Louisa Reid
In deinem Licht und Schatten
Roman
Aus dem Englischen von Alexandra Ernst
FISCHER E-Books
Louisa Reid sagt über sich selbst, dass ›In deinem Licht und Schatten‹ schon lange in ihr herumgegeistert ist, bevor sie den Roman endlich zu Papier brachte. Sie ist glückliche Mutter von zwei Töchtern, die sie jeden Tag zum Lachen bringen. Louisa Reid lebt mit ihrer Familie in der Nähe von Cambridge.
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Erschienen bei FISCHER E-Books
Die englische Originalausgabe erschien 2012 unter dem Titel ›Black Heart Blue‹ bei Razorbill, einem Imprint der Penguin Books Ltd, London
Text © Louisa Reid, 2012
Für die deutschsprachige Ausgabe:
© S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main 2014
Covergestaltung:Covergestaltung: bürosüd°, München
Abhängig vom eingesetzten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.
Dieses E-Book ist urheberrechtlich geschützt.
ISBN 978-3-10-402251-2
Rebecca und Hephzi
Rebecca
Sie haben mich gezwungen, heute zur Beerdigung meiner Schwester zu gehen. Irgendwann musste ich nachgeben. Das schwarze Kleid, das Hephzibah letztes Jahr getragen hatte, als unsere Großmutter gestorben war, hing schwer an meinen Knochen, wie eine Rüstung. Sie war größer gewesen als ich. Die Erstgeborene, stärker, hübscher, der beliebtere Zwilling. Sechzehn Jahre lang hatte ich es genossen, in ihrem Schatten zu stehen, im kühlen Dunkel, ein sicheres Versteck.
Ich zitterte in der stillen Januarluft.
Es war der erste Tag des neuen Jahres.
Meine Schwester war seit einer Woche tot.
Unsere Großmutter war lieb gewesen, und wir hatten uns immer darauf gefreut, sie zu besuchen, wie andere Kinder sich auf Weihnachten freuen. Bei ihr durften wir Schokolade essen und fernsehen. Wir durften bis spätabends Bücher lesen. Bei Oma durften wir laut lachen und uns verkleiden. Sie erlaubte uns sogar, dass wir uns schminkten. Hephzi liebte Make-up, je mehr es glitzerte, desto besser. Oma sorgte dafür, dass meine Schwester einen BH bekam, als sie zwölf war und ihre Brüste anfingen zu wachsen. Manchmal ging sie mit uns ins Kino, und wir schauten uns Filme an. Disney-Prinzessinnen, Zeichentrickfilme und Harry Potter. Sie liebte uns. Sie küsste mich und nannte mich »lieb«. Ich war ihr »kleines Liebes«. Niemand außer ihr hat je so etwas zu mir gesagt. Als wir älter wurden, haben wir sie immer seltener besucht. Zeitverschwendung, meinten die Eltern. Statt bei unserer Großmutter herumzulungern, könnten wir uns bei kirchlichen Veranstaltungen nützlich machen. Für uns tat sich ein Abgrund auf, erfüllt von ihrer Abwesenheit. Ich weiß, dass sie uns vermisste. Wenn sie anrief und es einem von uns Mädchen gelang, ans Telefon zu gehen, dann klang ihre Stimme dünn und weit entfernt, wie ein Papierflieger, der hinter den Büschen verschwindet. Und dann war sie tot.
Heute ist ein weiterer schwarzer Tag, der sich tief in mein Herz eingeritzt hat. Es sind so viele, dass ich sie nicht mehr zählen kann. Wenn man mich öffnen würde, würde man unter Haut, Fleisch und Knochen eine Bibliothek der Schmerzen finden. Ihr möchtet von mir wissen, was geschehen ist? Immerhin bin ich die Hüterin dieser Vergangenheit. Aber manche Dinge sind so schrecklich, die Worte dafür sind tief vergraben. Es sind Worte, die ich nicht einmal meiner Schwester zugeflüstert habe. Es sind Worte, die ich nicht wage, laut auszusprechen. Und ich wünschte, sie würden sich nicht weinend in den Wänden meines Zimmers verstecken und mich bis in meine Träume verfolgen.
Es gibt ein Narbe in meinem Herzen für den Tod meiner Großmutter und eine für den Tag, an dem Hephzi zum ersten Mal nicht mit mir zusammen von der Schule nach Hause gehen wollte. Ich musste die Eltern anlügen, um zu erklären, warum ich allein im Pfarrhaus ankam. Ich sagte, sie würde Nachhilfestunden in Mathe nehmen.
Das war vor vier Monaten, im September, als wir auf die Oberstufe kamen. Dort fanden alle meine Zwillingsschwester hübsch und lieb und lustig, und es dauerte nicht lange, da wurde sie zu Partys eingeladen und von Jungen angesprochen. Weil ich ihre Schwester war, schikanierten sie mich nicht allzu sehr, aber ich glaube, die anderen lachten hinter meinem Rücken über mich. Vielleicht tat Hephzibah das auch. Niemand konnte mir in die Augen sehen. Selbst den Lehrern fiel das schwer.
Und jetzt ist sie tot. Heute wurde sie begraben. Der Sarg war weiß. Die Mutter weinte. Der Vater leitete, nein, er veranstaltete den Trauergottesdienst. Als er von seinen »guten und gottesfürchtigen« Gemeindeschäfchen gefragt wurde, wie er das ertragen könne, antwortete er, dass das seine Pflicht gegenüber seiner Tochter sei. Und ich stand ganz vorne in Hephzis schwarzem Kleid und fragte mich, ob sie in ihrer Holzkiste hören konnte, was gesprochen wurde, ob sie sich einsam fühlte und ob ihr kalt war. Zum ersten Mal würde sie jetzt spüren können, wie es war, wenn man außen vor war.
Ihre Freunde drängten sich hinten in der Kirche und weinten. Er hatte ihnen nicht verbieten können zu kommen, aber sein starrer Blick machte deutlich, dass sie nicht willkommen waren. Ich schaute zu Boden, voller Verachtung für sie alle. Diese Heuchler. Sie hatten uns nicht geholfen, als sie noch am Leben war. Warum waren sie jetzt hier, wo es zu spät war?
Als der Gottesdienst vorbei war, stand ich alleine abseits und wartete, bis die Eltern die Beileidsbekundungen entgegengenommen hatten.
Allein und abseits war nicht gut. Jeder konnte mich jetzt sehen. Hephzi war nicht mehr da, um die Blicke auf sich zu ziehen, und immer gab es jemanden, der mich mit einem Anflug von Faszination musterte. Und voller Abscheu. Ich fühlte diese Blicke wie Ameisen über meine Haut kriechen. Irgendwann kam Tante Melissa, die Schwester der Mutter, und fragte mich, wie es mir gehe. Sie lebte in Schottland, hatte uns selten besucht, und anfangs erkannte ich sie gar nicht. Aber sie legte ihren Arm um mich und versuchte, mich an sich zu ziehen. Als ich nicht auf ihre gemurmelten Worte des Mitgefühls reagierte und vor ihrer Berührung zurückwich, ließ sie mich los. Ich sprach nicht mit meiner Tante, weil ich wusste, dass er mich beobachtete. Außerdem war ich viel zu sehr damit beschäftigt, Hephzi zu erzählen, wie ihre Beerdigung war, und ich lauschte angestrengt in der Hoffnung, sie würde mir antworten. Eine Woche ohne sie war viel zu lang.
Inzwischen ist es dunkel, und der Tag ist fast vorbei. Ich muss immer noch in diesem Zimmer schlafen, in diesem Zimmer mit dem zweiten Bett, das nun leer ist. Hephzis Bett.
Manchmal wache ich mitten in der Nacht auf, aus dem Schlaf gerissen von meinem eigenen Schrei und dem Lärm aus der Wand, und eine Sekunde lang sehe ich dann den weichen Hügel ihres Körpers dort liegen, von mir abgewandt, wie immer. Sie atmet leicht.
Hephzi
Okay. Meine Familie ist irre. Völlig abgedreht. Irgendwann bin ich hier weg, das könnt ihr mir glauben. Wenn es sein muss, werde ich auch meine Schwester zurücklassen.
Die Schule ist ein neuer Anfang für mich. Ich rieche es in der Herbstluft, höre es in dem Schlagen der Spindtüren in der Schule, in den Rufen und dem Lachen von fremden Stimmen. Ich schmecke es auf meinen Lippen, wenn ich lächle und Leute, die ich nicht kenne, mein Lächeln erwidern. Ich weiß jetzt, dass ich frei sein kann. Ich habe meiner Mutter gesagt, dass ich ihr das Leben zur Hölle machen werde, wenn sie mich nicht gehenlässt, und sie hat mir wohl geglaubt. Jedenfalls hat sie unseren Vater überzeugt, irgendwie. Ich bin größer und stärker als sie, und ich weiß genau, wie ich sie herumschubsen muss, um meinen Willen zu kriegen. Manchmal. Wenn ich Glück habe. Aber wir haben’s geschafft, und es ist, als ob mir jemand den Schlüssel zu einem fremden Reich geschenkt hätte. In den Gängen wimmelt es von Leuten, die so alt sind wie ich. Alle möglichen Leute. Ich kann es kaum abwarten, mit ihnen zu reden, und ich spüre die Blicke der Jungs. Das ist das Beste: Jungs. Ich hatte noch nie einen Freund, aber ich werde mir schnellstens einen zulegen. Ich glaube nicht, dass das besonders schwierig wird. Natürlich muss ich zuerst Rebecca loswerden. Ich habe keine Lust, sie noch länger am Hals zu haben, sie mit ihren Kuhaugen.
Ihr habt ja keine Ahnung, wie es ist, wenn die eigene Schwester ein Freak ist. Okay, ich bin es gewohnt. Ihr Gesicht ist mir so vertraut wie mein eigenes. Aber wenn andere sie zum ersten Mal sehen, kann man ihnen nicht verübeln, dass sie am liebsten kotzen würden. Und sie macht es sich noch zusätzlich schwer. Sie gibt sich überhaupt keine Mühe, sich über normale Sachen zu unterhalten. Mir ist klar, dass es so was wie normal bei uns zu Hause nicht gibt, aber sie kann es doch wenigstens mal versuchen. Wenn man den anderen zuhört, lernt man das schnell. Ich habe ihr schon so oft gesagt, dass sie nicht so langweilig sein soll. Sie müsste einfach ein bisschen mehr wie ich sein und sich nicht ständig hinter mir verstecken. Aber sie kapiert es einfach nicht.
Ich habe es so satt, dass sie alles verdirbt, dass ich in der Mittagspause ohne sie mit den anderen in die Cafeteria gehe. Während ich in der Schlange warte, unterhalte ich mich mit Daisy und Samara, die mit mir in einer Klasse sind. Ich bin so aufgeregt, und erst, als ich an der Reihe bin, merke ich, dass das Essen nicht kostenlos ist. Ich halte alle anderen auf, indem ich so tue, als würde ich nach meinem Portemonnaie suchen. Samara, die direkt hinter mir steht, bietet an, mir das Geld – ein Pfund fünfzig – zu leihen. Ich muss das Angebot annehmen. Ich hoffe, dass sie mich nicht bittet, ihr das Geld zurückzuzahlen. Als wir uns an einen runden Plastiktisch gesetzt haben, fragen sie mich, was mit Rebecca los ist. Klar haben sie den ganzen Tag über sie geflüstert. Schnell überlege ich, was ich ihnen sagen soll. Es nervt mich, dass ich mich ständig für Rebecca schämen muss. Warum muss ich immer diejenige sein, die alles erklärt? Das spreche ich natürlich nicht aus. Ich sage bloß, dass sie einfach ein komisches Gesicht hat. Punkt. Aus. Ende.
»Hatte sie einen Unfall?«, fragt Samara.
»Nein. Es ist irgend so ein Syndrom, deshalb sieht sie ein bisschen seltsam aus. Das ist alles.«
»Oh.« Samara und Daisy wechseln einen Blick, und ich spare mir weitere Erklärungen. Ich sage ihnen nicht, was unsere Großmutter mir und Reb erklärt hat, als wir klein waren: dass sich ihre Gesichtsknochen schon im Mutterleib verformt haben.
»Es ist okay«, versichere ich ihnen. Ich glaube nicht, dass sie mir das abnehmen, aber dann laden sie mich ein, am Freitag mit ihnen in den Club zu gehen, also denke ich, dass alles okay ist. Sie gehen jeden Freitag dorthin. Man kommt wohl ganz leicht rein, auch wenn man noch nicht volljährig ist – wenn man einen gefälschten Ausweis hat. Ich habe aber keinen. Craig, der große Junge mit den dunklen Haaren, der so gut aussieht, aber ziemlich still ist, meint, er wüsste jemand, der so was für einen Fünfer besorgen kann. Fünf Pfund sind viel Geld, aber ich kann versuchen, an das Portemonnaie meiner Mutter zu kommen. Normalerweise würde ich mich das nicht trauen, aber ich muss schon was riskieren, wenn sich mein Leben ändern soll. Und wenn sie es merkt, sage ich einfach, dass ich es nicht war.
Ich vergesse völlig, Rebecca etwas von dem Mittagessen aufzuheben, aber sie sagt nichts, also sage ich auch nichts. Nach der Schule gehe ich noch mit Samara zu Daisy und lasse Reb allein nach Hause gehen. Aber erst nehme ich ihr das Versprechen ab, sich eine Ausrede für mich einfallen zu lassen.
Ein normales Zuhause ist phantastisch. Reb und ich haben immer gewusst, dass es so etwas gibt, bei unserer Oma war es ja auch anders gewesen als bei uns zu Hause. Aber ich hatte vergessen, wie es ist, nicht auf Zehenspitzen herumschleichen zu müssen und sich nicht so klein und unsichtbar wie möglich zu machen. Daisys Eltern arbeiten beide, und wir gehen in ihr Zimmer. Sie hat ihren eigenen Fernseher, sogar ein eigenes Badezimmer. Die Vorhänge, die Tagesdecke auf dem Bett. Alles ist gelb und weiß und passt zusammen.
Ich bin sprachlos: Ich möchte alles anfassen, die Plüschtiere auf dem Regal knuddeln, ihre Schuhe anprobieren und mich auf das große Himmelbett fallen lassen. Daisy legt Musik auf, und dann gehen wir auf Facebook. Ich fasse es nicht, dass sie hier oben sogar einen eigenen Computer hat. Sie legen ein Facebook-Profil für mich an; es ist mir ein bisschen peinlich, dass ich noch keins habe. Aber sie fragen nicht nach, und ich schaue aufmerksam zu, wie sie mit dem Computer umgehen. Ich will so schnell wie möglich so viel wie möglich lernen. Daisy macht mit ihrem Handy ein Foto von mir und lädt es dann in mein Profil hoch. Jetzt muss ich nur noch auf die Freundschaftsanfragen warten. Samara und Daisy lackieren mir die Fingernägel und zupfen meine Augenbrauen. Sie lachen, wenn ich kreische und quietsche, und sie sagen mir, dass ich hübsch bin. Ich hatte noch nie im Leben so viel Spaß.
Erst als Daisy mich fragt, wie es ist, einen Pfarrer zum Vater zu haben, werde ich ein bisschen nervös.
»Ach, weiß nicht. Ganz normal wahrscheinlich.«
»Echt? Musst du die ganze Zeit beten? Und jeden Tag zur Kirche gehen?«
»So in etwa. Aber manchmal gehen wir nicht hin.« Ich erzähle ihnen nicht, dass wir uns unter den Betten verstecken und das Unsichtbarkeitsspiel spielen. Gott sei Dank fragt Samara nicht weiter.
»Craig findet dich heiß.«
Mein Inneres explodiert. Craig ist zweifelsfrei der coolste Typ in unserem Jahrgang. Und er sieht gut aus. Richtig gut.
»Woher willst du das wissen?« Ich gebe mich gelassen, aber ich merke, wie ich rot werde. Das muss ich mir dringend abgewöhnen.
»Er meinte, du bist süß.« Hm. Ist das alles? Was genau bedeutet süß? Süß wie ein Kätzchen oder ein Hundebaby?
Daisy wirkt genervt. »Er hatte noch nie ’ne feste Freundin, also mach dir besser keine Hoffnungen.«
»Okay, okay.«
Daisy wechselt das Thema: »Wie ist es denn, wenn man zu Hause unterrichtet wird? Ist das nicht total ätzend?«
»Na ja, ein bisschen langweilig schon. Bloß ich und Rebecca und Mum.«
»Ich dachte, man trifft sich regelmäßig mit anderen Kindern, die von Hauslehrern unterrichtet werden. Meine Kusine hat mir das erzählt. Sie hat total viele Freunde.«
»Ja, klar, das haben wir natürlich auch gemacht.« Ich merke, dass ich jede Menge Lügen erzählen muss, und ich hoffe, dass ich sie alle behalten kann.
»Und wie gefällt’s dir in der Schule?«
»Cool! Alle sind so nett.«
»Ja, die Lehrer sind in Ordnung. Deine Schwester sah aber ganz schön fertig aus, als du sie alleingelassen hast. Sie hätte doch mitkommen können.«
»Nö, ich glaub nicht, dass sie dazu Lust hat.« Ich werde mir auf keinen Fall von Rebecca die Tour vermasseln lassen. Einen Zwilling zu haben ist schon schlimm genug, und es wird nahezu unerträglich, wenn dieser Zwilling Rebecca ist.
»Also, kommst du am Freitag mit?«
»Vielleicht, mal sehen.«
»Ach komm schon! Craig wird auch da sein«, sagt Samara.
Ich muss einfach mit. Die Frage ist nur, wie ich aus dem Haus kommen soll.
Auf dem Heimweg kratze ich den Nagellack wieder ab und hinterlasse eine unsichtbare Spur aus winzigen Lacksplittern, wie in dem Märchen, das Oma uns früher vorgelesen hat. Der schönste Teil daran ist, wenn das Mädchen die Hexe in den Ofen stößt. Reb und ich waren jedes Mal sehr froh darüber.
Zu Hause hat niemand etwas gemerkt, Reb hat ihnen irgendwas erzählt. Ich ignoriere die misstrauischen Blicke meiner Eltern und tue so, als ob ich nichts zu verbergen hätte.
Heute Abend ist Gebetsstunde, und wir kommen nicht darum herum. Glaubt mir, ich habe es versucht. Nein, wir müssen in der eisigen Kapelle sitzen. Mein Vater behauptet immer, dass die Spenden nicht ausreichen würden, um sie anständig zu heizen. Ich zittere vor Kälte. Außer uns ist nur ein erbärmliches Häufchen Leute da: ein paar Alte und ein halbes Dutzend von seinem Fan-Club, die wie immer durch ihren muffigen Atem und die fettigen Haare auffallen. Sie wirken abwesend, als ob ihnen gerade jemand eins mit der Bratpfanne übergezogen hätte. Ich sitze da und versuche, meinem Vater nicht zuzuhören. Stattdessen denke ich darüber nach, wie ich mich am Freitagabend davonschleichen kann. Ich brauche etwas zum Anziehen. Vielleicht aus der Altkleidersammlung. Vielleicht hat jemand einen neuen Sack vorbeigebracht. Ich muss später einmal nachsehen, wenn die anderen im Bett sind. Daisy geht wahrscheinlich einfach mit ihrer Mutter einkaufen, wenn sie neue Sachen braucht. Meine Mutter geht nie einkaufen. Neue Sachen gibt’s nicht. Punkt. Sie trägt Altfrauenkleider, heute wie jeden Tag. Wie sie dasitzt, mit zusammengekniffenen Augen und gesenktem Kopf! Es ist einfach nur peinlich. Rebecca und ich geben uns wenigstens etwas Mühe, selbst wenn sich das bei Reb auf die Körperhygiene beschränkt. Manchmal, wenn sie uns bestrafen wollen, schließen sie das Badezimmer ab. Aber dann wasche ich mich in der Küche. Ich werde auf keinen Fall herumlaufen, als hätte ich den Kopf in eine Fritteuse gesteckt.
Nach den Gebeten, dem Gesang und dem Handauflegen, das der heilige Roderick, mein Vater, praktiziert, geht’s ans Händeschütteln. Anders als meine Mutter, stolziert er wie ein Pfau herum, und ich muss neben ihm stehen und lächeln, während die Leute seine Predigt lobpreisen. Gähn.
Auf dem Rückweg zum Pfarrhaus packt er mich am Arm. Zu fest.
»Nun, Hephzibah. Wie war es heute in der Schule?«
»Gut, danke.« Ich will mich aus seinem Griff lösen, aber er packt noch fester zu. Das gibt einen blauen Fleck.
»Ich hoffe, du machst es dir nicht zur Gewohnheit, so spät nach Hause zu kommen. Der Gedanke, dass du abends allein unterwegs bist, gefällt mir nicht.« Seine Stimme ist angespannt, wie ein Stolperdraht.
»Da ist doch nichts dabei.« Mit ihm zu streiten hat keinen Zweck, aber manchmal kann ich nicht anders. Und er lässt mir viel mehr durchgehen als Rebecca.
»Das nächste Mal, wenn du lange ausbleibst, sagst du mir Bescheid. Ich werde dich abholen.«
Träum weiter, denke ich. Aber ich lächle und bedanke mich. Wenn ich Glück habe, hat seine Wachsamkeit bis Freitag wieder nachgelassen, und ich kann mich davonschleichen.
An diesem Abend, im Bett, versuche ich, mich mit Rebecca zu versöhnen. Seit ich nach Hause gekommen bin, hat sie kaum mit mir gesprochen. Ich weiß, dass sie mir böse ist, weil ich ohne sie losgezogen bin. Ihr gekränktes Hundegesicht nervt total, aber ich tue so, als würde ich gar nicht merken, dass sie sauer ist.
»Du hättest mitkommen sollen. Daisy und Samara sind so nett. Es hätte dir bestimmt Spaß gemacht.«
Sie schweigt, das Gesicht zur Wand gedreht, zusammengekrümmt im Bett liegend. Sie ist so dünn, dass es kaum auffällt, ob sie da ist oder nicht.
»Was ist los? Gefällt dir die Schule nicht?«
Wieder keine Antwort. Ich seufze und rolle mich auf den Rücken. Ich bin viel zu aufgeregt, um zu schlafen. Ich kann es kaum erwarten, morgen wieder hinzugehen, meine neuen Freundinnen zu sehen – und Craig. Bevor ich einschlafe, denke ich an die fünf Pfund, die ich mir besorgen muss. Ich muss früher aufstehen als sonst, damit mich keiner erwischt, wie ich im Portemonnaie meiner Mutter krame.
Rebecca