Cover
Florianne Koechlin (Hg.) | Jenseits der Blattränder – Eine Annäherung an Pflanzen – Mit Beiträgen von Daniel Ammann, Denise Battaglia, Gertrud Fassbind, Bastiaan Frich, Thomas Gröbly, Florianne Koechlin, Martin Ott, Beat Sitter-Liver, Beatrix Sitter-Liver, Patrik Tschudin und Andres Wiemken | Lenos Verlag

Die Herausgeberin

Florianne Koechlin, geboren 1948, ist Biologin und befasst sich mit neuen Erkenntnissen zu Pflanzen und anderen Lebewesen (insbesondere mit der Kommunikation von Pflanzen und ihren Beziehungsnetzen), mit zukunftsfähigen Konzepten in der Landwirtschaft und den dazu nötigen Forschungsstrategien (www.blauen-institut.ch). Sie ist Autorin mehrerer Bücher, im Lenos Verlag publizierte sie Zellgeflüster (2005), PflanzenPalaver (2008) und, zusammen mit Denise Battaglia, Mozart und die List der Hirse (2012). Nebenbei betätigt sie sich in der Malerei (www.floriannekoechlin.ch).

Für ihre wertvolle Mitarbeit und ihre Diskussionsbeiträge danken wir Niklaus Bolliger-Flury, Martin Bossard, Bettina Dyttrich, Max Eichenberger, Eva Gelinsky, Roger Kalbermatten, Sabine Keller, Lorenz Kunz, Peter Kunz und Amadeus Zschunke. Liselotte Portmann vom Restaurant Bioland in Olten danken wir für die wunderbare Bewirtung.

Inhalt

Wie dieses Buch zustande kam

I. Wer ist die Pflanze?

Eine Pflanze ist Viele

Die Pflanze ist Standort

Eine Pflanze ist Kommunikation

Kommunikation oder Signalaustausch?

Die Pflanze ist Beziehung

Gefressen werden zum eigenen Vorteil?

Die Pflanze ist ein soziales Wesen

Die Pflanze ist ein Subjekt

Die Pflanze ist Teil des Absoluten – »Subjekt und Objekt sind nur eines«

Die Pflanze ist Umstülpung

Die Pflanze ist potentiell unsterblich

Wir sind mit der Pflanze verwandt

II. Was leistet das Pflanzengenom?

Pflanzengenome beinhalten Ungeahntes

Pflanzen erinnern sich an vergangene Ereignisse

Wissen vom Nichtwissen über Pflanzen

III. Wovon erzählt uns die Pflanze?

Pflanzen begründen unsere Kultur

»Processes of no return«. Über die zugreifende Naturwissenschaft

Wie Landwirte über Pflanzen denken

»Die Reispflanze war meine Lehrerin«

Schlaraffenland

An den Zeichen erkennt man die Pflanze: Signaturenlehre

Züchtung als »Gespräch«

IV. Was macht die Pflanze mit uns und mit anderen Lebewesen?

Die Pflanze speichert Licht und liefert es an Lebewesen

Pflanzen liefern die stoffliche Grundlage für alles terrestrische Leben

Die Pflanze sorgt für die lebensnotwendige Ordnung

microRNA: Neue Kommunikationsebene zwischen Pflanzen und Menschen?

Wie uns Pflanzen ausserdem helfen

Wie Pflanzen in die Sprache hineinwachsen

V. Pflanzen hören?

Vielleicht hören Pflanzen Mozart-Klänge und Klickgeräusche

Das Gras wachsen hören

VI. Wie verführen Pflanzen uns?

Wo die Pflanze zum Menschen wird

Farben, Duft und Geschmack – die sekundären Pflanzenstoffe

Pflanzen bezirzen den Stadtmenschen – nicht nur in Basel

Schönheit der Pflanzen

Ehrenpreis fürs Lungenkraut

Pflanzen als Kunstpartner

Pflanzen verstehen bedeutet Gegenseitigkeit

VII. Was fliesst dazwischen?

Die Pflanze ist Zwischenraum

Gefangen in einer Weltsicht

Wie Pflanzen uns Menschen domestizieren

Das sich wandelnde Kleid der Mutter Erde

Eine Nutzpflanze wird Unkraut und wieder Nutzpflanze

Unlösbare Verflechtungen von Mensch und Pflanze

VIII. Und unsere Verantwortung?

Gedanken zur Grundlage für die Würde auch der Pflanze

Wege zur Würde

Etwas über Verantwortung für und Nutzung von Pflanzen

Zuspruch der Würde als Regelung der eigenen Praxis

Würde der Pflanze als Grenzbegriff mit ethischen Konsequenzen

Rechte für Pflanzen

Epilog: Grundregeln der Ethik für Pflanzen

Anhang

Pflanzen neu entdecken – Rheinauer Thesen zu Rechten von Pflanzen

Züchtung als »Gespräch«. Rheinauer Thesen zur Ökologischen Pflanzenzüchtung

Anmerkungen

Literatur

Autorinnen und Autoren

Bildnachweis

Wie dieses Buch zustande kam

Was und wer ist die Pflanze? Diese Frage war wegleitend für das vorliegende Buch. Darin geht es um die erstaunlichen Eigenheiten und Fähigkeiten von Pflanzen, darum, wie sie kommunizieren und Beziehungsnetze aufbauen, die sie mit ihrer Umgebung und mit uns verbinden.

Pflanzen gelten vielen Naturwissenschaftlern immer noch als eine Art Bioautomaten mit vorprogrammierten Reflexen. Doch in letzter Zeit wurde so viel entdeckt, dass solche Erklärungsmuster nicht mehr genügen. Eine Pflanze ist mehr. Vieles wissen wir nicht. Der Umgang mit Nichtwissen ist schwierig. Was aber die neuen Erkenntnisse zeigen: Es braucht ein anderes Herangehen an die Pflanze. Bisherige Vorstellungen über sie müssen korrigiert, die neuen Bilder über die Pflanze in unser Denken und in unseren Umgang mit ihr integriert werden. So kann Jenseits der Blattränder auch als Streitschrift wider mechanistische Denkmuster gelesen werden.

Seit über acht Jahren denken wir über das Wesen der Pflanze und ihre Rechte nach. Aus dieser Arbeit entstanden die Rheinauer Thesen I zu Rechten von Pflanzen. Sie wurden am 6. September 2008 am zweiten Fest der Vielfalt und der Sinne »1001 Gemüse & Co.« in Rheinau präsentiert. Im Juni 2011 folgten die Rheinauer Thesen II zur Ökologischen Pflanzenzüchtung. Nun legen wir die Fortsetzung vor.

Bei den Rheinauer Thesen I hatten wir in einem ersten Schritt versucht, uns vorsichtig und von verschiedenen Seiten her der Pflanze anzunähern. Daraus leiteten wir Rechte ab (siehe S. 195–203). Die Rheinauer Thesen II erschienen unter dem Titel Züchtung als »Gespräch«. Rheinauer Thesen zur Ökologischen Pflanzenzüchtung. Sie waren ein Plädoyer für eine Züchtung auf dem Feld, »im Gespräch« mit der Pflanze, denn Züchtung findet heute vorwiegend im Labor statt. Die Rheinauer Thesen II entwickelten sich zu einem Leitbild, das zu einer Art »Verfassung« für das Projekt zur Züchtung von Biosaatgut der Bio Suisse wurde (siehe S. 204–210).

Jenseits der Blattränder ist kein Thesenpapier mehr; es heisst darum auch nicht »Rheinauer Thesen III«. Das Buch besteht aus Fragmenten, es ist kein in sich geschlossenes Werk. Das war von Anfang an so gewollt. Fragmente sind Bruchstücke, Gedankensplitter und tastende Annäherungen. Sie sollen »nur« Ahnungen vermitteln, den Raum öffnen für das grosse Ganze. Unsere Fragmente sind unvollständig, notgedrungen. Sie geben nicht nur wissenschaftliche Erkenntnisse, sondern auch Erfahrungen und Intuitionen wieder. Wir haben den Blick auf das gerichtet, was zwischen den Pflanzen und ihren Partnern passiert. Wir haben insbesondere auch der Wirkung von Pflanzen auf den Menschen nachgespürt – wie sie uns in Form von Lebensmitteln, in der Landwirtschaft oder in der Ästhetik beeinflussen.

Wir wollten Grenzen ausloten, die wir selbst noch nicht kennen, an Orte gelangen, an denen wir mit den Rheinauer Thesen I und II noch nicht waren. Am Schluss hatten wir mehr Fragen als Antworten.

Die Beiträge wurden von den einzelnen Autorinnen und Autoren entworfen und dann in der ganzen Gruppe diskutiert. Alle Texte tragen deshalb eine persönliche Handschrift, zeigen einen jeweils eigenen Schreibstil. Es sind aber die Gruppendiskussionen, die das Wesentliche dieses Buches ausmachen. Sie inspirierten uns zu immer neuen Exkursen und zu immer neuen Verknüpfungen. Darum werden neben den Autorinnen und Autoren auch jene aufgeführt, die mitdiskutierten und uns dabei oft zu neuen Horizonten führten.

Unsere langen und intensiven Diskussionen machten auch deutlich, dass wir uns nicht immer einig darüber waren, wer die Pflanze ist. Wir merkten, dass wir die Pflanze in einigen Bereichen unterschiedlich betrachten und wahrnehmen. Diese Erfahrungen sind geprägt von persönlichen Hintergründen und Wertvorstellungen. Es gab zum Beispiel Diskussionen darüber, ob Formulierungen wie die folgende die Pflanzen vermenschlichen: »Wir stünden schliesslich vor einem Seienden, das nicht fordert, sondern duldet; das nicht von Eigensucht und Abgrenzung bestimmt lebt, sondern aus der Lust des Sichverströmens, gelenkt und gezogen von der Neigung zum Zusammenwirken. (…)« (S. 44f.). Diese Auffassung konnten einige unter uns nicht nachvollziehen. Andere hingegen machten dieselben Einwände gegen die Formulierung: »Pflanzen (…) haben Freunde und Feinde, bilden Allianzen, sie betreiben ›Vetternwirtschaft‹ (…) und verhalten sich abwehrend gegenüber Fremden. (…)« (S. 39). Wir lassen die Differenzen stehen. Sie ermöglichen verschiedene Zugänge zu den Pflanzen, machen verschiedene Türen auf.

Aus dem Ganzen ergeben sich Konsequenzen: Wenn Pflanzen mehr sind als blosse Objekte, wenn sie als vernetzte Subjekte eines grossen Beziehungsgeflechts, von dem auch wir Teil sind, angesehen und erfahren werden, dann stellt sich auch die Frage unserer Beziehungen zu ihnen neu. Welches ist unsere Verantwortung ihnen gegenüber?

Neue Erkenntnisse öffnen auch neue Strategien für eine Landwirtschaft von morgen. Und für einen sorgfältigeren (und bewussteren) Umgang mit Lebensmitteln.

Florianne Koechlin,
März 2014

I.

Wer ist die Pflanze?

Florianne Koechlin

Eine Pflanze ist Viele

Pflanzen sind keine Kreaturen, die allein »dahinvegetieren«. Ganz im Gegenteil. Doch wie sehr sind sie von anderen Lebewesen abhängig? Welche Kooperationen gehen sie zum Beispiel mit Kleinstlebewesen ein?

In ihrem Wurzelstock kreieren Pflanzen eine nährstoffreiche Oase. Sie schwitzen eine Vielzahl von Nährstoffen aus: Zuckerverbindungen, Aminosäuren, organische Säuren, Enzyme, verschiedene Botenstoffe. Damit ernähren sie unzählige, verschiedenartige Lebewesen: Pilze, Bakterien oder Viren. Im Austausch helfen diese der Pflanze, Stickstoff und andere Nährstoffe aus dem Boden zu gewinnen, und schützen sie zudem vor Hitze, Dürre und Krankheitserregern. Die Pflanzen lassen sich die Kooperation mit den Bodenlebewesen etwas kosten: Es gibt unter ihnen solche, die bis zu siebzig Prozent aller selbstproduzierten Zuckerverbindungen an die Mitbewohner im Boden abgeben. Weizen und Gerste investieren zwanzig bis dreissig Prozent in das unterirdische Netzwerk. Man kann also sagen, dass Pflanzen diese Kleinstlebewesen im Wurzelbereich regelrecht füttern.

Wie wichtig dieses Zusammenleben tatsächlich ist, zeigen Versuche von Russell J. Rodriguez1 und seinem Team von der University of Washington in Seattle. Die Forscher untersuchten ein seltenes Gras (Dichanthelium lanuginosum), das bei siebzig Grad Celsius in den heissen Quellen des Yellowstone-Nationalparks wächst. Sie entfernten die Pilze, die im Innern des Grases leben. Das erstaunliche Resultat: Ohne diese Pilze ertrug das Gras die Hitze nicht mehr, es starb sofort ab. Dann isolierten die Forscher die Sporen des Pilzes und sprühten sie auf Weizensamen – Weizen wächst normalerweise nur bis achtunddreissig Grad Celsius. Mit den Pilzsporen gediehen die Weizenpflanzen sogar bei siebzig Grad und verbrauchten nur noch halb so viel Wasser.

Andere Kleinstlebewesen im Boden helfen Pflanzen, salzhaltige Böden zu ertragen. Werden Pilze aus dem Wurzelbereich des salzliebenden Dünengrases Leymus mollis auf Reispflanzen gesprüht, können diese ebenfalls auf salzhaltigen Böden gedeihen. Sie werden sogar fünfmal so gross und brauchen halb so viel Wasser wie normale Reispflanzen. Auch Dürre oder Kälte überleben Pflanzen meistens nur dank der Hilfe ihrer Mitbewohner unter der Erde.2, 3, 4

Viel wissen wir noch nicht über diese unsichtbaren, hochdynamischen Netzsysteme im Wurzelbereich. So sind überhaupt erst zwei Prozent aller Bodenmikroorganismen bekannt. Wie diese erstaunliche Zusammenarbeit zwischen ihnen und den Pflanzen funktioniert, verstehen wir erst in Ansätzen, der Wurzelbereich ist Terra incognita. »Über die Bewegung himmlischer Körper wissen wir mehr als über den Boden unter unseren Füssen«, schrieb Leonardo da Vinci vor rund 500 Jahren. Das hat sich seither kaum geändert.

Eine Pflanze besteht aus einer Gemeinschaft mit Abermillionen Pilzen, Bakterien, Viren und anderen Lebewesen im Wurzelbereich. Die Pflanze ist ein grosses, engvernetztes Ganzes. Man könnte sagen: Eine Pflanze ist Innenraum und Aussenraum. Eine Pflanze ist Viele.

Martin Ott

Die Pflanze ist Standort

Pflanzen, Menschen und Tiere haben Gemeinsamkeiten, mit der neuen Forschung kommen immer mehr zum Vorschein. Und doch gibt es fundamentale Unterschiede. Einer davon ist die innige Verbindung der Pflanze mit ihrem Standort, ein anderer die Omnipotenz5 der einzelnen Zellen. Wir sehen da einen Zusammenhang.

Beim Menschen sind die Zellen stärker voneinander abhängig und auf bestimmte Funktionen getrimmt. Bei der Pflanze bilden die Zellen eher ein »kooperatives Konglomerat«, ähnlich einem Bienenschwarm. Jede Pflanzenzelle – beim Bienenschwarm jede Einzelbiene – ist auch eigenständig ein Lebewesen, aber doch eng verknüpft mit den anderen Zellen, so dass eine ganze Pflanze als ein Organismus funktionieren kann und in der Summe der Eindruck einer eleganten, sinnvollen Gesamtkoordination entsteht.

Ob die Pflanze über ein Bewusstsein verfügt, ist offen. Der Pflanze aber Bewusstseinsmerkmale abzusprechen wäre ein Fehler. Ihr Bewusstsein verwebt sich vielleicht eher und unmittelbarer in Kooperation und Kommunikation mit dem Umkreis, der Jahreszeit, dem Standort. Die Pflanze bewahrt offensichtlich zugleich auf der Zellebene mehr lebendige Regenerationskraft. Dem Tier und dem Menschen sprechen wir mehr »Eigensein« in seinem Bewusstsein zu, dafür fehlt diese Omnipotenz in der Lebendigkeit.

So interagieren Pflanzen offener mit dem Standort, an dem sie leben, sich verankern und wo sie auf einer riesigen gemeinsamen Wurzeloberfläche mit Milliarden von Bodenlebewesen kommunizieren (siehe auch S. 23–25). Im Boden finden sie schliesslich aus den Resten ihres eigenen und anderen Lebens zurückgelassene Huminstoffe6, die zusammen mit der in ständiger Verwitterung sich auflösenden mineralischen Grundlage der Erdoberfläche (Steine, Kies, Sand und so weiter) den fruchtbaren Boden, die Ton-Humus-Komplexe, erst aufbauen und so wieder neues Leben ermöglichen.

Am Standort dienen die Pflanzen zugleich sich und allen anderen Lebewesen. Sie lassen sich weniger auf das Muster der Begrenzung in Aussen und Innen, in Ich und Du ein, vielmehr gehen sie auf allen Ebenen Symbiosen ein, bringen, wenn nötig, auch ihre eigene Substanz mit ein und verzichten vielleicht dafür auf eine innere Differenzierung bis hin zur in sich erlebbaren Bespiegelung der eigenen Identität, lassen diese aber dafür umso mehr mit der Umwelt zusammen entstehen. So prägen sich im Zwiegespräch mit den einmaligen physikalischen und chemischen Eigenschaften jedes individuellen Standortes schliesslich nicht unbedingt »Selbstbewusstseinsindividualitäten« aus, umso mehr aber die Potenz zur Entwicklung von »Standortindividualitäten«.

Die Pflanze und der Standort werden so ein und dasselbe, und es entsteht auf der Erde, wie selbstverständlich überall differenziert, pflanzliche Biodiversität.

Durch die moderne monopolisierte Pflanzenzüchtung werden nun einzelne, zentral gezüchtete Pflanzen auf Millionen von Hektaren Kulturland angepflanzt. Die Pflanzen werden mit Dünger, Pestiziden und Herbiziden davon abgehalten, mit den standortbedingten Diversitäten zu interagieren. Die Biotopbildung dieser Pflanzengesellschaften folgt nicht mehr der einmaligen Standortindividualität, sondern dem Prinzip Verallgemeinerung aller Standorte. Die Welt wird zur theoretisch monotonen Fläche: Die Krümmung und Unterschiedlichkeit der Erdoberfläche wird praktisch aufgehoben, und man fährt von Boston nach Washington, von Genf nach Zürich, von Berlin nach Paris und sieht immer das gleiche Maisfeld.

622 Kilometer lange Wurzeln:
das Wurzelsystem einer vier Monate alten Roggenpflanze

Wurzeloberfläche insgesamt (mit Wurzelhaaren):

639 Quadratmeter

Davon Wurzelhaare: 402 Quadratmeter

Gesamtlänge des Wurzelsystems (ohne Wurzelhaare):

622 Kilometer

Länge der Wurzelhaare insgesamt: 10 620 Kilometer

Wachstum des Wurzelsystems pro Tag (Mittel, ohne Wurzelhaare): 4,99 Kilometer

Wachstum der Wurzelhaare pro Tag: 89 Kilometer7

Florianne Koechlin

Eine Pflanze ist Kommunikation

Pflanzen kommunizieren mit Duftstoffen über und unter dem Boden. Sie können ein grosses Repertoire verschiedenster Duftstoffe herstellen und sich mit vielen, ganz unterschiedlichen Partnern unterhalten.

Ein Beispiel: Wird eine Limabohne von Frassinsekten attackiert, beginnt sie, in den Blattscheiden kleine Nektartropfen zu produzieren. Mit dem süssen Nektar zieht sie Ameisen an, die sich mit allen Angreifern anlegen. Gleichzeitig produziert die Pflanze einen Duftstoff, der ihre Nachbarinnen vor der Gefahr warnt. Diese erkennen das Duftsignal und beginnen ebenfalls, Nektar herzustellen. Etwas später sendet die Limabohne SOS-Duftstoffe aus, um Nützlinge anzulocken. Interessant ist, dass die Limabohne nicht nur weiss, dass sie angegriffen wird, sondern auch von wem. Wird sie von Spinnmilben attackiert, lockt sie mit Duftstoffen Raubmilben an, welche die Spinnmilben vertilgen. Frisst hingegen eine Raupe an ihr, produziert sie einen etwas anderen Duftstoffcocktail, um Schlupfwespen anzuziehen, welche die Raupen parasitieren. Die Pflanze schmeckt am Speichel, wer sie gerade attackiert, und holt sich dann den geeigneten »Bodyguard« – diese raffinierten Kommunikationskünste der Limabohne untersucht eine Gruppe um Wilhelm Boland an der Friedrich-Schiller-Universität Jena.8

Bis heute konnten bei 900 Pflanzenfamilien rund 2000 »Duftstoffvokabeln« identifiziert werden.9 Es gibt offenbar einen Grundstock von fünf bis zehn chemischen Duftstoffsignalen, der allen Pflanzen gemein ist. Jede Pflanze kann zusätzlich eine grosse Zahl verschiedener Duftstoffmixturen herstellen. Es scheint eine pflanzliche Grundsprache zu geben, und dazu kommen viele »Dialekte«, die für jede Pflanzenart charakteristisch sind. Die »Dialekte« ergeben sich aus der leicht unterschiedlichen Rezeptur der chemischen Duftmoleküle.

Auch unterirdisch kommunizieren Pflanzen rege miteinander: mit Hilfe von in Wasser gelösten Signalstoffen oder auch über gemeinsame Netze (siehe auch S. 30–32). Eine kleine Haarwurzel einer Maispflanze zum Beispiel kommuniziert unter der Erde mit Haarwurzeln derselben Pflanze.10 Sie »redet« auch mit Haarwurzeln der Nachbarinnen und »unterhält« sich mit Bakterien, Pilzen und Bodeninsekten. Für jeden dieser Ansprechpartner gibt es andere Regeln, oft auch andere Zeichen. Die Haarwurzel verständigt sich parallel mit vielen unterschiedlichen Partnern gleichzeitig.

Ausser mit Duftstoffen kommuniziert eine Pflanze auch mit anderen »Zeichen« (Signalen), zum Beispiel mittels elektrischer Impulse11 oder – wie neueste Forschungsergebnisse vermuten lassen – vielleicht sogar durch Geräusche (siehe auch S. 117f.).

Man kann also sagen: Eine Pflanze ist Kommunikation. Sie tauscht sich immer und überall mit unendlich vielen unterschiedlichen Partnern und Partnerinnen aus. Es ist für uns kaum vorstellbar, wie eine Pflanze (ohne Gehirn und ohne Nerven) so rege kommunizieren, Fragen stellen, auf Signale gezielt antworten und Entscheidungen treffen kann. Tatsache ist aber, dass Pflanzen zu hochdifferenzierten Auseinandersetzungen mit ihren Partnern und der Umwelt fähig sind.12 Das bedingt, dass die Beteiligten sich einen Grundstock an Vokabeln (Zeichen, Signale) teilen, die alle anzuwenden und zu deuten wissen. Sie teilen auch einen Grundstock an Regeln, mit deren Hilfe sie die Vokabeln entziffern können.

Pflanzen sind wahre Kommunikationsmeisterinnen. Das erklärt vielleicht auch, weshalb sie in der Evolution derart erfolgreich waren und sich immer wieder schnell an drastische Umweltveränderungen anpassen konnten. Kein anderes Lebewesen war so erfolgreich: Pflanzen machen etwa neunzig Prozent der weltweiten Biomasse aus.

Wenn wir also draussen spazieren gehen, so ist da ein ständiges Gemurmel, immer und überall: ein Gemurmel aus Duftstoffen. Nur verstehen können wir es nicht.

Ein Apfelbaum lockt Kohlmeisen an

Einige Pflanzen locken mit Duftstoffen auch Vögel an, um sich vor Schädlingsbefall zu schützen: Wird ein Apfelbaum von gefrässigen Raupen des Kleinen Frostspanners (Operophthera brumata L.) heimgesucht, lockt er mit einem Duftstoffcocktail Kohlmeisen an. Diese riechen das SOS-Signal des befallenen Apfelbaums und finden so gezielt zu einer reichhaltigen Raupenbeute.13

Florianne Koechlin

Kommunikation oder Signalaustausch?

Viele Wissenschaftler und Forscherinnen sind heute noch der Auffassung, dass Pflanzen nicht wirklich »kommunizieren«, sondern bloss Signale austauschen und reflexartig auf eintreffende Signale reagieren. Pflanzen sind für sie im Wesentlichen eine Art Automat, also ein programmiertes System, bei dem die Antworten schon eincodiert sind. Immer mehr14 halten es aber für wahrscheinlich, dass Pflanzen wirklich, das heisst differenziert kommunizieren und nicht bloss Signale nach dem Muster »Aktion – Reaktion« austauschen.

Das lässt sich anhand der Tomate aufzeigen: Wenn sie von Raupen angegriffen wird, produziert sie neben Abwehrstoffen auch Duftsignale, mit denen sie die Nachbarinnen vor der Gefahr warnt. Das Duftsignal besteht aus Methyljasmonat15, einem auch in Parfums oft verwendeten Molekül. Die Nachbarpflanze der von Raupen befallenen Tomate lebt immer inmitten einer Duftstoffwolke aus Tausenden verschiedenen Duftmolekülen. Wenn das Warnsignal Methyljasmonat neu dazukommt, muss die Tomatenpflanze diesen speziellen Duft im grossen Duftgemisch erst erkennen und von anderen unterscheiden können. Sie muss sodann interpretieren können, dass die »Duftvokabel« in dieser Situation Gefahr bedeutet. In anderen Zusammenhängen, zu anderen Zeiten hat Methyljasmonat andere Bedeutungen. Erst jetzt reagiert sie darauf und beginnt, Stoffe zu produzieren, die ihre Blätter für die Raupen ungeniessbar machen. Dieses komplexe Verhalten geht weit über einen Signalaustausch hinaus, es erfüllt die Voraussetzungen echter Kommunikation.16

Dank ihren Kommunikationsmöglichkeiten können Pflanzen auch mit neuen, nicht berechenbaren Situationen umgehen.

Pflanzen warnen einander vor Dürre

Omer Falik und sein Team von der Ben-Gurion-Universität in Be’er Scheva entzogen einer Reihe von Erbsenpflanzen das Wasser. Nach kurzer Zeit schlossen die Pflanzen ihre Spaltöffnungen in den Blättern, so dass weniger Wasser verdunsten konnte. Die Nachbarreihe erhielt genug Wasser. Doch auch diese Pflanzen schlossen zeitgleich mit den gestressten Erbsen ihre Spaltöffnungen. Die gestressten Pflanzen hatten ihre Nachbarn unterirdisch mit Signalstoffen gewarnt. So konnten sich diese quasi vorausschauend auf die Dürre vorbereiten, bevor diese überhaupt eintrat.17

Die cleveren Strategien des Kojotentabaks

Die Samen des Kojotentabaks (Nicotiana attenuata) im Grossen Becken im Westen der USA überdauern jahrzehntelang im Wüstenboden, um dann nach einem Buschfeuer schnell zu keimen. Der Geruch von Rauch ist für sie das Signal zur Keimung. Wenn der Kojotentabak dann wächst, gibt es kaum andere Pflanzen in der Umgebung, was ein grosser Vorteil ist. Doch sehr schnell fallen auch viele Schadinsekten über ihn her: Raupen, Käfer, Heuschrecken. Wie können die Pflanzen trotzdem überleben? Das untersuchte eine Gruppe um Ian Baldwin von der Friedrich-Schiller-Universität Jena. Die Forscher beobachteten, dass die Frassfeinde nach drei Stunden plötzlich aufhörten und weiterzogen. Die Forscher froren angeknabberte Blätter ein und schickten sie nach Jena zur Untersuchung. Dort wurden sie pulverisiert, gereinigt und anschliessend chromatographisch untersucht: Die Tabakblätter enthielten eine erstaunlich hohe Konzentration an Nikotin, bis zu zehn Milligramm pro Blatt, also etwa so viel, wie in einer Zigarette steckt (bei deren Verzehr einem Menschen sofort übel würde). Der Kojotentabak, fanden die Forscher heraus, erkennt seine Frassfeinde an ihrem Speichel und vertreibt sie, indem er sofort eine grosse Menge an Nikotin produziert.

Doch es gibt eine Ausnahme: Dem Tabakschwärmer (Manduca sexta) kann Nikotin nichts anhaben. Ihn verbindet mit dem Kojotentabak eine enge Symbiose. Das Insekt sucht bei Dämmerung Tabakpflanzen auf, um Nektar zu trinken. Dabei bestäubt es die Pflanze. Wenig später klebt es seine kleinen Eier an die Blattunterseite. Daraus schlüpfen bald Raupen, die mit einem speziellen Enzym Nikotin abbauen können. Die Raupen fressen jeden Tag mehr Blattgewebe, als sie selber wiegen. Der Kojotentabak wiederum schmeckt den Tabakschwärmer an dessen Speichel und drosselt seine Nikotinproduktion, sie wäre reine Energieverschwendung. Stattdessen sendet er spezielle Duftstoffe als »SOS-Signale« aus, die dunkle Raubwanzen anlocken, welche wiederum die gefrässigen Tabakschwärmerraupen vertilgen. Das muss schnell gehen, denn wenn die Raupen grösser als ein Zentimeter sind, sind sie für die Raubwanzen zu gross, sie fressen dann weiter. Aber offenbar hat der Kojotentabak auch dagegen eine Strategie entwickelt, denn plötzlich verlassen die Raupen ihre Pflanzenopfer und fliehen auf noch unversehrte Tabakpflanzen. Wie die Tabakpflanze es schafft, die Raupe zu vertreiben, wissen die Forscher noch nicht. Klar ist, dass die Initiative von der Tabakpflanze ausgeht und nicht von der Raupe.

Ein Problem bleibt: Der Kojotentabak muss einen anderen Bestäuber suchen. Da verfolgen die angefressenen Pflanzen eine aussergewöhnliche Strategie: Statt wie üblich in der Dämmerung blühen sie nun am Tage. Das hat ihnen zu einem neuen Bestäuber verholfen: Der kleine Kolibri trinkt mit seinem Schnabel aus dem weissen Blütenkelch und übernimmt auf diese Weise die Bestäubung.18

Florianne Koechlin

Die Pflanze ist Beziehung

Ein Wald besteht oberirdisch gesehen aus einzelnen Bäumen – Buchen, Eichen, Fichten oder Erlen. Unterirdisch ist der Wald zu einem einzigen, hochdynamischen und komplexen Ganzen verbunden. Dieses Netzsystem aus Baumwurzeln und Pilzfäden nennt man Mykorrhiza, was auf Griechisch Pilzwurzel heisst. Alle Waldbäume und viele Pilze, zu denen auch bekannte Speisepilze wie Steinpilze, Pfifferlinge oder Röhrlinge gehören, sind Teil dessen. Das Netz von Pilzfäden ist viel grösser als die für uns sichtbaren Pilze über dem Boden. In der wissenschaftlichen Literatur wird das unterirdische Netzwerk aus Pflanzenwurzeln und Pilzfäden WWW genannt: Wood Wide Web.19

Die meisten Krautpflanzen, aber auch Sträucher und Bäume tropischer Wälder bilden ebenfalls unterirdische Mykorrhizanetze mit einer anderen, stammesgeschichtlich sehr ursprünglichen Gruppe von Pilzen, die nicht über dem Boden erscheinen. Bei den Mykorrhizen profitieren im Allgemeinen beide Symbiosepartner, die Pflanze und der Pilz. Die Pilzfäden führen den Pflanzen Wasser und Nährstoffe zu. Die Pflanzen beliefern die Pilze mit Kohlenhydraten, wie zum Beispiel Zucker.

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