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Biografie

Geboren wurde Daniela Knor am 30.10.1972 in Mainz, wo sie auch aufgewachsen ist. Beim Studium hat sie zunächst mit Anglistik, Ethnologie und Vorund Frühgeschichte begonnen, dann aber auf ein Fernstudium in Geschichte, Neuerer deutscher Literaturwissenschaft und Psychologie umgesattelt, weil es sie kurzzeitig an die Mosel und anschließend nach Regensburg verschlagen hat.

In Regensburg lebt sie mit ihrem Mann, zwei Pferden und etlichen Hühnern immer noch. Sie haben dort einen kleinen Bauernhof mit Obstanbau gepachtet, der es ihnen auch ermöglicht die Pferde in Eigenregie zu halten.

Mit dem Schreiben von Fantasy-Romanen hat Daniela schon während der Schulzeit begonnen (manchmal auch in langweiligen Unterrichtsstunden). Außer den DSA-Romanen gab es bis jetzt keine Veröffentlichungen, aber mittlerweile ist die Schriftstellerei schon zu einer Hauptbeschäftigung geworden. Wenn ihr neben dem Schreiben, dem Obstbaubetrieb und den Pferden noch Zeit bleibt, liest sie viel und spielt gelegentlich in einer DSA-Spielrunde.

Daniela Knor

Dunkle Tiefen

Ein Roman in der Welt von
Das Schwarze Auge
©

Originalausgabe

Impressum

Ulisses Spiele
Band 87

Titelbild: Swen Papenbrock
Redaktion & Lektorat: Catherine Beck
Kartenentwurf: Ralf Hlawatsch
E-Book-Gestaltung: Michael Mingers

Copyright © 2014 by Ulisses Spiele GmbH, Waldems.DAS SCHWARZE AUGE, AVENTURIEN, DERE, MYRANOR, RIESLAND, THARUN und UTHURIA sind eingetragene Marken der Significant GbR.

Titel und Inhalte dieses Werkes sind urheberrechtlich geschützt.

Der Nachdruck, auch auszugsweise, die Bearbeitung, Verarbeitung, Verbreitung und Vervielfältigung des Werkes in jedweder Form, insbesondere die Vervielfältigung auf photomechanischem, elektronischem oder ähnlichem Weg, sind nur mit schriftlicher Genehmigung der Ulisses Spiele GmbH, Waldems, gestattet.

Print-ISBN 3-89064-538-0 (vergriffen)
E-Book-ISBN 9783868898880

Danksagung

Für meine Schwester

in Erinnerung an viele verrückt-kreative Momente

Wieder einmal haben viele Leute geholfen, damit dieser Roman überhaupt Gestalt annehmen konnte. Dafür danke ich sämtlichen Beteiligten bei FanPro, aber vor allem natürlich Catherine Beck, Florian Don-Schauen, Sarah Nick und Thomas Römer.

Darüber hinaus danke ich Peter Diehn für seine engagier­te Hilfe bei all meinen Fragen, Torsten Bieder für seine unermüdliche Unterstützung, Franz Gradl für seine Ein­führung in die Kunst des Kletterns, André Wiesler für hilf­reiche Kritik, Tyll Zybura und Katharina Pietsch für >an-groschologische< Anmerkungen und Momo Evers für ihre Unterstützung bei der Recherche.

Ganz besonderer Dank gilt meinen Lesern!

Weitere Informationen zu meiner Arbeit im Internet unter www.daniela-knor.de.vu

Dort gibt es als zusätzlichen Service auch den Stammbaum der Mirschag-Sippe zum Ausdrucken, was das Blättern beim Lesen erspart.

»Nur wer die dunkelsten Tiefen durchmessen und die Zeichen erkannt hat, wird im Licht wandeln.«

Kaiser Rohal der Weise, um 480 BF

1. KAPITEL

Eine kleine Binge der Angroschim, westlicher Eisenwald, 1028 BF

Der helle Klang von Metall auf Metall hallte von den Wän­den des schmalen Stollens wider. Ping, ping, ping. Drei schwere Schlägel prallten in einem sich stetig wandeln­den Rhythmus auf die Eisen, deren Spitzen sich in das erz­haltige Gestein fraßen.

Wenn es nur mal noch erzhaltig wäre, dachte Ortosch miss­mutig. Die paar Bröckchen lohnen doch kaum den Aufwand. Si­cher war das hier ein guter Erzgang, als Großvater ihn entdeckt hat. Aber wir hätten längst nach einer tieferen Lagerstätte Aus­schau halten sollen, anstatt diese Strecke immer weiter zu treiben.

Diese Gedanken spukten ihm schon seit Beginn der Schicht durch den Kopf. Sie drehten sich im Kreis, verwo­ben sich mit dem Klingen von Eisen und Stein, dem leisen Echo und dem unermüdlichen Gesang der kleinen Swerkablaumeise in ihrem Käfig. Sie formten ein Lied, das sich in endloser Folge wiederholte, während er selbst dazu den Takt schlug. Es beschäftigte seinen Verstand, hüllte ihn in Selbstvergessenheit, während seine Arme wie von Zauber­hand bewegt ihre monotone Arbeit verrichteten.

Kleine Felsstücke und Staub rieselten unter seinen Hän­den zu Boden, und wenn ein größerer Brocken fiel, wi­chen seine Füße in den ledernen Stiefeln der Gefahr ganz ohne sein Zutun aus. Er war für diese Arbeit geboren wor­den. Die Stiele seiner Werkzeuge lagen in seinen Fäusten, als seien sie mit ihm verwachsen. Die Muskeln der kräfti­gen, behaarten Arme zeigten noch immer kein Zeichen der Ermüdung, obwohl er bereits zwei Stunden auf das Ge­stein einhämmerte.

Dennoch fühlte er sich dabei nicht glücklich. Er spürte zwar die grimmige Befriedigung, sich Stück für Stück wei­ter in das Innere des Gebirges zu fressen, doch die tiefe Zufriedenheit, von der ihm seine Verwandten schon als Kind berichtet hatten, wollte sich bei ihm einfach nicht ein­stellen.

Was Vater nur wieder darin bestätigen würde, dass mein Weg eben der des Drachenkämpfers ist... wenn er davon wüsste, was in mir vorgeht.

»So, Trinkpause!«, verkündete Fadrim Sohn des Fobosch. »Mein Hals fühlt sich schon an wie eine Schutthalde.«

Ortosch blinzelte irritiert, als der Rhythmus, der ihn ge­tragen hatte, so plötzlich abbrach. Wie aus weiter Ferne kehrte sein Bewusstsein zu den anderen Angroschim in den Stollen zurück. Erst jetzt bemerkte er, dass auch seine Kehle rau geworden war und seine Kopfhaut unter dem gefütterten, stählernen Helm juckte.

Der junge Xorrox, dessen Bartstoppeln erst ein paar lä­cherliche Rim [Zwergisches Längenmaß: 1 Rinn = etwa 0,4 cm] lang waren, stellte die Schaufel ab, mit der er das von den Hauern losgeschlagene Gestein in einen Eimer beförderte. War der Kübel voll, leerte er ihn in die Lore aus, neben deren Gleis der Wasserschlauch lag, den Xorrox nun holte.

»Hat jemand Hunger? Soll ich auch was zum Essen mit­bringen?«, fragte er in die Runde.

Die drei älteren Männer schüttelten die Köpfe und nicht einmal Ortosch konnte sich ein Grinsen verkneifen. Jeder von ihnen wusste, dass Xorrox Sohn des Schrogrim mit einem unersättlichen Appetit gesegnet war und nur einen Vorwand gesucht hatte, um die Notrationen antasten zu dürfen.

»Dann eben nicht«, grummelte der dicke Lehrjunge.

Er reichte seinem Großvater als Erstem das Wasser, wie es dem erfahrenen Angroscho mit seinen zweihundert­zwölf Jahren zustand. In Fadrims feuerrotem Haar zeigte sich seit einer Weile erstes Weiß und sein sorgfältig ge­kämmter Bart, dessen zwölf hineingeflochtene Zöpfe für die Anzahl der von ihm besiegten Gegner standen, wallte bis weit über den breiten, ledernen Gürtel. Unerschütter­liche Zuversicht lag in seinen dunkelgrünen Augen.

Die Ähnlichkeit zwischen dem untersetzten Fadrim und seinem für gerade einmal dreiundzwanzig Jahre viel zu beleibten Enkel Xorrox war unübersehbar. Sie lag nicht nur in dem ebenfalls flammend roten Haarschopf, der strup­pig unter dem Helmrand hervorlugte, sondern auch in den rundlichen Gesichtszügen. Darüber konnten selbst die kohlschwarzen Augen des Lehrjungen nicht hinwegtäu­schen.

»Hat unsere Arbeit hier denn überhaupt noch Sinn?«, wagte Ortosch einzuwenden, während Fadrim den Beutel an seinen Sohn Balbarosch weitergab. »Natürlich verstehe ich nicht annähernd so viel davon wie du, Onkel, aber mir kommt es vor, als enthielte das Gestein kaum noch Erz.«

Balbarosch, der im Gegensatz zu seinem Vater und sei­nem Neffen eher grobknochig als feist gebaut war, schoss Ortosch einen strafenden Blick zu.

Was fällt einem Kurzbart wie dir ein, die Entscheidungen der Älteren in Frage zu stellen!, stand darin deutlich zu lesen.

Ortosch hatte nichts anderes erwartet. Seit seiner Feuer­taufe vor vier Jahren schenkte man selbst halben Kindern wie Xorrox mehr Aufmerksamkeit als ihm, dem unerprob­ten Jungmann, der weder Verdienste um die Sippe noch ruhmreiche Heldentaten, ja nicht einmal besonderes Ge­schick in einem Handwerk vorzuweisen hatte. Manchmal fühlte er sich wie ein rohes, ungeschmiedetes Stück Eisen aus der Schmelze, das völlig nutzlos war, solange es nie­mand in eine brauchbare Form brachte. Doch bis Angrosch aus ihm ein Werkzeug oder eine Waffe geschmiedet ha­ben würde, mochten nach Ansicht der anderen noch hun­dert Jahre vorübergehen. Ortosch selbst bezweifelte, dass es jemals dazu kam.

»Dein Eindruck trügt dich nicht«, gab Fadrim freimütig zu, woraufhin Balbarosch erstaunt die dichten Brauen hob.

»Was willst du?«, wandte sich der Älteste an seinen Sohn. »Soll ich meine eigenen Fähigkeiten verleugnen, nur um den Jungen zurechtzuweisen? Diesen Fels noch zu verhüt­ten, wäre eine Verschwendung unserer knappen Holzkoh­le.«

Balbarosch setzte den Trinkschlauch an den Mund und zog es vor zu schweigen.

»Aber warum sind wir dann noch hier?«, wollte statt­dessen Xorrox wissen.

»Weil ich es in der Nase habe, dass wir ganz nah an ir­gendetwas dran sind«, erklärte Fadrim verheißungsvoll. »Sieh her und lerne! Was fällt dir an dem Gestein auf, in das wir in den letzten Tagen vorgedrungen sind?«

Ortosch nahm von Balbarosch das Wasser entgegen und spülte seinen Mund damit, bis es zwischen den Zähnen nicht mehr knirschte, während Xorrox ratlos die mit den charakteristischen Schrämspuren überzogene Stollenwand musterte.

»Es ist heller?«, rätselte der Junge.

»Soll das alles sein, was dir dazu einfällt?«, hakte sein Großvater streng nach.

Xorrox riss sich zusammen und erinnerte sich an seine früheren Lektionen. Unbewusst das Gehabe seiner Leh­rer imitierend, betastete, schmeckte und beroch er den Fels. »Es führt weniger Erz, eigentlich kaum etwas«, meinte er dann. »Außerdem ist es brüchiger, spröder, vielleicht auch trockener.«

»Na, bitte, du kannst es doch«, lobte Fadrim zufrieden.

»Meinst du, wir müssen die Decke abstützen?«, erkun­digte sich Balbarosch mit einem skeptischen Blick nach oben.

»Noch nicht«, urteilte sein Vater. »Das wird schon noch halten. Aber ich hatte erwartet, so weit unter dem Berg auf härteres Gestein wie zum Beispiel Granit zu stoßen.

Dass es im Gegenteil lockerer wird und so trocken ist, macht mich neugierig. Also los! Sehen wir uns das genau­er an!«

Er griff sich sein Werkzeug vom Boden und nahm die Arbeit wieder auf. Die drei jüngeren Angroschim taten es ihm nach. Sogleich erfüllte das Lied von Eisen und Stein aufs Neue den matt erleuchteten Stollen. Ortosch fand zurück in den leicht versetzten Dreiklang der Schlägel und tauchte wieder ein in seine triste, innere Welt, an deren Rand stets ein dunkler Abgrund gähnte. Manchmal schob er die Kante von sich fort, doch an anderen Tagen blickte er direkt hinab in die finsteren Tiefen, von denen er spür­te, dass ihre Leere ihn zu verschlingen drohte.

Irgendetwas ist anders, meldeten seine Sinne nach einer Weile und zogen ihn damit in die äußere Wirklichkeit des Gebirges zurück. Ja, er konnte es fühlen. Die Schwingung, die der Aufprall in Werkzeug und Fels erzeugte, hatte sich verändert.

Auch die beiden anderen Hauer hielten nun inne und tauschten einen vielsagenden Blick.

»Was ... was ist denn?«, fragte Xorrox verwundert.

»Diese Wand ist hohl«, bestätigte Fadrim, was Ortosch instinktiv geahnt hatte.

Der Lehrling riss überrascht die Augen auf. »Wirklich? Meint ihr, wir finden eine richtige Grotte? Eine, die noch kein Angroscho je betreten hat?«

Die Aufregung des Jungen brachte seinen Großvater zum Schmunzeln. »Wer weiß? Ortosch, du nimmst das Gestein über uns weg, damit weniger auf uns fällt, falls die Wand nachgibt! Schau nicht so, Balbarosch! Die Decke wird hal­ten. Komm, wir versuchen hier einen Durchbruch! Ich würde den Hort des grausamen Yskandur darauf verwet­ten, dass der Fels hier am dünnsten ist.«

Fadrim und sein Sohn gingen mit neuem Eifer zu Werke. Selbst Xorrox schaufelte und schabte mit ungewöhnlicher Hingabe, obwohl sie dadurch nicht schneller vorankamen.

Wahrscheinlich glaubt er, dass wir einen Haufen Edelsteine finden werden, vermutete Ortosch kopfschüttelnd, ohne in seiner Arbeit nachzulassen. Oder er hofft auf ein Abenteuer, einen Kampf mit einer Höhlenspinne oder etwas ähnlich Törich­tes. Stattdessen werden wir auf ein dunkles Loch voll abgestan­dener Luft stoßen und mit leeren Händen nach Hause kommen.

»Ha! Da ist es!«, rief Fadrim aus.

Alle beugten sich vor, um den schmalen Spalt zu betrach­ten, der so unscheinbar aussah wie jede andere Falte im Gestein. Doch ihr Anführer steckte seine Hand hochkant hinein und am Spiel der Muskeln und Knochen konnten die anderen erkennen, dass er jenseits der Engstelle mit den Fingern wackelte.

»Balbarosch, hilf Ortosch, die Wand über mir dünner zu machen! Ich werde die Öffnung vergrößern«, ordnete Fa­drim an.

Er brauchte nicht allzu lange, um den Umfang des Lochs so auszuweiten, dass zwei Hände bequem hindurchpass­ten. Sein Enkel platzte fast vor Neugier und vertauschte die Schaufel mit einer der beiden Lampen, die den Angro-schim in der ewigen Nacht unter Tage Licht spendeten. Xorrox drängte sich neben seinen Großvater, um in den Spalt zu leuchten.

»Kannst du irgendetwas erkennen?«, wollte er wissen.

»Nein, du lästiger Kobold«, brummte Fadrim, der nicht wusste, ob er seinen Enkel nun doch zurechtweisen oder nur über ihn lachen sollte. Aber mit Kindern konnte er ein­fach nicht böse sein. Kein Angroscho brachte das ernsthaft übers Herz.

»Seid mal still, Männer!«, gebot er Balbarosch und Or­tosch, die gehorsam vom umgebenden Fels abließen. »Xor­rox, hol mir den Swerka!«

Der Junge wäre vor Eifer fast über die Lampe gestolpert, als er hastig dem Befehl seines Großvaters nachkam. Der alte Zwerg hielt den filigran aus Draht geknüpften Käfig vor den Durchbruch. Für einen Moment verstummte der gelb und blau gefiederte Vogel auf seiner Stange, um mit schief gelegtem Kopf das Loch in der Wand zu beäugen. Dann entschied er, dass es wichtiger war, mit seinem Ge­sang ein Weibchen anzulocken, als langweilige Höhlen an­zustarren.

Fadrim ließ noch ein wenig Zeit verstreichen, bis er davon überzeugt war, dass keine giftigen Gase aus dem Hohlraum drangen. Erst danach gab er seinem Enkel den Käfig zurück und steckte selbst seine Nase in die Öffnung, um prüfend die Luft einzuziehen. »Trockener als ein lee­rer Bierkrug«, kommentierte er, als er sich wieder aufrich­tete. »Und da ist noch etwas.« In seine Augen trat ein ver­heißungsvolles Funkeln. »Wenn ich damit Recht habe, wird das ein Jahrhundertfund.«

Na, wunderbar, wir haben tatsächlich einen Schatz gefunden, dachte Ortosch. Die ganze Binge wird Kopf stehen, aber den Ruhm fährt allein Fadrim ein.

»Was ist es, Großvater?«, bohrte Xorrox, als der älteste Angroscho sich wieder dem Durchbruch zuwandte. »Was?«

»Zappel hier nicht so herum, sondern gib mir lieber einen ordentlichen Felsbrocken!«, wehrte Fadrim ab.

»Das ist gemein«, murrte der Junge, reichte ihm jedoch brav einen faustgroßen Stein.

»Still jetzt!«, forderte Balbarosch.

Fadrim steckte die Hand mit dem Gesteinsbrocken durch die Öffnung und ließ ihn fallen. Die Angroschim hielten den Atem an, um angespannt zu lauschen. Der kurze Au­genblick, bis ein leiser Ton den Aufprall verkündete, kam ihnen länger vor, als er tatsächlich war. Außer Fadrim, der sein Ohr direkt an das Loch gehalten hatte, hörte niemand das Geräusch, das den Ältesten verwirrte. Wenn ihm seine Sinne keinen Streich gespielt hatten, war der Stein nicht auf Fels getroffen. Der Laut hatte zu dumpf geklungen. Und war da nicht noch ein kaum wahrnehmbares metalli­sches Klicken gefolgt?

»Etwa fünf Draschim [zwergisches Längenmaß: 1 Drasch = etwa 6,7 m]«, schätzte er die Tiefe. Das seltsa­me Geräusch behielt er lieber für sich, bis er Gewissheit hatte.

»Wie gehen wir vor?«, erkundigte sich sein Sohn.

»Wir brauchen ausreichend Seil, wenn wir die Höhle erkunden wollen«, stellte Fadrim fest. »Das bisschen, das wir bei uns haben, hilft uns da nicht weiter Xorrox, du läufst nach Hause und besorgst uns ein Dumad [zwergisches Längenmaß: 1 Dumad = etwa 74 m]. Nein, besser zwei halbe Dumad. Außerdem Kletterhaken und einen Flaschenzug. Und lass dir beim Tragen helfen!«

»Wieso ich?«, maulte der Junge, ohne den Blick von der verlockenden Öffnung losreißen zu können. »Das kann doch auch Ortosch machen.«

»Jetzt reicht es aber!«, polterte sein Großvater. »Ortosch wird hier gebraucht, du nicht. Seit wann treffen Lehrlinge die Entscheidungen im Berg? Setz deinen faulen Hintern in Bewegung, aber plötzlich!«

Erschrocken über die unerwartete Heftigkeit des sonst so geduldigen Alten zog Xorrox den Kopf ein, schnappte eine der Lampen und trollte sich. Fadrim war sicher, dass der Junge - von seiner Neugier beflügelt - schneller lau­fen würde, als es im ersten Trotz den Anschein hatte.

»Ich hau mir auf den Daumen, wenn ich in meiner Ju­gend auch so aufmüpfig war«, meinte der alte Angroscho, doch sein Zorn war bereits wieder verraucht.

»Sollte er nicht besser auch eine Waffe mitbringen?«, warf Balbarosch respektvoll ein. »Nur, um sicherzugehen?«

»Ach, was«, wehrte sein Vater ab. »Zur Not hat noch immer ein ordentlicher Hieb mit dem Schlägel gereicht.«

Zumindest, solange es nicht gegen Drachen ging, fügte Or­tosch in Gedanken hinzu.

Gemeinsam machten sich die drei Hauer wieder daran, den Gang bis zu seinem natürlichen Ende in der Höhle voranzutreiben. Sie konzentrierten sich dabei ganz auf den oberen Teil der Wand und wollten das untere Drittel zu­nächst als Geländer stehen lassen. Die Öffnung wurde immer größer. Mehr und mehr Gestein prasselte - anstatt auf den Boden des Stollens zu fallen - in die undurchdring­liche Dunkelheit hinab, doch wenn sein Aufprall manchmal seltsam klang, so ging dies im durch den Widerhall ver­stärkten Lärm unter.

Noch bevor Xorrox von seinem langen Marsch zurück­kehrte, war der Durchbruch schließlich so weit angewach­sen, dass ein erwachsener Angroscho hindurchpasste, so­lange er sich dabei nicht aufrichtete. Balbarosch griff sich die verbliebene Lampe und versuchte, weiter in die neu entdeckten Bereiche hineinzuleuchten. Fadrim lehnte sich ebenfalls vorsichtig über den Rand, während Ortosch ge­langweilt zurückblieb.

»Bei Angroschs prächtigem Bart!«, staunte der älteste Zwerg.

»Denkst du, was ich denke?«, fragte sein Sohn unsicher.

»Kein Zweifel«, erwiderte Fadrim. »Menschen wagen sich nicht so tief in den Berg.«

»Dann muss...«, setzte Balbarosch an, wurde jedoch von Xorrox‘ lautem Geschrei jäh unterbrochen.

»Hab ich was verpasst?«, rief der Lehrling außer Puste vom schnellen Lauf. »Großvater, ich hab die Seile und ...«

»Wie wäre es, wenn du jetzt endlich mal die Klappe hältst?«, fuhr ihn sein Begleiter an.

Murtorog Sohn des Mirtaschox schob sich an dem ein­geschüchterten Jungen vorbei und warf die schwere Seil­rolle, die er geschultert hatte, achtlos zur Seite. Ortosch versteifte sich beim Anblick der beeindruckenden Gestalt unwillkürlich. Sein Vater war für einen Angroscho auffal­lend groß und dabei kräftig gebaut. Haar und Bart des geachteten Absolventen der Drachenkämpferschule zu Xorlosch glänzten wie poliertes Kupfer. Weit über dreißig Zöpfe unterschiedlichen Flechtmusters wiesen ihn als Be­zwinger jedes erdenklichen Gegners aus. Auch wenn er dieselbe Kluft aus lederner Hose und grobem Hemd trug wie die drei Hauer, hing an seinem Gürtel nicht das Werk­zeug der Bergleute, sondern der meisterhaft geschmiedete Lindwurmschläger, den bereits sein Urgroßvater Brogar geführt hatte.

Die braunen, fast schon das Kupfer der Haare widerspie­gelnden Augen streiften seinen Sohn nur flüchtig. Ortosch empfand die ganze, vor Selbstbewusstsein strotzende Er­scheinung seines Erzeugers einmal mehr als unausgespro­chene Anklage. Mit jeder Faser des kampfgestählten Kör­pers schien Murtorog ihm vorzuwerfen, dass er mit seinem pechschwarzen Bart und der deutlich schmaleren Statur schon äußerlich kein bisschen nach seinem Vater kam.

»Sieh dir das an, Murtorog!«, lud Fadrim den Neuan­kömmling ein. »So etwas bekommt man nicht alle Tage zu Gesicht.«

Ortoschs Vater lehnte sich in die Öffnung und musterte die Entdeckung seines Großonkels, so weit der Schein der Lampe reichte. »Ewiges Schmiedefeuer! Das muss ein al­ter Förderschacht sein«, stellte er verwundert fest.

Xorrox, der hastig einen Rucksack abgesetzt hatte, lief vor Aufregung rot an. Er reckte sich und stellte sich auf die Zehenspitzen, um an den Erwachsenen vorbei einen Blick auf die vermeintliche Höhle zu erhaschen.

»Daran ist nicht zu rütteln«, bestätigte der ältere Zwerg. »Senkrechte Wände entstehen zwar manchmal auf natür­liche Art, aber wohl kaum in den herkömmlichen Abmes­sungen und zum Quadrat angeordnet.«

Murtorog und er lachten über die alberne Vorstellung und Balbarosch stimmte mit ein.

»Das heißt, dass wir nicht die ersten Angroschim in die­sem Berg sind, nicht wahr?«, erkundigte sich Xorrox. End­lich gelang es ihm, sich zwischen seinen Großvater und seinen Onkel zu quetschen, sodass er den bearbeiteten Fels mit eigenen Augen sehen konnte. »Werden wir dann da unten überhaupt noch etwas finden?«

»Du kannst einen wirklich Löcher in den Bauch fragen«, antwortete Fadrim, aber sein nachsichtiger Tonfall milder­te die gereizten Worte. »Das werden wir wissen, wenn wir nachgeschaut haben.«

Doch die Gedanken seines Enkels überschlugen sich und waren schon wieder weiter. »Nach oben müssten wir stei­gen«, sinnierte der Junge. »Da ist doch ganz bestimmt eine alte Stadt! Vielleicht liegen sogar noch vergessene Schätze herum, weil die Angroschim alle von einem gewaltigen Drachen...«

»Xorrox, deine Phantasie geht mit dir durch«, tadelte ihn sein Großvater. »Wenn es hier in der Gegend eine bedeu­tende Binge gegeben hätte, wüssten wir sicher davon. Wahr­scheinlich war es nur ein kleiner Vorposten. So wie wir.«

»Aber in Brodomurrs Geschichten heißt es doch immer ...«, wollte sich der Junge verteidigen.

»Steh den Erwachsenen nicht länger im Weg herum, du kleine Stollenplage!«, befahl Fadrim, der einmal mehr am Ende seiner Geduld angelangt war, und bugsierte den Lehrling zur Seite. »Wir wollen jetzt nachsehen, ob meine alte Nase richtig gelegen hat. Balbarosch, lass uns den klei­nen Federling auf einen Erkundungsflug schicken!«

Der jüngere Zwerg nahm ein Ende des längsten Seils auf, um es an den Tragegriff des kleinen Vogelkäfigs zu knoten.

»Ich hoffe wirklich, ihm passiert nichts«, gab er zu. »Ir­gendwie gewöhnt man sich einfach an so ein Tierchen.«

Fadrim Sohn des Fobosch nickte und strich sich verlegen über den Bart. »Hat uns immerhin schon drei Jahre be­gleitet, die treue Seele. Manche werden gar nicht so alt.«

Murtorog brummte nur etwas Unverständliches, ver­drehte dabei jedoch die Augen. Für solche Sentimentalitä­ten hatte er nichts übrig. Balbarosch trat vor, um sich auf den Rand des Durchbruchs zu setzen, sodass seine Füße über dem Abgrund baumelten. Sein Vater und Murtorog hockten sich hinter ihn und packten zur Sicherheit in seinen breiten, stabilen Gürtel, wobei jeder von ihnen die freie Hand auf die verbliebene niedrige Mauer legte, um sich dort abstützen zu können, falls Balbarosch das Gleich­gewicht verlor. Auch Xorrox und Ortosch hielten sich für den Fall bereit, dass ihre Hilfe gebraucht wurde.

Weit nach vorn gebeugt, damit der Käfig nicht an der Wand entlangschabte, ließ Balbarosch den Swerka lang­sam und vorsichtig in die Tiefe hinab. Da niemand in den Schacht leuchtete, wurde der Käfig rasch von der toten­stillen Finsternis verschluckt.

»Er singt nicht mehr«, wisperte Xorrox aufgeregt.

»Sie hören immer auf zu singen, wenn es dunkel wird, du Kissenbovist!«, zischte Ortosch zurück.

Die heftige Antwort darauf blieb dem Lehrling jedoch im Hals stecken, als Murtorog den beiden Jungzwergen einen wutentbrannten Blick zuwarf.

Plötzlich schlackerte das zuvor straffe Seil locker herum. Balbarosch testete mit leichten Pendelbewegungen, ob sich der Käfig nur an einer Unebenheit der Wand verfangen hatte, doch das schien nicht der Fall zu sein.

»Er ist unten«, verkündete er.

»Gut«, meinte Fadrim. »Xorrox, mach dich nützlich und zähle bis dreihundertdreiundvierzig! Aber nicht zu hastig und nicht laut!«

Der Junge klappte den Kiefer wieder zu. Während sein konzentrierter Blick verriet, dass er seine Aufgabe erfüll­te, fragte sich Ortosch zum ersten Mal, wie sich der kleine Vogel dort unten fühlen mochte. Konnten Meisen Angst vor dem Unbekannten haben?

Da Balbarosch sich wieder aufgerichtet hatte, bis es dar­an ging, den Swerka zurück nach oben zu holen, drehte Murtorog sich nach dem Rest des Seils um und überprüfte die verbliebene Länge. Offenbar war der Schacht vierein­halb Draschim tief.

»Dreihundertdreiundvierzig«, schnappte Xorrox, als habe er die ganze Zeit über die Luft angehalten.

Was er nicht hat, dachte Ortosch. Sonst wäre er genauso umgekippt wie der Federling.

»In Ordnung, Balbarosch, zieh ihn wieder rauf!«, ordnete Fadrim an.

Schlinge für Schlinge des Seils wanderte zurück über die Kante. Gebannt starrten sämtliche Angroschim auf die Stel­le, wo der Swerka in Sicht kommen musste. Endlich tauchte der Käfig aus dem Dunkel auf. Der kleine Vogel darin schüt­telte sein Gefieder, wippte ein paar Mal auf der Stange und stimmte zaghaft aufs Neue seinen trillernden Gesang an. Die Zwerge atmeten erleichtert durch.

»Angrosch sei Dank!«, pries Fadrim ihren Gott. »Entwe­der gibt es dort unten keine matten Wetter oder die alten Luftschächte versehen noch immer ihren Dienst.«

»Jedenfalls ist Angrosch dir wohl gesonnen«, behauptete Murtorog. »Jetzt können wir gefahrlos nachsehen, was dort unten einst abgebaut wurde.«

»Und hoffen, dass es ein so reiches Lager ist, dass sie es nur angekratzt haben«, fügte Balbarosch gut gelaunt hin­zu.

»Wenn es so ist, gebe ich heut Abend ein Fässchen aus«, versprach Fadrim. »Oder auch zwei.«

»Das gilt!«, lachte Murtorog, wurde jedoch augenblick­lich wieder ernst.

Er kramte einen Kletterhaken aus dem von Xorrox ab­gestellten Rucksack und lieh sich Balbaroschs Schlägel. Die anderen Angroschim machten vor dem Durchbruch Platz, damit Murtorog den Haken knapp unter der Decke in die Wand hämmern konnte. Abschließend prüfte er sein Werk, indem er zwei Finger durch die Öse quetschte und sich mit seinem vollen Gewicht daran hängte.

»Hält«, meinte er schlicht. »Aber wir gehen sicher.«

Mit einem zweiten Kletterhaken stapfte er vier große Schrit­te im Gang zurück, um ihn dort in die Wand zu hauen.

»Was soll das nützen?«, erkundigte sich Fadrim, der mehr von Bergbau als vom Klettern verstand.

»Wir binden das Seil einen Draschim vor dem Ende hier fest«, erklärte Murtorog und machte sich sogleich an die Ausführung seines Plans. »Dadurch reicht es nur bis etwa zwei, drei Drumodim [zwergisches Längenmaß; 1 Drumod = etwa 1,7 m] über den Boden des Schachts. Soll­te der vordere Haken ausbrechen und uns dadurch den Strick aus der Hand reißen, wird Ortoschs Fall rechtzeitig abgefangen, sodass er nicht auf dem Grund aufschlägt.«

Die schreckliche Vorstellung lähmte für einen Moment die Gedanken der Angroschim.

»Das ist klug«, lobte Fadrim dann, während seinem Enkel eine ganz andere Erkenntnis dämmerte.

»Och, wieso ausgerechnet Ortosch?«, beschwerte sich Xorrox. »Ich will der Erste sein!«

»Unsinn!«, wies sein Großvater ihn zurecht. »Ortosch wird gehen. Er ist der Leichteste von uns allen.«

Und der Verzichtbarste, setzte Ortosch in Gedanken zy­nisch hinzu. Niemand würde das kostbare Leben eines Kindes riskieren, aber mich schickt Vater natürlich ohne zu zögern vor.

Murtorog würdigte weder seinen missmutigen Sohn noch den unvernünftigen Jungen eines Blickes, sondern führte das Seil zu dem Haken am Rand des Abgrunds, um es mit dem altbewährten Schachtsteigerwurf dort zu ver­knoten.

»So, komm her, Ortosch!«, forderte er.

Widerwillig trat sein Sohn zu ihm. Gemeinsam fertigten sie aus zwei weiteren kurzen Seilen Brust- und Sitzgurt, die Ortosch anlegte, da sie ihn auf dem Weg nach unten sichern und aufrecht halten würden. Er kannte die Proze­dur von ihrer Arbeit als Schachtfeger, auf der er seinen Vater schon oft begleitet hatte. Ihre kleine, nur von ihrer eigenen Sippe bewohnte Binge konnte es sich nicht leis­ten, einen Krieger durchzufüttern, der sich ausschließlich dem Waffenhandwerk widmete. Doch Murtorog hätte ver­mutlich ohnehin darauf bestanden, sich nützlich zu ma­chen.

Nachdem beide Gurte sorgfältig mit dem vorderen Ende des Seils verbunden worden waren, hielt sein Vater Ortosch den mit aufwendig hineingeätzten Ornamenten verzierten Lindwurmschläger entgegen.

»Hier! Vielleicht wirst du ihn brauchen.«

Ortosch schluckte trocken. Er glaubte nicht, dass dort unten eine Gefahr lauerte.

Es ist nichts weiter als ein alter Förderschacht, sagte er sich trotzig.

Dennoch ergriff ihn die Geste seines Vaters gegen sei­nen Willen. Die alte Axt war ein kostbares Erbstück, eine ehrwürdige Waffe, und Murtorog hatte oft genug betont, dass sein linkischer Sohn es nicht wert sei, sie zu führen. Wortlos nahm Ortosch sie entgegen, um sie in die Halterung an seinem Gürtel zu schieben. Balbarosch reichte ihm eine der Lampen.

»Es kann losgehen«, verkündete Murtorog.

Er nahm das Seil hinter dem ersten Haken auf, um Stück für Stück nachzugeben, wenn Ortosch hinabstieg. Fadrim, Balbarosch und selbst der schmollende Xorrox packten ebenfalls den Strick, um ihr Gewicht in die Waagschale zu werfen, wenn es nötig werden sollte.

Ortosch drehte der Öffnung den Rücken zu und stieg rückwärts auf die verbliebene Stufe. Prompt stieß er unter der niedrigen Decke mit dem Helm an den Kletterhaken. Gebückt kämpfte er um sein Gleichgewicht, balancierte sich noch einmal in einen halbwegs sicheren Stand. Auch wenn sein Vater ihn schon hin und wieder abgeseilt hatte, kostete es den jungen Zwerg noch immer Überwindung, sich rücklings in die Tiefe sinken zu lassen.

Er atmete ein weiteres Mal hörbar durch, dann ließ er sich allmählich nach hinten kippen. Seine freie Hand krampfte sich unbewusst um das straffe Seil. Der schwarze Abgrund in seinem Inneren verschmolz in einem Aufblit­zen von Panik mit der unheimlichen Finsternis des realen Schachts. Das Gefühl dauerte nur einen Wimpernschlag, bevor Ortosch spürte, wie sich ihm die Stricke ins Fleisch schnürten und sein Gewicht trugen, doch dieser kurze Au­genblick der Todesangst genügte, um kalten Schweiß auf seine Stirn zu treiben.

Die Füße gegen den Fels gestemmt, hing Ortosch direkt am unteren Rand des Durchbruchs in der Luft. In seiner Linken hielt er tapfer die Lampe fest, mit der rechten Hand umklammerte er das Seil, wodurch er sich in einer auf­rechteren Position stabilisieren konnte. Über die Kante hin­weg traf sein Blick den seines Vaters.

»Bist du bereit?«, fragte Murtorog sachlich.

Ortosch nickte nur. Er richtete seine Aufmerksamkeit nun ganz auf den eigentlichen Abstieg. Solange er mit den Fü­ßen an der Wand entlang einfach mit dem länger werden­den Seil nach unten lief, waren die einschneidenden Gurte das Unangenehmste. Zumindest wenn er von dem mul­migen Gefühl absah, rückwärts in unbekannte Dunkelheit zu tauchen. Doch je tiefer er kam, desto größer wurde die Gefahr, durch eine zu heftige Bewegung das fragile Gleich­gewicht zu verlieren und sich unkontrolliert herumschlin­gernd am Fels aufzuschürfen.

Nach einer Weile empfand er beim Atmen einen merk­würdigen schmerzhaften Druck in der Nase, dann sogar weiter innen im Kopf.

Hier stimmt etwas nicht, dachte er verunsichert. Obwohl ihn die Konzentration auf das Absteigen sonst stets voll­kommen in Anspruch nahm, überkam ihn hier plötzlich der Drang, sich die spröden Lippen zu lecken. Doch selbst seine Zunge fühlte sich ausgedörrt an.

Es ist die Luft, erkannte er. Wie kann sie so ungewöhnlich trocken sein? Selbst über einer Esse atmet es sich leichter. Was hat das zu bedeuten?

Er war versucht, nach oben zu rufen, sich aus dieser un­terirdischen Wüste herausziehen zu lassen. Doch was sollte er seinem Vater sagen? Dass er verzagt hatte, wo ein klei­ner Swerka unbeschadet wieder zurückgekehrt war? Der Durchbruch zum Erzgang bildete nur noch einen matten Schein weit über ihm. So kurz vor dem Ziel konnte er nicht aufgeben. Xorrox würde ihn in der ganzen Binge zum Gespött machen.

Plötzlich verhielt seine langsame Abwärtsfahrt.

Der zweite Haken!, fiel ihm ein. Nur noch ein paar Drumo-dim, dann bin ich unten.

Schon gab das Seil wieder nach. Ortosch bereitete sich innerlich darauf vor, die Beine wieder unter sich statt vor sich zu bringen. Zum ersten Mal wagte er einen Blick nach unten und bereute es sofort. Sein ängstlicher Aufschrei entrang sich der rauen Kehle nur als heiseres Krächzen. Panisch strampelnd hing er senkrecht in den Gurten, prall­te mit der Schulter gegen die Felswand und pendelte dar­an hin und her, während er am länger werdenden Seil dem Grauen entgegensackte.

Verzweifelt rudernd und mit den Füßen Halt suchend, versuchte er, sich möglichst weit zur Seite zu werfen. Die plötzlichen Ausschläge des Seils alarmierten die unerreich­baren Angroschim über ihm, deren aufgeregte Rufe durch den Schacht hallten. Ortosch fiel mehr gegen die Wand, als dass er auf dem Boden aufkam, doch zumindest war er nicht direkt auf der grinsenden Fratze gelandet, die ihm von unten aus leeren Augenhöhlen entgegengeblickt hatte.

Er rappelte sich mit dem Rücken zum Fels auf und wich noch weiter zurück. Während er mit zitternden Fingern die Axt aus ihrer Halterung nestelte, sah er sich hastig um. Entgegen seinem ersten Eindruck im schwankenden Schein der Lampe bewegte sich keine der drei schreckli­chen Gestalten. Erleichtert atmete er ein wenig freier und wagte es, sich derjenigen zu nähern, die nur einen Drumod neben ihm lag.

»Ortosch, verflucht! Was ist da unten los?«, brüllte sein Vater.

Erst jetzt bemerkte Ortosch, dass die anderen schon mehrmals nach ihm gerufen hatten. »Alles in Ordnung!«, schrie er mit kratziger Stimme hinauf. Zu mehr konnte er seinen wunden Hals nicht zwingen.

Falls man das so sagen kann, wenn man gerade in eine Gruft gestolpert ist, setzte er in Gedanken hinzu und richtete den Blick wieder auf den Toten zu seinen Füßen. Er hatte schon Leichen gesehen. Innerhalb einer großen Sippe verstarb unausweichlich alle paar Jahre ein Zwerg. Aber obwohl es sich zweifellos um einen Angroscho handelte, war an die­sem Toten alles seltsam.

Die Haut sah aus wie hartes, brüchig gewordenes Leder und spannte um den fast zum Skelett ausgemergelten Körper. Dort wo die Augäpfel gewesen waren, gab es nur Dunkelheit hinter halb geschlossenen Lidern. Die Lippen hatten sich gänzlich zurückgezogen, sodass die Zähne zu dem makaberen Grinsen hervortraten, das Ortosch so er­schreckt hatte. Die Haare dagegen, einst unter einem Helm verborgen, der nun ein Stück neben der Mumie lag, wirk­ten ebenso wie der imposante Bart und die dicken Augen­brauen nahezu unverändert.

Der Tote steckte in Kettenhemd, Lederhose und Stiefeln, die - gerade so wie der Gürtel - aufwendig mit geometri­schen Mustern punziert und mit goldenen Beschlägen aus­gestattet worden waren. Sein Helm und die Scheide des Drachenzahns an seiner Seite wiesen ebenfalls goldene und silberne Ornamente auf. Die große. Felsspalter ge­nannte Doppelblattaxt war seinen Fingern im Tod entglit­ten, doch auch sie verdeutlichte in ihrer prachtvollen Ver­arbeitung, die von eingelegten Edelsteinen gekrönt wurde, unmissverständlich, dass Ortosch einen hochrangigen Stammesführer, wenn nicht gar einen Bergkönig vor sich haben musste.

Weshalb es ihm nur noch rätselhafter erschien, aus wel­chem Grund dieser wichtige und sicher zu Lebzeiten sehr geachtete Krieger unbestattet in einem alten Förderschacht lag. Die Art, in der der steife Körper an der Wand klemm­te, deutete an, dass er gegen den Fels geschleudert und dort tot niedergesunken war, aber welcher Gegner ver­mochte derlei?

Ortosch lief ein Schauer den Rücken hinab. Unwillkür­lich sah er sich nach dem riesigen Lindwurm um, den er sich in seiner Vorstellung ausmalte.

Sei nicht albern!, ermahnte er sich. Wenn in diesem Berg noch immer ein Drache hausen würde, hätte er uns längst ent­deckt. Wir geben uns nicht gerade Mühe, unsere Meiler und Schmelzöfen zu verbergen.

Innerhalb der Reichweite seiner Lampe konnte er zwei weitere Mumien ausmachen. Die eine nur einen halben Drumod von ihrem einstigen Anführer entfernt, die zwei­te ein kurzes Stück den Stollen hinein, der am Grund des Schachts abzweigte. Um sich freier bewegen zu können, löste der junge Zwerg den Knoten, der seine Gurte mit dem langen Seil verband.

Jetzt bin ich wirklich auf mich gestellt, schoss es ihm durch den Kopf. Sie können mich nicht mehr schnell nach oben ziehen, wenn es wässrig wird [Da den Zwergen das Wasser suspekt, das Feuer dagegen heilig ist, kennen sie „brenzlig werden“ nicht].

Der Gedanke an einen plötzlichen Wassereinbruch war in der extremen Trockenheit dieses merkwürdigen Ortes jedoch so abwegig, dass Ortosch selbst darüber lächeln musste. Für einen einzigen Schluck hätte er im Augenblick sogar ein unfreiwilliges Bad in Kauf genommen.

Ein wenig entspannter betrachtete er den zweiten Toten. Auch dieser vor ungewiss langer Zeit verstorbene Angro-scho trug den vielfach geflochtenen Bart des ruhmreichen Kämpfers und war in ein Kettenhemd gewandet. Doch seine Ausrüstung wies längst nicht die erlesene Qualität derjenigen seines Königs auf. Die zu Klauen verdörrten Finger umklammerten noch den Stiel der Sehnenschneider genannten Axt, obwohl der rechte Arm in einem unnatür­lichen Winkel vom Körper abstand. Eindeutig an der ge­waltigen Delle in seinem Helm zu erkennen, musste er einen ebensolchen Hieb auf den Schädel erhalten haben. Ortosch zweifelte nicht daran, dass dieser Schlag tödlich gewesen war.

Ihm fiel ein, dass er über den unglücklichen Angroschim, deren Leiber darauf warteten, endlich dem heiligen Feuer übergeben zu werden, seinen eigentlichen Auftrag völlig vergessen hatte. Pflichtbewusst hob er die Laterne und richtete sein Augenmerk auf die Wände des Schachts und den Stollen. Überrascht trat er näher heran, um die schwar­ze Schicht zu berühren, die etwa in der Mitte des Schacht­grundes aus den Tiefen des Gebirges hervorwuchs und zu beiden Seiten in den Stollen hinein anstieg. Selbst der Boden des waagrechten Gangs bestand gänzlich aus dem matten, bröckeligen Gestein.

Ortosch wischte darüber und konnte es kaum fassen, als dunkler Staub seine Handfläche überzog.

»Das ist Kohle!«, wollte er ungläubig ausrufen, doch seine raue Kehle versagte ihm den Dienst. Und offensichtlich ist noch reichlich davon übrig. Fadrim, nein, alle werden ein Freu­denfest feiern!

Ihm war es gleich, aber seine Tante und seine Großmut­ter würden fröhlich sein, und das gönnte er ihnen. Er be­schloss, noch einen raschen Blick in den Stollen und auf die dritte Mumie zu werfen, bevor er der extremen Tro­ckenheit entfloh.

Es fehlt jede Spur von Lorengleisen oder einem Förderkorb, stellte er nüchtern fest. Die ursprünglichen Entdecker müssen den Abbau bald aufgegeben haben. Bestimmt hat es mit den toten Kriegern zu tun.

Der junge Zwerg betrat vorsichtig den Gang, der sich jenseits des Lichtscheins in der Dunkelheit verlor. Eindeu­tig zweigte nach nur wenigen Drumodim ein weiterer Stol­len ab, doch Ortosch durfte sich nicht mehr als ein paar Schritte in diese Richtung wagen, da die Luft dort tödlich sein konnte, und er keinen Vogel bei sich trug, der ihn ge­warnt hätte.

Vermutlich gibt es dort ohnehin nichts zu sehen, redete er sich ein, aber nachdem er so unerwartet auf ein Kohleflöz und sogar tote Angroschim gestoßen war, glaubte er selbst nicht mehr daran.

Neugierig sah er auf den letzten der Leichname hinab, der bäuchlings hingestreckt auf dem Boden lag. Ortosch wagte nicht, die Mumie zu berühren, um sie umzudrehen. Nach Kleidern, Rüstung und dem fallen gelassenen Lind­wurmschläger zu urteilen, handelte es sich um einen wei­teren kampferprobten Recken, der hier sein blutiges Ende gefunden hatte. In Kettenhemd und Rücken klaffte ein eindrucksvoller Spalt, als habe jemand eine riesige Lanze hindurchgetrieben. Ortoschs Magen verkrampfte sich bei dieser Vorstellung, als solle er selbst durchbohrt werden. Der Jungzwerg schüttelte sich und kehrte hastig in den Schacht zurück.

Für seinen Vater war mehr als genug Zeit vergangen, um den kurzen Rest des Seils aus dem Kletterhaken zu ziehen, stattdessen den Flaschenzug aufzuhängen und das Seil dort einzufädeln. Damit würde es wesentlich leichter werden, ihn wieder hinaufzuziehen. Ortosch verknotete das Seil wieder sorgfältig mit seinen Gurten und ruckte dann dreimal heftig daran. Weit über sich hörte er die Stim­men der anderen Angroschim, die sein Signal bemerkt hatten. Er machte sich darauf gefasst, jeden Moment an­gehoben zu werden, woraufhin er rasch die Beine nach vorn bringen musste, damit er Abstand von der Wand be­hielt. Es würde nicht ganz einfach werden, weil er dabei auf jeden Fall vermeiden wollte, auf den toten Bergkönig zu treten.

Gerade als sich das Seil straffte und sein Gewicht erneut die Stricke in seinen Körper presste, fiel sein Blick auf ein in den Fels gemeißeltes Zeichen.

Was ist das? Eine Rune?, rätselte er. Warum sollte jemand hier einen einzelnen Buchstaben hinschreiben? Vielleicht eine Abkürzung für den Namen der Sippe?

Die Form erinnerte ihn an das Zeichen für NG, aber Ortosch konnte nicht sicher sein. Das Seil zog ihn fort und die Rune verschwand in der zurückbleibenden Finsternis.

Sturmnacht

Weißliches Licht umgab mich wie an einem nebligen Win­tertag. Doch ich spürte keine Kälte auf meiner Haut. Viel­mehr war es stickig, wenn auch nicht heiß. Kein Lufthauch regte sich. Beklemmung schnürte mir den Atem ab. Selbst an den windstillsten Tagen und an den abgeschiedensten Orten hatte ich das leise Säuseln der Lüfte stets vernom­men. So plötzlich davon abgeschnitten zu sein, war ein Gefühl, als hätte mein Herz aufgehört zu schlagen.

Ich musste von hier fort. Ich bewegte mich und stieß an etwas Hartes, Glattes. Ich tastete mich daran entlang, aber es gab kein Ende. Milchig weiße Platten - war es Glas? Oder Kristall? Oder gar kälteloses Eis? - umschlossen mich von allen Seiten. Wohin ich mich auch drehte, selbst über mir und unter meinen Füßen, trafen meine Hände auf die Grenzen dieses schrecklichen Kerkers, dieses erstickenden Gefängnisses. Es hatte kantige Winkel, die mich für kurze Augenblicke Hoffnung schöpfen ließen, bis meine Finger erneut enttäuscht wurden. Immer schneller kreiste ich suchend um mich selbst. Immer fester trommelten meine Fäuste gegen die undurchdringlichen Wände, trat ich vergebens um mich, ohne den schmerzhaften Aufprall meiner Zehen zu beachten. Die Panik löschte jeden sinn­vollen Gedanken aus. War ich für die Ewigkeit hier gefan­gen? Mein ganzes Sein reduzierte sich auf den einen Wunsch, das eine, unbändige Verlangen: »Hinaus!«

Plötzlich fand ich mich außerhalb wieder. Von außen be­trachtet erkannte ich endlich, dass mein Gefängnis die Form eines riesigen, vieleckigen Kristalls besaß. Größer als ich und von enormem Umfang. Noch immer kämpfte ir­gendetwas darin, doch durch das trübe Glas konnte ich kaum mehr als sich bewegende Schlieren erkennen. Dann wuchs das befremdliche Gebilde an, blähte sich auf. Ich wich zurück. Eine Ahnung von Gefahr, nein, höchster Be­drohung, streifte mich. Weiter und weiter dehnte sich der gewaltige Kristall aus. Mit einem Mal wusste ich - was dort um seine Freiheit rang, durfte niemals entfesselt werden. Ein scheußliches Knacken. Ich warf mich zu Boden, als die Platten in tausend Stücke barsten. Klirrend regneten die Splitter hernieder und mir blieb nichts, als meinen Kopf notdürftig mit den Armen zu schützen. Scharfe Klingen schnitten mir durch Haut und Kleider. Ein heißer Hauch blies über mich hinweg, wie ein Wind direkt aus der Khom. Eine kräftige Böe riss an mir. Ein Schatten verdunkelte das Licht.

Ehe ich mich versah, stand ich auf einem felsigen, mit grünen Wiesenflecken gesprenkelten Berghang. Der Him­mel war grau, mit Wolken verhangen, und ringsherum ragten raue Gipfel empor, an denen letzter Schnee klebte. Im Talgrund schlängelte sich ein Bach, doch der Anblick, der lieblich hätte sein sollen, löste blankes Entsetzen aus. Wo klares Wasser über die Steine rinnen sollte, floss zähes, tiefrotes Blut und sättigte die Luft mit seinem metallischen Geruch.

Mein Blick wanderte die gegenüberliegende Felswand hinauf. Dort oben, am Rand des gefährlichen Abgrunds, stand eine verlorene Gestalt und sah mich an. Trotz ihrer Jugend lag in ihren Augen so viel Leid und Verzweiflung, dass eine nie gekannte Woge des Mitgefühls in mir auf­wallte. Ich musste diesem armen Wesen helfen, seinen Schmerz und Kummer lindern.

Der Blutstrom im Tal schwoll an und lenkte dadurch meine Aufmerksamkeit wieder auf sich. Meine Sicht ver­änderte sich, umfasste immer mehr Berge und Schluch­ten, und überall waren die Bäche angefüllt mit Blut. Verei­nigten sich zu Flüssen, überzogen das Land mit einem Netz aus roten Adern. Doch diese Adern spendeten kein Leben, sie trugen es mit sich fort, gespeist von Abertausenden hingeschlachteter Kreaturen.

Mit einem Aufschrei schrak ich aus dem Albtraum hoch. Draußen tobte ein Sturm. Spiegelte in seinem Wüten mein aufgewühltes Inneres. Der Wind heulte durch alle Ritzen meiner Behausung, wirbelte sogar die Asche des Herdfeu­ers auf. War mein Traum nur dem wilden Treiben der Na­turgewalten geschuldet? Aber im Gegensatz zu den Traumbildern hatte mich kein noch so heftiger Rondrikan jemals in Furcht und Schrecken versetzt. Nein, etwas war geschehen. Etwas, das niemals hätte geschehen dürfen.

In der nächtlichen Dunkelheit gab meine Gefährtin ver­schlafen einen fragenden Laut von sich.

»Ich weiß nicht genau«, antwortete ich mehr mir selbst. »Etwas Mächtiges ... ist erwacht.«