Entwicklung der Persönlichkeit
Psychotherapie aus der Sicht
eines Therapeuten
Aus dem Amerikanischen
übersetzt von
Jacqueline Giere
Mit einem Vorwort von Reinhard Tausch
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Klett-Cotta
www.klett-cotta.de
Die Originalausgabe erschien unter dem Titel »On Becoming a Person. A Therapist’s View of Psychotherapy« im Verlag Houghton Mifflin Company, Boston
© 1961 by Carl R. Rogers
Für die deutsche Ausgabe
© 1973 by J. G. Cotta’sche Buchhandlung Nachfolger GmbH, gegr. 1659, Stuttgart
Umschlag: Klett-Cotta Design
Datenkonvertierung: le-tex publishing services GmbH, Leipzig
Printausgabe: ISBN 978-3-608-96417-2
E-Book: ISBN 978-3-608-10674-9
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Vorwort zur 14. Auflage Reinhard Tausch
An den Leser
I Biographisches
1. »Das bin ich« Entwicklung meiner fachlichen Ansichten und meiner persönlichen Philosophie
Kindheit
Weitere Ausbildung an der Hochschule
Ausbildung zum Psychologen
Die Jahre in Rochester
Psychologe oder …?
Meine Kinder
Die Jahre an der Ohio State University
Die letzten Jahre
Wichtige Lernerfahrungen
II Hilfreiche Beziehungen
2. Förderung der Persönlichkeitsentfaltung — einige Hypothesen
Eine allgemeine Hypothese
Die Beziehung
Die Motivation zur Veränderung
Die Ergebnisse
Eine umfassende Hypothese über zwischenmenschliche Beziehungen
Folgerungen
3. Die Eigenschaften einer hilfreichen Beziehung
Das Problem
Die Antworten der Forschung
Einstellungsforschung
»Fabrizierte« Beziehungen
Zwei neuere Untersuchungen
Einige Anmerkungen
Wie schafft man eine hilfreiche Beziehung?
Folgerung
Literatur
4. Was wir über Psychotherapie wissen, objektiv und subjektiv
Objektives Wissen
Die Dynamik der Veränderung
Der Prozeß
Die Ergebnisse der Therapie
Das subjektive Bild
Die Erfahrung des Therapeuten
Die Erfahrung des Klienten
III Der Prozeß der Persönlichkeitsentwicklung
5. Wege der Therapie
Das potentielle Selbst erfahren
Volles Erfahren einer affektiven Beziehung
Die Fähigkeit, sich selbst zu mögen
Der Kern der Persönlichkeit ist etwas Positives — eine Entdeckung
Identität mit dem eigenen Organismus und der eigenen Erfahrung
Abschließende Bemerkung
Literatur
6. Was es heißt, sich selbst zu finden
Der Prozeß der Entwicklung
Das Erfahren von Gefühlen
Die Entdeckung des Selbst in der Erfahrung
Der Mensch, der aus dem Prozeß hervorgeht
Offenheit für die Erfahrung
Vertrauen zum eigenen Organismus
Eine innere Bewertungsinstanz
Die Bereitschaft zur Veränderung
Zusammenfassung
7. Psychotherapie als Prozeß
Das Rätsel des Prozesses
Abgelehnte Methoden
Vorgehensweise
Schwierigkeiten der Suche
Eine Grundbedingung
Das Kontinuum
Sieben Prozeßphasen
Erste Phase
Zweite Phase
Dritte Phase
Vierte Phase
Fünfte Phase
Beispiele für den Prozeß in einem begrenzten Bereich
Die sechste Phase
Die siebte Phase
Einige Fragen zum Prozeßkontinuum
Zusammenfassung
Literatur
IV Philosophie der Persönlichkeit
8. »Das Selbst zu sein, das man in Wahrheit ist« — Ansichten eines Therapeuten über persönliche Ziele
Die Fragen
Antworten
Ein anderer Standpunkt
Richtungen, welche die Klienten einschlagen
Weg von den Fassaden
Weg vom »Eigentlich-Sollte-lch«
Weg vom Erfüllen kultureller Erwartungen
Weg davon, anderen zu gefallen
Entwicklung zur Selbstbestimmung
Entwicklung zum Prozeß-Sein
Entwicklung zur Komplexität
Entwicklung zur Erfahrungsoffenheit
Entwicklung zum Akzeptieren der anderen
Entwicklung zum Selbstvertrauen
Die allgemeine Richtung
Einige Mißverständnisse
Starrheit?
Die »Bestie« im Menschen?
Gesellschaftliche Implikationen
Zusammenfassung
9. Ansichten eines Therapeuten vom guten Leben: Der voll sich entfaltende Mensch
Eine negative Beobachtung
Eine positive Beobachtung
Die Merkmale des Prozesses
Existentiell bedeutsameres Leben
Wachsendes Vertrauen zum eigenen Organismus
Der Prozeß des vollständigeren Sich-Entfaltens
Einige Implikationen
Eine neue Perspektive zum Thema Freiheit contra Determinismus
Kreativität als ein Element des guten Lebens
Die grundsätzliche Vertrauenswürdigkeit der menschlichen Natur
Der größere Reichtum des Lebens
V Die Fakten Forschung in der Psychotherapie
10. Menschen oder die Wissenschaft? — Eine philosophische Frage
Einführung
Des Wesen der Therapie in der Erfahrung
Das Wesen der Therapie in wissenschaftlicher Sicht
Einige Fragen
Fragen des Wissenschaftlers
Die Fragen des »Experientialisten«
Das Dilemma
Eine andere Auffassung von Wissenschaft
Wissenschaft im Menschen
Die kreative Phase
Prüfung an der Realität
Die Ergebnisse
Vermittlung von wissenschaftlichen Ergebnissen
Vermittlung an wen?
Die Anwendung von Wissenschaft
Eine neue Integration
11. Persönlichkeitsveränderung in der Psychotherapie
Drei Aspekte unserer Forschung
Die Kriterien der Forschung
Plan der Untersuchung
Die Messung der Veränderungen im Selbst
Zusammenfassung und Schlußfolgerung
12. Klientenzentrierte Therapie im Kontext der Forschung
Der Anreiz für die Forschung
Die frühe Forschungsperiode
Einige Untersuchungen
Die Bewertungsinstanz
Reaktionen des autonomen Nervensystems in der Therapie
Klientenreaktionen auf unterschiedliche Techniken
Eine Untersuchung zum Selbstbild
Bewirkt Psychotherapie Änderungen im Alltagsverhalten?
Qualität der therapeutischen Beziehung und Behandlungsfortschritt
Neuere Forschungen
Bedeutung der Forschung für die Zukunft
VI Implikationen für das Leben?
13. Persönliche Gedanken über Lehren und Lernen
14. Signifikantes Lernen: In Therapie und Erziehung
Signifikantes Lernen in der Psychotherapie
Signifikantes Lernen in der Erziehung
Lernbedingungen in der Psychotherapie
Problemstellung
Kongruenz
Bedingungslose positive Zuwendung
Empathisches Verstehen
Fünfte Bedingung
Der Lernprozeß in der Therapie
Die Hauptquelle der Veränderung
Die Implikationen für das Erziehungswesen
Kontakt mit Problemen
Das Real-Sein des Lehrers
Akzeptieren und Verstehen
Anbieten von Ressourcen
Das Grundmotiv
Was ausgelassen wurde
Wahrscheinliche Ergebnisse
Einige abschließende Fragen
15. Schülerzentrierter Unterricht im Erleben eines Teilnehmers
Samuel Tenenbaum
Carl R. Rogers und der nicht-direktive Unterricht
Unstrukturiertes Vorgehen
Ermutigung zum Denken
Die Wichtigkeit des Akzeptierens
Eine neue Methodologie
Eine persönliche Unterrichtserfahrung (Brief von Samuel Tenenbaum an Carl Rogers, ein Jahr später)
16. Implikationen der klientenzentrierten Therapie für das Familienleben
Freiere Äußerung von Gefühlen
Beziehungen können auf einer realen Basis gelebt werden
Verbesserung der gegenseitigen Kommunikation
Bereitschaft, jemanden einen Menschen für sich sein zu lassen
Das allgemeine Bild
17. Behandlung von Kommunikationsstörungen zwischen Einzelnen und Gruppen
18. Vorläufige Formulierung eines allgemeinen Gesetzes der zwischenmenschlichen Beziehungen
Der Begriff der Kongruenz
Das Verhältnis zwischen Kongruenz und Kommunikation in den zwischenmenschlichen Beziehungen
Vorläufige Fassung eines allgemeinen Gesetzes
Die existentielle Entscheidung
19. Zu einer Theorie der Kreativität
Das gesellschaftliche Bedürfnis
Der kreative Prozeß
Die Motivation zur Kreativität
Die inneren Bedingungen konstruktiver Kreativität
Der kreative Akt und seine Begleitumstände
Bedingungen, die konstruktive Kreativität fördern
Schluß
VII Die Verhaltenswissenschaften und der Mensch
20. Die wachsende Macht der Verhaltenswissenschaften
Das »Know-how« in den Verhaltenswissenschaften
Die Prognose in den Verhaltenswissenschaften
Bedingungen, die spezifische Verhaltensweisen in Gruppen bewirken
Bedingungen, die zu spezifischen Wirkungen bei Individuen führen
Bedingungen, die spezifische Wirkungen bei Tieren erzielen
Das allgemeine Bild und seine Implikationen
Die Fragen
21. Der Einzelne in der Neuen Welt der Verhaltenswissenschaften
Leugnen und Ignorieren
Das menschliche Leben in wissenschaftlicher Sicht
Entwicklungsschritte
Das Bild und seine Implikationen
Eine persönliche Reaktion
Ziele, Werte und Wissenschaft
Alternativwerte
Ein kleines Beispiel
Ein mögliches Konzept der Kontrolle menschlichen Verhaltens
Die Entscheidung
Anhang: Chronologische Bibliographie der Veröffentlichungen von Carl R. Rogers
Namen- und Sachregister
Quellenverzeichnis
Vieles suchen wir in unserem Leben zu verbessern und weiterzuentwickeln: Zum Beispiel unsere Ernährung, die Erziehung unserer Kinder, Wohnung, Kleidung, Kraftfahrzeuge, Geräte im Haushalt und am Arbeitsplatz oder die Freizeitgestaltung. Aber verbessern oder entwickeln wir auch unsere eigene Persönlichkeit und seelische Lebensqualität, das, was wir bewußt fortwährend erleben? Der Psychologe Carl Rogers, Begründer der wissenschaftlichen Klientzentrierten Gesprächspsychotherapie und Professor an mehreren Universitäten in den USA, berichtet in diesem Buch sehr offen über seine eigene persönliche Entwicklung und gibt uns einen reichhaltigen Einblick in sein bewußtes Erleben, wie es Wissenschaftler selten tun.
Das Buch gibt uns einen faszinierenden Einblick, wie Rogers - dank seiner persönlichen Entwicklung und seiner wissenschaftlich begründeten psychotherapeutischen Gesprächsführung - häufig Klienten/Patienten in ihren seelischen Schwierigkeiten und in ihrer persönlichen Entwicklung helfen konnte. Es ist kein »Ratgeber«-Buch; Rogers zeigt vielmehr konkret bei sich und anderen, wie eine größere Selbstöffnung, eine größere Ehrlichkeit sich selbst und anderen gegenüber sowie größere Einfühlung und Achtung in den Beziehungen zu anderen unseren Lebensstil fördert und seelisch reicher macht. Es regt uns an, ebenfalls Schritte auf diese persönliche Entwicklung hin zu machen, so daß unser Leben bewußter und reicher wird. Dieses Buch erreichte noch zu Lebzeiten von Carl Rogers eine Auflage von über 1 Million Exemplaren in den USA. Es hat sehr viele Menschen angeregt, ihren seelischen Lebensstil zu ändern und ihre Persönlichkeit weiterzuentwickeln. Die von ihm geschaffene Klientzentrierte Psychotherapie und Beratung ist heute in vielen Ländern der Erde vertreten, sie ist die zweithäufigste Therapieform nach der Verhaltenstherapie.
Wie sahen andere Menschen seine Person, sein Verhalten und seine praktischen und wissenschaftlichen Werke?
Im folgenden möchte ich Ihnen hierzu einen Einblick geben. Meine Kenntnis gründet sich dabei auf Begegnungen von meiner Frau und mir mit ihm in den Jahren 1961–1985: Besuche bei ihm zu Hause, als mehrmalige Teilnehmer und Gruppenleiter bei seinen Gruppen-Workshops in La Jolla/Kalifornien, in Spanien und in Deutschland, einem gemeinsamen Urlaub in Florida, einem mehrtägigen Besuch von ihm bei uns zu Hause in Hamburg.
Ich sehe und achte in Carl Rogers einen Menschen mit einem außergewöhnlich hohen Ausmaß an Einfühlung in das Erleben anderer, einem großen Ausmaß an Selbstöffnung, Offenheit für Erfahrungen, Fairneß und Güte. Er war sehr arbeitsam, sorgfältig, engagiert und einsatzbereit, und trotz seiner Offenheit für Gefühle verfügte er über ein klares wissenschaftliches Denken und die Fähigkeit für empirische Forschungen. Der amerikanische Psychologe Daniel Goleman charakterisiert ihn als eine Person von sehr hoher emotionaler Intelligenz.
Was mich noch beeindruckte: Er wirkte im ersten Kontakt oft etwas schüchtern und zurückhaltend. Dabei war er neugierig und an vielem interessiert, sehr geordnet, nicht pedantisch und nicht rigide sowie präzise in seinem Sprachausdruck. Er hatte klare Werte für sich selbst, aber bewertete andere kaum. Ein fast immer sehr bewußter, sehr präsenter Mensch, gegenüber anderen und sich selbst.
Prof. Dr. Brian Thorne, Leiter des Counseling Centers der Universität von East Anglia, schreibt über die Persönlichkeit von Carl Rogers: »Für fast alle, die mit ihm zusammentrafen, war er genau die Person, die sie - nach der Lektüre seiner Bücher oder nach Betrachtung der Filme - erwartet hatten. Kurzum: Er war warm, akzeptierend, an dir als Person interessiert, selbst wenn das Treffen nur wenige Minuten dauerte. Und du spürtest, daß sein Interesse echt war, ohne Vorspiegelungen und Hinterhalt. In seiner Gegenwart fühltest du dich wertvoll und wertgeschätzt, ohne daß du kämpfen mußtest, um ihm oder dir selbst deinen Wert zu beweisen. Er versuchte nie, Punkte zu sammeln oder seine intellektuelle Flexibilität auszuspielen. Und doch sagte dir das Blinken seines Auges, daß ihm selten etwas entging. Dieser freundliche, sensible, anscheinend ganz alltägliche Mensch war eine Person von beeindruckender Statur; doch er hatte irgendwie gelernt, andere nicht einzuschüchtern, sondern ihr Selbstvertrauen zu nähren. Er war ein großer Mann, der auf wunderbare Weise die Menschen um sich nicht in den Schatten stellte, sondern sie befähigte, selbst heller zu leuchten.«
Meine Tochter Daniela, die schon im Grundschulalter bei den Großgruppen-Zusammenkünften in La Jolla dabei war, obwohl sie kaum Englisch verstand, später dann als Mitglied an den Gruppen teilnahm, Gruppen leitete und auch bei Carl eine Woche lebte, schreibt: »In der Begegnung mit ihm fühlte ich mich von ihm wahrgenommen, wie kaum je von einem anderen Menschen. Ich glaube, das war eine seiner sehr großen Gaben: Menschen wirklich ohne Urteile wahrzunehmen«. Später beeindruckte mich, wie sehr er das lebt, was er gelehrt und geschrieben hat.
»Ich gehe sanft durch die Welt«, so schrieb Carl Rogers über sich selbst. Er hatte kein Machtstreben, keinen Wunsch nach Machteinfluß, kein Konkurrenzdenken. So war er auch gegen eine Vereinigung von klientzentrierten Psychotherapeuten, einen Verband zur besseren Durchsetzung gegenüber den Beeinträchtigungen von Seiten der Medizin, Psychiatrie und Psychoanalyse. Jedoch bedeutete dieser sanfte Umgang mit Menschen nicht, daß er Anfeindungen, Beeinträchtigungen und Bevormundungen passiv zuließ. Wie viele Anfeindungen hat er besonders in den ersten Jahrzehnten von der damaligen dogmatischen Psychotherapie und Psychiatrie erlitten! So forderte z. B. die Psychiatrische Fakultät vom Präsidenten der Universität Chicago, sein Counseling-Center zu schließen, da Psychotherapie ein medizinischer Bereich sei. Rogers kämpfte intensiv und konnte erreichen, daß der Präsident dies ablehnte. Derartige Belastungen sowie Anfeindungen haben ihn aber nicht verbittert oder inaktiv werden lassen. Er besaß eine außergewöhnliche Fähigkeit, Schwierigkeiten und seelische Belastungen zu bewältigen, intrapsychisch und durch engagierte hartnäckige Handlungen. Auch im persönlichen Bereich sind ihm schwere Belastungen nicht erspart geblieben. Bei der Psychotherapie einer schizophrenen Patientin am Counseling-Center in Chicago endete sein intensives Bemühen um die Patientin damit, daß »ich mein Selbst nicht mehr von ihrem trennen konnte und eine tiefe innere persönliche Krise erlebte«. Die Unterstützung seiner Frau während einiger Wochen fern von der Universität sowie die psychotherapeutische Hilfe eines Mitarbeiters halfen ihm, diese Krise zu überwinden. Ferner fühlte er sich zeitweise belastet durch die Erkrankung der Frau seines Sohnes und durch die Scheidung seiner Tochter. Sehr stark belastete ihn die über ein Jahrzehnt andauernde schwere Erkrankung seiner Frau Helen. So mußte er des öfteren neben seiner Arbeit seine Frau umsorgen und den Haushalt erledigen. Aber auch als seine Frau wieder beweglicher wurde, wollte oder konnte sie ihn nicht auf seinen Reisen begleiten oder an Gruppen teilnehmen. Sie litt darunter, daß Carl auch nach seinem 70. Lebensjahr noch sehr aktiv war, nach Europa, Rußland und Afrika fuhr, während sie zu Hause blieb. Es war für Carl schwer, seine intensive Liebe zu ihr bis zu ihrem Tod aufrecht zu erhalten. Ferner wurde seine Arbeit in den letzten Jahren zumindest zeitweise durch eine Sehstörung (macula degeneration) beeinträchtigt, mit der er allerdings erstaunlich gut umgehen konnte.
Sein Hauptwerk ist die Klientzentrierte Psychotherapie-Beratung. Zu ihrer weiten Verbreitung in den USA und vielen anderen Ländern trug bei: (1.) Rogers überprüfte diese Art von Psychotherapie in vielen empirischen Untersuchungen. Er war der erste, der Tonaufnahmen zur Erforschung der Psychotherapie einsetzte. Diese Tonaufnahmen wurden von Beurteilern auf Verhaltensmerkmale der Therapeuten und Vorgänge der Klienten eingeschätzt. (2.) Seine Bücher sind personzentriert, also mit Rücksicht auf die Person des Lesers verständlich und gut gegliedert geschrieben. Die Aussagen in seinen Büchern beruhen auf empirischen Forschungsbefunden und auf seiner täglichen Praxis in Einzelpsychotherapie und Gruppengesprächen, über Jahrzehnte hinweg. (3.) Er machte die Klientzentrierte Psychotherapie weitgehend transparent, durch Veröffentlichung abgeschriebener Tonaufnahmen von Psychotherapien, später durch Filme und Videoaufnahmen, die teilweise auch im Fernsehen gezeigt wurden. (4.) Die von ihm aufgewiesenen entscheidenden Haltungen von Psychotherapeuten - Achtung des Klienten, genaue nicht-wertende Einfühlung in sein Erleben sowie Aufrichtigkeit (kein Routineverhalten, kein Verstellen) - empfanden viele als unmittelbar einsehbar und wertvoll. Heute wissen wir, es sind förderliche Merkmale in fast allen zwischenmenschlichen Beziehungen, wenn sie auch dort in geringerer Häufigkeit vorkommen. Nach anfänglichen starken Anfeindungen aus der Psychiatrie, Psychoanalyse und Psychologischen Universitätsinstituten wurden ihm zunehmend größere Anerkennungen und Ehrungen zuteil, so vom Berufsverband Amerikanischer Psychologen (APA), durch die Verleihung der Ehrendoktorwürde von mehreren amerikanischen Universitäten sowie 1975 von der Universität Hamburg und 1978 von der Universität Leiden/Belgien. Er selbst sah diese Ehrungen als Anerkennung seiner Arbeit, aber er zögerte, war zurückhaltend, sie anzunehmen.
Zur weiteren Verbreitung führten dann Befunde: Die förderlichen Haltungen bzw. Verhaltensmerkmale erwiesen sich auch in psychotherapeutischen Gruppen sowie Gruppenbegegnungen als wirksam, ferner bei allgemeinen zwischenmenschlichen Beziehungen sowie nachweislich in zahlreichen empirischen Untersuchungen über das Verhalten von Lehrern und Erziehern. So wurden allein am Psychologischen Institut III der Universität Hamburg empirische Untersuchungen mit der Psychotherapie von 450 Einzelpatienten und 500 Gruppenpatienten durchgeführt und veröffentlicht, ferner mehrere Untersuchungen in Schulklassen über das Verhalten von Lehrern und Schülern.
Etliche Menschen haben nicht die Bereitschaft oder den Wunsch zu diesen förderlichen zwischenmenschlichen Verhaltensweisen. Etwa Personen in der Politik, in der Wirtschaft, Personen mit einem starken Machtstreben oder autoritären Haltungen. So wandte sich Carl Rogers im letzten Jahrzehnt besonders den zwischenmenschlichen Beziehungen in Politik und Öffentlichkeit zu, zur Verminderung von Benachteiligung, Unterdrückung u. a. Er engagierte sich intensiv in Seminaren und Vorträgen in Südamerika, in Südafrika mit Gruppen aus Schwarzen und Weißen zur Verminderung der starken Gegensätze und in Irland mit Gruppen aus Katholiken und Protestanten. Hier zeigt ein dramatischer Film eine Gruppe mit ihm, in der nach anfänglich sehr starken Haßgefühlen und Vorwürfen der Mitglieder allmählich ein gegenseitiges Verständnis entsteht und sich die Mitglieder schließlich achten und einander verstehen. Mehrfach wurde die Aufführung dieses Films in Irland verhindert, auch durch die Entwendung des Films; eine befriedende Auswirkung auf die Bevölkerung war unerwünscht; es sollte nicht gezeigt werden, daß starke ideologische, religiöse und politische Gegensätze durch zwischenmenschliche Beziehungen von größerer Achtung und gegenseitigem Verstehen in Gruppen überwunden werden können.
Carl Rogers hatte auch in seiner letzten Zeit Kontakte zu Präsident Jimmy Carter über ihr beider Vorhaben, wie durch förderliche persönliche Begegnungen von verfeindeten Politikern Friede herbeigeführt werden kann, wie z. B. durch die Begegnung von Israels Premierminister Rabin mit dem ägyptischen Präsidenten. Der Senator John Vasconcellos in Kalifornien förderte die Bestrebungen von Carl Rogers in der Politik. Kurz vor seinem Tode schlug der Senat von Kalifornien Carl Rogers für den Friedensnobelpreis vor.
Reinhard Tausch
im Sommer 2002
Mit einiger Betroffenheit stelle ich fest, daß ich nun seit mehr als 33 Jahren Psychotherapeut (oder ›Berater«) bin. Das heißt, ich habe mich im Laufe eines Drittel Jahrhunderts bemüht, einer breitgestreuten Auswahl unserer Bevölkerung zu helfen: Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen; Menschen mit Bildungs-, Berufs- und Eheproblemen; ›normalen‹, ›neurotischen‹ und ›psychotischen‹ Individuen (ich habe Anführungszeichen benutzt, da ich diese Etikettierungen für irreführend halte), Individuen, die selbst Hilfe suchen und anderen, die man geschickt hat, Menschen mit kleinen Problemen und solchen, die in ihrem Leben völlig verzweifelt und hoffnungslos dastehen. Ich betrachte es als großen Vorzug, daß ich eine solche Vielzahl verschiedener Menschen derart persönlich und intim habe kennenlernen können.
Auf der Grundlage klinischer Erfahrung und Forschung habe ich während dieser Jahre mehrere Bücher und viele Aufsätze geschrieben. Die in diesem Band enthaltenen Aufsätze sind aus den während der letzten zehn Jahre, d. h. von 1951 bis 1961, geschriebenen ausgewählt. Ich will die Gründe erläutern, weshalb ich sie zu einem Buch zusammenstelle. Vor allem glaube ich, daß fast jeder Aufsatz für das Leben des Einzelnen in dieser verwirrenden modernen Welt von Bedeutung ist. Dieses Buch ist auf keinen Fall ein Ratgeber, noch hat es irgendwelche Ähnlichkeit mit einer ›Do-it-yourself‹-Anleitung, aber ich habe die Erfahrung gemacht, daß Leser diese Aufsätze oft als Herausforderung und Bereicherung empfanden. Sie haben dem Menschen, wenn er persönliche Entscheidungen traf und ausführte, etwas mehr Sicherheit verliehen; sie haben ihm geholfen, wenn er sich bemühte, der zu werden, der er sein wollte. Aus diesem Grunde möchte ich sie jedem Interessierten — dem intelligenten Laien« — leichter zugänglich machen. Ich habe diesen Wunsch vor allem deshalb, weil meine bisherigen Bücher sich ausschließlich an die Fachpsychologen wandten und einem Außenstehenden nie leicht zugänglich waren. Ich hoffe aufrichtig, daß viele Menschen, die kein besonderes Interesse an Fragen der Beratung oder der Psychotherapie haben, feststellen werden, daß die Lernerfahrungen aus diesem Bereich auch sie in ihrem Leben stärken können. Ich hoffe und glaube weiter: Während sie in diesem Buch die Auszüge aus aufgezeichneten Therapiegesprächen mit den zahlreichen Klienten nachlesen, werden viele, die nie therapeutische Hilfe in Anspruch genommen haben, feststellen, daß sie auf subtile Weise an Mut und Selbstvertrauen gewonnen haben; sie werden merken, daß sie ihre eigenen Schwierigkeiten besser verstehen können, wenn sie in Vorstellung und Empfindung die Bemühungen anderer um persönliche Entfaltung miterlebt haben.
Ein weiterer Grund für mich, das Buch zusammenzustellen, waren die immer zahlreicheren und dringlicheren Bitten von Leuten, die meinen Standpunkt in Fragen der Beratung, der Psychotherapie und der zwischenmenschlichen Beziehungen bereits kennen. Sie gaben zu verstehen, daß sie meine Überlegungen und Arbeiten der letzten Zeit handlich und zugänglich publiziert sehen wollten. Es frustrierte sie, von unveröffentlichten Aufsätzen zu hören, an die sie nicht herankamen, manche Arbeiten von mir nur in entlegenen Zeitschriften zu finden; sie wollten sie vereinigt sehen. Das ist eine schmeichelhafte Bitte für jeden Autor. Sie schafft außerdem eine Verpflichtung, der ich nachzukommen versucht habe. Ich hoffe, meine Auswahl wird den Wünschen gerecht. Dieses Buch ist deshalb auch für diejenigen Psychologen, Psychiater, Lehrer, Erzieher, Schulpsychologen, Mitarbeiter der Kirchen, Sozialarbeiter, Sprachtherapeuten, Führungskräfte in der Industrie, Personal-Management-Spezialisten, Politikwissenschaftler und andere gedacht, die in der Vergangenheit meine Arbeit bei ihren beruflichen Bemühungen für relevant hielten. Das Buch ist ihnen in einem sehr realen Sinne gewidmet.
Außerdem bewog mich ein anderes, komplexeres und persönlicheres Motiv: Die Suche nach dem geeigneten Publikum für das, was ich zu sagen habe. Über dieses Problem zerbreche ich mir seit mehr als einem Jahrzehnt den Kopf. Ich weiß, daß ich nur einen kleinen Teil der Psychologen anspreche. Die Mehrheit, deren Interessen mit den Begriffen Reiz-Reaktion, Lerntheorie, operante Konditionierung angedeutet sind, ist einer Betrachtungsweise, die den Einzelnen nur als Objekt ansieht, derart verpflichtet, daß das, was ich zu sagen habe, sie oft irritiert, wenn nicht gar ärgert. Ich weiß auch, daß ich nur einen kleinen Teil der Psychiater anspreche. Viele, vielleicht die meisten, sind der Meinung, daß alles Wesentliche über Psychotherapie schon vor langer Zeit von Freud gesagt worden sei; sie haben deshalb kein Interesse an neuen Wegen und stehen der Forschung auf diesem Gebiet desinteressiert oder feindlich gegenüber. Schließlich weiß ich auch, daß ich nur einen Teil der divergenten Gruppe anspreche, die sich Berater nennt. Die meisten von ihnen interessieren sich vorwiegend für prognostische Tests, Messungen und für Methoden der Ausbildungsberatung.
Wenn also eine Veröffentlichung eines bestimmten Aufsatzes anstand, empfand ich es jedesmal als unbefriedigend, ihn einer Fachzeitschrift für irgendeinen dieser Bereiche anzubieten. Ich habe wohl Aufsätze in derartigen Organen veröffentlicht; doch die meisten meiner Arbeiten aus den letzten Jahren häuften sich als unveröffentlichte Manuskripte, die ich in hektographierter Form privat verteile. Das ist Ausdruck meiner Unsicherheit, wie ich das jeweils angesprochene Publikum eigentlich erreichen kann.
Redakteure von oft kleinen oder hochspezialisierten Zeitschriften haben im Laufe der Zeit von einigen dieser Aufsätze erfahren und um die Erlaubnis zur Veröffentlichung gebeten. Ich habe diesen Bitten immer stattgegeben, mit der Einschränkung, daß ich den Aufsatz eventuell später auch anderswo veröffentlichen würde. Die meisten Aufsätze, die ich während dieses Jahrzehnts schrieb, blieben also unveröffentlicht oder erblickten das Licht der Öffentlichkeit in irgendeiner kleinen, spezialisierten oder entlegenen Zeitschrift. Nun aber können diese Gedanken in Form eines Buches sich ihr eigenes Publikum suchen. Ich bin sicher, die Leser werden aus den verschiedensten Fachrichtungen kommen; manche werden weit von meinem eigenen Gebiet entfernt sein, wie etwa die Philosophie und die Politikwissenschaft. Dennoch bin ich der Meinung, daß das Publikum auch eine gewisse Übereinstimmung zeigen wird. Die Aufsätze gehören, meine ich, zu einer Richtung, die sich auf Psychologie, Psychiatrie, Philosophie und auf andere Gebiete auswirkt und auswirken wird. Ich zögere, eine solche Richtung zu etikettieren, doch ich assoziiere damit Adjektive wie phänomenologisch, existentiell und personzentriert, Begriffe wie Selbstaktualisierung, Entwicklung und Entfaltung, Persönlichkeiten (in den USA) wie Gordon Allport, Abraham Maslow, Rollo May. Obwohl also die Leser, denen dieses Buch etwas zu sagen hat, aus vielen Fachbereichen kommen und viele, breitgestreute Interessen haben werden, gibt es doch wohl einen gemeinsamen Nenner: das Interesse am Menschen und seiner Entfaltung in einer modernen Welt, die offensichtlich darauf aus ist, ihn zu ignorieren oder ihn in seiner Bedeutung herabzusetzen. Es gibt schließlich noch einen letzten Grund für das Erscheinen dieses Buches, ein Motiv, das mir viel bedeutet. Es hängt zusammen mit dem großen, wirklich verzweifelten Bedürfnis unserer Zeit nach mehr Grundwissen, nach mehr Fertigkeit und Kompetenz zur Behandlung von Spannungen in menschlichen Beziehungen. Die gewaltigen wissenschaftlichen Fortschritte des Menschen, in die Unendlichkeit des Weltalls hinein wie auch in die Unendlichkeit subatomarer Teilchen, scheint offenbar zur totalen Zerstörung unserer Welt zu führen, wenn wir nicht auch große Fortschritte im Verstehen und Behandeln von Spannungen zwischen Menschen und zwischen Gruppen machen. Angesichts der mäßigen Kenntnisse, die wir auf diesem Gebiet gewonnen haben, bin ich äußerst bescheiden. Ich hoffe, daß wir eines Tages zumindest soviel Geld, wie ein oder zwei große Raketen kosten, in die Suche nach einem angemesseneren Verständnis der menschlichen Beziehungen investieren werden. Aber mich bedrückt auch sehr, wie selten das Wissen, das wir bereits gewonnen haben, anerkannt und genutzt wird. Es wird hoffentlich aus diesem Band klar hervorgehen, daß wir schon Kenntnisse besitzen, welche die Rassenspannungen, die industriellen und internationalen Spannungen mindern könnten, wenn man sie anwendete. Es wird hoffentlich einleuchten, daß die präventive Anwendung dieses Wissens helfen könnte, reife, vorurteilsfreie, verständnisvolle Menschen heranzubilden, die zukünftige Spannungen schon im Zeitpunkt ihrer Entstehung angehen könnten. Wenn es mir also gelingt, einer größeren Anzahl von Menschen die ungenutzten wissenschaftlichen Ressourcen deutlich aufzuzeigen, die hinsichtlich der zwischenmenschlichen Beziehungen schon vorhanden sind, werde ich mich reichlich belohnt finden.
Soviel über die Gründe für die Herausgabe dieses Buches. Lassen Sie mich mit einigen Bemerkungen zu seiner Beschaffenheit schließen. Die hier zusammengetragenen Aufsätze repräsentieren die Gebiete, die mich während des letzten Jahrzehnts hauptsächlich interessierten.1 Sie wurden zu verschiedenen Zwecken, meist für ein je verschiedenes Publikum oder einfach zu meiner eigenen Befriedigung geschrieben. Ich habe jedem Kapitel eine einleitende Bemerkung vorangestellt, die das Material in einen verständlichen Zusammenhang bringen soll. Die Aufsätze sind derart zusammengestellt, daß sie ein einheitliches und sich entwickelndes Thema von höchst persönlicher bis hin zu stärker gesellschaftlicher Bedeutung behandeln. Beim Redigieren habe ich Wiederholungen vermieden. Soweit verschiedene Aufsätze das gleiche Thema auf verschiedene Art und Weise darstellen, habe ich diese ›Variationen über ein Thema‹ beibehalten, in der Hoffnung, sie möchten den gleichen Zweck wie in der Musik erfüllen, nämlich die Bedeutung der Melodie zu unterstreichen. Dank der Entstehung als separate Aufsätze, kann jedes Kapitel unabhängig von den anderen gelesen werden, falls es der Leser wünscht.
Um es auf einfachste Art zu sagen: Es ist die Absicht des Buches, ein Stück meiner Erfahrung, ein Stück von mir, mit Ihnen zu teilen. Hier finden Sie, was ich in den Dschungeln des modernen Lebens, in dem größtenteils noch nicht kartographierten Territorium persönlicher Beziehungen erfahren habe. Hier steht, was ich gesehen habe. Hier steht, was ich inzwischen glaube. Hier finden Sie, wie ich meine Annahmen nachzuprüfen und zu erproben versucht habe. Hier finden sich einige der Verwirrungen, Fragen, Sorgen und Unsicherheiten, vor denen ich stehe. Ich hoffe, Sie werden in diesen Mitteilungen etwas finden, das zu Ihnen spricht.
April 1961
C. R. R.
Ich spreche als Einzelner,
aus einem Kontext persönlicher
Erfahrung und persönlicher
Lernerlebnisse.
Dieses Kapitel vereinigt zwei sehr persönliche Vorträge. Vor fünf Jahren wurde ich gebeten, vor der Abschlußklasse an der Brandeis-Universität zu sprechen, nicht um meine Ideen über Psychotherapie, sondern mich selbst vorzustellen. Was hatte mich auf meine Gedanken gebracht? Wie war ich der Mensch geworden, der ich bin? Mir schien dies eine sehr anregende Einladung, und ich bemühte mich, der Bitte dieser Studenten zu entsprechen. Im letzten Jahr richtete das Student Union Forum Committee an der Universität von Wisconsin eine in etwa ähnliche Bitte an mich. Auf eine persönliche Art sollte ich im Rahmen ihrer Vortragsreihe »Letzte Vorlesung« sprechen; bei dieser Veranstaltung wird aus nicht näher erklärten Gründen angenommen, der Professor halte seine letzte Vorlesung und teile sich deswegen in besonders persönlicher Weise mit. (Es ist ein aufschlußreicher Kommentar zu unserem Bildungssystem, daß man annimmt, nur wenn es zum Schlimmsten käme, gebe ein Professor etwas von sich selbst preis!) In dem Wisconsiner Vortrag drückte ich die persönlichen Lernerfahrungen oder philosophischen Einsichten, die für mich Bedeutung gewonnen hatten, vollständiger als im ersten aus; im vorliegenden Kapitel habe ich beide Vorträge verschmolzen, wobei ich versuchte, etwas von dem zwanglosen Charakter beizubehalten, den sie ursprünglich besaßen.
Die Reaktion auf jeden dieser Vorträge hat mich erkennen lassen, wie sehr die Leute danach hungern, etwas von dem Menschen zu erfahren, der zu ihnen spricht oder sie unterrichtet. Folglich habe ich dieses Kapitel an den Anfang des Buches gesetzt in der Hoffnung, daß es etwas über mich mitteilen und den darauffolgenden Kapiteln dadurch mehr Hintergrund und Bedeutung geben wird.
*
Man hat mir gesagt, daß ich bei meiner Rede vom Thema »Das bin ich« ausgehen solle. Ich empfinde verschiedene Reaktionen auf eine solche Einladung; eine davon möchte ich erwähnen, nämlich, daß ich mich geehrt und geschmeichelt fühle, daß überhaupt eine Gruppe im privateren Sinn zu wissen wünscht, wer ich bin. Ich versichere Ihnen, es ist eine einzigartige und herausfordernde Einladung, und ich werde versuchen, dieser ehrlichen Frage eine so ehrliche Antwort zu geben, wie es mir möglich ist.
Also, wer bin ich? Ich bin ein Psychologe, dessen Hauptinteresse seit vielen Jahren in der Psychotherapie liegt. Was heißt das? Ich beabsichtige nicht, Sie mit einem langen Rechenschaftsbericht über meine Arbeit zu langweilen. Ich will aber gern ein paar Absätze aus dem Vorwort zu meinem Buch, »Client-Centered Therapy« (1951 b) heranziehen, um in subjektiver Weise zu zeigen, was sie mir bedeutet. Ich wollte dem Leser den Gegenstand des Buches nahebringen, und schrieb wie folgt: »Wovon handelt dieses Buch? Lassen Sie mich eine Antwort versuchen, die bis zu einem gewissen Grad die lebendige Erfahrung vermitteln mag, die dieses Buch sein will.
Es beschäftigt sich mit dem Leiden und der Hoffnung, der Angst und der Zufriedenheit, welche das Beratungszimmer eines jeden Therapeuten füllen. Es handelt von der Einzigartigkeit der Beziehung, die jeder Therapeut zu jedem Klienten eingeht, und von den gemeinsamen Elementen, die wir in allen diesen Beziehungen entdecken. Das Buch behandelt die höchst persönlichen Erfahrungen eines jeden von uns. Es handelt von jenem Klienten in meinem Sprechzimmer, der dort an der Schreibtischecke sitzt und darum kämpft, er selbst zu sein, und der doch eine tödliche Angst davor hat; wie er danach strebt, sein praktisches Leben so zu sehen, wie es ist; wie er sich zu diesem Leben bekennen möchte und doch eine tiefgehende Angst davor hat. Das Buch handelt von mir, wie ich mit jenem Klienten dasitze, ihm gegenüber, und an diesem Kampf so tiefgehend und einfühlend teilnehme, wie es mir nur möglich ist. Es handelt von mir, wie ich versuche, sein Erleben, wie auch die Bedeutung und das Gefühl und den Geschmack und den Geruch, die es für ihn hat, nachzuempfinden. Es handelt von mir, wie ich meine sehr menschliche Unvollkommenheit im Verstehen jenes Klienten beklage, die gelegentlichen Fehlschläge, das Leben mit seinen Augen zu sehen; Momente des Mißerfolgs, die störend auf das komplizierte, zarte Netz der stattfindenden Persönlichkeitsentfaltung wirken. Es handelt von mir, wie ich mich über das Privileg freue, die Hebamme eines neuen Menschen zu sein — wie ich beim Entstehen eines Selbst, einer Persönlichkeit, in Ehrfurcht teilnehme, wie ich einem Geburtsprozeß zusehe, bei dem ich eine wichtige und fördernde Rolle gespielt habe. Es handelt von Klienten und von mir, wie wir staunend die starken, gewissen Regeln folgenden Kräfte betrachten, die in diesem ganzen Erlebnis offenbar werden; Kräfte, die im Universum als Ganzem tief verwurzelt zu sein scheinen. Das Buch handelt, glaube ich, vom Leben und davon, wie sich das Leben im therapeutischen Prozeß anschaulich enthüllt — mit seiner blinden Kraft und seiner enormen Zerstörungskapazität, aber auch mit seinem unglaublich starken Drang zur Entfaltung, wenn die Gelegenheit zur Entfaltung gegeben wird.« Das gibt Ihnen vielleicht in etwa ein Bild von dem, was ich tue und der Art, wie ich darüber denke. Vielleicht fragen Sie sich auch, wie ich dazu kam, mich in diesem Beruf zu engagieren. Vor welche Möglichkeiten war ich gestellt? Welche Entscheidungen, bewußte und unbewußte, wurden im Lauf der Zeit getroffen? Lassen Sie mich versuchen, Ihnen einige der psychologischen Höhepunkte meines Lebens zu schildern, besonders solche, die mit meinem Berufsleben verbunden zu sein scheinen.
Ich wuchs in einem Haus auf, das gekennzeichnet war durch enge Familienbindungen, eine strenge und kompromißlose religiöse und ethische Atmosphäre, und etwas, das auf eine Verehrung des Werts der schweren Arbeit hinauslief. Ich kam als das vierte von sechs Kindern zur Welt. Meine Eltern kümmerten sich viel um uns und dachten fast ständig an unser Wohlergehen. In vielfältiger Weise kontrollierten sie subtil und liebevoll unser Benehmen. Sie glaubten und ich akzeptierte es, daß wir anders waren als andere Menschen — keine alkoholischen Getränke, kein Tanzen, keine Karten oder Theater, sehr wenig gesellschaftliches Leben und viel Arbeit. Es fällt mir schwer, meine Kinder davon zu überzeugen, daß sogar kohlensäurehaltige Getränke einen leicht sündigen Beigeschmack hatten; und ich erinnere mich an das leichte Gefühl der Verworfenheit, als ich meine erste Flasche ›Limo‹ trank. Wir waren innerhalb der Familie vergnügt, hatten aber wenig mit anderen Leuten zu tun. Ich war also ein ziemlich alleindastehender Junge, der ununterbrochen las und während der ganzen Oberschulzeit nur zwei Verabredungen mit Mädchen hatte.
Als ich zwölf war, kauften meine Eltern aus zweierlei Gründen eine Farm, und wir richteten uns dort ein. Mein Vater, der ein wohlhabender Geschäftsmann geworden war, wollte den Farmbetrieb als Hobby. Wichtiger aber war, glaube ich, die Überzeugung meiner Eltern, daß eine Familie mit Jugendlichen sich von den ›Versuchungen‹ des Kleinstadtlebens fernhalten sollte.
Hier entwickelte ich zwei Interessen, die wahrscheinlich einen ziemlichen Einfluß auf meine spätere Arbeit gehabt haben. Mich faszinierten Nachtfalter, und ich wurde eine Autorität auf dem Gebiete der wunderschönen Luna, Polyphemus, Cecropia und anderer Falter, die unsere Wälder bewohnten. Ich machte mühselige Züchtungsversuche mit eingefangenen Exemplaren, zog Raupen groß, behielt die Kokons während der langen Wintermonate, und lernte ganz allgemein einige der Freuden und Frustrationen des Wissenschaftlers kennen, der versucht, die Natur zu beobachten.
Mein Vater war entschlossen, seine neue Farm auf wissenschaftlicher Basis zu betreiben, deshalb kaufte er viele Fachbücher über Landwirtschaft. Er ermunterte uns Jungen, eigene, unabhängige und gewinnbringende Versuche zu unternehmen, darum besaßen meine Brüder und ich eine Schar Hühner und gelegentlich zogen wir Lämmer, Schweine und Kälber groß. Ich wurde auf diese Weise ein Schüler der Agronomie und habe erst in späteren Jahren erkannt, welch tiefes Gefühl für die Naturwissenschaft ich dabei gewann. Es gab niemanden, der mir gesagt hätte, Morison's Feeds and Feeding (›Futtermittel und Füttern‹) sei keine Lektüre für einen Vierzehnjährigen. Ich ackerte mich durch die vielen hundert Seiten, lernte, wie Experimente durchgeführt werden — wie Kontrollgruppen mit Experimentalgruppen verglichen werden und wie durch geeignete Zufallsauswahl die Bedingungen konstant gehalten werden, damit der Einfluß eines gegebenen Futtermittels auf die Fleisch- oder Milchproduktion festgestellt werden kann. Ich lernte, wie schwierig es ist, eine Hypothese zu überprüfen. Und so lernte ich die Methoden der naturwissenschaftlichen Praxis kennen und schätzen.
Ich begann mein Studium an der Universität von Wisconsin im Fachbereich Agrarwissenschaft. Etwas, woran ich mich neben anderem am besten erinnere, war ein leidenschaftlicher Ausspruch eines Professors über Lernen und die Anwendung von Fakten. Er betonte die Sinnlosigkeit eines enzyklopädischen Wissens um des reinen Wissens willen und endete mit dem ausdrücklichen Befehl: »Sei kein verdammter Munitionswagen, sei ein Gewehr!«
Während meiner ersten zwei Universitätsjahre änderte sich mein Berufsziel (Resultat meiner Teilnahme an einigen emotionsgeladenen, religiösen Studententreffen) vom Agrarwissenschaftler zum Theologen — kein geringer Wandel! Ich wechselte dann vom Hauptfach Landwirtschaft auf Geschichte über, in der Annahme, das sei eine bessere Vorbereitung.
Während meines Junior-Jahres2 wurde ich ausgewählt, als einer von zwölf Studenten zu einer internationalen World Student Christian Federation Conference nach China zu fahren. Es wurde ein höchst wichtiges Erlebnis für mich. Wir schrieben 1922, vier Jahre nach dem Ende des Ersten Weltkrieges; ich sah, wie sich die Franzosen und die Deutschen noch bitter haßten, auch wenn sie als Individuen die nettesten Leute waren; ich wurde gezwungen, großzügiger zu denken, um zu erkennen, daß ernsthafte und ehrliche Menschen sehr verschiedenen religiösen Doktrinen anhängen können. Zum ersten Mal emanzipierte ich mich in sehr entschiedener Weise von den religiösen Ansichten meiner Eltern und erkannte, daß ich ihnen nicht länger folgen konnte. Diese Freiheit meiner Gedanken war recht schmerzlich und für unsere interfamiliäre Beziehung sehr belastend; wenn ich zurückblicke, glaube ich dennoch, daß ich hierbei — mehr als zu irgendeinem anderen bestimmten Zeitpunkt — ein unabhängiger Mensch wurde. Natürlich steckte zu dieser Zeit viel Revolte und Rebellion in meiner Einstellung, aber was sich während der sechsmonatigen Reise nach dem Fernen Osten vollzog, wurde die entscheidende Trennung; ihre gedankliche Aufarbeitung geschah also ohne den häuslich-familiären Einfluß.
Obwohl dieser Bericht von solchen Dingen handelt, die eher meine berufliche Entwicklung als meine persönliche Entfaltung beeinflußt haben, möchte ich einen grundlegend wichtigen Faktor aus meinem persönlichen Leben kurz erwähnen. Es geschah zur Zeit meiner Reise nach China, daß ich mich in ein nettes Mädchen verliebte, das ich seit Jahren, ja schon in der Kindheit, gekannt hatte; wir heirateten — mit der sehr zögernd gegebenen Einwilligung unserer Eltern — sobald ich mein Hochschulstudium beendet hatte, damit wir zusammen die graduate school3 besuchen konnten. Ich kann hierüber nicht sehr objektiv berichten, aber die ständige helfende Liebe meiner Frau und ihr Dabeisein während all der Jahre sind ein höchst wichtiger und bereichernder Faktor in meinem Leben.
Ich beschloß, das Union Theological Seminary — das damals (1924) liberalste im Land — zu besuchen, um mich auf die Kirchenarbeit vorzubereiten; die zwei Jahre dort habe ich nie bereut. Ich kam in Berührung mit einigen großen Gelehrten und Lehrern, vor allem Dr. A. C. McGiffert, der zutiefst an die Freiheit der Forschung wie an die Verpflichtung zur Wahrheit glaubte, ganz gleich wohin das führt. So wie ich Universitäten und graduate schools heute kenne, mit ihren Regeln und Starrheiten, bin ich wahrhaftig erstaunt über ein sehr wichtiges Erlebnis am Union-Seminar. Eine Gruppe von uns hatte das Gefühl, daß wir mit Ideen gefüttert wurden, während wir in erster Linie unsere eigenen Fragen und Zweifel untersuchen wollten; uns interessierte, wohin sie uns führten. Wir baten den Lehrkörper um die Erlaubnis, ein offizielles Seminar abhalten zu dürfen, ein Seminar ohne Dozenten, in dem sich das Curriculum aus unseren eigenen Fragen ergeben würde. Die Seminarleitung war verständlicherweise darüber verblüfft, aber sie erfüllte uns den Wunsch! Die einzige Einschränkung bestand darin, daß ein jüngerer Assistent als Vertreter der Institution dem Seminar beiwohnen, sich aber nicht beteiligen sollte, es sei denn, wir wünschten seine aktive Teilnahme.
Es ist vermutlich unnötig hinzuzufügen, daß dieses Seminar zutiefst befriedigend und klärend verlief. Es brachte mich auf dem Weg zu einer eigenen Philosophie des Lebens ganz erheblich vorwärts. In dem Maße, wie sie die selbst gestellten Fragen durcharbeitete, verließ die Mehrheit der Gruppenmitglieder gedanklich den Rahmen der Kirchenarbeit. Einer davon war ich. Daß Fragen über den Sinn des Lebens und die Möglichkeit einer konstruktiven Verbesserung des Lebens der Einzelnen mich wahrscheinlich immer interessieren würden, ahnte ich; ich konnte jedoch nicht in einem Bereich arbeiten, in dem man immer von mir verlangen würde, an eine bestimmte religiöse Doktrin zu glauben. Die Inhalte meines Glaubens hatten sich bereits stark verändert und würden es vielleicht weiterhin tun. Es schien mir eine furchtbare Vorstellung, sich zu einem Gefüge von Glaubensinhalten bekennen zu müssen, um im eigenen Beruf bleiben zu können. Deshalb wollte ich einen Arbeitsbereich finden, der mir die Freiheit der Gedanken beließ.
Aber wo wurde mir das geboten? Mich hatten im Union-Seminar die Kurse und Vorlesungen über Psychologie und Psychiatrie sehr interessiert, Veranstaltungen, die damals am Beginn ihrer Entwicklung standen. Goodwin Watson, Harrison Elliott, Marian Kenworthy trugen alle zu diesem Interesse bei. Ich fing an, weitere Vorlesungen am Teachers' College (Pädagogische Hochschule) der Columbia University zu belegen, das dem theologischen Seminar gegenüberlag. Im Fach pädagogische Philosophie hörte ich William H. Kilpatrick und fand in ihm einen ausgezeichneten Lehrer. Unter Leta Hollingworth, einem sensiblen und praktischen Menschen, begann ich mit praktischer klinischer Arbeit an Kindern. Zur Erziehungsberatung fühlte ich mich hingezogen und so kam es, daß ich, allmählich und ohne große, schmerzliche Anpassungsprozesse, in den Fachbereich der Erziehungsberatung überwechselte und begann, mich für einen klinischen Psychologen zu halten. Es war ein Schritt, den ich langsam, und ohne groß oder bewußt mich zu entscheiden, machte; ich folgte eher einfach den Tätigkeiten, die mich interessierten.