Bill Clegg
Neunzig Tage. Eine Rückkehr ins Leben
Aus dem Amerikanischen von Malte Krutzsch
FISCHER E-Books
Bill Clegg arbeitet als Literaturagent in New York. Mit seinem ersten Roman ›Portrait eines Süchtigen als junger Mann‹ begann er, seine eigene Geschichte aufzuzeichnen und erlangte einen großen Kritikererfolg. Mit ›Neunzig Tage‹ erzählt er die Fortsetzung.
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Erschienen bei FISCHER E-Books
Die Originalausgabe erschien 2012 unter dem Titel ›Ninety Days‹ bei Little, Brown and Company, a division of Hachette Book Group, New York
© S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main 2014
Covergestaltung: hißmann, heilmann, hamburg nach einer Idee von Kapo Ng
Coverabbildung: © Sam Chung@A-Men Project
Abhängig vom eingesetzten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.
Dieses E-Book ist urheberrechtlich geschützt.
ISBN 978-3-10-402328-1
Für Polly, Annie, Jack & Asa und alle, die die Tage zählen
Während Schnee die Spuren ausfüllt,
die von dir sein müssen,
kehrst du zum Ausgangspunkt zurück,
um von vorn zu beginnen,
allein und warm, wie neu, gehst du los.
Daniel Halpern, aus »White Field«
Vergiss dich selbst.
Henry Miller
Es sieht aus wie das Königreich Oz, denke ich, als in der Frontscheibe von Daves Jeep Manhattan in Sicht kommt. Die überfüllten Türme mit ihrem Glas und Metall ragen in den Himmel und sehen im Mittagsdunst weit entfernt aus, mythisch, mehr Idee als Gebäude. Wir fahren in dichtem Verkehr, der schnell und gleichmäßig dahinfließt. Einen Monat zuvor, auf der Fahrt vom Lenox Hill Hospital zur Entzugsklinik in White Plains, hatte ich die hinter uns zurückfallende Stadt gar nicht wahrgenommen. Geredet haben wir damals so wenig wie jetzt.
Dave spielt Musik, die ich nicht kenne. Eine rauchige Frauenstimme heult ernst und ironisch zugleich neben einer Akustikgitarre her. Er sagt mir, wie die Sängerin heißt, ein Name, der eher nach einem Kaufhaus klingt. Er vergleicht sie mit einer anderen Sängerin, die ich nicht kenne, und mir ist, als hätte ich eine von Grund auf vertraute Sprache verlernt. Sechs Wochen war ich in Lenox Hill und im Entzug, aber es kommt mir wie Jahre vor, Jahre, in denen neu aufgetauchte Bands verschwunden, Filmsensationen in Vergessenheit geraten sind, Bücher heftig diskutiert oder glatt übergangen wurden und das Glücksrad des Kulturbetriebs sich weiterdrehte, um neue Namen auszuwerfen. Dave erzählt mir von einem Theaterstück, das er und Susie gerade gesehen haben, und ich schrumpfe in meinem Sitz auf Kindergröße zusammen. Oz ragt vor uns noch höher über den Horizont.
Es ist Anfang April, ein Montag. Wir sind unterwegs zu Daves Schreibstudio in der Charles Street im West Village. Er hat es mir für ein paar Wochen als Bleibe angeboten, solange ich mir eine Wohnung suche. Ich habe gerade vier Wochen in einer kleinen Alkohol- und Drogen-Entzugsklinik auf dem Gelände einer alten Heilanstalt hinter mir. Dorthin hatte mich Dave nach meiner Entlassung aus der psychiatrischen Abteilung von Lenox Hill gebracht, und da war ich nach einer zwei Monate dauernden Drogenorgie gelandet, die mit einer Handvoll Schlaftabletten, einer Flasche Wodka, einer zugebauten Crackpfeife und einem Krankenwagen endete. Die kleine Literaturagentur, die ich vier Jahre als Mitinhaber geleitet habe, gibt es nicht mehr, all meine Klienten haben sich neue Agenten gesucht, unsere Angestellten haben neue Jobs oder sind weg aus New York, und weg ist auch das Geld, das ich mal hatte; geblieben sind wachsende Schulden bei Anwälten, Krankenhäusern und Entzugskliniken. Die acht Jahre dauernde Beziehung mit meinem Freund Noah ist vorbei, und die Wohnung in der Fifth Avenue Nr. 1, die ihm seine Großmutter gekauft hat und in der wir vier Jahre zusammengewohnt haben, ist nicht mehr mein Zuhause. Ich kann in Daves Studio schlafen, aber von zehn bis fünf muss ich raus, damit er arbeiten kann.
Anderer Song – die Frau spricht jetzt eher, als dass sie singt, begleitet von einem Cello –, und ich frage mich, was ich den ganzen Tag machen, wie ich die Zeit ausfüllen, wohin ich gehen soll.
Willst du das auch wirklich?, fragt Dave vorsichtig. Hältst du es für richtig, wieder herzukommen? Er stellt die Musik leise und sieht auf die Straße, während er meine eigenen Bedenken ausspricht. Ich weiß gar nichts. Ich bin vierunddreißig. Arbeitslos. Unvermittelbar in dem Metier, in dem ich zwölf Jahre lang tätig war. Ein beängstigender Berg Papier wartet auf mich: die Vergleichsvereinbarung mit meiner Geschäftspartnerin Kate zur Auflösung der Agentur, Anwaltsrechnungen, Krankenhausrechnungen und Versicherungsformulare sowie E-Mails und Briefe – wütend, liebevoll, und alles, was dazwischenliegt – von Freunden, früheren Kollegen und Angehörigen. Der Entzug kostet mindestens vierzigtausend Dollar, wenn nicht noch viel mehr. Meine Schwester Kim, die in Maine lebt, kümmert sich um die Rechnungen, die Konten, den Anwalt, wenn sie nicht gerade ihre beiden Zwillingssöhne zur Schule, zu Freunden und zum Baseballtraining fährt oder sie von dort abholt, und wir haben vor, alles bis ins Kleinste und Schwierigste durchzugehen, sobald ich bei Dave eingezogen bin.
Ich bin mit meinem Paten Jack zu einem Abendmeeting im West Village verabredet – einem Anfängertreffen, wie er es nennt. Jack habe ich am dritten oder vierten Tag im Krankenhaus kennengelernt. Nach meinem holprigen, schreck- und schamerfüllten Einstand dort – ich wollte niemanden sehen, mit niemandem reden – ließ ich mich schließlich auf ein Gespräch mit ihm ein, dem Freund eines Freundes, so alt wie ich, Ringellocken, jungenhaft, schwul, und er bot sich mir als Pate an – so etwas wie ein Coach/großer Bruder/Führer in einer Gruppe für Alkoholkranke und Drogensüchtige. Im Entzug sollte ich erfahren, dass es viele solcher Gruppen gibt – auf Beitragsbasis oder auch nicht, meist mit organisierten Versammlungen –, in denen Suchtkranke wie ich Hilfe suchen. Ich will Jacks Gruppe beitreten.
Dave hält vor einem efeuüberwucherten alten Apartmentgebäude in der Charles Street, zwischen Bleecker und West 4th. Ich steige aus und warte, während er hinterm Steuer noch telefoniert. Es ist still. Die Luft ist feucht, und das Nachmittagslicht sprenkelt die Straßen. Ein hochwangiges junges Pärchen läuft vorbei, beide sprechen wohl Russisch in ihre Handys. Eine Feuerwehrsirene heult. Ein gepflegter junger Mann, der eine Dogge an der Leine führt, beugt sich vor, um einen wohlgeformten Hundehaufen in eine Plastiktüte zu schaufeln. New York, denke ich. Ich bin wieder in New York. Ich sehe einen Mann mittleren Alters mit einem Ohrhörer, dessen Kabel in seiner beigefarbenen Windjacke verschwindet. Er sieht mich im Vorbeilaufen einen Tick zu lange an, und die vertraute alte Panik fährt mir durch den Brustkorb. Dave kommt um den Wagen herum, holt meine beiden Taschen vom Rücksitz und blafft: Komm, ich bin mit Susie verabredet. Ich nehme ihm eine Tasche ab, und als ich mich nach dem Mann mit der Windjacke umdrehe, ist er weg.
Auf einer überlaut knarrenden Treppe folge ich Dave in den dritten Stock, während er mir mitteilt, dass die alte Frau im zweiten unerhört empfindlich und zänkisch ist und ihn zu jeder Tages- und Nachtzeit anruft, wenn ihr etwas nicht passt. Sagt er das, damit ich gar nicht erst auf die Idee komme, komische Sachen abzuziehen? Eine kleine Abwehrmauer, um zu verhindern, was er und alle anderen kommen sehen, jetzt wo ich wieder in New York bin: einen Rückfall.
Die Wohnung ist hell, ein Raum mit hohen Wänden, Kamin und einem von der Decke baumelnden kleinen Kronleuchter. Sie könnte die Bibliothek in einem viel größeren, schönen alten Haus sein. Daves Bücher säumen den Kaminsims und die Regale, und alte Teppiche bedecken den Boden. Die kleine braune Couch lässt sich zum Bett ausklappen, meiner Schlafstatt für die kommenden Wochen. Dave führt mich auf die Schnelle herum – Handtücher, Schlösser, ein Stapel Decken, komplizierte Fenster, Besteck, Tassen, Kaffeemaschine, Schlüssel –, und schon ist er weg. Ich hatte gedacht, wir könnten irgendwo einen Kaffee trinken gehen und uns gemütlich darüber unterhalten, wie alles werden sollte – du musst tapfer sein, du kannst auf mich zählen und so weiter –, aber er hilft mir lediglich beim Auspacken, weist mich noch mal auf die Nachbarin von unten hin, sieht mich besorgt an und sagt schnell tschüs.
Die Wohnung blickt auf den Garten hinter einer Villa. Eine minimalistische Oase: Buchsbaum, Teak, spiegelnder Pool. Die Villa hat große klare Fensterscheiben, durch die man im zweiten Stock erlesene Möbel aus den fünfziger Jahren sieht und im ersten die klaren Linien einer Küche aus Edelstahl, Marmor und, wie es scheint, Wildleder. Alles strahlt Ordnung und Wohlstand aus; ich kann kaum hinsehen. Ich schließe die Augen, und da erst höre ich das muntere Vogelkonzert. Es hört sich genauso an wie die Vögel, die auf dem Gelände der Entzugsklinik in den Bäumen saßen. Ich stelle mir vor, dass der Schwarm Daves Jeep von White Plains bis hierher gefolgt ist und sich jetzt im Gezweig niedergelassen hat, um mir zwitschernd und flötend ein wenig Mut zu machen.
He Leute, sage ich und erschrecke über den Klang meiner eigenen Stimme. Danke für die Begrüßung, rede ich leise weiter, und obwohl es mir peinlich ist, zu denken, die Vögel könnten mich heim nach New York begleitet haben, freue ich mich doch über jede Freundlichkeit von draußen, sei sie auch nur eingebildet. Ich lege mich auf die Couch und lausche.
Die Vögel singen weiter. Stimmen dringen von draußen herein. In der kleinen Küche brummt der Kühlschrank. Und schlagartig wird mir bewusst: Ich bin allein. Außer Dave weiß niemand genau, wo ich bin. Ich kann machen, was ich will. Wochenlang war ich in stationärer Behandlung, hatten Pfleger, Ärzte und Drogenberater den Daumen auf mir. Jetzt ist Schluss mit den Morgenappellen, Stationsmahlzeiten, den Kontrollen, ob um zehn auch alle im Bett sind. Ich bin allein und niemandem Rechenschaft schuldig. Und wie eine frisch entfachte Glut kommen mir meine alten Dealer, Rico und Happy, in den Sinn. Ich weiß, dass ich beiden je tausend Dollar schulde, und frage mich – trotz allem, was passiert ist, allen, die ich verletzt habe, trotz allem, was war –, wie ich an zweitausend Dollar komme, damit ich die Jungs bezahlen und wieder bei ihnen kaufen kann. Ich wühle mich durch gültige Kreditkarten und PIN-Codes. Plötzlich scheinen ein paar Tausend Dollar nicht ganz außer Reichweite zu sein, und ich spüre, wie der alte Hunger, das in mir schlummernde Bedürfnis, wieder erwacht. Ich stelle mir vor, wie nach dem ersten Hit alles von mir fällt, und schon bin ich auf den Beinen und laufe im Zimmer umher. Nein nein nein, sage ich laut. Lass das sein. Wenn dieses Verlangen erst mal einsetzt, ist es fast unmöglich wieder abzustellen. Was mein süchtiger Kopf sich vorstellt, will mein süchtiger Körper haben. Es ist wie bei Bruce Banner, wenn er sich in den unglaublichen Hulk verwandelt. Spannen sich erst mal die Muskeln unter den Kleidern und er wird grün, kann er nur noch das Monster aus sich hervorbrechen und wüten lassen.
Ich trete auf ein knarrendes Dielenbrett, und muss an die alte Dame von unten denken. An Dave, der fast den ganzen Tag geopfert hat, um mich aus White Plains abzuholen; der mir seine Wohnung anvertraut und mich beim Abschied so besorgt angesehen hat. Ich blicke auf die Uhr. Zehn vor vier, und mir fällt ein, dass Jack mir empfohlen hat, zu einem Vier-Uhr-Treffen an der nächsten Ecke zu gehen, falls ich rechtzeitig in der Stadt bin. Das schaffst du, denke ich verzweifelt und meine damit das Treffen und alles andere auch. Ich nehme die Schlüssel vom Kaminsims, gehe so leise wie möglich die knarzige Treppe hinunter und bin auf der Straße.
Bis ich zu dem Treffen komme, ist es rappelvoll, und ich muss mich zwischen den Leuten zum anscheinend letzten freien Platz durchzwängen. Ich lehne mich gegen die rotkehlcheneierblau gestrichene Wand, und dabei fällt mein Blick auf Jack. Mit einem breiten »Schön, dass du’s geschafft hast«-Grinsen sitzt er mir direkt gegenüber. Wir sind eigentlich erst für später verabredet, aber er hat es sich nicht nehmen lassen, bei meinem ersten Treffen, seit ich wieder in der Stadt bin, aufzutauchen. Willkommen daheim, sagt er leise und ernst, als das Licht gedämpft wird und die Versammlung beginnt.
Ich habe Jack erst dreimal gesehen – zweimal in Lenox Hill und einmal in der letzten Woche des Entzugs; da haben wir einen langen Spaziergang gemacht und uns in einem weißen Gebäude mit schönem Ausblick vom Chefpsychologen erzählen lassen, ich sei jemand, der es schaffen würde, bei dem kein Rückfall zu befürchten sei. Jack ist Musikkritiker und wohnt mit seinem Freund in der City. Cracksüchtig war er zwar nicht, aber seine Drogen- und Alkoholvergangenheit erinnert mich an meine eigene, und wenn ich ihm etwas mehr als Peinliches und Beschämendes erzähle, wartet er jedes Mal mit einer Geschichte auf, die mir zeigt, dass wir beide gleich tief gesunken sind. Ich muss mir immer wieder vor Augen halten, dass Jack süchtig ist. Er wirkt so gefestigt, so klar und gesund. Jedes Mal staune ich, wenn ich höre, was er sich im Rausch alles geleistet hat – Sachen, von denen ich dachte, nur ich bringe sie fertig. Taxifahrer anmachen zum Beispiel. Davon hat er mir bei unserer ersten Begegnung in Lenox Hill erzählt, als ich noch von dem Gedanken besessen war, Drogenfahnder seien mir auf den Fersen. Woher weißt du das?, frage ich ihn sofort. Wieso, antwortet er, ich hab’s doch erlebt, und mit etwas Verspätung wird mir klar, dass er nicht von mir, sondern von sich selbst gesprochen hat.
Nach dem Treffen gehen wir einen Kaffee trinken. Ich erzähle ihm von meinem Verlangen vor einer Stunde in Daves Wohnung. Er sagt mir, wenn das noch mal passiert – und es passiert mit Sicherheit –, soll ich sofort ihn oder sonst jemanden, der clean ist, anrufen. Erreiche ich nur seine Mailbox, soll ich draufsprechen, was los ist, auch wenn ich vorhabe, Crack zu besorgen oder mich zu betrinken. Alles draufsprechen, und danach soll ich mir am besten Schritt für Schritt vor Augen führen, wie es weitergeht. Dealer bezahlen. Stoff bekommen. Rauchen, bis nichts mehr da ist, beim Dealer Nachschub bestellen. Und wieder Nachschub. Kein Geld mehr haben. Paranoia bekommen. Nicht ans Telefon gehen, wenn besorgte Freunde anrufen. Der nächste Tag. Der Horror am Morgen. Das leere Bankkonto. Mehr brauchen. Mehr rauchen. Und immer so weiter.
Ein paar Stunden zuvor bei Dave hatte ich an nichts als das High gedacht. Nur an das High. Jetzt, wo wir in dem vollen Café in der Jane Street sitzen und besprechen, wohin das geführt hätte, kühlt die so heiße Glut des Verlangens merklich ab. Während wir uns unterhalten, wünsche ich, ich könnte mit zu Jack gehen, zu ihm und seinem Freund ziehen, wenigstens bis ich neunzig Tage clean bin, das ist ja schon in einem Monat. Neunzig Tage sind für viele Gruppen und Organisationen, die sich mit Alkohol- und Drogenmissbrauch befassen, ein Meilenstein auf dem Weg zum drogenfreien Leben. Viele plädieren für das, was Jack ein paarmal schon als Neunzig-neunzig bezeichnet hat, nämlich die Teilnahme an neunzig Treffen in diesen neunzig Tagen. Mir hat Jack, weil ich nicht arbeite und auch sonst wenig zu tun habe, zwei Treffen pro Tag empfohlen. Mindestens. Die Treffen können eine Qual sein. Mir fällt es schwer, mich zu konzentrieren, nicht immer wieder daran zu denken, wie ich mein Leben und meine Finanzen in den Griff bekommen und so viele meiner Beziehungen ins Reine bringen soll. Neunzig Tage lang je zwei Treffen durchzustehen, das kann ich mir überhaupt nicht vorstellen. Treffen für Treffen, Tag für Tag, betet mir Jack vor, als ich ihm meine Bedenken mitteile, und das bringt mich zum Schweigen. Die neunzig Tage sind zu einem wichtigen Brennpunkt unserer Gespräche geworden, und wenn ich mir auch nicht vorstellen kann, diese ganzen Treffen über mich ergehen zu lassen, mir die ganzen Säufer und Süchtigen anzuhören, wenn ich auch keine Zukunft vor mir sehe und keine Möglichkeit, aus dem Sumpf, der sich mein Leben nennt, herauszukommen – die neunzig Tage erscheinen mir manchmal immerhin machbar. Jack ist sogar der Meinung, bis ich die Neunzig voll habe, sollte ich nicht mit allzu vielen Leuten in der Stadt wieder Kontakt aufnehmen, mich nicht zu sehr um Geschäftliches und um die Finanzmisere kümmern. Die neunzig Tage sind ein klares, beruhigendes Ziel, und wenn mir von allem, was war und was kommen könnte, der Kopf schwirrt, denke ich: Neunzig Tage, neunzig Tage. Irgendwann habe ich dann nur noch das im Kopf, sind sie das Einzige, was ich schaffen muss.
Im Gespräch mit Jack legt sich oft meine Verzweiflung darüber, dass ich kein Geld, keine Arbeit und keine Ahnung habe, was ich mit meinem Leben anfangen soll. Er verwandelt die mir unüberwindlich erscheinenden Hindernisse in einfache Aussagen wie Ein Tag nach dem anderen und Immer mit der Ruhe, was ich verblüffend, arrogant und tröstlich zugleich finde. Er sagt mir, ich soll daran glauben, dass alles so gekommen ist, wie es sollte, dass alles gut wird, wenn ich clean bleibe, und dass ich, ehe ich’s mich versehe, anderen helfen werde, clean zu bleiben. Ich? Anderen helfen? Ganz bestimmt!, antworte ich ihm. Wie könnte ich? Ich habe überhaupt nichts zu bieten. An Glauben fehlt’s mir auch. Zumindest glaube ich weder an mich selbst noch an einen großen Schöpfungsplan, der alles, was passiert ist und was ich in den letzten Monaten und in den Jahren bis dahin getrieben habe, vertretbar macht. Als ich ihm sage, dass es mir an Gottvertrauen mangelt, erwidert er nur: Nimm meins so lange.
Nach dem Kaffee geht Jack mit mir zu einem anderen Treffen derselben Organisation, ein paar Straßen weiter, im Untergeschoss einer schönen alten Backsteinkirche. Die Treffen dort, sagt er, haben ihn von der Sucht weggebracht. Er nimmt noch immer daran teil. Auf dem Hof begegnen wir ein paar Leuten, die Jack hallo sagen, ihn manchmal auch kurz umarmen, bevor sie weitergehen. Er lächelt und winkt noch einigen anderen, und als er mich am Versammlungsort dann in die vorderste Reihe führt, bin ich stolz, bei ihm zu sein. Wobei mir auch wieder klar wird, dass ich ihn kaum kenne. Ich weiß nicht, wie sein Freund heißt, was für Bekannte er hat und wo er genau wohnt, aber für mich ist er ein kerngesunder Superheld, eine Art Clark Kent bei Tag und Superpate bei Nacht. Ich sehe mich unter den vielen Leuten auf ihren Klappstühlen um, die sich unterhalten, Kaffee trinken und darauf warten, dass es losgeht, und keiner von ihnen wirkt auf mich so attraktiv, freundlich und selbstbewusst wie Jack. Wie dankbar bin ich ihm, dass er gerade zur rechten Zeit in mein Leben getreten ist. Seit Lenox Hill haben wir jeden Tag mindestens einmal telefoniert, und er hat mich durch eine Unzahl Angstzustände geschleust. Der Mann kann zaubern, denke ich, und im selben Moment sagt er mir, dass ich bei dem Treffen die Hand heben und der ganzen Versammlung mitteilen muss, ich sei gerade erst aus dem Entzug zurück und den ersten Tag wieder in der Stadt.
Über fünfzig Leute sind im Raum. Im Entzug waren wir nur zu viert, die Gruppe also viel kleiner und längst nicht so einschüchternd. Ich schüttele den Kopf, und Jack beugt sich zu mir vor und sagt: Du kannst dir das nicht aussuchen. Wir haben eine Abmachung: Wenn du meinem Rat folgst, bin ich dein Pate. Sonst nicht. Als der Versammlungsleiter dann ein paar Minuten später fragt, ob jemand mit unter neunzig Tagen im Raum ist, melde ich mich also gehorsam.
Das Treffen endet, und danach hängen viele, hauptsächlich Männer und obendrein schwul, noch auf dem Hof herum. Nicht lange, und ein paar Typen – jung, dünn, perfekt frisiert und mehrheitlich mit weißen Gürteln – kommen herüber, um hallo zu sagen. Sie heißen mich willkommen und fragen, ob ich Lust habe, mit ihnen essen zu gehen. Danke, sage ich höflich, ich bin mit meinem Paten zum Essen verabredet. Aber kaum habe ich ausgeredet, höre ich Jack hinter mir sagen: Bist du nicht. Ich drehe mich nach ihm um und sehe das strenge Gesicht eines Vaters, der seinen Sprössling einem Ferienlager überlässt. Ehe ich noch etwas sagen kann, umarmt er mich und sagt, ich soll ihm eine Nachricht auf die Mailbox sprechen, wenn ich nach Hause komme. Ich spiele mit dem Gedanken, mich in die Charles Street zu verkrümeln, während ich hinter ihm her schaue, aber es sind einfach zu viele, die sich mir vorstellen und mir Zettel mit ihrer Telefonnummer in die Hand drücken, als dass ich unbemerkt verschwinden könnte.
Also gehe ich mit ihnen essen. Es sind mindestens fünfzehn Typen. Alle schwul. Die meisten jung. Einige süß. Die meisten nicht. Alle laut. Auf dem Weg in Richtung Chelsea lasse ich mich wiederholt zurückfallen, damit es nicht so aussieht, als ob ich zu ihnen gehöre, aber immer kommt gleich jemand zu mir und spricht mich an. Wie viele Tage hast du schon? ist die übliche Frage, und meine Antwort: Neunundfünfzig. Ihnen meine Geschichte zu erzählen, ist mir peinlich, und so rede ich nur von vorübergehenden Schwierigkeiten. Sie scheinen zu verstehen und haken nicht nach.
Schließlich landen wir im New Venus in Chelsea, wo die Bedienung im vorderen Teil des Restaurants ein paar Tische zu einer langen Tafel zusammenrückt. Im Gerangel um die Plätze verschlägt es mich in Türnähe. Als ich mich hinsetze, sehe ich einen langen, blassen Typ mit roten Haaren und einem weißen Izod-Shirt, der direkt mir gegenüber Platz nimmt. Schottischer Einschlag, bloß zu exotisch für einen Schotten. Skandinavier vielleicht, denke ich, aber gibt es rothaarige Skandinavier? Er sieht sehr fit aus, sehr blass, voller Sommersprossen, und seine Sachen sind so sauber, dass es blendet. Hi, sagt er. Ich bin Asa.
Asa ist ein paar Jahre jünger als ich, studiert Stadtplanung und ist seit drei Jahren weg vom Heroin, das ihn um seine Ersparnisse brachte und ihn zwang, das Studium aufzugeben. Als ich ihn nach den roten Haaren frage, sagt er, die seien ein Rätsel, sonst sei keiner in seiner Familie rothaarig und alkohol- oder drogenabhängig auch nicht. Er ist in einem, wie er sagt, exzentrischen presbyterianischen Haushalt in Baltimore aufgewachsen, betritt eine Kirche aber nur noch, wenn dort Treffen stattfinden. Er scheint mir zu ernst und zu gebildet für diesen Haufen ehemaliger Partymonster, fühlt sich aber offenbar pudelwohl bei ihnen. Ich erzähle ihm meine Geschichte, und er hört zu und nickt zwischendurch und stellt ab und zu eine Frage. Ich habe Angst, dass er denkt, ich hätte mir das mit Noah, meinem früheren Leben und den beiden Monaten in Hotelzimmern, mit denen es endete, nur ausgedacht. Gleichzeitig möchte ich nicht, dass er denkt, ich will Eindruck schinden oder ihn schockieren. Er soll wissen, dass ich nicht immer so armselig, so kaputt war, dass es lange gedauert hat, dahin zu kommen, und dass niemand gemerkt hat, wie es passierte. Niemand außer Noah. Als ich mich sagen höre, ich sei früher oft in London gewesen, geht mir auf, dass ich ihn doch beeindrucken will, und ich halte den Mund.
Nach dem Essen unterhalten wir uns an der Ecke 22nd Street und Eighth Avenue, während die netten lauten Jungs, mit denen gesehen zu werden mir peinlich ist, einer nach dem anderen in der Nacht verschwinden. Ruf mich an, sagen viele, aber ich habe ihre Nummern schon auf dem Klo im Restaurant entsorgt. Auf Asa, denke ich, kann ich mich einlassen. Er hat den gleichen vorsichtigen, zurückhaltenden Ton an sich wie Jack, ist aber sanfter, nicht so distanziert. Er erzählt mir von einem Treffen, zu dem ich gehen sollte. Alle nennen es die Bibliothek, weil es in einer wissenschaftlichen Bibliothek stattfindet, und die liegt, wie sich herausstellt, nur ein paar Straßen von One Fifth entfernt, wo ich bis vor zwei Monaten mit Noah gewohnt habe. Die Teilnehmer seien teils schwul, teils hetero, unterschiedlich gebildet, und nähmen es mit dem Cleanbleiben sehr ernst. Er gibt mir die Adresse – ich notiere sie auf dem Zettel, auf dem auch Daves Adresse in der Charles Street steht – und sagt mir, ich soll mich am nächsten Tag dort mit ihm treffen, zehn Minuten vor dem Meeting um halb eins.
Es ist spät, vielleicht schon nach Mitternacht. Wir laufen ein paar Blocks weiter; an der Ecke 17th Street und Eighth Avenue sage ich Asa auf Wiedersehen. Bis morgen, sagt er und erinnert mich noch einmal daran, wo und wann das Treffen stattfindet. Auf jeden Fall, antworte ich und bin schrecklich froh, etwas zu haben, wo ich morgen hingehen und mich mit jemandem treffen kann. Mir wird bewusst, dass ich abgesehen von einem Abendessen mit meiner Freundin Jean Ende der Woche nichts geplant habe. Kein Essen, keine Dinnerparty, keinen Kino-, Theater- oder Konzertbesuch, keine Geschäftsreise, kein Frühstückstreffen. Nichts. Asa umarmt mich und geht in östlicher Richtung die 17th Street entlang. Ich schaue ihm nach, bis das weiße Shirt und die roten Haare im Dunkeln verschwinden.
Wissen die, was für ein Glück sie haben?