Rotraud A. Perner

Kaktus­menschen

Zum Umgang
mit verletzenden
Verhaltensweisen

www.kremayr-scheriau.at

ISBN 978-3-7015-0567-8
Copyright © 2014 by Orac/Verlag Kremayr & Scheriau GmbH & Co. KG, Wien
Alle Rechte vorbehalten
Schutzumschlaggestaltung: Kurt Hamtil, Wien
unter Verwendung eines Fotos von fotolia.de/INFINITY
Typografische Gestaltung, Satz: Ekke Wolf, typic.at
Datenkonvertierung E-Book: Nakadake, Wien

Was zum Munde eingeht,

das verunreinigt den Menschen nicht;

sondern was zum Munde ausgeht,

das verunreinigt den Menschen.

Matthäus 15, 11

Inhaltsverzeichnis

Kaktusmenschen und andere Unholde

Exkurs in die Tiefenpsychologie

Urcool – oder was?

Den richtigen Namen wissen

Kleine Horrorbotanik

Umgang mit Grenzen

Ausstechen oder Abstechen

Animalische Wahrnehmung

Energieräuber

Blutsaugende: Vampire

Negaholiker

Fleischfressende: Werwölfe

Rappelköpfe

Ausgebrannte

Kletten: Stalker

Bosnigl

Nikomanen

Nesseln: Unberührbare

Listige, Lügner und Narzissten

Besserwisser

Pseudokakteen: SozImps

Echte Kaktusmenschen

Weshalb immer mehr Menschen Dornen
und Stacheln wachsen

Stroke-Ökonomie

Elternentbehrung

Spiegelnervenzellen

Bindungsmangel

Vorbildlernen

Sieben Todsünden

Energieausgleich

Kaktusbosse und Kaktuskollegenschaft

Definitionsmacht

Das militärische Erziehungsmodell

Der Arschloch-Faktor

Menschliche Destruktivität

Intrigen

Krieg im Büro

Burnout

Überlebenstechnik

Selbstheilungsversuche

Machtspiele

Einen Kaktus lieben

Elternreaktion Kritik

Mythologisierungen

Wenn Frauen zu sehr lieben

Lieben

Kontrolle

Schuldumkehr

Salutogenese

Überleben im Kakteenhain

Schiefe Beziehungen begradigen

Spielen statt kämpfen

Salutogenese konkret

Verzicht aufs Kriegen

Umgang mit Energie

Heilkraft Licht und Liebe

Literaturangaben

Anmerkungen

Ich bin mir bewusst, dass die meisten Menschen glauben,

alles zu wissen, was man über Psychologie wissen kann,

denn sie meinen, Psychologie sei nichts anderes,

als was sie von sich selbst wissen.

C. G. Jung1

Kaktusmenschen
und andere Unholde

Zur Durchsetzung des beherrschenden Einflusses

bedient sich der Aggressor gewisser Vorgehensweisen,

die die Illusion von Kommunikation bieten –

einer eigenartigen Kommunikation, nicht geschaffen,

um zu verbinden, sondern fernzuhalten

und jeglichen Austausch zu verhindern.

M.-F. Hirigoyen2

Sie brüllen herum.

Sie hüllen sich in tagelanges Schweigen.

Sie verspotten ihr Gegenüber, am liebsten vor Publikum: Kaktusmenschen – Menschen, die sich Dornen und Stacheln haben wachsen lassen und sie bevorzugt dort einsetzen, wo eigentlich vertrauensvolle Zusammenarbeit angesagt wäre: im Beruf wie in der Partnerschaft.

Dann sitzen verzweifelte Männer oder Frauen in meiner Praxis auf meiner weißen Ledercouch und fragen, was denn an ihnen oder ihrem Verhalten so arg wäre, dass ihre Vorgesetzten, Partnerpersonen, Vater oder Mutter oder sonst irgendwer sie wie den letzten Dreck behandelten. Dann kommt es immer wieder vor, dass ich sie warne: »Halten Sie bitte Distanz! Vermeiden Sie, dicht heranzutreten – einen Kaktus umarmen Sie ja auch nicht!« Und oft setze ich noch hinzu: »… oder ist es Ihr Ziel, blutig gestochen zu werden?«

So bildete sich mit der Zeit vor meinem geistigen Auge das Bild von diesen »Kaktusmenschen« heraus – Menschen, denen man nicht zu nahe kommen sollte, weil sie stachelig sind oder Dornen haben, weil sie sticheln und stechen, anstacheln und aufstacheln, mal nur pieken, dann aber wieder erstechen, oft nur hervorstechen wollen und andere ausstechen und manchmal auch bestechen (im Doppelsinn des Wortes) … denn manchmal präsentieren Kakteen ja wunderschöne Blüten. Da vergisst man leicht die vielen Stacheln …

Es gibt aber auch Kaktusmenschen, die tauchen als Disteln oder Kletten auf. Manche tarnen ihre Dornen unter Rosenblüten, oder ihre Winzigstacheln sind so klein, dass man erst bei näherem Kontakt merkt: Vorsicht, Brennnessel!

Allerdings wirkt jemand manchmal nur wie ein Kaktusmensch, ist in Wirklichkeit aber »nur« erschöpft und ausgebrannt und deshalb aggressiv und nicht mehr fähig oder aber auch willens, eine zivilisierte Kommunikationsform zu pflegen.

Es gibt aber auch sozial inkompetente Menschen, die einfach nicht gelernt haben – und auch nicht nachlernen wollen –, wie man mit den eigenen unangenehmen Gefühlen wie Bedrängnis, Unwissenheit oder Hilflosigkeit anders als mit Grobklotzigkeit umgehen kann.

Und dann gibt es noch Verhaltensweisen, die Symptom einer Charakterneurose oder einer anderen behandlungsbedürftigen seelischen Störung sind, wie das Borderline-Syndrom etwa.

Exkurs in die Tiefenpsychologie

Der Mangel an positiven inneren Figuren …

unterstreicht die Wichtigkeit der Vereinigungserfahrung

für die Umwandlung der toten, verfolgenden, inneren Welt

in einen Ort liebevoller Unterstützung.

N. Schwartz-Salant3

»Kakteen«, lese ich in wikipedia4, »sind ausdauernde Sträucher, seltener Bäume.«

Ja, ausdauernd sind sie auch, die Kaktusmenschen, konsequent in der Perfektionierung ihres Kommunikationsstils der kleinen oder großen Stiche. »Hauptsprosse und Zweige wachsen meist aufrecht oder aufstrebend, manchmal auch kriechend oder hängend.«

Kaktusmenschen zielen auf Überlegenheit und neigen meist zur Überheblichkeit; bewusst ist ihnen das selten, ganz im Gegenteil meinen sie, sich vor anderen schützen zu müssen, wortlos natürlich, denn partnerschaftliches Gespräch, den Dialog eines Sich-aufeinander-Abstimmens und den bedachten Verzicht auf verbale Gewalt müssten sie erst lernen, und das widerstrebt ihrem Auf-Streben. Kriechen und Hängen hingegen ist ihnen grundsätzlich nicht zuwider – vorausgesetzt, die übergeordnete Autorität ist machtvoll und prächtig genug. Allerdings halten sie solche Unterordnung nicht auf Dauer aus; bei erster Gelegenheit werden sie ihre Stacheln – eigentlich Dornen oder Borsten, Wolle oder Filz – ausfahren und damit ihre Berührungsscheu signalisieren.

Kakteen sind »Sukkulenten« – Pflanzen, die in der Lage sind, erhebliche Wassermengen in den Blättern, im Stamm oder auch in den Wurzeln zu speichern, um somit lange Trockenperioden überstehen zu können.

Tiefenpsychologisch gedeutet steht Wasser für Gefühle; dementsprechend wären Kaktusmenschen solche, die ihre eigenen Gefühle wie auch die, welche ihnen ihre jeweiligen Kommunikationspartner entgegenbringen, in unterschiedlichen Tiefenlagen ablegen, ohne sie zu »verdauen«, geschweige denn eine Reaktion zurückzugeben. Das heißt nicht, dass es unmöglich wäre, dass irgendwann doch auf diese Gefühlsreserve zurückgegriffen wird – aber dann meist in einer Form, die nicht zur aktuellen Situation passt, daher für die AdressatInnen des Gefühlsausbruchs fürs Erste einmal unverständlich wirkt; darauf wiederum reagiert der Kaktusmensch mit Unverständnis. Er oder sie hält sich ja für sozial kompetent – daher sind es immer die anderen, die Schuld tragen, warum haben sie sich nicht an ihn bzw. sie angepasst …

Sukkulenten sind äußerst anpassungsfähig, betont der Kakteenexperte Holger Dopp. Kaktusmenschen auch – sie passen sich nämlich nicht flexibel an äußere Einflüsse an, sondern sie passen ihre Sukkulenz, d. h. ihre Unbeeinflussbarkeit durch Gefühle, den Anforderungen des eigenen Stabilitätsideals an; damit bleiben sie äußerlich unverändert, so wie sie sind, und scheinbar ohne irgendwelche Beeinträchtigungen. So schreibt auch Holger Dopp: »Sie haben sich im Laufe ihrer Entwicklung den unterschiedlichsten klimatischen Bedingungen angepasst und entsprechend ihrer extremen Standorte ganz bestimmte zusätzliche Schutzmöglichkeiten entwickelt.«5

Zur besseren tiefenpsychologischen Verdeutlichung könnten wir den räumlichen Begriff Standort durch den des mentalen Standpunkts ersetzen – dann wird klar, dass solche Kaktusmenschen lieber auf seelische Nahrung oder gar Bereicherung verzichten, wenn dadurch ihr Standpunkt gefährdet wäre, denn: ihr Standpunkt gibt ihnen Schutz und Sicherheit. Dopp weiß: »So dient ein mitunter starker weißer Reifbelag auf Blättern oder Stamm als ausgezeichneter Verdunstungsschutz, ebenso wie die dichte Bedornung bei Kakteen, die darüber hinaus sehr sinn- und wirkungsvoll vor Tierfraß schützen kann.« Und weiter schreibt er: »Gleichermaßen attraktiv wie wirkungsvoll ist die dichte, weiße Behaarung von einigen Hochgebirgskakteen, die die Pflanzen tagsüber vor allzu starker Erwärmung und vor Verbrennung schützen und in den Nachtstunden vor Unterkühlung oder gar Erfrierungen.«

Bleiben wir beim Versuch, den Begriff »Verdunstung« tiefenpsychologisch zu interpretieren: Unser Unbewusstes »spricht« in Bildern, in Metaphern (Gleichnissen), es liebt Wortspiele und Verballhornungen, auch kennt es keine Zeit, sondern fasst Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft zusammen, und: es will immer nur unser Bestes. Sigmund Freud formulierte, der Traum sei der Hüter des Schlafes, und in Träumen kommen unsere unbewussten Seelenanteile zum Vorschein, ebenso wie in Fehlleistungen (Versprechen, Verschreiben, Verlegen etc.) oder Pointen und Witzen und auch in psychosomatischen Symptomen.

»Verdunsten« entspricht dem Schwitzen wie auch dem Weinen oder anderen Flüssigkeits-Abgaben. Wenn wir nun daran denken, wann uns »das Wasser hochkommt«, so steht das in Zusammenhang mit Aufwallung innerer Hitze, einem klassischen Anzeichen von Stresshormonausschüttungen. Wer kennt ihn nicht, den Adrenalinstoß, den wir verspüren, wenn wir negativ beschämt oder aber auch positiv überrascht werden? Auf die Urszenen solcher Spontanreaktionen reduziert, können wir bei entsprechender Selbstreflexion erkennen: Unser Körper macht sich entweder kampf- oder paarungsbereit.

Vor beiden Arten von »Hitze« will sich ein Kaktusmensch schützen. Er oder sie will (oder muss, wenn es beispielsweise der Beruf verlangt) souverän sein oder zumindest wirken, und das wird vielfach mit Fühllosigkeit gleichgesetzt.

Urcool – oder was?

Er sucht die Ablehnung, weil es ihn beruhigt zu sehen,

dass das Leben für ihn genau so ist,
wie er es immer schon wusste.

M.-F. Hirigoyen6

Der Kaktusmensch weiß oder ahnt zumindest, dass er oder sie sich mit Gefühlen schwertut. Weil dies noch immer überwiegend ein Männerproblem ist, will ich im Folgenden primär die männliche Sprachform verwenden – es heißt ja auch »der« Kaktus. Es gibt aber auch »weibliche« Stachelwesen: »die« Distel, »die« Klette, »die« Stechpalme, »die« Rose … Sie alle schützen und wehren sich vor »Berührung« durch ihre Dornen, aber auch durch Behaarung oder Reifbelag.

So erzählte mir Franz, einer meiner liebsten Kollegen – und kein Kakteenfreund! –, dass er einmal durch Zufall entdeckte, dass von einem seiner ungeliebten Fensterbrettbewohner nur mehr die weiße Pelzhülle existierte, die darunter vermutete Pflanze aber längst den Weg alles Sterblichen gegangen war. So kann der Schutzmantel sogar seine ursprüngliche Lebensberechtigung überdauern …

Der Begriff »Berührtwerden« besitzt Doppelsinn – je nachdem ob wir äußerlich, körperlich oder innerlich, seelisch Berührung, »Rührung« spüren. Da sind sie wieder: die Gefühle und Gefühlsbewegungen, die der Kaktusmensch so bemüht zu vermeiden sucht. Auch das Wort Emotion – vom lateinischen ex, das heißt heraus, und movere, das heißt bewegen – verweist auf die innere Bewegung, die wir, wenn wir ihrer gewahr werden, mittels Namensgebung zu einem Gefühl machen. Vielfach stimmen diese Bezeichnungen aber gar nicht: Mein Musterbeispiel, mit dem ich meinen StudentInnen die Technik des Differenzierens anschaulich zu machen versuche, ist der »Name« Eifersucht.

Ich bitte dann immer, sich ein geistiges Bild zu machen, in dem jemand eifersüchtig ist, und dann Unterscheidungen zu treffen:

1. Zuallererst zu klären, welches Verhalten konkret als Eifersucht bezeichnet wird – etwas, das man sieht, hört, spürt etc. (juristisch gesprochen: welcher Sachverhalt vorliegt), danach

2. dieses Verhalten mit dem Beziehungsumfeld in Verbindung zu bringen (juristisch: welche Motive erkennbar sind), danach

3. die möglichen Auslöser des – noch unbenannten – Verhaltens und die möglichen Reaktionen durchzugehen und voneinander zu unterscheiden (juristisch: zu klären, unter welche Tatbestandsparagrafen dieses Verhalten eingeordnet werden könnte)

4. und sich erst zuletzt auf den richtigen Namen festzulegen.

Wenn man diese Übung macht, findet man schnell heraus, dass viele Informationen fehlen, um überhaupt von Eifersucht sprechen zu können. Dann kommt man oft darauf, dass es sich um gewöhnliche Konkurrenz, vielleicht auch um – faire oder unfaire – Rivalität handelt, oft aber um das Gefühl der Benachteiligung oder des Ausgeschlossenseins. Vielleicht wurde auch fahrlässig oder absichtlich eine Kränkung zugefügt und die bei sich wahrgenommene Gefühlsreaktion stellt eher einen Versuch dar, sich dagegen zu wehren. Auch kommt es häufig vor, dass jemandem Eifersucht unterstellt wird, um ihn oder sie von kritischen Bewertungen abzubringen.

Aber echte Eifersucht – nämlich unberechtigte Anfeindungen wegen vermeintlicher Illoyalität – ist eher selten und meist schon Anzeichen eines beginnenden Verfolgungswahns (wie beispielsweise Alkoholparanoia als Symptom eines fortgeschrittenen Stadiums der Alkoholkrankheit).

Wir symbolisieren die – äußerlich oder innerlich – wahrgenommenen Erscheinungsformen je nach unseren erlernten »Wörterbüchern« und »Wortschätzen«; aber Worte sind nur eine Möglichkeit von Symbolisierung, Zeichen oder Bilder eine andere, Gesten oder auch Personifizierungen wieder andere; der Begriff Zeichen sollte daher nicht nur wie üblich visuell oder akustisch verstanden werden.

Wahrnehmen bedeutet nicht nur, Gefühltes, Gehörtes, Gerochenes, Geschmecktes und Gesehenes gedanklich zuzuordnen und zu benennen. Wahrnehmen bedeutet, sich der Art der Wahrnehmung bewusst zu sein und die vier möglichen Formen – das Gegensatzpaar Denken und Fühlen sowie körperlich Empfinden und intuitiv Erahnen – in Balance zu einer Einheit zu formen.

Im Westen wird das kognitive Denken überbewertet, monierte der Psychiater und Begründer der Analytischen Psychologie, C. G. Jung, während das emotionale Fühlen als notwendige Ergänzung herabgemindert wird. Fühlen gehört aber zur Ganzheit – daher auch zur ganzheitlichen Gesundheit – unverzichtbar dazu. Die Körperempfindung als weitere Wahrnehmungsfunktion hingegen wird anerkannt, ihre Ergänzungsfunktion Intuition wiederum als Fantasie abgetan (außer es lässt sich damit Geld verdienen).

Zu Beginn des 3. Jahrtausends hat sich in der Sprache der Jugendlichen ein Modewort eingebürgert: cool, Steigerungsstufe urcool. Es bedeutet Zustimmung – Bestätigung, dass einem etwas gefällt. Sehr sogar. Wenn nun ein kritischer Geist fragen wollte, wie Kühle mit Anerkennung zusammenpasse, wo doch eher Wärme – das Feuer der Begeisterung – passen würde, so lautete die tiefenpsychologische Antwort: Alles Tarnung! Es soll der lauernde »Geist, der stets verneint« abgelenkt werden, damit er nicht mit seinem zerstörerischen Werk beginnt.

Cool ist es, keine Emotionen zu zeigen, urcool, gar keine zu haben. Das Ideal, das dahintersteckt, ist die Killer- oder Sexmaschine, die menschliche Wärme weder zu benötigen meint und schon gar nicht spendet. Von der weltberühmten amerikanischen Psychotherapeutin Virginia Satir stammt das Bild, jemanden, der auf diese Weise kommuniziert, mit einem »Computer«7 gleichzusetzen. Der funktioniert auch »cool« – Wärme oder gar Hitze ist ihm abträglich und Wasser auch. Kakteen verfügen über eine ähnliche Funktionsweise.

Den richtigen Namen wissen

Du hast dich vor Ekel vor Deinen eigenen Handlungen geschüttelt,

wenn Du sie an anderen gesehen hast.

Ludwig Wittgenstein8

»Um einen Kaktus oder eine der anderen Sukkulenten richtig pflegen zu können, ist es unerlässlich, dass man weiß, um welche Pflanze es sich handelt«, mahnt Holger Dopp. »Im Fachhandel erworbene Pflanzen sollten deshalb ein entsprechendes Stecketikett mit Gattungs- und Artnamen tragen. Aber in jeder Sammlung stehen eine Anzahl Kakteen ohne Etikett – wonach richtet man sich also?« Aber er beruhigt auch: »Je intensiver Sie sich mit den Kakteen beschäftigen, desto klarer wird Ihnen die Nomenklatur. Wer erfolgreich seine mehr oder weniger bedornten Lieblinge pflegen will, dem bleibt nichts anderes übrig, als sich mit den botanischen Bezeichnungen abzugeben, um schließlich die heimatlichen Standortbedingungen feststellen zu können. Nur aufgrund der genauen botanischen Bezeichnung ist es nämlich möglich, die jeweilige Pflanze in der Fachliteratur zu finden. Nach relativ kurzer Zeit wird man sich über die ersten verdienten Erfolge freuen können!«9

Im Umgang mit Kaktusmenschen empfiehlt es sich ebenso, genaue »Differentialdiagnosen« zu stellen: Nicht jeder Mensch, der stichelt, sticht oder absticht, verwirklicht damit seinen Charakter, der bekanntlich aus verfestigten Einstellungen und Verhaltensweisen geformt ist.

Manche haben bloß keinen blanken Schimmer, was sie mit ihrer Stacheligkeit an Verletzungen anrichten, und wenn sie doch etwas Derartiges ahnen, scheuen sie sich, ihre Unwissenheit durch Nachfrage in Balance zu bringen – oder bräuchten einfach mehr Zeit zum Nachdenken und vor allem: Nachfühlen. Viele meinen aber, sich diese Zeit nicht zugestehen zu dürfen.

So schrieb mir einmal ein Mann, der mir sehr viel bedeutet: »Leider bin ich nach wie vor ratlos, wie ich mit dir kommunizieren könnte, dass es nicht andauernd Missverständnisse und Kränkungen gibt.« Aus. Zwar immerhin ein Anfang – eine Standortbestimmung – aber keinerlei Bewegung auf die andere Person zu. Mein – ebenso schriftliches – Angebot »So frag mich doch!« blieb unbeantwortet. Ob aus Zeitdruck, Vorbildmangel, Unwilligkeit zu weiterer Selbstreflexion oder schlichter Beziehungsunfähigkeit bleibe dahingestellt: Wollte man in solch einem Fall salutogen – für beide Seiten Gesundheit fördernd – kommunizieren, müsste zuerst einmal

1. vereinbart werden, dass man die Kommunikation verbessern will,

2. müssten die einseitigen Fantasien als solche enttarnt werden, nämlich die Fantasien, es gäbe Missverständnisse und Kränkungen (die gab es nämlich aus meiner Sicht überhaupt nicht) und

3. losgelassen werden. Um loszulassen muss aber zumindest ein Entsorgungskanal geöffnet werden, und das bedeutet nicht nur, dass etwas hinaus, sondern auch, dass etwas hineinkommen kann – etwas, das »gegen den Strom schwimmt«. Wer aber gegen den Strom schwimmt, kommt zur Quelle. Wir sind wieder beim Wasser gelandet. Bei den Gefühlen.

4. »Wer etwas loslässt, hat die Hände frei für etwas Neues«, besagt ein chinesisches Sprichwort. Aber will man etwas Neues, Unbekanntes? Zieht man nicht oft lieber bekanntes Unangenehmes dem unbekannten, daher nur möglicherweise Angenehmen vor?

Ich entschied mich damals, keinen Schritt weiter zu gehen. Ich wäre mir sonst gewalttätig vorgekommen. Das war meine Fantasie. Auch eine Fantasie über mögliche Verletzung – eigene wie fremde; wie wir PsychoanalytikerInnen allerdings aus Ausbildung und Erfahrung nur zu genau wissen, steckt in solch einer »Abwehr« immer auch ein geheimer Verletzungswunsch, und sei er noch so klein. Und ebenso umgekehrt eine Hoffnung auf psychische Erste Hilfe, Rettung, Erlösung.

Von Arthur Schopenhauer stammt das Gleichnis von den Stachelschweinen; im Jusstudium bekommt man es meist bereits in der Antrittsvorlesung zur Einführung in das juristische Denken präsentiert – dort allerdings mit einem anderen »Schluss«: Nicht über die Methode »trial and error« – man versucht so lange, bis man herausgefunden hat, wie etwas funktioniert –, sondern über verbal ausgehandelte Verträge soll die für alle Beteiligten befriedigende Lösung erarbeitet werden, denn, wie ich gerne formuliere: »Sich vertragen bedeutet Verträge schließen.«

Schopenhauer bevorzugt eine einseitige Problemlösung ohne Mitbestimmungsrechte; mir drängt sich die Vermutung auf, dass er ein Kaktusmensch war – und das Studium seiner Biografie scheint dies auch zu bestätigen. Bei ihm heißt es (Originalschreibweise):

»Eine Gesellschaft Stachelschweine drängte sich, an einem kalten Wintertage, recht nah zusammen, um, durch die gegenseitige Wärme, sich vor dem Erfrieren zu schützen. Jedoch bald empfanden sie die gegenseitigen Stacheln; welches sie dann wieder von einander entfernte. Wann nun das Bedürfniß der Erwärmung sie wieder näher zusammen brachte, wiederholte sich jenes zweite Übel; so daß sie zwischen beiden Leiden hin- und hergeworfen wurden, bis sie eine mäßige Entfernung von einander herausgefunden hatten, in der sie es am besten aushalten konnten. So treibt das Bedürfniß der Gesellschaft, aus der Leere und Monotonie des eigenen Inneren entsprungen, die Menschen zu einander; aber ihre vielen widerwärtigen Eigenschaften und unerträglichen Fehler stoßen sie wieder von einander ab. Die mittlere Entfernung, die sie endlich herausfinden, und bei welcher ein Beisammensein bestehen kann, ist die Höflichkeit und feine Sitte. Dem, der sich nicht in dieser Entfernung hält, ruft man in England zu: keep your distance! – Vermöge derselben wird zwar das Bedürfniß gegenseitiger Erwärmung nur unvollkommen befriedigt, dafür aber der Stich der Stacheln nicht empfunden. – Wer jedoch viel eigene, innere Wärme hat bleibt lieber aus der Gesellschaft weg, um keine Beschwerde zu geben, noch zu empfangen.«10

Der Hinweis auf die »eigene innere Wärme« stellt sich aus psychoanalytischer Sicht als Schutzbehauptung des »Ich brauche keine anderen – ich bin mir selbst genug« dar – analog zu dem Satz des Füchsleins in der Fabel, das suggeriert, die Trauben, die es erfolglos zu erreichen versucht hatte, wären ihm zu sauer. Oder sollte innere »Hitze« – sexuelle wie aggressive – zur Wärme verharmlost worden sein? Frustration macht viele unbeherrschte Menschen aggressiv11 (wie viele Kapitalverbrechen beweisen); sie haben – noch – nicht gelernt, wie man innere Spannungszustände in Balance bringt und lassen daher ihren Energieüberschuss (der eigentlich der verantwortlichen Problembehebung dienen sollte) an Schwächeren aus.

Der Überbegriff – der »Gattungsname« – zu all den Unterschieden im dornenreichen Umgang miteinander lautet »Nähe-Distanz-Problematik«.

Im folgenden Kapitel soll ein Versuch unternommen werden, »Artnamen« für die Verhaltensweisen zu finden, die vielfach voreilig auf einen Kaktusmenschen schließen ließen. Aber nicht alles, was aus der Ferne wie ein Kaktus aussieht, ist in der Nähe besehen auch tatsächlich einer.

Kleine Horrorbotanik

»Was für einen Zweck haben die Dornen?«

Der kleine Prinz verzichtete niemals auf eine Frage,

wenn er sie einmal gestellt hatte. Ich war völlig mit meinem Bolzen

beschäftigt und antwortete aufs Geratewohl:

»Die Dornen, die haben gar keinen Zweck,

die Blumen lassen sie aus reiner Bosheit wachsen!«

»Oh!«

Er schwieg. Aber dann warf er mir mit einer Art Verärgerung zu:

»Das glaube ich dir nicht! Die Blumen sind schwach. Sie sind arglos.

Sie schützen sich, wie sie können.

Sie bilden sich ein, dass sie mit Hilfe der Dornen gefährlich wären …«

Antoine de Saint-Exupéry12

Nicht alle, die so etwas wie Stacheln ausfahren, sind echte Kaktusmenschen. Manche wissen sich nur nicht anders abzugrenzen als durch die Imitation eines solchen. Sie haben einfach bisher kein anderes Modell kennen gelernt.

Wir lernen alle an Vorbildern, die wir meist unbewusst nachahmen, und wenn wir mit zunehmender Häufigkeit dieses Verhaltens Erfolg haben, sehen wir keine Notwendigkeit, es zu ändern. Schon im Talmud heißt es, »Wer eine Sünde zweimal begangen hat, der hält sie für keine Sünde mehr.«13 Das erklärt, weshalb sich viele Erwachsene oft benehmen wie Kleinkinder: Sie schmollen oder trotzen, schlagen verbal und oft auch physisch um sich und schieben den Schwarzen Peter für ihr stacheliges Verhalten anderen zu. Damit bleiben sie in einer Art magischem Denken verhaftet, indem sie wähnen, andere hätten tatsächlich die Macht, ihre Befindlichkeit zu bestimmen.

Umgang mit Grenzen

Die Grenze (border) gibt es in den Mythen vieler Kulturen.

Sie ist jener Bereich der Psyche, wo die Orientierung des Ichs

zu versagen beginnt und sich mächtige Kräfte konstellieren,

über die man mitunter wenig Kontrolle hat.

N. Schwartz-Salant14

Grenzen dienen der Sicherheit; sie schützen vor unerwünschtem Eindringen. Unser aller erste Grenze ist unsere Haut – und wie wenig sie schützt, erfahren wir bereits beim ersten Impf-Pieks. Unsere zweite Grenze bauen wir selbst auf: Lange bevor wir mit Materialien experimentieren, nützen wir unsere Atmung, zuerst mit Schreien, dann mit Pfauchen und zuletzt hoffentlich mit wohlgesetzter Sprache.

Ein Wort kann, nach einer Feststellung des amerikanischen Linguisten Edwin Sapir, nicht nur ein Schlüssel sein, sondern auch ein Gefängnis.15 Worte können heilen, mehr aber verletzen. Mit Worten kann man Gewaltverzicht ausdrücken oder Gewalt ausüben.

Die Wurzel der Gewalt sehe ich im Vergleich.

Man vergleicht sich mit anderen und erkennt, dass jemand »mehr« besitzt: Nahrung, Wohltaten, Können, Gegenstände, Ansehen, Macht, Zuwendung … Ich habe diese Begriffe in der Reihenfolge aufgezählt, in der ich die »Sieben Todsünden« zu ordnen pflege: Gier, Trägheit, Zorn, Geiz, Hochmut, Unkeuschheit, Neid. In dieser Reihung entsprechen sie nämlich den Herausforderungen in den Phasen der psychosexuellen Entwicklung in der Kindheit und stellen gleichzeitig ein Psychopathologie-Lehrbuch der sieben großen psychischen Störungen bzw. Erkrankungen dar: Sucht und Depression können der oralen Phase zugeordnet werden, Borderline- und Zwangsstörungen der analen Phase, narzisstische Störungen und Missbrauch der phallischen und krankhafte Eifersucht der ödipalen Phase. Dies wird im Kapitel »Weshalb immer mehr Menschen Dornen und Stachenl wachsen« genauer erläutert.

Erkenntnisbereit auf den eigenen Entwicklungsweg und die auftauchenden Lernaufgaben zu achten und nicht scheelen Auges auf die Lebenswege anderer Menschen zu schauen, erfordert Ich-Stärke und auch Mut zur Selbstbehauptung – denn viel zu oft versuchen falsche Rat- und Befehlsgeber einen davon abzulenken, und sei es auch nur, um sich als Besserwisser zu inszenieren. Immer wieder hören Kinder, sie mögen sich ein Beispiel an Geschwistern oder SchulkollegInnen nehmen, oder sie werden mit der diabolischen16 Frage konfrontiert, wen sie denn lieber hätten, den Papa oder die Mama.

So lernen Menschen schon von klein auf, sich mit anderen zu vergleichen und neidisch zu sein, statt einen Vergleich zwischen den eigenen heutigen und gestrigen Fähigkeiten zu ziehen und sich darüber zu freuen, dass man etwas dazugelernt hat. Damit wird es aber auch schwierig, die Notwendigkeit des Teilens zu akzeptieren; teilen zu sollen oder zu müssen, weil ein Dritter aufgetaucht ist, der Raum und Zeit beansprucht, kennen alle, die jüngere Geschwister haben. Vielfach ist dieser Dritte aber bereits der Vater – oder einer seiner Nachfolger – und aus dieser, vielfach auch umgekehrten, Konkurrenz um die immer und alles spenden sollende Mutter entstehen wesentliche Verhaltens- und Charaktereigenschaften wie rücksichtlose Eigensucht oder vorauseilender Verzicht, Rivalität oder Kooperationsbereitschaft.

Das Wort Rivalität leitet sich vom Lateinischen riva, der Fluss, ab und erinnert an den Kampf um Zugang zu Wasser – so wie die deutsche Redewendung, jemand »das Wasser abgraben«. Eroberungskriege wurden immer um Raum und die darin befindlichen Bodenschätze geführt, auch wenn sie als Beistand für angegriffene Freunde oder Verteidigung von Menschenrechten getarnt wurden. Bei Rachefeldzügen ging es vordergründig um die Wiederherstellung verletzter Ehre – der Gewinn von Raum war dabei die Wiedergutmachungsprämie. Die Propagierung der modernen anderen – mediatorischen, daher verbalen – Formen der Konfliktaustragung und Konfliktlösung zwischen Staaten entspringen der Angst vor dem Atomkrieg. Im Privat- und Berufsbereich haben sie sich noch kaum durchgesetzt. Offenbar ist die Angst, vernichtet zu werden, trotz der täglichen Berichterstattung über zunehmende häusliche Gewalt wie auch über so genannte Workplace Violence in den Medien noch nicht groß genug, um ein Umdenken hervorzurufen.

Ausstechen und Abstechen

Die dämonische Macht der Konkurrenz wirkt so,

dass sie das Ego derart isoliert, dass es sich nur

über den Kampf mit einem anderen Ego definieren kann.

Auf diese Weise geht alle Hoffnung verloren,

an etwas Tieferem als dem Ego teilzuhaben

– sei es nun Freude oder Leid.

M. Fox17

Was in der Medienberichterstattung üblicherweise immer fehlt, ist die »Geschichte« einer Gewalttat. Manchmal heißt es, er oder sie »stellte ihn zur Rede« – den späteren Täter. Mit welchen Worten, wird nicht beachtet. Aber gerade die sind es, die erklären können, weshalb jemand ausrastet. Gerade wenn im Kampf der Worte die Argumente ausgehen, lassen die Wortärmeren die Fäuste sprechen. Oft befinden sich noch Messer drinnen …

Zwischen dem Ausstechen anderer im Konkurrenzkampf um Respekt bis zum Abstechen aus Wut, Hass und Verzweiflung liegen oft nur wenige Worte. Man kann jeden Menschen zum Mörder werden lassen – man muss ihn oder sie nur lange genug demütigen.

Demütigen: das bedeutet runtermachen, klein machen, Respekt verweigern, die Selbstachtung zerstören, den Lebensmut nehmen. Vernichten. Zu »Nichts« machen. Dann ist die Person weg und der ganze Raum gehört einem allein. Man kann sich ungestört wähnen – zumindest wenn man kein waches Gewissen hat.

Psychisch geschieht dies, indem man jemanden ignoriert, ihm oder ihr ohne Erklärung die Kommunikation verweigert, böse Namen gibt oder auf andere Weise Lebenskraft stiehlt. Diese Verhaltensweisen finden sich auch vielfach in Mobbingprozessen, denn in diesen geht es ja auch darum, unliebsamen Personen den Arbeits- und Lebensraum zu nehmen. Steigerungsstufen im Mobbingversuch sind dann Spott oder sogar Delikte wie üble Nachrede oder Verleumdungen, andererseits aber auch konkrete Benachteiligungen. Leider lassen sich viele an und für sich korrekte Menschen von der feindseligen Mobbing-Energie anstecken, und oft schaffen es die Initialmobber sogar, sich selbst als Opfer hinzustellen.

So hatte ich die Gelegenheit, einen Fall von Cybermobbing unter SchülerInnen zu begleiten, bei dem eine Lehrkraft einer für ihren Geschmack wohl zu selbstsicheren Schülerin mit einem einzigen »Nicht Genügend« den Aufstieg in die nächste Klasse verweigern wollte, obwohl das Mädchen sonst nur gute Noten hatte. Als sich deren Mutter gegen die Ungerechtigkeit zur Wehr setzte, inszenierte sich die Lehrkraft vor versammelter Klasse weinend (!) als zu Unrecht Kritisierte und forderte ihre Schülerschaft auf, zu ihr zu halten – zwei Wochen vor Schulschluss. Die Folge waren Gewaltdrohungen gegen die Schülerin – sie brauche gar nicht mehr in die Schule kommen, da würde sie was erleben. Zwar blieb diese daraufhin verängstigt daheim, beeinspruchte aber das »Nicht Genügend«. Es wurde von der Bezirksschulinspektorin bestätigt – ohne dass sie mit der Betroffenen gesprochen und deren Kenntnisse im betreffenden Fach überprüft hätte, rein »auf Grund der Aktenlage«. Die Oberinstanz, das Unterrichtsministerium, hob dann die Negativnote auf – auch nur »auf Grund der Aktenlage«, nämlich der Schularbeiten. Die sprachen nämlich eindeutig für das Mädchen.

In diesem Fall war es nötig und dank der schriftlichen Beweismittel letztendlich auch möglich, einer »abstechwütigen« Lehrkraft Grenzen aufzuzeigen. Denn: gegen Gewalt hilft nur Öffentlichkeit.

Energieraub kann aber auch auf eine »süße« Art geschehen, etwa bei sexueller Ausbeutung. »Der hat sich von seinen Zöglingen ernährt«, heißt es bei Hubert Arnim-Ellissen. »Von dieser Abhängigkeit, in die er sie gebracht hat, hat er sich ernährt. Dort war seine Quelle! Dort hat er die Kraft für sich selber herausgeholt!«18

1920