Für Tess.
Danke für die cleveren Teile und ganz besonders für die Teile zwischen den cleveren Teilen.
PROLOG
GRACE
Dies ist die Geschichte eines Jungen, der ein Wolf war, und eines Mädchens, das zu einem wurde.
Vor wenigen Monaten noch war Sam die Sagengestalt. Er war derjenige mit der unheilbaren Krankheit. Es war sein Abschied, der am meisten schmerzte. Sein Körper war ein Rätsel – zu fremd, zu fantastisch und zu entsetzlich, um es zu verstehen.
Aber jetzt ist Frühling. Es wird wärmer und die übrigen Wölfe tauschen ihre Pelze gegen ihre menschliche Gestalt. Sam bleibt Sam und Cole bleibt Cole und ich bin die Einzige, die nicht fest in ihrer Haut steckt.
Letztes Jahr hätte ich genau das gewollt. Damals gab es viele Gründe, warum ich mich danach sehnte, zu dem Wolfsrudel zu gehören, das im Wald hinter unserem Haus lebt. Aber jetzt beobachte nicht mehr ich die Wölfe und warte darauf, dass einer von ihnen zu mir kommt. Heute sind sie es, die mich beobachten und auf mich warten.
Ihre Augen, Menschenaugen in Wolfsschädeln, erinnern mich an Wasser: das klare Blau von Wasser, in dem sich der Frühlingshimmel spiegelt, das Braun eines wild schäumenden Baches nach dem Regen, das Grün des Sees im Sommer während der Algenblüte, das Grau eines schneeerstickten Flusses. Früher waren es nur Sams gelbe Augen, die mich aus dem Dickicht der regendurchnässten Birken beobachteten, heute lasten die Blicke des ganzen Rudels auf mir – schwer wie Dinge, die wir wissen und über die wir nicht sprechen.
Die Wölfe im Wald sind Fremde für mich, selbst jetzt, da ich das Geheimnis des Rudels kenne. Sie sind schön, faszinierend, aber sie bleiben Fremde. Eine unbekannte menschliche Vergangenheit verbirgt sich hinter jedem dieser Augenpaare. Sam ist der Einzige, den ich je wirklich kannte, und jetzt ist er bei mir. Das ist alles, was ich will. Meine Hand in seiner, seine Wange, die an meinem Hals ruht.
Aber mein Körper lässt mich im Stich. Nun werde ich zur Fremden, für alle anderen ungewiss.
Dies ist eine Geschichte über Liebe. Ich wusste nicht, dass es so viele Arten von Liebe gibt, und auch nicht, was Menschen aus Liebe alles tun.
Ich wusste nicht, dass es so viele Arten des Abschieds gibt.
KAPITEL 1
SAM
Mercy Falls, Minnesota, sah vollkommen anders aus, wenn man wusste, dass man für den Rest seines Lebens ein Mensch sein würde. Vorher hatte dieser Ort für mich nur in der Hitze des Sommers existiert, mit seinen Gehwegen aus Beton, den Blättern, die sich der Sonne entgegenstreckten, und über allem der Geruch nach warmem Asphalt und Lastwagenabgasen.
Doch nun, als sich an den kahlen Zweigen rare Knospen zeigten, wusste ich, dass ich hierhergehörte.
Die Monate, seit mein Wolfspelz verschwunden war, hatte ich damit verbracht zu lernen, wieder ein ganz normaler Junge zu sein. Ich arbeitete wieder im Crooked Shelf, umgeben von neuen Wörtern und dem Rascheln von Buchseiten. Meinen geerbten Geländewagen voller Gerüche, die mich an Beck und mein altes Leben mit den Wölfen erinnerten, hatte ich gegen einen VW Golf eingetauscht, gerade groß genug für mich und Grace und meine Gitarre. Ich versuchte, nicht jedes Mal zusammenzuzucken, wenn sich irgendwo eine Tür öffnete und ein kalter Luftzug hereindrang. Ich versuchte, mir bewusst zu machen, dass ich nicht mehr allein war. Nachts, wenn Grace und ich uns in ihr Zimmer geschlichen hatten, schmiegte ich mich an sie und atmete den Geruch meines neuen Lebens ein, bis mein Herz im Gleichklang mit ihrem schlug.
Und wenn der Wind das schwermütige Heulen der Wölfe zu uns herübertrug und mir die Brust eng wurde, tröstete mich der Gedanke an ein ganz normales Leben. Ich freute mich auf die vielen Weihnachtsfeste mit diesem Mädchen in meinem Arm und darauf, alt zu werden in dieser Haut, die mir noch so fremd war. Ich hatte alles. Dessen war ich mir bewusst.
Gift of time in me enclosed
the future suddenly exposed
Ich hatte mir angewöhnt, meine Gitarre mit in den Buchladen zu nehmen. Das Geschäft lief nicht gut und so vergingen Stunden, ohne dass jemand hörte, wie ich den Bücherregalen an den Wänden meine Lieder vorsang. Das kleine Notizbuch, das Grace mir gekauft hatte, füllte sich nach und nach mit Worten. Jedes neue Datum, das ich an den Kopf einer Seite schreiben konnte, war wie ein Triumph über den schwindenden Winter.
Heute war ein Tag wie schon viele andere zuvor: nasse, morgendlich leere Straßen, die auf die ersten Kunden warteten. Ich sah überrascht auf, als, nicht lange nachdem ich den Laden geöffnet hatte, die Tür aufging und jemand hereinkam. Ich lehnte meine Gitarre hinter meinem Hocker an die Wand.
»Hi, Sam«, sagte Isabel. Es war seltsam, sie allein zu sehen, ohne dass Grace dabei war, und noch seltsamer, sie hier im Buchladen zu sehen, in der Behaglichkeit meiner Höhle aus Taschenbüchern. Der Tod ihres Bruders im letzten Winter hatte ihre Stimme härter, ihren Blick kälter werden lassen seit damals, als ich ihr zum ersten Mal begegnet war. Sie sah mich an – ein kritischer, blasierter Blick, unter dem ich mir naiv wie ein Kind vorkam.
»Wie läuft’s?«, fragte sie, setzte sich auf einen leeren Hocker neben mir und schlug die langen Beine übereinander. Grace hätte ihre zwischen die Stuhlbeine geklemmt. Isabel entdeckte meinen Teebecher und nahm einen Schluck, dann stieß sie einen tiefen Seufzer aus.
Ich betrachtete meinen enteigneten Tee. »Wie immer. Neue Frisur?«
Ihre perfekten blonden Locken waren einem rabiaten Kurzhaarschnitt gewichen, der sie wunderschön und gebrochen aussehen ließ.
Isabel hob eine Augenbraue. »Ich hätte nicht gedacht, dass du ein Freund des Small Talks bist, Sam«, sagte sie.
»Bin ich auch nicht«, erwiderte ich und schob meinen Teebecher nun endgültig zu ihr rüber. Es hätte sich irgendwie zu bedeutungsvoll angefühlt, daraus zu trinken, nachdem sie es getan hatte. Dann fügte ich hinzu: »Sonst hätte ich gefragt: ›Hey, müsstest du nicht in der Schule sein?‹«
»Touché«, sagte Isabel und nahm den Becher, als wäre es seit jeher ihrer gewesen. Lässig und gleichzeitig elegant lümmelte sie auf ihrem Hocker. Ich kauerte auf meinem so gekrümmt wie ein Geier. Die Wanduhr tickte Sekunde um Sekunde herunter. Draußen, tief über der Straße, hingen dicke weiße Wolken, die noch immer nach Winter aussahen. Ich beobachtete, wie ein Regentropfen vor dem Fenster niederfiel und dann, zu Eis erstarrt, auf dem Gehsteig landete. Meine Gedanken schweiften von meiner abgenutzten Gitarre zu dem Mandelstam-Band, der vor mir auf der Ladentheke lag. (»Man gab mir einen Körper – was fang ich mit ihm an, mit diesem einen, der mein ist so ganz?«) Schließlich beugte ich mich vor und drückte auf die »Play«-Taste der Stereoanlage unter der Theke und über uns erklang wieder Musik.
»In der Nähe unseres Hauses treiben sich Wölfe rum«, sagte Isabel. Sie ließ den Tee im Becher kreisen. »Das Zeug schmeckt wie Heu.«
»Ist aber gesund«, erwiderte ich. Plötzlich wünschte ich, sie hätte mir nicht meinen Tee geklaut; er war für mich wie ein Rettungsanker in diesem kalten Wetter. Zwar brauchte ich keinen mehr, aber mit dem warmen Becher in der Hand fühlte ich mich einfach sicherer in meiner menschlichen Haut. »Wie nah bei eurem Haus?«
Sie zuckte mit den Schultern. »Ich kann sie vom zweiten Stock aus im Wald sehen. Offensichtlich verfügen sie über keinerlei natürlichen Schutzinstinkt, sonst würden sie meinem Vater aus dem Weg gehen. Der ist ja nun bekanntlich nicht ihr größter Fan.« Ihr Blick wanderte zu der unregelmäßigen Narbe an meinem Hals.
»Was du nicht sagst«, entgegnete ich. Isabel selbst hatte auch nicht gerade Grund, ein Fan von uns zu sein. »Falls dir einer von ihnen als Mensch über den Weg laufen sollte, sag mir Bescheid, ja? Und zwar bevor dein Dad ihn ausgestopft in seiner Menagerie aufgestellt hat, okay?« Um meinen Worten ein bisschen die Schärfe zu nehmen, sprach ich »Menagerie« übertrieben französisch aus.
Isabel warf mir einen so finsteren Blick zu, dass es mich nicht gewundert hätte, wenn ich zu Stein erstarrt wäre. »Wo wir gerade von Menagerien sprechen«, gab sie zurück, »wohnst du jetzt ganz allein in diesem riesigen Haus?«
Nein, ich wohnte nicht dort. Ein Teil von mir wusste zwar, dass es nun an mir gewesen wäre, Becks Platz einzunehmen und die Rudelmitglieder zu empfangen, wenn sie nach dem Winter wieder ihre menschliche Gestalt annahmen; es wäre an mir gewesen, nach den vier neuen Wölfen Ausschau zu halten, die sich bald zurückverwandeln würden. Doch ein anderer Teil von mir hasste die Vorstellung, in diesem Haus herumzugeistern, ohne die geringste Hoffnung, Beck jemals wiederzusehen.
Außerdem war das nicht mein Zuhause. Mein Zuhause war Grace.
»Ja«, beantwortete ich Isabels Frage.
»Lügner«, sagte sie mit einem wissenden Lächeln. »Grace ist tausendmal besser im Lügen als du. Und jetzt sag mir mal, wo ihr hier die Medizinbücher habt. Guck nicht so überrascht – ich bin bestimmt nicht zu meinem Vergnügen hier.«
»Das hätte ich auch nicht erwartet«, entgegnete ich und deutete in eine Ecke des Ladens. »Aber mir ist so schnell einfach nichts eingefallen, was du hier wollen könntest.«
Isabel ließ sich von ihrem Hocker gleiten und ging in die Richtung, in die ich gedeutet hatte. »Ich bin hier, weil Wikipedia mich mal wieder im Stich gelassen hat.«
»Man könnte ein ganzes Buch darüber schreiben, was man im Internet nicht findet«, sagte ich und das Atmen fiel mir wieder leichter, jetzt, nachdem Isabel aufgestanden war. Ich nahm eine Rechnungskopie und fing an, sie zu einem Papiervogel zu falten.
»Du musst es ja wissen«, erwiderte Isabel. »Schließlich warst du mal das Märchenwesen.«
Ich zog eine Grimasse und faltete weiter meinen Vogel. Der Strichcode der Rechnung zeichnete ein gleichmäßiges Muster auf einen der Flügel, wodurch der andere zu groß wirkte. Ich nahm einen Stift und wollte auch den zweiten Flügel mit Streifen versehen, damit der Vogel perfekt war, überlegte es mir dann aber anders. »Wonach suchst du eigentlich? Richtige medizinische Fachliteratur haben wir nicht viel. Nur so Ganzheits- und Selbsthilfekram.«
Isabel, die mittlerweile vor dem Regal kniete, meinte: »Keine Ahnung. Das weiß ich erst, wenn ich’s sehe. Wie heißt denn dieser Wälzer noch mal? Wo alles drinsteht, was bei einem Menschen so schieflaufen kann?«
»Candide«, sagte ich, doch es war niemand im Laden, der meinen Witz verstanden hätte, darum schlug ich nach einer Weile vor: »Meinst du vielleicht den Pschyrembel?«
»Ja, genau.«
»Den haben wir nicht da. Aber ich kann ihn dir bestellen.« Ich musste gar nicht erst im Bestand nachsehen, um zu wissen, dass ich recht hatte. »Neu ist der nicht ganz billig, aber ich kann versuchen, ihn irgendwo gebraucht zu finden.« Ich zog meinem Papierkranich einen Faden durch den Rücken und kletterte auf die Theke, um ihn an die Decke zu hängen. »Aber ist das nicht vielleicht ein bisschen übertrieben? Ich meine, es sei denn, du hast beschlossen, Ärztin zu werden.«
»Ich hab drüber nachgedacht«, erwiderte Isabel so spitz, dass mir erst klar wurde, was sie mir da gerade anvertraut hatte, als mit einem Pling die Ladentür aufschwang und ein weiterer Kunde hereinkam.
»Ich bin in einer Sekunde bei Ihnen«, rief ich über die Schulter und stellte mich auf die Zehenspitzen, um den Faden an der Lampenfassung unter der Decke zu befestigen. »Sagen Sie einfach Bescheid, wenn Sie Hilfe brauchen.«
Es herrschte nur ungefähr einen Herzschlag lang Stille, doch Isabels Schweigen war so vielsagend, dass es mir ins Gesicht zu schreien schien. Zögernd ließ ich die Arme sinken.
»Nur keine Eile«, sagte der neue Kunde ausnehmend höflich. »Ich warte so lange.«
Beim Klang seiner Stimme verging mir das zuvorkommende Lächeln und ich drehte mich um. Vor dem Tresen stand ein Polizist und sah zu mir hoch. Von meinem Aussichtspunkt konnte ich die volle Polizistenausstattung an seinem Gürtel sehen: Pistole, Funkgerät, Pfefferspray, Handschellen, Handy.
Wenn du Geheimnisse hast, auch wenn es keine von der illegalen Sorte sind, kann es dich ganz schön aus der Bahn werfen, wenn plötzlich ein Polizist an deinem Arbeitsplatz auftaucht.
Langsam kletterte ich vom Tresen und sagte mit einer halbherzigen Geste in Richtung meines Papiervogels: »Ist sowieso nicht so gut geworden. Kann ich … Ihnen irgendwie weiterhelfen?« Ich zögerte bei dieser Frage, denn ich wusste nur zu gut, dass er nicht hier war, um mit mir über Bücher zu reden. Das Herz schlug mir bis zum Hals, schnell und heftig. Isabel war nirgends mehr zu sehen, der Laden wirkte verlassen.
»Wenn Sie im Augenblick nicht zu viel zu tun haben, würde ich Sie gerne kurz sprechen«, informierte der Polizist mich höflich. »Sie sind doch Samuel Roth, oder?«
Ich nickte.
»Ich bin Officer Koenig«, fuhr er fort. »Ich ermittle im Fall Olivia Marx.«
Olivia. Mein Magen zog sich zusammen. Olivia, eine von Grace’ engsten Freundinnen, war letztes Jahr gebissen worden und hatte die vergangenen paar Monate als Wölfin im Boundary Wood verbracht. Ihre Familie dachte noch immer, sie sei von zu Hause weggelaufen.
Warum war bloß Grace nicht hier? Wenn Lügen eine olympische Disziplin gewesen wäre, hätte Grace alle Rekorde gebrochen. Für jemanden, der in der Schule kreatives Schreiben hasste, war sie eine sagenhafte Geschichtenerzählerin.
»Oh«, sagte ich. »Olivia.«
Es machte mich nervös, dass dieser Polizist hier war und mir Fragen stellte. Was mich aber seltsamerweise noch viel nervöser machte, war die Tatsache, dass Isabel, die ja die Wahrheit kannte, uns zuhörte. Ich konnte sie beinahe vor mir sehen, wie sie hinter einem der Regale kauerte und voller Verachtung eine Augenbraue hochzog, wenn mir eine schlechte Lüge über die ungeübten Lippen holperte.
»Sie kannten sie, ist das korrekt?« Der Officer blickte mich freundlich an, aber wie freundlich konnte jemand schon sein, der eine Frage mit »ist das korrekt« beendete?
»Nur flüchtig«, antwortete ich. »Ich hab sie ein paarmal in der Stadt getroffen. Aber ich gehe nicht auf ihre Schule.«
»Auf welche Schule gehen Sie denn?« Auch diese Frage stellte Officer Koenig in freundlichem Plauderton. Ich versuchte mir einzureden, dass seine Fragen in meinen Ohren nur deshalb argwöhnisch klangen, weil ich ja tatsächlich etwas zu verbergen hatte.
»Ich wurde zu Hause unterrichtet.«
»Ach, meine Schwester auch«, sagte Koenig. »Hat meine Mutter in den Wahnsinn getrieben. Aber Grace Brisbane kennen Sie, ist das korrekt?«
Schon wieder dieses »ist das korrekt«. Ob er wohl immer mit den Fragen anfing, deren Antworten er sowieso schon kannte? Wieder musste ich an Isabel denken, die reglos irgendwo stand und lauschte.
»Ja«, erwiderte ich. »Sie ist meine Freundin.«
Das war ein Detail, das ihm vermutlich neu war und ich ihm auch gar nicht hätte verraten müssen. Aber aus irgendeinem Grund wollte ich, dass Isabel es hörte.
Ich war überrascht, als Koenig anfing zu lächeln. »Ach«, sagte er.
Sein Lächeln wirkte echt, aber die Anspannung in meinen Schultern ließ nicht nach. Ich überlegte, ob er irgendein Spielchen mit mir trieb.
»Grace und Olivia waren ja ziemlich gut befreundet«, redete Koenig weiter. »Können Sie mir sagen, wann Sie Olivia zum letzten Mal gesehen haben? Ich muss nicht den exakten Tag wissen, aber je genauer Sie sich erinnern, desto besser.«
Er hatte jetzt ein kleines blaues Notizbuch gezückt und einen Kugelschreiber in der Hand.
»Ähm …« Ich überlegte. Ich hatte Olivia gerade vor ein paar Wochen noch gesehen, ihr helles Fell war mit Schnee bestäubt gewesen, aber das sollte ich Officer Koenig wohl besser nicht erzählen. »Ich hab sie in der Stadt gesehen. Hier, um genau zu sein. Vor dem Laden. Grace und ich waren ein bisschen bummeln und Olivia war mit ihrem Bruder unterwegs. Aber das muss schon Monate her sein. November, Oktober oder so. Kurz bevor sie verschwunden ist.«
»Glauben Sie, dass Grace sie in letzter Zeit gesehen hat?«
Ich versuchte, seinem Blick standzuhalten. »Ich bin mir ziemlich sicher, dass Grace sie an dem Tag auch zum letzten Mal gesehen hat.«
»Es ist nicht leicht für einen Teenager, sich allein durchzuschlagen, wissen Sie«, sagte Koenig und diesmal hatte ich das sichere Gefühl, dass er alles über mich wusste und dass seine Worte nur für mich bestimmt waren, der ich allein ohne Beck zurechtkommen musste. »Ausreißen ist nicht so leicht, wie es sich anhört. Jugendliche laufen aus den verschiedensten Gründen von zu Hause weg und aus dem, was ich von Olivias Lehrern und ihrer Familie gehört habe, würde ich schließen, dass in ihrem Fall vielleicht Depressionen eine Rolle spielen. Oft laufen Jugendliche nur weg, weil sie einfach mal rausmüssen. Ohne zu wissen, wie man alleine klarkommt in der Welt. Darum flüchten viele nur ein paar Häuser weiter. Manchmal –«
Ich unterbrach ihn, bevor er weitersprechen konnte. »Officer … Koenig? Ich weiß, worauf Sie hinauswollen, aber Olivia ist nicht bei Grace. Grace schmuggelt kein Essen für sie aus dem Haus oder kümmert sich sonst irgendwie um sie. Ich wünschte mir für Olivia, die Antwort wäre so einfach. Genauso wie für Grace. Ich würde Ihnen wirklich gern sagen, dass ich weiß, wo Olivia ist. Aber wir fragen uns genauso wie Sie, wann sie wohl zurückkommt.«
Ich überlegte kurz, ob Grace’ beste Lügen vielleicht genau so funktionierten – indem sie die Geschichte einfach so hinbog, dass sie sie selbst glauben konnte.
»Sie verstehen sicherlich, dass ich trotzdem fragen muss«, erklärte der Officer.
»Ja, ich weiß.«
»Tja, dann vielen Dank, dass Sie sich die Zeit genommen haben. Und falls Sie etwas hören, lassen Sie es mich wissen, ja?« Koenig wollte sich gerade umdrehen, zögerte dann aber. »Was ist mit dem Wald?«
Ich war wie erstarrt. Ich war ein Wolf, der sich reglos zwischen den Bäumen verbarg und hoffte, nicht entdeckt zu werden.
»Wie bitte?«
»Olivias Familie sagte, dass sie oft die Wölfe im Wald fotografiert hat und dass Grace sich ebenfalls für sie interessiert. Trifft das auf Sie auch zu?«
Ich konnte nur wortlos nicken.
»Könnten Sie sich vorstellen, dass sie irgendwo da draußen ist und nicht in einer anderen Stadt?«
Panik krallte sich in mein Bewusstsein bei dem Gedanken daran, wie die Polizei und Olivias Familie den Wald Hektar für Hektar durchkämmten, das Unterholz und die kleine Hütte des Rudels nach menschlichen Spuren absuchten. Und vermutlich welche fanden. Ich versuchte, meine Stimme locker klingen zu lassen. »Ich hatte eigentlich nie das Gefühl, dass Olivia der Campingtyp war. Das kann ich mir wirklich nicht vorstellen.«
Koenig nickte vor sich hin. »Na ja, danke noch mal«, sagte er.
»Keine Ursache«, winkte ich ab. »Und viel Glück.«
Die Tür fiel hinter ihm zu, und sobald ich sah, wie sein Streifenwagen aus der Parkbucht fuhr, ließ ich die Ellbogen auf die Theke sinken und vergrub meinen Kopf in den Händen. Mann.
»Gar nicht schlecht, du Wunderknabe«, sagte Isabel, die plötzlich wieder hinter dem Regal mit den Sachbüchern auftauchte. »Du hast fast überhaupt nicht psychotisch geklungen.«
Ich antwortete nicht. Alle möglichen Fragen, die der Polizist noch hätte stellen können, rasten mir durch den Kopf. Ich war fast noch nervöser als vorhin, als er hier gewesen war. Er hätte fragen können, wo Beck sei. Oder ob ich von den drei vermissten Jugendlichen in Kanada gehört hätte. Oder ob ich irgendetwas über den Tod von Isabel Culpepers Bruder wisse.
»Was hast du denn jetzt wieder?«, wollte Isabel wissen, die auf einmal vor mir stand. Sie knallte einen Stapel Bücher auf den Tresen und legte ihre Kreditkarte obendrauf. »Du hast das doch total locker durchgezogen. Das ist alles nur Routine. Der verdächtigt niemanden. Mensch, deine Hände zittern ja.«
»Ich würde echt einen ziemlich armseligen Verbrecher abgeben«, stöhnte ich – doch das war nicht der Grund, warum mir die Hände zitterten. Wenn Grace hier gewesen wäre, hätte ich ihr die Wahrheit gesagt: dass ich mit keinem Polizisten mehr gesprochen hatte, seit meine Eltern ins Gefängnis gekommen waren, weil sie mir die Pulsadern aufgeschnitten hatten. Officer Koenig nur zu sehen, hatte tausend Dinge in mir wieder hochkommen lassen, an die ich seit Jahren nicht mehr gedacht hatte.
Isabels Stimme triefte vor Geringschätzung. »Na, dann ist doch alles in Ordnung. Du hast ja schließlich auch nichts verbrochen. Und jetzt krieg dich wieder ein und mach deinen Bücherwurmjob. Ich brauche eine Quittung.«
Ich tippte alles in die Kasse ein und packte die Bücher in eine Tüte. Dabei sah ich immer wieder auf die leere Straße hinaus. In meinem Kopf tobte ein Chaos aus Polizeiuniformen, Wölfen im Wald und Stimmen, die ich seit zehn Jahren nicht mehr gehört hatte.
Als ich ihr die Tüte reichte, fühlte ich in den alten Narben an meinen Handgelenken lang begrabene Erinnerungen pochen.
Einen Augenblick lang schien es, als wollte Isabel noch etwas sagen, doch dann schüttelte sie den Kopf und sagte bloß: »Manche Leute sind einfach zu ehrlich für diese Welt. Bis dann, Sam.«
KAPITEL 2
COLE
Ich hatte nur einen Gedanken: Überleben.
Und nur diesen einen Gedanken zu haben, Tag für Tag, war geradezu paradiesisch.
Wir Wölfe rannten zwischen spärlichen Kiefern hindurch, unsere Pfoten berührten kaum den Boden, dessen Feuchtigkeit noch von frisch geschmolzenem Schnee zeugte. Wir liefen so dicht gedrängt, dass sich unsere Schultern berührten, wir schnappten spielerisch in die Luft, wir sprangen und tauchten durcheinander wie ein Schwarm Fische im Fluss, kaum zu erkennen, wo der eine anfing und der andere aufhörte.
Das zertrampelte Moos und die Markierungen an den Bäumen wiesen uns den Weg durch den Wald; ich witterte den modrigen, lebendigen Geruch des Sees schon, bevor ich das Wasser plätschern hörte. Einer der Wölfe sandte ein flüchtiges Bild: Enten, die ruhig über die kalte blaue Wasseroberfläche glitten. Ein anderer das einer Hirschkuh mit ihrem Kalb, das auf sie zustakste, um zu trinken.
Für mich gab es nichts als diesen Augenblick, diese Bilder, die wir teilten, und die stille, machtvolle Bindung zwischen uns.
Und dann, zum ersten Mal seit Monaten, erinnerte ich mich plötzlich daran, dass ich einmal Finger gehabt hatte.
Ich strauchelte, blieb hinter dem Rudel zurück, meine Schultern bebten und krümmten sich. Die Wölfe blieben stehen, einige liefen zu mir zurück, wie um mich zum Mitkommen zu bewegen, aber ich konnte nicht. Zuckend lag ich auf dem Boden, glitschige Frühlingsblätter klebten mir auf der Haut und mit einem Mal war die Luft so warm, dass ich kaum noch atmen konnte.
Meine Finger krallten sich in die frische schwarze Erde, pressten sie unter Fingernägel, die plötzlich zu kurz waren, um sich damit zu verteidigen, rieben sie in Augen, die alles in leuchtenden Farben sahen.
Ich war wieder Cole. Der Frühling war zu schnell gekommen.
KAPITEL 3
ISABEL
An dem Tag, als der Polizist im Buchladen gewesen war, klagte Grace zum ersten Mal über Kopfschmerzen. Das klingt vielleicht nicht besonders ungewöhnlich, aber seit ich sie kannte, hatte sie nie auch nur einen Schnupfen erwähnt. Und für Kopfschmerzen war ich schließlich Expertin. Sie waren sozusagen ein Hobby von mir.
Nachdem ich mir Sams Eiertanz mit dem Polizisten angesehen hatte, fuhr ich zurück zur Schule, die mittlerweile eine relativ untergeordnete Rolle in meinem Leben spielte. Die Lehrer wussten nicht so richtig, was sie mit mir anfangen sollten, mit meinen guten Noten auf der einen und meiner beachtlichen Anzahl Fehlstunden auf der anderen Seite. Also ließen sie mir ziemlich viel durchgehen. Unser halb garer Kompromiss sah ungefähr so aus: Ich kam regelmäßig zum Unterricht und sie ließen mich machen, was ich wollte, solange ich die anderen Schüler nicht ablenkte.
Folgerichtig loggte ich mich im Informatikkurs als Erstes brav in meinen Computer ein, nur um dann – so gar nicht brav – die Bücher hervorzukramen, die ich morgens gekauft hatte. Eins davon war ein bebildertes Lexikon der Erkrankungen, ein dicker, staubig riechender Wälzer von 1986. Das Teil war vermutlich eins der ersten Bücher, die der Buchladen ins Sortiment genommen hatte. Während Mr Grant erklärte, was wir machen sollten, blätterte ich darin herum und suchte nach den fiesesten Bildern. Ich fand einen Mann mit Porphyrie, jemanden mit seborrhoischer Dermatitis und ein Bild von Spulwürmern in voller Action, bei dem sich mir der Magen umdrehte – was mich ehrlich gesagt ziemlich überraschte.
Dann blätterte ich zu M. Ich fuhr mit dem Finger die Seite hinunter, bis er bei »Meningitis, bakterielle« anlangte. Ich fühlte ein Brennen in der Nase, als ich den Eintrag las. Ursachen. Symptome. Diagnose. Behandlung. Prognose. Sterblichkeitsrate bei unbehandelter bakterieller Meningitis: hundert Prozent. Sterblichkeitsrate, wenn behandelt: zehn bis dreißig Prozent.
Ich hätte gar nicht nachschlagen müssen, ich kannte die Statistiken. Ich hätte diesen Eintrag ohne Überlegen auswendig herunterbeten können. Ich wusste sogar mehr als dieses Lexikon der Erkrankungen von 1986, weil ich Tausende von Onlinezeitschriften nach den neuesten Behandlungsmethoden und ungewöhnlichsten Fällen durchsucht hatte.
Der Drehstuhl neben mir knarrte, als sich jemand daraufsetzte. Sie rollte zu mir herüber, doch ich sah gar nicht erst auf. Grace benutzte immer dasselbe Parfüm. Obwohl – wie ich sie kannte, war es einfach bloß ihr Shampoo.
»Isabel«, sagte Grace leise. Die anderen, die schon an der Aufgabe saßen, hatten jetzt auch angefangen zu quatschen. »Das ist jetzt aber echt mal morbid, sogar für deine Verhältnisse.«
»Geht dich das was an?«, fauchte ich.
»Du brauchst ’ne Therapie.« Aber das sagte sie ohne Nachdruck.
»Was meinst du, was das hier sein soll?« Ich deutete auf das Buch und sah zu ihr hoch. »Ich will einfach nur rausfinden, was genau bei Meningitis passiert. Das ist ja wohl nicht morbid. Dich interessiert’s doch schließlich auch, was mit Sam los war.«
Grace zuckte mit den Schultern und drehte sich mit ihrem Stuhl hin und her. Ihr dunkelblondes Haar fiel ihr über die geröteten Wangen, als sie den Blick zum Boden senkte. Sie wirkte unruhig. »Das ist jetzt vorbei.«
»Na klar«, höhnte ich.
»Wenn du zickig sein willst, bleib ich nicht neben dir sitzen«, drohte Grace. »Mir geht’s eh nicht so gut. Ich würde am liebsten nach Hause gehen.«
»Ich hab doch gar nichts gesagt«, entgegnete ich. »Zickig, also echt. Glaub mir, wenn du mich mal richtig –«
»Meine Damen?« Mr Grant stand plötzlich neben mir und warf einen Blick auf meinen leeren Bildschirm, dann auf den von Grace, der noch nicht mal eingeschaltet war. »Ich weiß ja nicht, wie das mit euch ist, aber ich hätte schwören können, dass wir hier im Informatikkurs sind und nicht beim Kaffeekränzchen.«
Grace sah ihn ernst an. »Bitte, könnte ich zur Krankenschwester gehen? Mein Kopf – ich glaub, ich krieg vielleicht ’ne Grippe oder so.«
Mr Grant betrachtete ihre glühenden Wangen und ihr aufrichtiges Gesicht und nickte schließlich. »Sie soll dir aber eine Bescheinigung geben«, verlangte er, nachdem Grace Danke gesagt hatte und aufgestanden war. Zu mir sagte sie nichts mehr, sondern klopfte nur zum Abschied mit den Fingerknöcheln gegen meine Stuhllehne.
»Und du –«, wandte Mr Grant sich an mich. Dann sah er mein Lexikon und die Seite, die ich immer noch aufgeschlagen hatte, und beendete seinen Satz nicht. Er runzelte bloß die Stirn und ließ mich in Ruhe.
Ich widmete mich wieder meinen außerschulischen Studien zum Thema Tod und Krankheit. Denn egal, was Grace glaubte – hier in Mercy Falls war es nie vorbei.
KAPITEL 4
GRACE
Als Sam an diesem Abend aus dem Buchladen nach Hause kam, saß ich am Küchentisch und fasste gute Vorsätze fürs neue Jahr.
Seit ich neun war, machte ich das jedes Jahr so. Immer am ersten Weihnachtsfeiertag hockte ich mich im dicken Rollkragenpulli – weil es von der Glastür zur Veranda immer so zog – an den Küchentisch ins schummrige gelbe Licht der Deckenlampe und schrieb meine Ziele für das nächste Jahr in ein schlichtes schwarzes Notizbuch, das ich mir eigens dafür gekauft hatte. Und jedes Jahr an Heiligabend setzte ich mich an genau denselben Platz und schlug eine neue Seite in genau demselben Buch auf, um festzuhalten, was davon ich in den letzten zwölf Monaten geschafft hatte. Die beiden Listen waren jedes Mal identisch.
Letztes Weihnachten allerdings hatte ich keinen einzigen Vorsatz gefasst. Ich hatte den gesamten Monat damit verbracht, möglichst nicht durch die Glastür hinaus auf den Wald zu starren, und versucht, nicht an die Wölfe und an Sam zu denken. Mich an den Küchentisch zu setzen und meine Zukunft zu planen, hätte sich wie reine Selbsttäuschung angefühlt.
Aber jetzt, da ich Sam wieder- und ein neues Jahr vor mir hatte, spukte mir das schwarze Notizbuch, das ich im Bücherregal ordentlich neben meinen Berufsratgebern und den Biografien eingereiht hatte, andauernd durch den Kopf. Manchmal träumte ich sogar davon, dass ich im Rollkragenpulli am Küchentisch saß; ich träumte, dass ich schrieb und schrieb, doch die Seite wurde einfach nicht voll.
Als ich an diesem Tag darauf wartete, dass Sam nach Hause kam, hielt ich es plötzlich nicht mehr aus. Ich zog das Notizbuch aus dem Regal und ging in die Küche. Bevor ich mich setzte, nahm ich noch zwei Ibuprofen. Die beiden, die die Krankenschwester mir in der Schule gegeben hatte, hatten meine Kopfschmerzen zwar mehr oder weniger beseitigt, aber ich wollte sichergehen, dass sie nicht doch wiederkamen. Gerade als ich die blütenförmige Lampe über dem Tisch eingeschaltet und meinen Bleistift gespitzt hatte, klingelte das Telefon. Ich stand auf und langte über den Küchentresen, um dranzukommen.
»Hallo?«
»Grace, hallo.« Ich brauchte einen Moment, bis mir klar wurde, dass es mein Vater war. Es war ungewohnt, seine Stimme am Telefon zu hören, so gepresst und verzerrt.
»Stimmt was nicht?«, fragte ich.
»Was? Nein. Alles in Ordnung. Ich rufe nur an, weil ich Bescheid sagen wollte, dass deine Mom und ich noch bei Pat und Tina sind. Um neun sind wir aber wieder zu Hause.«
»Okaaay«, sagte ich. Das hatte ich schon gewusst; Mom hatte mir morgens genau dasselbe erzählt, als wir aufbrachen – ich zur Schule, sie in ihr Atelier.
Pause. »Bist du allein?«
Aha, daher wehte also der Wind. Aus irgendeinem Grund schnürte sich mir bei dieser Frage die Kehle zu. »Nein«, entgegnete ich. »Elvis ist hier. Willst du ihn mal sprechen?«
Dad ignorierte meine Antwort. »Ist Sam bei dir?«
Ich hatte große Lust, das mit Ja zu beantworten, nur um zu hören, wie er reagierte. Aber ich sagte die Wahrheit und meine Stimme klang merkwürdig und defensiv. »Nein. Ich mache Hausaufgaben.«
Meine Eltern wussten, dass Sam und ich zusammen waren – wir hatten kein Geheimnis aus unserer Beziehung gemacht –, aber im Grunde hatten sie keine Ahnung. Sie dachten, ich läge jede Nacht allein in meinem Bett, dabei schlief Sam bei mir. Sie wussten nichts darüber, wie ich mir unsere Zukunft ausmalte. Sie dachten, es wäre einfach eine harmlose Teenieromanze, die irgendwann sowieso zu Ende gehen würde. Dabei wollte ich es gar nicht vor ihnen geheim halten. Aber fürs Erste hatte ihre Selbstbezogenheit eben auch ihre guten Seiten.
»Okay«, sagte Dad jetzt. Es klang beinahe anerkennend, so als wollte er mich dafür loben, dass ich alleine war und meine Hausaufgaben machte. Das war es nun mal, was eine Grace abends machte, und Gott bewahre, dass ich aus dieser Schublade herauskletterte. »Dann machst du dir also einen ruhigen Abend?«
Ich hörte, wie die Tür aufging, und dann Sams Schritte im Flur. »Ja«, antwortete ich, als er mit dem Gitarrenkoffer in der Hand an der Küchentür vorbeiging.
»Gut. Tja dann, bis später«, sagte Dad. »Lern noch schön.«
Wir legten gleichzeitig auf. Ich sah Sam zu, der wortlos seinen Mantel auszog und direkt aufs Arbeitszimmer zusteuerte.
»Tag, der Herr«, begrüßte ich ihn grinsend, als er mit der nun vom Koffer befreiten Gitarre wieder auftauchte. Er lächelte mich an, aber seine Augen wirkten müde. »Du wirkst gestresst.«
Er ging ins Wohnzimmer, plumpste aufs Sofa und ließ, halb sitzend, halb liegend, einen dissonanten Akkord erklingen. »Isabel war heute bei mir im Laden«, erzählte er.
»Ach? Was wollte sie denn?«
»Nur ein paar Bücher kaufen. Und mir erzählen, dass sie Wölfe bei ihrem Haus gesehen hat.«
Sofort wanderten meine Gedanken zu Isabels Vater und der Wolfsjagd, die er damals im Wald hinter unserem Grundstück angezettelt hatte. Aus Sams besorgtem Gesichtsausdruck schloss ich, dass er dasselbe dachte wie ich. »Das ist aber nicht gut.«
»Nein«, sagte er. Seine Finger huschten über die Gitarrensaiten, mühelos und offenbar rein instinktiv schlug er einen wunderschönen Mollakkord an. »Aber so richtig spannend wurde es erst, als auch noch dieser Polizist reingeschneit kam.«
Ich legte den Bleistift weg und beugte mich über den Tisch. »Was? Was wollte der denn?«
Er zögerte. »Mich über Olivia aushorchen. Er hat gefragt, ob ich mir vorstellen könnte, dass sie im Wald lebt.«
»Was?«, fragte ich wieder. Meine Haut kribbelte. Auf so was kam man nicht einfach von selbst. Auf keinen Fall. »Woher hat er das denn?«
»Er meinte natürlich nicht, dass sie ein Wolf ist. Aber ich glaube, er hat gehofft, dass wir sie vielleicht nur verstecken oder dass sie irgendwo in der Nähe lebt und wir ihr helfen oder so was. Ich hab gesagt, dass sie meiner Meinung nach nicht unbedingt der Campingtyp ist, und dann hat er sich bedankt und ist gegangen.«
»Wow.« Nachdenklich lehnte ich mich zurück. Eigentlich war das einzig Überraschende an dem Ganzen, dass sie Sam noch nicht eher befragt hatten. Mit mir hatten sie schon ziemlich bald geredet, nachdem Olivia »weggelaufen« war. Wahrscheinlich waren sie erst jetzt auf die Verbindung zwischen Sam und mir gestoßen. Ich zuckte mit den Schultern. »Die wollen ihre Arbeit eben gründlich machen. Ich glaube nicht, dass das was zu bedeuten hat. Ich meine, früher oder später kommt sie ja sowieso wieder, stimmt’s? Was meinst du, wie lange es noch dauert, bis die neuen Wölfe sich wieder in Menschen zurückverwandeln?«
Sam antwortete nicht sofort. »Zuerst werden sie nicht lange Menschen bleiben, am Anfang sind sie extrem instabil. Es kommt darauf an, wie warm es gerade ist. Und außerdem variiert es von Mensch zu Mensch, manchmal sogar ziemlich stark. So wie es Tage gibt, an denen manche Leute Pullis tragen, während anderen ein T-Shirt reicht – einfach unterschiedliche Reaktionen auf dieselbe Temperatur. Aber es kann durchaus sein, dass ein paar von ihnen sich dieses Jahr schon mal verwandelt haben.«
Ich stellte mir Olivia vor, wie sie als Wolf durch den Wald preschte, und versuchte mich dann wieder auf das zu konzentrieren, was Sam gesagt hatte. »Wirklich? Jetzt schon? Also könnte es sein, dass jemand Olivia gesehen hat?«
Sam schüttelte den Kopf. »Bei diesem Wetter hat sie bestimmt nicht mehr als ein paar Minuten als Mensch – ich bezweifle, dass sie da gleich jemand gesehen hat. Das ist eher … so was wie ein Testlauf für später.« Und an dieser Stelle war es plötzlich, als hätte ich ihn verloren; sein Blick schien in die Ferne zu schweifen. Vielleicht erinnerte er sich daran, wie es damals für ihn gewesen war, als neuer Wolf. Unwillkürlich zuckte ich zusammen; über Sam und seine Eltern nachzudenken, machte mich immer ganz unglücklich. Eine grimmige Kälte verkrampfte mir den Magen.
Schließlich fing Sam wieder an, Gitarre zu spielen. Eine ganze Weile ließ er die Finger einfach nur die Akkorde rauf- und runterwandern, und als mir klar wurde, dass er für den Augenblick nichts mehr zu sagen hatte, wandte ich mich wieder meinen guten Vorsätzen zu. So richtig konzentrieren konnte ich mich allerdings nicht; meine Gedanken kreisten immer noch um das Bild des kleinen Sam, der sich hin- und zurückverwandelte, während seine Eltern entsetzt zusahen. Ich kritzelte ein Quadrat in die Ecke meiner Seite und ergänzte es dann zu einem Würfel.
»Was machst du da eigentlich?«, wollte Sam wissen. »Sieht verdächtig nach was Kreativem aus.«
»Nur ein klitzekleines bisschen«, antwortete ich, hob eine Augenbraue und sah ihn an, bis er lächeln musste. Er schlug einen Akkord an und sang: »Hat Grace die Zahlen abserviert / und will Poetin werden?«
»Das reimt sich ja noch nicht mal.«
»Der Algebra den Rücken kehr’n / und nun für Verben sterben?«, schloss Sam.
Ich zog eine Grimasse. »›Sterben‹ reimt sich auch nicht richtig auf ›werden‹. Ich schreibe meine guten Vorsätze fürs neue Jahr auf.«
»Reimt sich wohl«, beharrte er. Er stand auf, kam an den Tisch und setzte sich mir gegenüber. Die Gitarre schlug leicht gegen die Tischkante und gab ein leises, harmonisches Klöng von sich.
»Dann gucke ich zu«, erklärte Sam. »Ich habe noch nie Neujahrsvorsätze gefasst. Bin mal gespannt, wie so was aussieht, vor allem bei so einem Organisationswunder wie dir.«
Er zog das offene Notizbuch über den Tisch zu sich rüber. Seine Brauen berührten sich fast, so tief runzelte er die Stirn, als er die Liste vom Jahr davor aufschlug. »Mal sehen. Vorsatz Nummer drei: Mich für ein College entscheiden. Wie, du weißt schon, auf welche Uni du willst?«
Ich zog das Notizbuch zu mir zurück und blätterte schnell wieder vor. »Nein, weiß ich nicht. Da war nämlich so ein süßer Typ-Schrägstrich-Wolf und der hat mich abgelenkt. Das war das erste Mal, dass ich nicht alle meine Vorsätze erfüllt habe, und das ist ganz allein deine Schuld. Wird Zeit, dass ich wieder in die Gänge komme.«
Sams Lächeln wurde dünner. Er schob seinen Stuhl zurück und lehnte die Gitarre an die Küchenwand. Dann nahm er sich einen Kugelschreiber und eine der Karteikarten, die auf dem Tresen neben dem Telefon lagen. »Na gut, dann überlegen wir uns ein paar neue.«
Ich schrieb: Einen Job finden. Er schrieb: Meinen Job weiter gern machen. Ich schrieb: Total verliebt bleiben. Er schrieb: Ein Mensch bleiben.
»Total verliebt bleibe ich nämlich sowieso«, murmelte er und sah hinunter auf seine Karteikarte statt in mein Gesicht.
Seine Wimpern verbargen seine Augen. Ich beobachtete ihn, bis er wieder zu mir aufsah.
»Schreibst du das mit dem College auch wieder auf?«, wollte er wissen.
»Du denn?«, fragte ich zurück, bemüht, es unverfänglich klingen zu lassen. So viel schwang mit in dieser Frage – sie konnte geradewegs zu unserem ersten Gespräch darüber führen, wie unser Leben jetzt, nach dem Winter, weitergehen würde. Jetzt, da Sam ein normales Leben führen konnte. Von Mercy Falls aus war das nächste College in Duluth, eine Stunde entfernt, und alle anderen, die ich mir in meiner Prä-Sam-Ära rausgesucht hatte, waren noch weiter weg.
»Ich hab zuerst gefragt.«
»Klar«, antwortete ich, was aber eher ausweichend als locker klang. Ich schrieb »Mich für ein College entscheiden« auf meine Seite. Meine Handschrift sah komplett anders aus als beim Rest der Liste.
»Und, was ist jetzt mit dir?« Unerwartet fing mein Herz an zu hämmern, beinahe panisch.
Aber statt zu antworten, stand Sam einfach auf und ging zur Spüle. Ich drehte mich um und sah zu, wie er Teewasser aufsetzte. Dann nahm er zwei Tassen aus dem Schrank über dem Herd. Aus irgendeinem Grund erfüllte es mich mit Zuneigung, dass er sich so selbstverständlich in unserer Küche bewegte. Ich unterdrückte den Reflex, aufzustehen und meine Arme von hinten um seine Brust zu schlingen.
»Beck wollte, dass ich Jura studiere«, sagte Sam und fuhr mit dem Finger über den Rand meiner drosseleiblauen Lieblingstasse. »Zu mir hat er’s nie gesagt, aber ich hab gehört, wie er es mal Ulrik gegenüber erwähnt hat.«
»Du und Anwalt? Das kann ich mir überhaupt nicht vorstellen«, entgegnete ich.
Sam lächelte selbstironisch und schüttelte den Kopf. »Ich kann mir mich auch nicht als Anwalt vorstellen. Ehrlich gesagt kann ich mir mich als gar nichts vorstellen, zumindest im Moment noch nicht. Ich weiß, das klingt … furchtbar. Als hätte ich überhaupt keine Ambitionen.« Wieder zog er nachdenklich die Augenbrauen zusammen. »Aber diese Vorstellung, eine Zukunft zu haben, ist eben vollkommen neu für mich. Bis vor einem Monat wäre ich noch nicht mal auf die Idee gekommen, dass ich aufs College gehen könnte. Ich will da nichts überstürzen.«
Ich musste ihn ziemlich entgeistert angestarrt haben, denn er beeilte sich hinzuzufügen: »Aber ich will natürlich auch nicht, dass du warten musst, Grace. Ich will dich von nichts abhalten, nur weil ich mich nicht entscheiden kann.«
»Wir könnten ja zusammen irgendwo hingehen«, sagte ich und kam mir kindisch dabei vor.
Der Teekessel pfiff. Sam zog ihn von der Herdplatte und erwiderte: »Ich wage zu bezweifeln, dass ein und dasselbe College ideal für ein aufstrebendes Mathegenie und einen Jungen mit einer Vorliebe für schwermütige Lyrik ist. Aber wer weiß.« Er starrte aus dem Küchenfenster in den grauen, frostigen Wald. »Ich weiß aber auch gar nicht, ob ich überhaupt hier wegkann. Wer soll sich denn dann um das Rudel kümmern?«
»Ich dachte, dafür sind die neuen Wölfe erschaffen worden«, entgegnete ich. Es klang seltsam, sobald ich es ausgesprochen hatte. Unsensibel. Als wäre die Dynamik des Rudels etwas Künstliches, von außen Gesteuertes, was selbstverständlich gar nicht so war. Niemand wusste, wie die Neuen waren. Niemand außer Beck natürlich, aber der konnte es einem ja nicht sagen.
Sam rieb sich über die Stirn und presste sich die Handfläche vor die Augen. Das machte er oft, seit er zurück war. »Ja, ich weiß«, sagte er. »Ich weiß, dass sie dazu da sind.«
»Beck hätte gewollt, dass du gehst«, meinte ich. »Und ich glaube schon, dass wir gemeinsam ein College finden können.«
Sam sah mich an, die Finger immer noch an die Schläfen gepresst, als hätte er sie dort vergessen. »Das wäre schön.« Er stockte. »Trotzdem würde ich gern – ich würde gern die neuen Wölfe kennenlernen, einfach um zu sehen, wie sie so sind. Ich glaube, dann würde ich mich besser fühlen. Danach kann ich vielleicht gehen. Wenn ich sicher bin, dass sich hier jemand um alles kümmert.«
Ich strich »Mich für ein College entscheiden« mit einer Schlängellinie durch. »Ich warte auf dich«, sagte ich.
»Aber nicht ewig«, erwiderte Sam.
»Nein, wenn sich herausstellt, dass du ein totaler Nichtsnutz bist, gehe ich ohne dich.« Ich tippte mir mit dem Bleistift gegen die Zähne. »Ich finde, wir sollten uns morgen mal nach den neuen Wölfen umsehen. Und nach Olivia. Ich rufe Isabel an und frage sie noch mal wegen der Wölfe, die sie im Wald hinter ihrem Haus gesehen hat.«
»Na, das ist doch mal ein Plan«, stimmte Sam zu. Er kam zurück an den Tisch und notierte noch etwas auf seiner Liste. Dann lächelte er mich an und drehte die Karteikarte so, dass ich es lesen konnte.
Auf Grace hören.
SAM
Später fiel mir noch einiges mehr ein, das ich auf die Liste mit den Vorsätzen hätte schreiben können. Dinge, die ich mir früher mal gewünscht hatte, bevor mir klar wurde, was es für meine Zukunft bedeutete, ein Wolf zu sein. Dinge wie Ein Buch schreiben und Eine Band gründen und Meinen Abschluss in Übersetzung unbekannter Lyrik machen und Auf Weltreise gehen. Ich kam mir extravagant und vollkommen maßlos dabei vor, jetzt über diese Ideen nachzudenken, nachdem ich mich so lange immer wieder hatte ermahnen müssen, dass sie unmöglich umzusetzen waren.
Ich versuchte, mir mich dabei vorzustellen, wie ich eine Collegebewerbung ausfüllte. Wie ich ein Exposé für einen Roman entwarf. Wie ich einen Zettel mit der Aufschrift SCHLAGZEUGER GESUCHT an die Pinnwand gegenüber von Becks Postfach heftete. Die Worte tanzten durch meinen Kopf, sie schienen plötzlich so verwirrend greifbar. Ich wollte sie auf meine Karteikarte mit den Vorsätzen schreiben, aber ich … konnte es einfach nicht.
An diesem Abend, als Grace unter der Dusche stand, holte ich die Karte hervor und sah sie mir noch einmal an. Und ich schrieb:
Daran glauben, dass ich geheilt bin.
KAPITEL 5
COLE
Ich war ein Mensch.
Ich war benommen, erschöpft, verwirrt. Ich hatte keine Ahnung, wo ich war. Mir wurde klar, dass einige Zeit vergangen sein musste, seit ich das letzte Mal wach gewesen war. Ich musste mich wieder in einen Wolf zurückverwandelt haben. Stöhnend rollte ich mich auf den Rücken, ballte die Fäuste und öffnete sie wieder, testete meine Muskeln.
Es war eiskalt in dem frühmorgendlichen Wald, Nebel hing in der Luft und verwandelte alles in bleiches Gold. Nicht weit von mir zeichneten sich hinter dem Dunstschleier ein paar feucht glänzende Kiefernstämme ab, schwarz und schroff. In ein paar Metern Höhe verblichen sie zu Pastellblau und verloren sich schließlich ganz im Weiß des Nebels.
Und ich lag hier im Matsch. Ich spürte, wie er an meinen Schultern klebte und langsam abbröckelte. Als ich die Hand hob, um ihn abzuwischen, sah ich, dass auch meine Finger damit überzogen waren – ein dünnes, lehmartiges Zeug, das mich an Babykacke erinnerte. Meine Hände stanken nach dem See und wie zur Bestätigung hörte ich links von mir das träge Schwappen des Wassers. Ich streckte die Hand aus und fühlte noch mehr Schlamm, dann Wasser an den Fingerspitzen.
Wie war ich hierhergekommen? Ich wusste, dass ich mit dem Rudel unterwegs gewesen war und mich verwandelt hatte, aber ich konnte mich nicht daran erinnern, es zum Seeufer geschafft zu haben. Ich musste mich noch einmal zurückverwandelt haben. Wolf, Mensch, Wolf, Mensch. Diese Logik – oder besser gesagt nicht vorhandene Logik – trieb mich fast in den Wahnsinn. Beck hatte gesagt, das mit den Verwandlungen würde sich mit der Zeit noch einpendeln. Na, bisher konnte man das wohl kaum behaupten.
Ich lag da, meine Muskeln begannen zu zittern, die Kälte biss sich in meine Haut und ich wusste, ich würde mich bald in einen Wolf zurückverwandeln. Verdammt, ich war so müde. Ich hob meine zitternden Hände vors Gesicht und bestaunte die glatte, unversehrte Haut an meinen Unterarmen. Die meisten Narben meines alten Lebens waren wie ausgelöscht. Ich wurde wiedergeboren, im Fünfminutentakt.
Ich hörte eine Bewegung zwischen den nahen Bäumen und drehte den Kopf, die Wange auf dem Waldboden, um zu sehen, ob Gefahr drohte. Nicht weit von mir, halb hinter einem Baum versteckt, stand eine weiße Wölfin und beobachtete mich. Ihr Fell schimmerte rötlich golden in der Morgensonne. Aus grünen Augen sah sie mich eine Weile an, seltsam nachdenklich. Irgendetwas an der Art, wie sie meinen Blick erwiderte, erschien mir ungewöhnlich. Es waren die Augen eines Menschen, aber ohne jede Spur von Wertung, Neid, Mitleid oder Ärger. Nichts als stilles Abwägen.
Ich wusste nicht, was ich davon halten sollte.
»Was glotzt du mich so an?«, knurrte ich.
Lautlos verschwand sie im Nebel.
Mein Körper bäumte sich auf, ohne dass ich etwas dagegen tun konnte, und meine Haut verzerrte sich zu einer anderen Gestalt.
Ich weiß nicht, wie lange ich diesmal ein Wolf blieb. Minuten? Stunden? Tage? Es war später Vormittag. Ich fühlte mich nicht wie ein Mensch, aber ein Wolf war ich auch nicht. Ich hing irgendwo dazwischen und mein Verstand zuckte zwischen Erinnerung und Gegenwart hin und her, beides schien gleichermaßen greifbar.
Mein Bewusstsein schlitterte von meinem siebzehnten Geburtstag direkt zu der Nacht im Club Josephine. In dieser Nacht hatte mein Herz aufgehört zu schlagen. Nicht gerade eine Erinnerung, die ich gern wiederaufleben lassen wollte.
Das war ich, bevor ich ein Wolf wurde: Ich war Cole St. Clair und ich war NARKOTIKA.
Es war eine dieser Nächte in Toronto, in denen draußen die Pfützen zufroren und man das Gefühl hatte, an seinem eigenen eisigen Atem zu ersticken. Doch in dem Lagerhaus, im Club Josephine, war es schon unten in den Katakomben höllisch heiß. Und oben würde es sogar noch heißer sein.
Krass, was das für Menschenmassen waren.
Das Ganze war ein Riesenevent, dabei hatte ich eigentlich überhaupt keine Lust auf den Gig. Aber das war damals eh so gut wie nie der Fall. Alles verschwamm zu einem gigantischen Gewirr, sodass ich rückblickend nur noch zwischen Gigs, bei denen ich high war, und Gigs, bei denen ich nicht high war, und Gigs, bei denen ich die ganze Zeit aufs Klo musste, unterscheiden konnte. Ich stand auf der Bühne, spielte meine Musik, aber selbst dort jagte ich immer noch irgendetwas hinterher – dem Traum von einem Leben voller Ruhm, den ich mit sechzehn gehabt hatte. Ich gab mir immer weniger Mühe, ihn zu verwirklichen.
Als ich mein Keyboard reintrug, bot uns irgendein Mädchen namens Jackie ein paar Pillen an, die ich noch nicht kannte.
»Cole«, flüsterte sie mir ins Ohr, als würde sie mich kennen und nicht bloß meinen Namen. »Cole, das hier schickt dich auf ’ne Reise, von der du noch nicht mal zu träumen gewagt hast.«
»Baby«, sagte ich und drehte meine Fracht so, dass ich damit nicht an die Wand stieß in diesem engen Labyrinth aus Gängen, das direkt unterhalb der Tanzfläche lag. »Gibt im Moment nicht viel, dem ich das zutrauen würde.«
Sie grinste breit, als würde sie mir gleich ein Geheimnis verraten. Ihre Zähne sahen gelblich aus in dem schummrigen Licht. Sie roch nach Zitrone. »Keine Sorge. Ich weiß genau, was du brauchst.«
Ich hätte fast gelacht, drehte mich aber bloß um und stieß mit der Schulter eine Tür auf. Ich warf noch einen Blick über Jackies gesträhntes Haar hinweg und rief: »Wo bleibst du, Vic?« Dann sah ich wieder zu ihr hinunter. »Hast du selbst welche eingeworfen?«