! Da waren fünfzehn Teilnehmer, jeder hatte ein Dutzend Leibwächter dabei. Dazu noch die komplett eingekaufte Staatspolizei, von den Schützenpanzern gar nicht zu reden. Warum sollte ich da leibhaftig durch die Hallen rennen und jeden einzeln erschießen? Die Zivilbevölkerung, die meine werte Kollegin da anspricht, bestand fast ausschließlich aus militanten Demonstranten von Greenfight. Die wären auch so von den Leibwächtern erledigt worden. Ich war nur etwas schneller und habe sie alle mit der Neosit-Bombe erwischt. Kein Problem.«
Der Chef nippte an der Tasse und meinte tadelnd: »Drusus, Sie werden nicht für Faulheit bezahlt. Sie verfügen über die Waffen und die Ausbildung, eine solche Versammlung mittels persönlichem Erscheinen und ganz und gar eigenhändig aufzulösen. Durch Ihre kleine Bombe macht man nun nicht Greenfight, sondern die Faschisten von der NSI dafür verantwortlich, was neue Schwierigkeiten heraufbeschwören wird. Sie haben gegen den Plan gearbeitet.«
Schnippisch fragte Uslar: »Und nun? Werde ich jetzt gefeuert? Ich habe es verdient, ja, geben Sie mir die Papiere. Ich ziehe auch ganz sicher nicht vor ein Arbeitsgericht, sofern sich überhaupt noch eines auftreiben ließe.«
Der Chef lachte. Johimbe begrub aufstöhnend das Gesicht hinter den Händen.
»Entzückender Versuch. Nein, mein Lieber, Sie werden nicht gefeuert. Niemals. Statt dessen erhöht sich die Zahl der bis zu Ihrer Demission noch zu erledigenden Aufgaben.«
»Also immer noch Todesstrafe.«
Der Chef nahm den hingespuckten Satz mit einem glucksenden Lachen entgegen.
»Drusus, ich freue mich immer, mit Ihnen zu reden. Ihre Art, haarscharf an den Realitäten vorbei zu argumentieren, ist wirklich erstaunlich. Ob Ihre Tätigkeit beim T73 mit Ihrem Tod endet, liegt doch allein bei Ihnen. Außerdem geht mir bei solchen Äußerungen regelmäßig das Ergebnis Ihrer psychologischen Einstellungsuntersuchung durch den Kopf. Sie wollen sich also wirklich darüber beschweren, dass Sie zu Tode kommen könnten?«
Uslar wehrte mit einer abfälligen Handbewegung ab, hakte die Handflächen unter die Achseln, ließ die herausschauenden Daumen nervös kreisen und verfiel in trotziges Schweigen. Johimbe wollte nun endlich auf den Punkt kommen.
»Also Chef, eigentlich sind wir ja hier, um den neuen Auftrag zu besprechen. Was liegt diesmal wieder an?«
Der Chef lehnte sich lässig zurück, kratzte sich nachlässig am Kopf und gab sinnierend seine Einschätzung kund: »Das Problem in diesem Staat ist, dass die Schwulen an der Macht sind. Darin liegt eine enorme Erschwernis begründet.«
Johimbe hob die Augenbrauen. So einen Spruch hätte sie von diesem Mann nicht erwartet. Er schien bislang immer wertfrei über den Dingen zu stehen.
»Oh, seit wann hegen Sie Vorurteile gegen Schwule? Das kenne ich noch nicht an Ihnen?«
Der Chef beantwortete ihre stichelnde Frage mit einem tadelnden Gesichtsausdruck, mit dem er kundtat, mehr Intelligenz von ihr erwartet zu haben. Uslar wechselte die Pose, verschränkte die dünnen Arme vor seinem Trommelbauch und hörte mäßig interessiert zu.
»Es geht nicht primär darum, dass es sich um Schwule handelt. Das ist nur ein Beispiel, wenn auch ein passendes. Es macht mich regelmäßig nicht glücklich, wenn ich sehe, wie diese Gesellschaft zusehends in Interessengruppen zerfällt. Interessengruppen, die, sobald sie an eine Form von Macht gelangen, dazu neigen, andere Gruppierungen von dieser Macht abzuschneiden. Nebenbei erwachsen hierdurch ganz erhebliche Probleme. Um in meinem Beispiel zu bleiben: In der Politik haben Schwule tatsächlich weite Teile der ehemals demokratischen Parteien unter Kontrolle gebracht.
Abgesehen von dem Umstand, dass es wenig Sinn macht, ein freundliches Klima für Homosexuelle zu schaffen, wenn das Klima durch andere Entwicklungen gleichzeitig höchst unangenehm wird, bedeutet es auch, dass es nunmehr für einen heterosexuellen Familienvater fast unmöglich ist, eine gut bezahlte Position in den Behörden zu ergattern. Auf diesem Wege wird mit dieser Entwicklung langfristig das Rentenproblem verschärft, aktuell steigt die Anzahl der hungernden Kinder, und schon haben wir einen äußerst ernsten Konflikt zwischen Heteros und Homos.
Die in dieser Weise gegeneinander arbeitenden Interessengruppen sind in den letzten Jahren nicht nur zahlreicher geworden, sie haben sich auch verstärkt gegenseitig abgegrenzt. Und nun beginnen sie mehr und mehr, sich auf Kosten anderer zu bereichern.«
»Aha«, sagte Johimbe, die keine Ahnung hatte, worauf der Chef hinaus wollte. Ihr war das zu weit weg von der Realität. In der Realität bekämpften sich zahlreiche Interessengruppen buchstäblich bis aufs Messer. Die Zeit der profanen Intrigen war definitiv vorbei. Und die Homosexuellen galten aktuell ganz sicher nicht als Hauptproblem.
»Ich bitte Sie, Selina. Ihnen macht doch Ihre tägliche Arbeit deutlich, dass jede Schweinerei in dieser Art Geheimbündelei begründet liegt. Jedenfalls werden die Grüppchen immer zahlreicher, hierdurch auch immer kleiner, aber teilweise auch immer mächtiger.«
Uslar ermüdete langsam. Er konnte und wollte anderen Menschen nicht übermäßig lange zuhören. Einzelgänger wie Uslar hassten Diskussionen. Um die Dinge auf den Punkt zu bringen, brummte er mürrisch: »Welche Interessengruppe sollen wir also auslöschen?«