
Ricarda Junge
Die letzten warmen Tage
Roman
FISCHER E-Books

Ricarda Junge, 1979 in Wiesbaden geboren, ist Absolventin des Deutschen Literaturinstituts Leipzig. Für ihr Debüt ›Silberfaden‹ wurde sie 2003 mit dem Grimmelshausen-Förderpreis ausgezeichnet. 2005 erschien ihr Roman ›Kein fremdes Land‹, für den sie den George-Konell-Preis erhielt, 2008 ›Eine schöne Geschichte‹ und 2010 der Roman ›Die komische Frau‹. 2013 erhielt sie den Robert-Gernhardt-Preis. Ricarda Junge lebt mit ihrer Familie in Berlin und Frankfurt am Main.
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Erschienen bei FISCHER E-Books
© S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main 2014
Covergestaltung: hißmann, heilmann, hamburg
Covergabbildung: Bernd Zimmer, Holzschnitt © VG Bild-Kunst, Bonn 2014
Die Handlung dieses Romans und alle seine Figuren sind frei erfunden. Jegliche Ähnlichkeit mit lebenden oder realen Personen wäre rein zufällig.
Abhängig vom eingesetzten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.
Dieses E-Book ist urheberrechtlich geschützt.
ISBN 978-3-10-403095-1
Für Heide und Thomas, weil ihr so fest an meiner Seite steht.
Für Victoria und Friederike, ihr macht mein Leben reich.
»Da erzitterte der Spiegel so fürchterlich, dass er zur Erde stürzte und in Stücke zersprang. Einige Stücke waren kaum so groß wie ein Sandkorn, und wo sie jemand ins Auge bekam, da blieben sie sitzen, und da sahen die Menschen alles verkehrt oder hatten nur noch Augen für das Verkehrte bei einer Sache.«
Hans Christian Andersen, Die Schneekönigin
Wenn wir in der Lage sind, uns an einen besseren Ort zu denken als den, an dem wir uns gerade befinden, warum sollten wir dort nicht bleiben?
In der Mitte des kleinen Parks, auf einem hellen, von Linden umstandenen Platz, drehte sich eine rote Marmorkugel auf einem Granitblock. Sowohl über die Kugel als auch über den Sockel floss Wasser und bildete eine dünne, silbrige Haut, die aufspritzte und glitzerte, wenn man sie mit dem Finger durchstieß. Ein Junge und ein Mädchen in abgeschnittenen Jeans, T-Shirts und Plastiksandalen kletterten auf den Granitblock. Sie spielten Zauberer und Fee, hielten die Welt in den Händen und drehten sie. Alles andere war vergessen. Sie wölbten die Hände über die Kugel, breiteten die Arme aus, die kleinen Schultern hoben und senkten sich. Nur durch ihre magischen Kräfte wurde die Kugel bewegt, konnte das Wasser fließen.
Es war ein heißer Tag in einer Reihe von heißen Tagen, die den Boden ausgedörrt und den Rasen verbrannt hatten. Obwohl kein Wind wehte, stieg von den Parkwegen gelber Staub auf, der sich wie Löschpapier auf die Kinderhaut legte. Das Wasser roch wie ein unterirdischer Fluss, es war kalt und klar und prickelte an den Füßen. Mit nur einer Handbewegung holten die Kinder es aus der Tiefe herauf; sie hätten den Fluss auch unterbrechen und die Kugel zum Anhalten zwingen können. Das wussten sie und spürten ihre Kraft, ihre Macht. Da räusperte sich der Junge und sagte: »Du bist meine liebste Schwester.«
Das Mädchen fuhr sich mit der Zunge über die Lippen und dachte, dass es leicht sei, dies zu behaupten, da sie nur zu zweit waren und er keine andere Schwester hatte. Doch dann erkannte sie die Bedeutsamkeit des Moments und nickte. In ihrer Verlegenheit durchstieß sie die Wasserhaut mit dem Finger, dass es nur so spritzte und glitzerte und sie beide nass wurden.
Mein Bruder und ich.
Hieran denke ich, hierhin wandere ich zurück, wenn ich unglücklich bin.
In der Tür bleibe ich noch einmal kurz stehen. Sehe mich um. Muss ich die Fenster schließen, bevor ich gehe? Ich will nur Zigaretten holen. Beim Spätkauf drei Straßen weiter. Fünf, höchstens zehn Minuten. Dann werde ich wieder zurück sein.
Die Tür aber schließe ich ab. Lasse den Schlüssel in meine Handtasche fallen. Geld hab ich dabei. Auch das Handy. Brauche ich noch etwas? Nein.
Im Treppenhaus riecht es nach Weißkohl und einem scharfen, essighaltigen Putzmittel. Außerdem ein bisschen nach Klo, nach uralten Abflussrohren. Wie die wohl von innen aussehen? Das hab ich mir früher in Leipzig oft vorgestellt. Meine Studentenbude hatte keine Toilette, sie war auf dem Treppenabsatz. Da roch es genauso wie hier.
Wurde ein Haus saniert, riss man die alten Rohre heraus und warf sie durch die Fenster in Container, die an der Straße standen. Es krachte, splitterte, knallte, trotzdem brachen die Rohre fast nie. Sie waren von innen gestählt. Rötlich braune Verkrustungen, dicke schwarze Stalagmiten, ein knappes Jahrhundert Scheiße, fast schon fossil. Nie konnte ich daran vorbeigehen, ohne hineinzusehen.
Die Tasche geschultert, laufe ich die Treppe hinunter. Ein wackliges Holzgeländer, auf den Stufen Linoleum, mintgrün gestrichene Wände, über jedem Treppenabsatz hängt eine Glühbirne. Die zwischen erstem Stock und Erdgeschoss ist kaputt. Beobachtet mich wer? Steht über mir und sieht mir nach? Unsinn. Dennoch ein Kribbeln im Nacken. Ich blicke zurück. Kein Mensch da. Natürlich nicht.
Immer finde ich einen Grund, vom Schreibtisch aufzustehen. Da ist niemand mehr, der mich zurückhält und fragt: Wo willst du jetzt wieder hin?
Dieses Alleinleben ist noch ungewohnt.
Schon tagsüber ist in der Gegend nicht viel los. Jetzt, am Abend, sind die Straßen wie ausgestorben. Dabei liegt der Prenzlauer Berg nicht weit entfernt. Drei Tramstationen, zu Fuß eine Viertelstunde. Dort reiht sich Geschäft an Geschäft, Café an Café, man findet nie einen Parkplatz, und alle Häuser sind längst saniert. Hier riecht es an kühlen Tagen immer noch nach Braunkohle. Viele Ladenlokale stehen leer. Anstelle von Coffeeshops gibt es Asia-Imbiss-Container auf Baubrachen. Erst seit kurzem macht ein hipper Friseurladen namens ›Schnittstelle‹ dem alteingesessenen ›Friseur Schröder‹ und ›Mandys Herren-, Damen- und Kinderschnitte‹ Konkurrenz. Ecke Richard-Sorge- und Erich-Mühsam-Straße kündigt ein Schild den Bau von ›High-End-Quality‹-Luxusappartements an. Darüber hat jemand mit roter Farbe »Verpisst euch« und »Kapitalistenschweine« gesprüht.
Ich gehe zum ›Spätkauf‹ am Frankfurter Tor, dem einzigen in der Gegend, der meine Zigarettenmarke im Sortiment hat. Am Prenzlauer Berg hatte ich dieses Problem nicht.
Zwei Päckchen. Zehn Euro vierzig verlangen sie inzwischen dafür. Ich zähle das Geld auf den Tresen, stecke die Zigaretten ein. Als ich anfing zu rauchen, hat ein Päckchen noch fünf Mark gekostet. Da war ich dreizehn. »Warum musst du mir ausgerechnet das nachmachen?«, hat meine Mutter damals gefragt. Sie rauchte lässig und elegant, neigte den Kopf zur Seite, knickte die Hand etwas ab, blies den Rauch langsam aus, mit halbgeschlossenen Augen sah sie ihm beinahe sehnsüchtig nach. Bei ihr waren es selten mehr als drei oder vier Zigaretten am Tag. Eine morgens, zwei am Mittag, und abends immer eine vor dem Badezimmerspiegel. Ich liebte es, wenn sie den Rauch mit gespitzten Lippen gegen ihr Spiegelbild blies. Langes, dunkles Haar, ein schmales Gesicht, ein breiter Mund und eine etwas zu große Nase – »hab ich von meinem Vater«, hat sie oft gesagt und sie einen Zinken genannt. Wenn ich mit den Fingernägeln am Türrahmen kratzte, ganz leise nur, zuckte Mutter zusammen und sah mich erstaunt, nein, verwirrt an. Immer kam es mir vor, als wäre sie gerade aus einer anderen Welt zurückgekehrt. Zu mir. Dann lächelte sie und wedelte mit der Hand: »Husch, husch ins Bett. Ich seh gleich noch mal nach dir.«
Neben meinem Job – ich bin Werbetexterin in einem Online-Versandhaus – schreibe ich an einem Roman, meinem zweiten, versuche die Geschichte meiner Mutter zu erzählen, ihre Flucht aus der DDR, komme mit der Arbeit aber nicht recht voran.
Ich setze mich auf eine in die Hauswand eingelassene Steinbank und zünde mir eine Zigarette an. Skater fahren über den Platz, die Räder der Boards rattern über den unebenen Betonboden.
Es ist Anfang September. Die Tage werden kürzer.
Bald wird es wieder monatelang kalt und dunkel sein. Im vergangenen Winter lag in Berlin von Dezember bis Anfang März Schnee.
Ich gehe die Allee entlang, mit schnellen Schritten unter den Pappeln hindurch. Habe eine Idee für den Roman. Will nach Hause. Muss zurück an den Schreibtisch. Sofort. Ein kurzer Moment nur, in dem ich die Geschichte vor mir sehen kann. Wenn ich nicht schnell genug bin, ist er vorüber. Ich gehe noch schneller. Unter meinen Schuhen knirscht Kies. Am liebsten würde ich rennen. Der Wind fährt in die Kronen der Pappeln. Plötzlich dieser Mann.
Wir stoßen zusammen.
Ich pralle zurück.
Stolpere.
Er packt mich am Arm.
Er trägt einen grauen Anzug und ein weißes Hemd. Seinen Trenchcoat hat er sich über die Schulter gelegt.
»Ist doch wärmer, als ich gedacht hab«, sagt er und geht weiter neben mir her. Mein Arm fühlt sich an, als hätte seine Hand einen Abdruck darauf hinterlassen. Das gibt bestimmt einen blauen Fleck.
Auf den ersten Blick hat der Mann größer gewirkt, als er ist. Er ist schlank, nein, schmal und sicher keine einsachtzig groß, strahlt jedoch etwas Zähes, Zielstrebiges aus. Sein rotblondes Haar ist streng zurückgekämmt, als hätte jemand lange Bahnen Kupferdraht auf seinem Kopf ausgespult. Er hat sehr helle Haut.
»Kann man hier irgendwo essen gehen?«, fragt er. »Und einen schönen Rosé trinken?«
An der Allee gibt es einige Restaurants, die Prager Hopfenstuben, den Griechen, ein Steakhaus, das damit wirbt, dass man nirgendwo sonst billiger essen kann.
»Das macht mich nicht an«, sagt er und legt sich den etwas heruntergerutschten Trenchcoat wieder über die Schulter. Er sieht zu mir. Seine Augenbrauen sind so hell, dass man sie kaum erkennen kann. Er lächelt. »Es soll hier eine ganz gute Bar geben. Die Tschechische Bar oder so.«
Er sieht mich immer noch an. Ich wende den Blick ab. »Da gibt’s kein Essen. Nur vernünftige Drinks.«
»Vernünftig? Sehr gut.« Er lacht und muss husten. Presst sich die Faust an den Mund. Schüttelt den Kopf, ungeduldig, verärgert, scheint mir. Seine Augen tränen. Mit kratziger Stimme sagt er: »Da gehen wir hin.« Er räuspert sich, lächelnd schaut er mich an. »Sagen Sie bitte nicht nein.«
Ich hätte die Fenster schließen sollen.
Er hat von der Bar nur gehört? Nein. Denn als wir eintreten, begrüßt ihn der Barkeeper, und aus einem Séparée ruft eine Frau: »Hier sind wir, Consti. Warum bist du schon wieder so spät?«
»Ich habe noch jemanden kennengelernt«, sagt er, und als würde er spüren, dass ich wieder gehen will, fasst er mich an den Schultern und schiebt mich vor sich her. Wieder dieser feste Griff. Er legt seine Wange, kühl und glattrasiert, an mein Ohr. »Wie heißt du überhaupt?«, flüstert er.
»Anna.«
»Darf ich euch Anna vorstellen?«, ruft er. Flüstert wieder: »Die sind sowas von öde, bitte lass mich nicht im Stich.«
Die Frau trägt große korallenfarbene Ohrclips, enge Designerjeans und eine locker sitzende graue Seidenbluse. Auf ihrer flachen Brust liegt eine dicke rote Kette, die zu den Ohrklipsen passt. Die anderen, alles Männer und deutlich älter als ich, tragen Anzüge oder Jackett und Jeans.
Eine Glaswand und eine Tür, die lautlos zur Seite gleitet, trennt das Séparée von der Bar.
Gedämpfte Musik, Jacques Brel, den muss man eigentlich laut hören.
Wir setzen uns auf eine niedrige Bank. Viel zu klein für uns zwei. Der Barkeeper empfiehlt einen Daiquiri Natural, den nehme ich. Consti – der Name gefällt mir nicht. Consti. Er bestellt eine Flasche Rosé. Aber die Tischlampe gefällt mir. Sie hat einen eierschalenfarbenen Schirm und einen schweren Silberfuß in Form eines Kiefernzapfens. Aschenbecher sind in die niedrigen würfelförmigen Tische eingelassen, die zwischen den Bänken stehen. Ich zünde mir eine Zigarette an. Consti hustet, es klingt trocken und rau. Die Korallenfrau, die sich gerade angeregt unterhält, wirft mir einen bösen Blick zu. Ich inhaliere tief, stoße den Rauch durch die Nase aus. »Stört es dich, Constantin?«
Er lacht. »Nenn mich bloß nicht so! Ich bin Consti, sonst komm ich mir alt vor.«
»Ich mag keine Männer, die wie kleine Jungs heißen.«
Er sieht mich an. »Rauch du nur.«
Constantin arbeitet in der Internetbranche. Die anderen auch. Solche Leute habe ich mir irgendwie lässiger vorgestellt. Einer der Männer, vielleicht Anfang vierzig, mit kantigem Kinn, Glatze und schwarzer Hornbrille, erzählt von einem Fonds, der in Berliner Start-ups investiert. »Fünfzig Millionen Euro hab ich grad an der Hand«, sagt er.
E-Commerce, Business-to-Business, Wagniskapital, nichts davon kenne ich. Constantin hat gerade eine App verkauft, die auf Sonderangebote aufmerksam macht. Ob Klopapier, Hotelzimmer oder Luxusklassewagen – mit dieser App, erklärt er mir, weiß man immer, wo in der Nähe das beste Schnäppchen zu haben ist. Es gebe auch Restaurant-, Event- und Wellness-Apps.
»Und eine für Hostessen«, grinst der Typ mit der Hornbrille. Constantin ignoriert ihn, wendet sich wieder an mich. »Die ersetzen die alte soziale Infrastruktur fast komplett«, sagt er. »Du kennst dich aus – egal, wo du bist. Fühlst dich überall wie zu Hause.«
Die Korallenfrau mischt sich ein: »Aber deswegen bist du doch nicht in Berlin. Verrätst du mir, was du vorhast, Consti?«
Am Tisch wird es still. Alle sehen zu ihm. Er beugt sich vor, zieht eine Zigarette aus meinem Päckchen und steckt sie an. »Wenn es so weit ist, erfährst du es als Erste. Ist noch nicht spruchreif, Chérie.«
Er pafft nur. Rauch verhüllt sein Gesicht. Die Korallenfrau hebt die gezupften Augenbrauen. Da sehen sie aus wie dünne Portale. »Das will ich doch hoffen«, sagt sie.
Sein Körper spannt sich an. Ein heiseres Krächzen. Trotzdem zieht er noch einmal an der Zigarette, stößt den Rauch aber sofort aus und drückt sie dann in den Aschenbecher.
Nach dem zweiten Drink will ich gehen. Verabschiede mich. Constantin küsst mich auf beide Wangen und setzt sich wieder. Als ich die Glastür aufschiebe und das Séparée verlasse, nickt er mir zu. Ich gehe an die Bar, um zu zahlen. Habe ich genug Geld dabei? Ohne aufzuschauen, sagt der Barkeeper: »Müssen Sie nicht. Ist geklärt.« Er füllt Crushed Ice in einen Shaker.
Wann hast du das gemacht, Constantin?, denke ich. Will mich nach dir umsehen. Da stehst du plötzlich neben mir.
»Ich begleite dich«, sagst du, den Mantel über der Schulter.
»Musst du nicht.«
»Keine Widerrede. Glaubst du, ich lass dich allein gehen?« Du legst deine Kreditkarte auf den Tresen. Der Barkeeper zieht sie durch, reißt den Beleg ab und reicht ihn dir zusammen mit einem Kugelschreiber. Ich beuge mich zu dir, will sehen, wie du unterschreibst. Mein Großvater hat immer gesagt, dass die Handschrift viel über einen Menschen aussage. Er selbst schrieb nur an der Schreibmaschine, ›incognito bleiben‹ hat er das genannt.
Du ziehst einen silbernen Füllfederhalter aus der Innentasche deines Jacketts, schraubst die Kappe ab, setzt sie hinten sorgfältig auf. Schwarze Tinte und eine harte spitze Mine. Eine ebenso harte, beinahe zackige Schreibbewegung. Deine Schrift ist schlank, wirkt fließend, die hohen, großen Buchstaben beugen sich leicht. Wie Strandhafer, wenn Wind durch ihn streicht.
Es ist kalt, als wir aus der Bar kommen. Du schlüpfst in deinen Mantel, fragst: »Oder willst du ihn?«
Ich schüttele den Kopf. »Waren das Kollegen von dir?«
»Eher Haie im selben Becken.« Du nimmst meine Hand, faltest deine Finger um meine. »Schön, dass ich dich begleiten darf.«
»Du hast mir keine Wahl gelassen«, sage ich, lächele, aber du, plötzlich, geradezu aggressiv, fährst mich an: »Hast du dich gewehrt? Hab ich nichts von gemerkt. Wer sich nicht wehrt, darf sich hinterher nicht beschweren.«
Was ist jetzt los? Hast du zu viel getrunken? Ich bleibe stehen, aber ehe ich etwas sagen kann, flüsterst du: »Ach, verdammt.« Langsam, als wärst du gerade erwacht, hebst du die Hand, spreizt Zeigefinger und Daumen, reibst deine Augen. »Ich war noch bei den Haien. Manchmal komm ich nicht rechtzeitig wieder an Land, und dann packt mich was, tut mir leid.« Du lässt die Hand sinken, hebst den Kopf. »Jetzt bin ich da.« Du blickst mir in die Augen. »Geh noch ein Stück mit mir.«
Mit sechzehn war ich das erste Mal auf der Frankfurter Buchmesse. Ich lief von Verlagsstand zu Verlagsstand, erzählte von meinem Roman und drückte jedem, der nicht sofort ablehnte, mein Manuskript in die Hand.
Ich hatte mein ganzes Erspartes in die Anfertigung der Kopien, die Spiralbindung und die Pappbuchrücken gesteckt und mit Bleistift selber das Cover gezeichnet: Eine Theaterbühne, Scheinwerfer, eine Frau, die zusammengekauert im Lichtkegel saß und das Gesicht vom Publikum abwandte. Die Buchstaben des Titels zerliefen wie Wachs oder Tränen und tropften auf den Bühnenrand. »Und sie ging auf einer einsamen Straße« hieß der Roman.
»Vielleicht ist der Titel ein bisschen zu lang«, sagte Michael Breitling, der in Wiesbaden, wo ich wohnte, Buchhändler war und mich auf die Messe mitgenommen hatte. Er war auch der Vater meines damaligen Freundes und wollte, dass ich ihn Michi nannte. Aber meine Eltern hatten mir das Siezen so eingebläut, dass mir ›Michi‹ einfach nicht über die Lippen kam. Wir fuhren über die A66 nach Frankfurt.
Ich starrte zum Fenster hinaus.
Eine große Tankstelle, abgeerntete Felder, IKEA, die bunten Hochhäuser direkt an der Autobahn, wie eine Lärmschutzmauer mit Fenstern, ein Autobahnkreuz, die Skyline.
»Kannst du den Messeturm sehen?«, fragte Herr Breitling, also Michi. »Weißt du, wie hoch er ist?«
»Er sieht wie ein Stift aus«, erwiderte ich.
»250 Meter. Das höchste Gebäude Europas.«
»Der größte Rotstift der Welt«, sagte ich, und Herr Breitling lachte.
Er stellte sein Auto auf einen großen unbefestigten Parkplatz, dann fuhren wir mit einem Shuttlebus zu den Messehallen. Ich trug die Manuskripte meines Romans in einer Reisetasche über der Schulter. Sie war schwer und sperrig und blieb im Drehkreuz am Eingang hängen. Herr Breitling half mir, sie drüberzuheben. »Belletristik«, sagte er und deutete einen langen Gang hinunter, »ist in die Richtung.« Einen Moment lang sah es aus, als wollte er noch etwas hinzufügen, aber dann nickte er nur. Ich nickte zurück, schulterte meine Tasche und machte mich auf den Weg.
Auf der Rückfahrt hielt ich die leere Tasche fest an die Brust gedrückt. Meine Wangen glühten. Mein Herz schlug schnell. Ich hatte das Gefühl, dass ein Stück von mir in Frankfurt geblieben war. Unter dem größten Rotstift der Welt. Ich war angespannt und hätte doch weinen können vor Glück.
Wir ließen die Skyline hinter uns.
Der Himmel über Frankfurt war lilafarben gewesen, jetzt ging er in ein dunkles Blau über, in das die schwarzen Schatten des Taunusgebirges ragten. Wir fuhren durch eine Schneise zwischen den Bergen auf das in der Talmulde funkelnde Wiesbaden zu. Ein silbrig durchwebtes Tuch. Einzelne schwach glänzende Fäden wanden sich die Bergkämme hinauf. Es ist nur ein Mittelgebirge und nicht besonders hoch, aber an diesem Abend kam es mir mächtig, ja, beinahe majestätisch vor. Auf einem Bergkamm im Süden blinkte ein grelles Signallicht für Flugzeuge, die Wiesbaden im Steigflug vom Frankfurter Flughafen aus überflogen.
Ich schob meine leere Tasche zwischen die Füße und lehnte den Kopf zurück. Durch das Schiebedach konnte ich hoch in den Himmel schauen. Wir waren das Letzte, was die Passagiere sahen, bevor das Flugzeug die Wolken durchbrach. Hier hatten wir Tag für Tag die Stimmen der Piloten im Ohr: Rechterhand liegt jetzt Wiesbaden, die Landeshauptstadt von Hessen. Hier sahen wir uns auf dem Bildschirm mit der Flugroute aufleuchten, die erste Etappe auf dem Weg nach London, Rom, Singapur oder New York.
Herr Breitling brachte mich nach Hause und wartete mit laufendem Motor im Auto, bis ich die Tür aufgeschlossen hatte und hineingegangen war.
Manche Verlage antworteten mir schon wenige Tage nach der Buchmesse, andere ließen sich dafür Monate Zeit. Unter meinem Bett stand ein schwarzer Lackkarton mit einem silbern eingefassten Etikett, auf das ich »Verlagskorrespondenz« geschrieben hatte. Den meisten Platz darin nahmen die Kopien meines Romans ein, die mir die Verlage zurückschickten. Wenn ich den Deckel vom Karton hob, sah ich die Frau im Scheinwerferlicht auf der Bühne, das Gesicht vom Publikum abgewandt.
Nachts schlich ich ins Arbeitszimmer meines Vaters und schrieb an dem großen schwarzen Computer, der der Kirchengemeinde gehörte. Tagsüber gab er dort die Daten ihrer Mitglieder ein. Zu beiden Seiten des Schreibtischs stapelten sich die abgegriffenen Pappregister. Sie verströmten einen muffigen Geruch. Bis zur Anschaffung des Computers hatte das Verzeichnis aus Tausenden alter Karteikarten bestanden, die zum Teil noch in Sütterlin beschrieben waren. Andere waren mit Schreibmaschine getippt und immer wieder mit Tipp-Ex korrigiert worden. Es gab Unmengen von Karteileichen, Leute, die schon lange gestorben, deren Karten aber nicht aussortiert worden waren. Ihre Daten wurden nicht in den Computer übernommen, sondern sie wanderten in einen speziellen Papierkorb, der, wenn er voll war, in einen Schredder geleert wurde. Hin und wieder zog ich eine Karte heraus, las den Namen und schrieb ein Gedicht für jemanden, den ich nicht kannte. Erna Beilfuß, Eitel Friedrich, Hannah Hungerlein oder Diana Maria Sturm, mein Vater wunderte sich, wenn ich die Namen vor mich hersagte. Einmal fand meine Mutter eines der Gedichte. Es war auf Endlospapier ausgedruckt, den gelochten Rand hatte ich sorgfältig abgetrennt. Drei Seiten lang Sehnsucht, Flucht, Wiedersehen und Fortgehen. Knappe Zeilen, die am linken Papierrand begannen, auf die Mitte zuschossen und kurz vorher wie abgehackt endeten. Sie waren einem Gemeindemitglied gewidmet, dessen Karte bald in den Schredder wandern würde. Ich weiß bis heute, dass der Mann mit Nachnamen Kummer hieß.
»Was hältst du davon?«, wollte Mutter abends von Vater wissen. Sie waren im Wohnzimmer. Ich stand auf dem Treppenabsatz und lauschte.
»Sie kannte diesen Herrn Kummer doch überhaupt nicht.«
Mein Vater antwortete so schnell, dass er unmöglich das ganze Gedicht gelesen haben konnte: »Das ist so in ihrem Alter. Da bringt man, was man nicht versteht, in einfachen Reimen zusammen. Sie halten die Welt, die sonst vielleicht auseinanderfällt.« Er lachte, wahrscheinlich über seinen Reim.
»Wo fällt in ihrem Leben denn etwas auseinander? Kannst du mir das – bitte – einmal verraten?«, sagte Mutter verärgert.
Wenn sie mich nachts am Computer erwischte, schickte sie mich ins Bett. »Mir wäre lieber, wenn du dir ein Hobby suchen würdest, dem du tagsüber nachgehen kannst und das dich unter Leute bringt«, sagte sie.
Auch Vater gefiel nicht, dass ich schrieb, ›dichtete‹, wie er sagte. Er kenne den Reiz und den Irrglauben, sich gleichzeitig aus der Welt und in sie hineinschreiben zu wollen. Auch er hatte sich als Dichter versucht, bevor er sich aufs Predigen verlegt hatte, und glaubte, dass man damit nur scheitern konnte. Von der Kraft, die für mich von dem Computer ausging, wollte er nichts hören; von dem schwarzen Keyboard, den würfelförmigen Tasten, dem leisen Klackern und den Sätzen, die auf ein gleichmäßiges, sanftes Auf und Ab meiner Finger hin auf dem Bildschirm erschienen.
Der einzige Mensch, mit dem ich darüber sprechen konnte, war Benedict, mein Großvater väterlicherseits. Nach der Buchmesse rief er mich alle paar Tage an und fragte, ob ich schon etwas von den Verlagen gehört hätte. Meine Großeltern lebten in Sierksdorf an der Ostsee. An der Promenade betrieben sie ein kleines Geschäft, das »Strandstern« hieß. Früher hatten sie in allen Badeorten an der Lübecker Bucht »Strandsterne« gehabt, aber nachdem mein Vater kein Interesse daran gehabt hatte, sie zu übernehmen, hatten sie eines nach dem anderen aufgegeben. Der Sierksdorfer »Strandstern« war ihr erster Laden gewesen, jetzt war es der einzige, der noch geblieben war, ihr letztes Gefecht, wie mein Großvater sagte, das Ende eines erfolgreichen Familienunternehmens. Auch er hatte eigentlich Schriftsteller werden wollen.
»Aber die Zeiten waren damals nicht so«, sagte er am Telefon zu mir. »Nach dem Krieg musste man die Chance beim Schopf packen und etwas Vernünftiges machen.« Er begann zu lachen: »Man könnte auch sagen: Als es drauf ankam, hat für mich nur das Geld gezählt.« Sein Lachen ging in einen gurgelnden Husten über, als wären seine Lungen mit Wasser gefüllt. »Du machst das anders, mein Kind«, sagte er. »Du erbst einmal und kannst es dir leisten zu schreiben. Dann wirst du am Ende deines Lebens etwas haben, das dir niemand nehmen kann und das dich überlebt.«
In seinem Arbeitszimmer stapelten sich kistenweise vergilbte Zeitungen aus den fünfziger und sechziger Jahren, in denen seine Kurzgeschichten abgedruckt worden waren. Jetzt fieberte er mit mir, ließ seinem Zorn freien Lauf, verfluchte die arroganten Lektoren, lobte meinen Mut und hielt mich an, immer weiterzuschreiben: »Bleib dabei, lass dich nicht davon abbringen. Wenn du aufgibst, bereust du es für den Rest deines Lebens.«
Ich konnte mir kaum vorstellen, dass ich eine Entscheidung, die ich jetzt traf, für den Rest meines Lebens bereuen könnte. Aber mir gefielen das Pathos und die Leidenschaft, mit der mein Großvater über das Schreiben sprach. Da brannte ein Feuer in ihm, das auch ich in mir spürte und das außer uns niemand zu teilen schien.
»Ich hatte immer das Gefühl, erzählen zu müssen«, sagte er. »Da war so viel in meinem Kopf. Dieses Leben, das einem alles nur nimmt und nie etwas bietet, schon gar keinen Ausweg, keinen Aufstieg, nur Arbeit in der Fabrik vom zwölften Lebensjahr an – und dann kamen die Nazis. Florenz. Dahin haben sie mich geschickt. Soldat in Italien. Das erste Mal raus in die Welt. So ein Rausch, so ein Wahnsinn. Danach hat mein Kopf nicht mehr mir gehört. Ich konnte nicht mehr schlafen. Mit niemandem sprechen. Ich musste mich zwingen zu schreiben, mir jedes Wort mühsam abringen. Aber es half. Damals hat es mich gerettet. Du brauchst keine Rettung und quälst dich nicht so. Du schreibst einfach. Das ist gut.« Wenn er so lange geredet hatte, wurde er meistens von einem Hustenkrampf geschüttelt. Dann stürmte Liane, meine Großmutter, auf klackernden Absätzen herein und riss ihm den Telefonhörer aus der Hand. Ich glaubte, dass sie immer schon hinter der Tür stand, uns belauschte und nur darauf wartete, das Gespräch an sich zu nehmen. Sie sprach, wie sie ging: trippelnd und gleichzeitig resolut. »Was tust du nur, Benedict?«, rief sie in den Hörer, als wäre nicht er, sondern ich gemeint. »Du hustest, als hättest du TBC. Geh in die Küche und trink ein Glas Wasser.«
Ich hörte, wie sich mein Großvater immer noch hustend aus dem Sessel erhob und durch das Zimmer schlurfte. Meine Großmutter schloss die Tür hinter ihm und sagte ins Telefon: »Du darfst ihn nicht quälen. Sonst steigert er sich wieder in seine Geschichten rein. Hätte er wirklich schreiben wollen, hätte er es doch tun können. Was will dieser Mann nur immer mit seiner Schreiberei? Uns geht es doch gut. Wir haben alles erreicht.«
Ihr Laden lag direkt an der Promenade. Schon von weitem konnte man die bunten Strandbälle und Luftmatratzen sehen, die an Haken an der Hauswand angebracht waren und im Wind auf und ab wippten.
Wenn Eike und ich in den Ferien in den ›Strandstern‹ kamen, gab Großmutter uns zwei leere Einkaufskörbe und sagte: »Jetzt kauft mal schön ein. Sucht euch alles aus, was euch gefällt.«
Es gab Zeitschriften, Taschenbücher, Windräder, Postkarten, Sandspielzeug und kleine Netze mit Muscheln und Seesternen.
Mutter blieb meistens am Strand, nur Vater begleitete uns. »Aber schleppt mir nicht wieder so viel nutzloses Zeug an«, rief sie uns hinterher.
Während Eike und ich durch den Laden rannten und die Sachen mehr an uns rissen als aussuchten, half Vater seinen Eltern, packte mit an, wenn eine Lieferung kam, räumte Regale ein, füllte die Eistruhe auf und bediente die Kunden, als hätte er nie etwas anderes getan. Manchmal sagte meine Großmutter dann: »Das kannst du, Junge. An dir ist ein Kaufmann verlorengegangen.«
Großvaters Fingernägel waren gelb und von Rillen durchzogen, mein Bruder Eike hat einmal gesagt, sie sähen wie der Rücken einer Assel aus. Mit einer Hand hielt Großvater fest den Schaltknüppel umfasst, die andere hatte er flach auf das schwarze Lederlenkrad seines 190er Mercedes gelegt, den er Baby-Benz nannte und so langsam und raumgreifend wie einen Traktor fuhr. Er musste uns immer chauffieren. Großmutter unternahm viel mit uns, hatte aber keinen Führerschein. Meinen Großvater ärgerte es, dass sie den »Strandstern« vernachlässigte und manchmal sogar schloss, wenn wir da waren.
Bis ich zu schreiben begonnen hatte, hatte ich nie viel mit ihm gesprochen. Er war ein mürrischer alter Mann, der an Schlaflosigkeit litt und zu cholerischen Anfällen neigte. Während meine Großmutter vorne im Laden stand, machte er die Buchhaltung, kümmerte sich um die Warenannahme oder arbeitete hinten im Lager. Manchmal duschte er sich mehrere Tage lang nicht, trug die gleichen speckigen Kleider und lief überall, auch draußen, in seinen ausgelatschten Pantoffeln herum. Meine Großmutter sagte dann: »Geht eurem Großvater bloß aus dem Weg, er hat wieder so eine Laune.«
Wenn sich unsere Wege doch kreuzten, brüllte er uns an oder begann unvermittelt zu weinen. Manchmal auch beides zusammen. Dann, nachdem er uns tagelang mit seiner schlechten Stimmung und seiner verwahrlosten Erscheinung gequält hatte, tauchte er plötzlich wieder frisch geduscht auf, in dunkelblauen Hosen und weißem Hemd, einen Pullover locker um die Schultern gelegt und eine Zigarette im Mundwinkel. Sein dunkelgraues Haar glänzte wie polierter Granit, und seine blauen Augen leuchteten, als freute er sich uns zu sehen.
Einmal saß ich im Lager hinter dem Geschäft und schrieb an meinem Roman. Meine Großeltern hatten keinen Computer, und Großvaters Schreibmaschine durfte ich nicht anrühren. Mit Stift und Papier kam ich nur langsam voran. In der Grundschule war ich Linkshänderin gewesen. Aber als meine Lehrerin gesagt hatte, dass mein Schriftbild deswegen unsauber sei, hatte ich mich mühsam auf Rechtshändigkeit trainiert. Im Ergebnis war meine Handschrift unlesbar geworden. Ich bemühte mich, in großen, sauberen Blockbuchstaben zu schreiben, hielt den Kugelschreiber fest in der Hand und drückte die Mine so fest ins Papier, dass sie es manchmal durchstach. Plötzlich stand mein Großvater hinter mir. Ich hatte ihn gar nicht kommen gehört, so vertieft war ich in meine Arbeit gewesen.
»Was, zum Teufel, tust du da?«, fuhr er mich an.
»Ich schreibe einen Roman.«
Er zog einen Hocker heran, setzte sich zu mir und sagte: »Da hast du ja schon ordentlich was zusammengehauen. Lässt du es mich mal sehen?«
Er las mir am Telefon seine Erzählungen vor. Es waren kurze, traurige Geschichten, ohne Pathos und große Gesten. Meistens spielten sie im Krieg oder der Zeit kurz davor. Sie hießen »Kindbettfieber«, »Vater und Sohn«, »Tod in der Fabrik«, »Am Ruder«, »Partisanenjagd« und »Trümmer«. Er zählte die Literaturpreise auf, die er nach dem Krieg dafür erhalten hatte, und versuchte, mir die Zeit zu beschreiben, in der sie entstanden waren. Er hatte mit meiner Großmutter im Dachgeschoss eines verwinkelten Hauses in der Lübecker Altstadt gewohnt. Ich stellte ihn mir in einer dunklen, zugigen Kammer vor, in der er in mehrere Decken und Schals gehüllt im Schein einer Lampe an der Schreibmaschine saß, während meine Großmutter mit dem Fahrrad Bücher ausfuhr. Sie hatten noch kein eigenes Geschäft, aber bereits eine Idee, wie sie sich eine Existenz aufbauen wollten. Bei der Währungsreform 1948 hatten sie das Kopfgeld, das sie für meinen Vater und sich erhalten hatten, nicht sinnlos verprasst, wie mein Großvater sagte, sondern in Bücher investiert und eine Leihbücherei gegründet, in der sie alle Romane, die unter den Nazis verboten gewesen waren, wochenweise verliehen. Die Bücher standen in ihrer Wohnung, aber die Kunden kamen nicht dorthin, sondern wählten aus einem Katalog, den mein Großvater zusammengestellt hatte.
In dem Jahr, in dem ich meinen ersten Romanversuch auf der Messe verteilt hatte, feierten wir Silvester bei meinen Großeltern. Mein Großvater hatte in einem gusseisernen Korb auf der Terrasse ein Feuer gemacht, in dem alles Schlechte des vergangenen Jahres verbrennen sollte. Es war zu kalt, um sich allzu lange im Freien aufzuhalten. Einer nach dem anderen gingen Mutter, Vater, Großmutter und Eike ins Haus zurück, bis nur noch Großvater und ich am Feuer standen. Mit einem großen rußigen Stock stocherte er in den Flammen herum.
»Bist du wirklich erst sechzehn?«, fragte Großvater, ohne mich anzusehen.
»Ich komme mir auch älter vor«, sagte ich, woraufhin er den Kopf hob und mir zulächelte. »Klugscheißerin«, sagte er. »Sollte man sich in deinem Alter nicht eher für Jungs interessieren?«
»Ich habe einen Freund.«
»Na, immerhin.« Er stocherte wieder im Feuer herum. »Ich habe nur Kurzgeschichten geschrieben. Einen Roman habe ich nie zustande gebracht. Man braucht dafür einen langen Atem.« Funken stoben in die Dunkelheit auf, als ein Holzscheit verrutschte. »Hast du noch etwas von den Verlagen gehört?«
»Nein, nichts mehr.«
»Auch dein Vater wollte Schriftsteller werden«, sagte er und begann zu husten. Er spuckte den Schleim ins Feuer und zündete sich eine Zigarette an. »Aber keiner von uns hat so früh begonnen wie du.«
»Womit? Mit dem Scheitern?«
Er lächelte erneut. Meine Wangen brannten vor Kälte, und meine Hände wurden langsam taub. Ich trat näher ans Feuer und spürte, wie mir die Hitze entgegenschlug.
»Sie wollen dein Buch nicht haben«, sagte er.
»Zwei, drei Verlage haben noch nicht geantwortet«, erwiderte ich.
»Die kannst du vergessen. Was willst du jetzt tun?«
Ich hob die Schultern.
»Du musst weiterschreiben. Fang etwas Neues an«, sagte er. Durch das bodenhohe Fenster konnte ich die anderen im Wohnzimmer sehen. Als meine Großeltern ihr Haus Ende der sechziger Jahre gebaut hatten, hatte der Architekt gesagt, dass sie ihr Privathaus mit ihrem Geschäft verwechselten. Ob sie denn wirklich im Wohnzimmer wie in einem Schaufenster sitzen wollten? Die Geschäftsräume lagen an der Vorderseite des Hauses. Mein Großvater hatte die Pläne für das Haus gezeichnet.
Hier im Dunkeln auf der Terrasse konnte man die Mauern des Hauses nicht sehen, sondern nur das riesige hell erleuchtete Wohnzimmerfenster, in dem sich die anderen wie durch eine Kulisse bewegten.
»Geh rein und wärm dich auf«, sagte Großvater und warf seine Zigarette in den Feuerkorb. »Ich bleibe noch ein paar Minuten draußen.«
»Bist du enttäuscht?«, fragte ich.
»Nein.« Er zündete sich eine weitere Zigarette an. »Schreib einfach einen großen Roman. Du hast das Zeug dazu. Ich weiß, du wirst mich nicht enttäuschen.«
An der Terrassentür drehte ich mich noch einmal nach Großvater um. Im Schein des Feuers konnte man ihm sein Alter nicht ansehen. Er sah wieder aus wie auf dem Schwarzweiß-Foto von ihm, das im Wohnzimmer stand: ein kleiner, drahtiger Mann mit olivfarbener Haut, dunklem Haar und einer dünnen Zigarette im Mundwinkel. Er trug einen hellen, offenstehenden Trenchcoat, hatte die Hände in den Taschen vergraben und die Schultern leicht hochgezogen, als würde er frieren.
Stell dir den Garten vor, in dem ich als Kind gespielt habe. Hier steht der Apfelbaum, klein und knorrig, da ist die Schaukel, auf der man zu zweit sitzen kann, hier ist der Hang, der hinter der Terrasse und einem Blumenbeet so steil abfällt und so lehmig ist, dass die aufgeschüttete Muttererde bei jedem Regen weggespült wird und die kleinen, mühsam von meiner Mutter gepflanzten Bodendecker entwurzeln und wegrutschen. Aus dieser Erde, leuchtend rot mit schwarzen Schlieren, formte ich als Kind dicke Batzen und kleine Kügelchen, baute Mauern daraus, Türme, Burgen, Figuren, die in der Sonne zu steinharten, staubigen Landschaften trockneten.
Wiesbaden-Sonnenberg heißt das Viertel, ich möchte fast sagen: die Gegend, die Landschaft, in der ich aufgewachsen bin. So groß wie ein Fliegenschiss im Vergleich zu dem Berliner Stadtteil, dem Kiez, in dem ich heute lebe, aber nicht zu Hause bin. Für mich war der Fliegenschiss damals die Welt. Die weiße Doppelgarage, darüber die zwei Fenster des väterlichen Arbeitszimmers; die beiden Steinpfosten mit den Feuerkäfern darauf, das quietschende Tor, die Treppe, die zur Haustür hinaufführte, daneben der große Rhododendronbusch mit seinen dunklen, fast schwarzen, immergrünen Blättern, wie ein Dach, unter dem mein Bruder und ich uns Höhlen bauten, von wo aus wir alles beobachten konnten, die Haustür, die Treppe, das Tor, die Straße, ohne dass uns aber jemand sah. Wann kam mir zum ersten Mal der Gedanke, dass der Busch nicht nur meinem Bruder und mir als Versteck dienen könnte? Wann ging ich zum ersten Mal auf die Haustür zu und erstarrte: Was, wenn im Busch jemand sitzt und mir auflauert? Springt da gleich einer raus und geht mir an den Hals?
»Warum sollte dir jemand auflauern?«, fragt Constantin. Wir laufen nebeneinander her. Wahrscheinlich rede ich wieder zu viel. Den Fehler mache ich immer bei Männern. Als wollte ich sie verschrecken. Verschrecken ist so ein Wort, das Mutter oft sagt. Für sie sind Männer wie Tiere, klug, schön und scheu. Sie ergreifen die Flucht, nähert man sich ihnen zu schnell. Man muss behutsam mit ihnen umgehen.
Aber ich kann einfach nicht still sein, rede und rede auf Constantin ein. Stört ihn das? Seine Hand streift meine. Wahrscheinlich nur zufällig. Mein Herzschlag beschleunigt sich trotzdem.
Meine Mutter ist vorsichtig, fast schon misstrauisch, was man ihr nicht gleich anmerkt. Sie wirkt freundlich und offen, hat viele Freunde, auf Feiern steht sie nie allein, ist immer von einer Menschentraube umgeben. Sie bewegt sich geschmeidig, streicht sich das Haar aus dem Gesicht, spitzt die Lippen, bläst den Zigarettenrauch langsam aus, sie lacht gern laut und plaudert viel, weiß über alles Bescheid: Wer seine Frau betrügt und mit wem, wer bald geschieden wird, bei wem das Geld gerade knapp ist, bei welchem Paar es mit dem Kinderkriegen nicht klappt und ob deshalb eine Adoption geplant ist – da kann Mutter gleich sagen, dass es Probleme geben wird, denn die adoptierten Kinder sind alle schwierig. Welche Mutter gibt heutzutage noch ihr Baby weg? Die muss drogensüchtig oder sonstwie gestört sein, und so was überträgt sich natürlich aufs Kind.
Bevor mein Bruder und ich geboren wurden, hat sie ehrenamtlich in einem Kinderheim misshandelte Kinder betreut und an den Wochenenden mit nach Hause genommen. »Man konnte ihnen einen kurzen Moment der Geborgenheit schenken«, sagt sie. »Aber wirklich helfen – das ging nicht. Dafür war es zu spät. Was man einem Kind antut, lässt sich nicht ungeschehen machen, das wird nie wieder gut.«
Wenn sie sich entspannen will, liest Mutter ›Bunte‹ und ›Frau im Spiegel‹. Vor allem Geschichten über die europäischen Königshäuser liebt sie, und manchmal ruft sie einen aufgeregt an und fragt etwa: »Hast du das Verlobungsfoto von Prinzessin Madeleine gesehen? Der Mann wirkt verschlagen, dieser Blick, diese Körperhaltung, mit dem stimmt was nicht, ich fürchte, das wird nicht gut ausgehen für Madeleine.«
Meistens liegt sie mit ihren Einschätzungen richtig. Nicht nur, was die Königskinder angeht. Sie beobachtet aufmerksam, ist sehr wachsam – nicht wie ein Jäger, sondern eher wie jemand, der auf einem Wachturm steht und alles überblickt. Sie ist vorsichtig, aber nie ängstlich. Bittet man sie um Rat, spricht sie offen aus, was sie denkt.
Sie ist Ärztin, hatte aber wegen uns Kindern keine eigene Praxis, sondern arbeitete im Gesundheitsamt. Wenn sie über Mittag zu Hause war, um für Eike und mich zu kochen, erzählte sie uns von ihren Patienten. Den Prostituierten etwa, fast alle Schwarzafrikanerinnen, die jeden Freitag in die AIDS-Sprechstunde kamen und vor Angst fast in Ohnmacht fielen oder hysterisch zu kreischen anfingen, wenn sie ihnen Blut abnehmen wollte. Mutter konnte ihnen nicht erklären, was sie tat und warum sie es tun musste – die Prostituierten waren gesetzlich dazu verpflichtet, sich regelmäßig untersuchen zu lassen, aber das verstanden sie nicht. Die meisten sprachen kaum Deutsch.
Ihre Zuhälter fuhren sie zwar hin, begleiteten sie aber niemals hinein. Während der AIDS-Sprechstunde stand vor der Tür immer eine Kolonne protziger, tiefergelegter Wagen. Später wurden die Frauen darin zurück ins Bordell gebracht. Fast alle waren sie mit Deutschen verheiratet, hießen Keilhau, Sommer und Meckelmann, verstanden ihre Namen aber nicht, wenn Mutter sie aufrief. Dann musste sie ins Wartezimmer gehen und den Namen so lange langsam und deutlich aufsagen, bis eine Frau zögernd aufstand und ihr in den Behandlungsraum folgte. Mutter versuchte, sie mit Gesten zu beruhigen. Oder mit einem Lied. Sie kann nicht singen. Manchmal konnte sie die Frauen damit zum Lachen bringen und so ihr Vertrauen gewinnen.
Wenn Mutter uns davon erzählte, saßen mein Bruder und ich am Küchentisch und hörten ihr fasziniert zu.
Sie stand mit dem Rücken zu uns am Herd, schälte einen dicken Block Tiefkühlspinat aus der Packung und drehte die Flamme kleiner, damit die Kartoffeln nicht überkochten.
»Diese Frauen kommen aus Ländern, in denen man bis zur nächsten Wasserstelle kilometerweit laufen muss und Lasten auf dem Kopf trägt«, sagte sie. »Sie haben nie eine Schule besucht und glauben an Hexen und Zauberer. Wie kleine Kinder sind sie. Und dann tauche plötzlich ich auf – eine Ärztin im weißen Kittel, die sie mit Latexhandschuhen anfasst, ihr Blut in Plastikröhrchen zieht und es mit rätselhaften Etiketten versieht. Kein Wunder, dass sie da Angst bekommen. Könnt ihr euch vorstellen, dass es Männer gibt, die ins Bordell gehen, um diese Kinder – am besten noch ohne Kondom –, ach, was sage ich da? Ich sollte euch das gar nicht erzählen.« Sie schlug die Eier am Pfannenrand auf und gab sie ins siedende Fett. Dann nahm sie die Kartoffeln vom Herd, goss das Wasser ab und sah über die Schulter zu uns: »Wer von euch will heute pellen?«
Zu mir hat sie immer gesagt, dass ich jeden Mann, den ich kennenlerne, fragen müsse, ob er schon einmal in einem Bordell war: »Wenn ja, schieß ihn sofort ab.«
»Und? Willst du mich fragen?«
»Natürlich nicht«, sage ich. »Ich schieße niemanden ab.«
Constantin lacht. Wieder berühren sich unsere Hände. Wirklich nur zufällig? Er hustet, hält sich die Faust an den Mund und krächzt: »Keine Sorge, das ist nur dieses sibirische Klima hier, diese verdammte Berliner Kälte.«
So kalt ist es gar nicht. Vielleicht meint er den Wind, der immer über die Allee fegt. Kilometerweit geht es da geradeaus, freie Bahn und nichts, was ihn aufhält. Wohin laufen wir eigentlich? Schon sind wir am Strausberger Platz. Wohin will dieser Mann? Er geht ziemlich schnell, flüchtet vielleicht schon vor mir.
Vor uns ragt das Park-Inn-Hotel in den lilafarbenen Nachthimmel auf, achtunddreißig Stockwerke hoch. Manchmal kann man Bungee-Springer vom Hoteldach fallen sehen. Constantin berührt meine Schulter, ich soll mit ihm über die Straße gehen. Wohnt er hier irgendwo? Er schiebt mich zwischen auf dem Mittelstreifen geparkten Autos hindurch. Kino International, Café Moskau. Oder will er ins Hotel? Soll ich mitgehen? Ich bleibe vor einem Schaufenster stehen: ein Zelt, in dem eine ganze Familie Platz hätte, und zwei Schaufensterpuppen, Mann und Frau, in wetterfesten Jacken und Hosen.
Sie tragen schwere Wanderstiefel, Ferngläser, Sonnenbrillen, Trinkflaschen und monströse Rucksäcke, an denen Schlafsack und Isomatte hängen.
»Schrecklich«, sagt Constantin. »Bevor ich mir das alles auflade, springe ich lieber vom Hochhaus.«
Mutters Vorsicht, dieses ewige Misstrauen – vielleicht ist das bei allen Flüchtlingen so. Sie ist in der DDR geboren, in Rostock. Als sie elf Jahre alt war, waren ihre Eltern mit ihr und ihrem Bruder in den Westen geflohen. Das ist lange her, sie sei doch noch ein Kind gewesen, sagt sie immer, und trotzdem: Einmal alles verloren, das reicht – nein, das fehlt – für ein ganzes Leben. Da guckt man genau hin, passt auf.
Vielleicht ist es aber auch nur bei Mutter so. Ihres Vaters wegen, aber darüber spricht sie nicht gern.
Wenn ich früher abends ausgegangen bin, blieb meine Mutter so lange wach, bis ich wieder zu Hause war. Selbst wenn sie am nächsten Tag arbeiten musste, konnte sie nicht einfach schlafen gehen. Bei meinem Bruder hat sie es genauso gemacht. Sie hat uns nie aufgehalten, im Gegenteil, sie wollte, dass wir Spaß hatten, tanzten, alle Kinofilme sahen, durch Bars und Kneipen zogen, mit Freunden unterwegs waren – das Leben in vollen Zügen genießen, hat sie immer gesagt. Und sie hatte auch keine Angst um uns – zumindest nicht so wie die Eltern mancher meiner Freundinnen –, sie dachte nicht, uns könne etwas passieren, sondern fürchtete, wir würden nicht wieder zurückfinden.
»Vergesst die Brotkrumen nicht«, sagte sie immer, bevor wir gingen.
»Wir sind doch nicht Hänsel und Gretel, ihr setzt uns doch nicht im Wald aus«, sagte mein Bruder dann.
Scherzhaft drohte sie ihm mit dem Finger: »Pass auf! Das kann schneller passieren, als du denkst!«
Sie versuchte nicht, uns zu kontrollieren, telefonierte uns nie hinterher. Sie saß einfach im Wohnzimmer, las Zeitschriften oder sah fern, rauchte und trank schwarzen Kaffee gegen die Müdigkeit. Wenn sie den Schlüssel im Schloss hörte, sprang sie nicht gleich hoch, rannte uns nicht entgegen, sondern blieb sitzen und wartete, bis wir zu ihr kamen. Dann schaute sie lächelnd auf: »Da seid ihr ja. Hat euch die Brotkrumenspur wieder nach Hause geführt?«
Und ich sagte immer: »Wir haben Steinchen gestreut. Die leuchten im Mondlicht und werden nicht von den Vögeln aufgepickt.«
Vielleicht sollte ich das jetzt auch tun, Steinchen streuen, damit ich wieder zurückfinde. Der Alexanderplatz liegt hinter uns. Wir gehen über eine Brücke, an deren Geländer eine riesige, moosbedeckte Statue steht: Eine dicke Frau gibt einem kleinen, knienden Mann etwas zu trinken.
»Was war denn mit ihrem Vater?«, fragt Constantin. Legt plötzlich einen Arm um mich. Also kein scheues Tier? Ich drücke meine Wange an seine Schulter.
»Er ist verschwunden.«
»Wie meinst du das?«
»Kurz nach ihrer Ankunft im Westen waren sie bei Verwandten untergekommen, in Lübeck. Mein Großvater, er hieß Karl, wollte die Wohnung nur kurz verlassen, um sich Zigaretten zu kaufen. Meine Mutter spielte auf der Straße, dieses Hüpfspiel, Himmel und Hölle, das erzählt sie immer. Sie hat ihn noch gesehen, er hat gelacht und gewinkt. Er ist nie zurückgekehrt. Spurlos verschwunden.«
Es war stockfinster. Ich hörte Stoffrascheln und Atemholen. Hin und wieder hallte ein Husten vom Gewölbe wider. Bei Tag sah es wie ein Himmel aus, hellblau und mit glänzenden Sternen bemalt, die man nun, in der Nacht, nicht sehen konnte. Wir hätten genauso gut in einem dunklen Kerker sitzen können. Plötzlich begann jemand zu singen, ich stellte mir einen schmalen blondgelockten Jungen aus dem Knabenchor vor: Bleibet hier und wachet mit mir. Wachet und betet. Es klang traurig und flehend. Eigentlich hätte es eine Männerstimme sein müssen, Jesus im Garten Gethsemane. Die Freunde, die dort mit ihm wachten, würden einschlafen. Jesus musste die Nacht allein überstehen. Ich mochte die Geschichte, besonders die Stelle, an der er betete: Vater, lass diesen Kelch an mir vorübergehen.