Oliver Glanz
Wenn die
Götter
auferstehen
und die Propheten
rebellieren
Glauben in
einer modernen Welt
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ISBN EPUB: 978 - 3-8150 - 2618-2 (1. Auflage 2014)
ISBN PRINT: 978 - 3-8150 - 1547-6 (1. Auflage 2012)
© der Print- und der E-Book-Ausgabe:
STIMME DER HOFFNUNG e. V.,
Sandwiesenstraße 35, 64665 Alsbach-Hähnlein
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Verlag:
Saatkorn-Verlag GmbH, Abt. Advent-Verlag,
Pulverweg 6, 21337 Lüneburg
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Herausgeber: Matthias Müller, Klaus Popa
STIMME DER HOFFNUNG e. V.
Projektleitung, Layout, Satz und Coverdesign:
Sarah Kostmann, Adventist Media Design
Korrektorat: Timo Braun
Verlag: Saatkorn-Verlag GmbH, Abt. Advent-Verlag,
Pulverweg 6, 21337 Lüneburg, www.advent-verlag.de
Gesamtherstellung: CPI Clausen & Bosse, Leck
Titelfoto: rowan | photocase.com
Grafiken: Monoflosse Design | Philip Schikora, Mario Reineking
Bildnachweise S. 304
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Die in diesem Buch zitierten Bibeltexte stammen aus der Elberfelder Bibelübersetzung (2006). Die biblischen Stellenangaben erfolgen wie üblich (1. Mose, 2. Mose, Josua, etc). Im Fließtext werden die Bezüge auf die Bücher Mose im klassischen Stil (Genesis, Exodus, etc.) ausgeschrieben.
Das Werk ist einschließlich aller seiner Teile urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Verarbeitung in elektronischen Systemen. Alle Rechte vorbehalten.
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ISBN 978 - 3-8150 - 1547-6
Art.-Nr. 201547
Cover
Titel
Impressum
Vorwort
Einführung
ABSCHNITT I
1 Wofür noch kämpfen?
2 Von der Unabhängigkeit in die Gefangenschaft
3 Denken und Glauben
4 Jenseits von 1. und 3. Person: JHWH am Anfang
5 Jenseits von 1. und 3. Person: Prophetisches Theoriedenken
6 Jenseits von 1. und 3. Person: Kultur und Normativität
ABSCHNITT II
7 Atheismus als Grundlage der Propheten
8 Die Zukunft: Was erwartest du?
9 Was ist dein Anfang? Wissenschaft als Methode
10 Was ist dein Anfang? Schöpfung als prophetische Theorie
11 Sinn und Sünde: Wenn der Tod lebendig wird
12 Angst vor Verlust: Sehnsucht und Sünde
13 Die Gottlosen und ihre Geister
ABSCHNITT III
14 Gott verstehen: Vom hörenden Lesen
15 Wahrheit gibt es nicht: Standbilder Gottes zertrümmern
16 Eigenes und Fremdes
ABSCHNITT IV
17 Die Bibel ist kein Buch
18 Bibelkritik und Verhältnismäßigkeit
19 Odyssee oder Tora: Der Biblische Kanon
20 Die Biblische EMET – gibt es sie wirklich?
21 JHWH als Legende oder Wirklichkeit: Jesus
Nachwort
ANHANG
Bibliografie
glauben.einfach.
Weiteres Studienmaterial
Bildnachweise
Fußnoten
Zum Buch / zum Autor
In der Pluralität unserer Zeit, inmitten von zahllosen Angeboten und Lebensentwürfen, sind viele von uns auf der Suche nach tragfähigen Antworten. Menschen, die existenzielle Fragen bewegen und sich gern wissenschaftlichen und philosophischen Gedanken stellen, werden mit diesem Buch weiterkommen.
Oliver Glanz wendet sich an Leser, die es gewohnt sind, gründlich nachzudenken und nachzufragen. Mancher wird seine eigenen »gefühlten« Fragen hier formuliert finden – und hoffentlich auch Antworten, die ihm bislang fehlten.
Ist Gott nur eine Antwort der Gefühle auf unsere Sehnsucht, die Christen, Buddhisten oder Moslems einfach auf verschiedene Flächen projizieren? Ist das, was wir glauben, lediglich ein Ergebnis unserer Erziehung und Kultur? Kann man Begriffe wie »Wahrheit« und »Wirklichkeit« noch ernst nehmen? Ist das Christentum schlichtweg eine große Weltverschwörung? Woher kommt meine tiefsitzende Angst? Können Menschen verschiedener Religionen sich überhaupt verstehen? Welchen Sinn hat das Leben – und worin ist er begründet? Oliver Glanz präsentiert keine simplen Lösungen. Er geht mit Beharrlichkeit und mutigem Denken den Dingen auf den Grund. Lassen Sie sich mitnehmen auf eine philosophische Expedition in den Dschungel des Lebens! Mit Oliver Glanz als Reiseführer werden Sie wichtige Orte kennenlernen und neue Denkpfade beschreiten.
Wenn die Götter auferstehen und die Propheten rebellieren ist Teil der Serie glauben. einfach., deren Ziel es ist, für unsere persönliche Suche passende Angebote zu unterbreiten. Weitere Informationen dazu finden Sie im Anhang dieses Buchs und unter www.glauben-einfach.com.
Viel Freude beim Lesen wünschen
Matthias Müller und Klaus Popa
Der Leser hält ein Buch in der Hand, das in einem christlichen Verlag erschienen ist. Grob gesehen finden sich im Programm christlicher Verlage gewöhnlich drei Arten von Büchern. Zum Ersten gibt es Bücher, die sich mit der Auslegung von Bibelbüchern beschäftigen (Kommentare und Meditationen). Zum Zweiten gibt es Bücher, die sich der Verteidigung des Christentum als einer vertrauenswürdigen Religion widmen, die der Wissenschaft nicht notwendigerweise widerspricht (Apologetik). Und zum Dritten gibt es Bücher, die sich mit der praktischen Lebensführung auseinandersetzen und Hilfen anbieten, das Leben im christlichen Sinne erfolgreich zu leben (Ratgeber, christliche Romane). Alle drei Buchtypen sind wichtig und erfüllen ihren Zweck.
Aber mit biblischer Auslegung, Glaubensverteidigung und praktischen Lebenshilfen berühren wir nur selten den existenziellen Fragenkomplex des heutigen Menschen. Wie das Leben leben, wenn wir nicht einmal wissen, was das Leben ist? Wie das Christentum verteidigen, wenn wir nicht einmal wissen, ob es sich als historisches und soziokulturelles Produkt überhaupt vom Islam oder Buddhismus unterscheidet? Wieso die Bibel auslegen, wenn es keinen objektiven Standard für subjektive Interpretation gibt? Die Fragen des (post)modernen Menschen gehen tief und zielen auf die Erkenntnisfähigkeit des Menschen ab.
Diese Frage entbrennt vor allem durch den Tempelkult der Moderne: die Wissenschaft. So will uns die Psychologie davon überzeugen, dass die erlebte Wirklichkeit Produkt unserer Subjektivität ist. Objektivität existiert nur in unserer Psyche. Evolutionstheorien wie auch Schöpfungstheorien haben beide ihren Ursprung in der menschliche Sehnsucht, Zukunft und Vergangenheit zu erklären. Aber gegen eine solche Vorstellung erhebt sich die Biologie. Die Evolutionstheorie hat eine objektive Grundlage. Mit ihr lässt sich das Funktionieren der menschlichen Psyche erst verstehen. Der Historiker hingegen sieht im evolutionistischen Entwurf des Biologen zum großen Teil das Produkt eines Zeitgeistes. Wenn die Zeiten sich ändern, werden sich auch unsere Gedanken über Zukunft und Vergangenheit ändern. Historismus, Biologismus und Psychologismus befinden sich mit vielen anderen Wissenschaften im Streit. Und da, wo wir uns um multidisziplinäre Wissenschaftszugänge bemühen, werden die Spannungen des antiken Pantheon aufs Neue belebt. Mit Max Weber gesprochen, sind die totgeglaubten Götter der Antike wieder auferstanden – in neuem Gewand.
Die Götter sind auferstanden, das ist die Situation, in der sich der (post)moderne Mensch befindet. Diese Situation beeinflusst sein Fragen und Suchen. Das Fragen des (post)modernen Menschen zielt nicht mehr nur auf Fakten, sondern auf einen philosophischen Lebensentwurf, der die Konflikte der Moderne überwinden kann. Der (post)moderne Mensch lebt in einer komplexen und globalen Welt. Diese Komplexität will er verstehen, sie abbilden, um sich in ihr sicher und verantwortlich zu bewegen.
Zur Zielgruppe dieses Buches zählt jeder, dem die Frage nach der Wirklichkeit wichtig geworden ist. Oft sprosst diese umfangreiche Frage mit ihrer tief kritischen Kraft während des universitären Studiums auf. Aber auch das Leben in einer multikulturellen Gesellschaft stimuliert diese Frage. Und da, wo sie den Leser nicht unmittelbar begleitet, er aber einen Zugang zur Lebenswelt seines Kindes oder Enkels erhalten will, kann dieses Buch ebenso eine Hilfe sein.
Dieses Buch ist dialogisch angelegt und verfolgt ein lebensphilosophisches Interesse. Es sucht das Gespräch mit dem heutigen (post)modernen Menschen. Es will den Menschen von heute, ob Christ oder Nichtchrist, ob religiös oder agnostisch, ernst nehmen. Seine Ängste und Unsicherheiten, seine kritischen Gedanken und Sehnsüchte sollen gehört und verstanden werden.
Dieses Buch möchte aber nicht nur zuhören und Sympathie empfinden. Es möchte experimentieren. Es möchte versuchen, als Rebellion gegen die Auferstehung der modernen Götter in neuem Gewand, die biblischen Propheten hörbar werden zu lassen. Nachdem in den ersten Kapiteln der Hintergrund unseres heutigen Lebensgefühls und Denkens erläutert wurde, soll im weiteren Verlauf versucht werden, die zu interpretierende Wirklichkeit aus den Augen der biblischen Propheten zu sehen. Wie würde unser heutiges Fragen aus Sicht der Propheten verstanden werden? Wie würden die Propheten den Subjektivismus und naturwissenschaftlichen Reduktionismus, der unser Denken heute so sehr herausfordert, interpretieren? In diesem Buch wird als Experiment versucht, die Wirklichkeit so abzuzeichnen und zu besprechen, wie sie sich im prophetischen Geist darstellen würde. Während des Zeichnens dieses Bildes soll der Dialog mit dem (post)modernen Menschen fortgesetzt werden. Dabei soll der Dialog eine kritische Dimension erhalten, indem die prophetische Wirklichkeitsinterpretation den populären Wirklichkeitsinterpretationen wie ein Spiegel entgegengestellt wird.
In diesem Buch kommt es immer wieder zu einer dialogischen Konfrontation, die den Leser zum Nachdenken herausfordert. Er soll angeregt werden, sich selbst zu reflektieren und seine eigene Meinung zu bilden. Er soll sich und sein Denken besser verstehen und den Mut erhalten, seinen eigenen Weg ins Leben zu finden. Der Autor hofft, dass dieser Weg nicht alleine beschritten wird, sondern, ganz im prophetischen Geiste, mit dem, der die Wegwahl überhaupt erst möglich macht.
AUFBAU DES BUCHES
Das Buch ist in vier Abschnitte aufgeteilt. Der erste Abschnitt (I) versucht den Status quo des (post)modernen Menschen, seine Grundfragen und sein Lebensgefühl zu klären. Dabei wird das Fundament seines Denkens und Interpretierens analysiert und mit dem prophetischen Verständnis von Wirklichkeit konfrontiert. Im zweiten Abschnitt (II) soll auf einzelne einflussreiche Denkgebäude, die auf dem (post)modernen Fundament stehen (z. B. Interpretation von Geschichte, Interpretation von Kultur), eingegangen werden. Auch hier soll die prophetische Alternative zum (post)modernen Entwurf die kritische Komponente im Dialog mit dem heutigen Menschen darstellen. Diese Gegenüberstellung soll dem Leser helfen, seinen eigenen Ort zu bestimmen und sich mit ihm kritisch auseinanderzusetzen. Während in den ersten beiden Abschnitten dem Leser die prophetische Wirklichkeitsinterpretation »vorgelesen« wird, soll der Leser im dritten Abschnitt (III) in die Kunst des Lesens der prophetischen Literatur eingeführt werden. Er soll in gewisser Weise vom »Vorlesen« unabhängig werden und dem prophetischen Philosophieren unvermittelt begegnen können. Er soll selber lesen können. Im letzten und vierten Abschnitt (IV) soll die historische Qualität der prophetischen Texte kritisch behandelt werden. Es geht um Bibelkritik. Während sich die ersten zwei Abschnitte mit der prophetischen Interpretation von Wirklichkeit auseinandergesetzt haben, bleibt die Frage offen, ob diese Interpretation nur von unserer Sehnsucht gestützt wird oder ob sie auch von der historischen Wirklichkeit bestätigt werden kann. Dabei werden die klassischen bibelkritischen Argumente untersucht werden. Lassen sich die prophetischen Aussagen mit der Wirklichkeit decken?
Für alle Abschnitte gilt, dass in die besprochenen Themen nur eingeführt werden kann und sie darum nicht in Vollständigkeit abgehandelt werden. Allerdings sind jedem Kapitel Literaturhinweise hinzugefügt, die eine ausgiebige und dem aktuellen Stand angepasste Vertiefung ermöglichen.
AUFBAU DER KAPITEL
Im Prinzip besitzen alle Kapitel den gleichen Aufbau. In der Einleitung wird in das Thema eingeführt. Dabei wird vor allem im zweiten und dritten Abschnitt mit einem biografischen Ausschnitt eines (post)modernen Menschen begonnen. Diese biographischen Ausschnitte sind realistisch und basieren auf der Erfahrung tatsächlich existierender Menschen (Namen und Ortsangaben geändert). Sie sollen helfen, einen lebensnahen Zugang zum Thema zu gewinnen. Des Weiteren geben sie Einblick in die Erlebnis- und Denkwelt des (post)modernen Menschen.
Nach der Einleitung wird das jeweilige Thema in aufeinanderfolgenden Abschnitten behandelt. Jedes Kapitel wird mit einer »Klärung« abgeschlossen. In dieser Klärung wird das Besprochene zusammengefasst und mit konkreten Fragen, die auch als Übungen verstanden werden dürfen, vertieft.
Die insgesamt 21 Kapitel bauen aufeinander auf. Dennoch können die jeweiligen Abschnitte auch als in sich abgeschlossene Themenkomplexe verstanden werden. Aber ein vertieftes Verstehen eines späteren Abschnitts ist nur unter dem Einbezug eines früheren Abschnitts garantiert. Gerade der erste Abschnitt (Kapitel 1 bis 6) ist äußerst wichtig und Grundlage für alles Darauffolgende. Diese ersten Kapitel sind in ihrer Art komplexer als der Rest des Buches, aber mit ihnen erschließt sich ein faszinierendes Verständnis der Wirklichkeit aus prophetischer Sicht. Mit diesem Verständnis lassen sich viele (post)moderne Herausforderungen sinnvoll verstehen und beantworten. Ab dem zweiten Abschnitt lesen sich die Kapitel wesentlich einfacher.
Auch wenn jedes Kapitel seinen Gegenstand nicht umfassend behandelt, ist es in den aktuellen Stand des wissenschaftlichen Diskurses eingebettet. Literaturhinweise, die jedes Kapitel ergänzen, helfen, das Gelesene im aktuellen wissenschaftlichen Diskurs zu kontextualisieren. Die Literaturhinweise haben nicht ausschließlich die Funktion, die Aussagen der jeweiligen Kapitel zu bestätigen, sondern sind als Reflexionsmaterial zu verstehen, mit dem die ausgeführten Gedanken dieses Buches kritisch reflektiert und weitergeführt werden können. Das Buch ist also nur ein Anfang, eine Hilfe zum weiteren Nachdenken. Das ist dann auch der Grund, weshalb die einzelnen Kapitel mehr als Meditationen und Reflexionen zu verstehen sind und nicht als endgültige Antworten. Und so wird der Leser schnell feststellen, dass im Textverlauf das Wort »Reflexion« häufig stellvertretend für »Kapitel« gebraucht ist.
HOFFNUNG
Als Autor dieses Buches wünsche ich mir drei Dinge. Als erstes hoffe ich, dass der Leser einen Zugang zu sich selbst findet. Dass er sich selbst verstehen und kritisieren kann. Dass der prophetisch-philosophische Entwurf in der Lage ist, ihn zu spiegeln, sodass der Leser sich selbst ansehen kann. Die Momente, in denen wir uns selbst sehen, sind äußerst selten – vielleicht auch, weil sie häufig schmerzvoll sind. Aber ohne diesen Selbstanblick bleibt man blind fürs Leben. Zweitens hoffe ich, der Leser erkennt, dass er mit seiner Gedanken- und Lebenswelt nicht allein steht. Oft übermannen einen der Zweifel und die Komplexität unserer Gedanken, sodass sie uns auch vom Anderen trennen und uns einsam fühlen lassen: »Sicher ist niemand solchen Gedanken, solchen Zweifeln und solchen Ängsten ausgesetzt wie ich.« In der Einsamkeit müssen wir meist feststellen, dass unsere Kraft und Disziplin nicht ausreicht, unser Denken und Fühlen zu meistern. Aus Scham ziehen wir uns noch weiter zurück. Ich hoffe, dass dieser Rückzug mit dem Buch und seinen biografischen Ausschnitten unterbrochen wird und gewendet werden kann. Dass der Leser erkennt, dass er mit seinen Fragen und Sorgen Teil einer Gemeinschaft ist. Und drittens hoffe ich, dass der Leser in der prophetischen Wirklichkeitsschau den Anfang seines Lebens und in ihm den Sinn seines Lebens findet. Möge das Gelesene den Leser wie ein angenehm frischer Wind an die Ufer eines guten Gottes treiben.
Oliver Glanz
Rotterdam, im Januar 2012
WENN DIE
GÖTTER
AUFERSTEHEN
1 Wofür noch kämpfen?
2 Von der Unabhängigkeit in die Gefangenschaft
3 Denken und Glauben
4 Jenseits von 1. und 3. Person: JHWH am Anfang
5 Jenseits von 1. und 3. Person: Prophetisches Theoriedenken
6 Jenseits von 1. und 3. Person: Kultur und Normativität
I belong to the Blank Generation. I have no beliefs, I belong to no community, tradition, or anything lith that. I‘m lost in this vast, vast world. I belong nowhere. I have absolutely no identity.
(Veith, G. E. Postmodern Times: a Christian Guide to Contemporary Thought and Culture. Wheaton: Crossway Books, 1994, 72)
Literatur: Heschel, A. J. God in Search of Man: A Philosophy of Judaism. New York: Farrar, Straus and Giroux, 1997; Plantinga, A. »On Christian Scholarship«, n.d. http://www.calvin.edu/academic/philosophy/virtual_library/articles/plantinga_alvin/on_christian_scholarship.pdf; Taylor, C. Sources of the Self: The Making of the Modern Identity. Cambridge: Harvard University Press, 2006.
1.1 Einleitung: Beobachtungen
Unser Leben heute ist ganz anders als das Leben vor 50 oder 200 Jahren. Unser Lebensgefühl ist ein anderes, unsere Probleme sind auch anders. Während die ökologische Herausforderung, die Terrorgefahr und die bedrohlich wachsende Weltbevölkerung uns meist nur noch über die Medien begegnen, ist unser gewöhnlicher Alltag ganz subtil, aber dominant, von der Spannung zwischen Subjektivismus und Objektivismus geprägt. Was das bedeutet und wie sich diese Spannung als zentrale Spannung unseres modernen Lebens darstellt, wird in dieser Reflexion behandelt.
Die Spannung zwischen Subjektivismus und Objektivismus erlebt heute jeder Mensch, egal ob Putzfrau oder Professor, ob religiös, atheistisch oder agnostisch. Sie liegt in jedem Menschen. Diese Spannung ist so dominant und allgegenwärtig, dass sie gar nicht mehr registriert wird, aber in den meisten Handlungen, Gesprächen und Entscheidungen vorausgesetzt ist. Schlussendlich hat diese Spannung den modernen Menschen in ein Dilemma gebracht, ihm seine Träume, Ideale, den Lebenssinn und dessen Würde genommen – nicht da draußen in der sogenannten Dritten Welt, sondern hier: in Amsterdam, in München und in Genf. Die Moderne ist Opfer dieser Spannung.
Bevor ich erkläre, was Subjektivismus und Objektivismus genau sind, werde ich an zwei konkreten Beispielen diese Spannung sichtbar machen:
1. Alltagssubjektivismus: An einem kühlen Sommerabend in der Amsterdamer Altstadt sind ein Freund und ich auf der Suche nach einem Café, das zur Stimmung passt. Dabei treffen wir zwei Studenten im Alter von ca. 25 Jahren. Es ergibt sich, dass wir sie nach ihrer Studienrichtung fragen und was sie motiviert, zu studieren. Der eine studiert Politikwissenschaften, der andere Biologie. Mit ihrem Studium verfolgen sie keinen Traum, kein Ideal spornt sie an, und an Karriere denken sie auch nicht wirklich. Von einer besonderen Motivation kann darum auch nicht die Rede sein – eher von Lethargie. Man studiert, weil jeder studiert, und als Nichtstudierter hat man auf dem Arbeitsmarkt heute kaum noch Chancen. Aber die beiden Studenten sehnen sich nach Idealen, nach etwas, wofür man sein Leben investieren könnte. »So wie damals unsere Eltern«, meinen sie. Als ihre Eltern so alt waren wie sie (60er und 70er Jahre), haben sie in den Studentenbewegungen (68er-Bewegung), den Bürgerrechtsbewegungen (Martin Luther King) und der Hippiebewegung (Woodstock) das eigene Leben für die eigenen Überzeugungen aufs Spiel gesetzt! Es gab Dinge, die waren wichtiger als das eigene Leben. Das ist heute anders, vielleicht werden wir uns einmal mit aller Leidenschaft um die Rettung unserer Umwelt bemühen – aber dann wohl eher aus Gründen der Selbstrettung und weniger aus Idealismus. Wer wählt heute noch eine Partei aus ideologischen Gründen? Man wählt nicht die Sozialdemokraten oder Liberalen, weil man Sozialdemokrat oder Liberaler ist, sondern weil in den nächsten vier Jahren besser regiert werden soll. Der heutige Mensch ist Pragmatiker.
»Die Eltern sitzen schon seit Jahren abends vorm Fernseher mit einem kühlen Bier auf dem Tisch. – Warum sind unsere Eltern keine Aktivisten mehr? Warum haben wir keine großen Ideale mehr?«, fragen die zwei Studenten. Je moderner und offener unsere Welt wurde, desto mehr haben wir entdeckt, dass es endlos viele Religionen gibt, politische Ideen, unterschiedliche Gesellschaftsordnungen, Tausende Arten, die Welt zu sehen. Es ist schwer, heute noch von »dem« Ideal zu sprechen, wo es so viele verschiedene, sich gegenseitig ausschließende Ideale gibt, alle mit ihrer eigenen Rationalität. Wir leben in einer subjektiven Welt, jeder sieht die Welt anders. »Die Welt« gibt es nicht, sondern immer nur »meine Welt in meinen Augen«. »Den Traum« gibt es nicht. Immer nur »meinen Traum in meinem Herzen«. Wahrheit? »Meine Wahrheit« (siehe Abb. 1)!
Vom »Wir« redet man schon lange nicht mehr, es gibt zu viele Unterschiede zwischen dir und mir – das ist gemeint, wenn vom »Subjektivismus« gesprochen wird. Damit sind auch die gemeinsamen Ziele, Ideen und Träume, für die es wert ist, sein Leben zu riskieren, verloren gegangen. Das, was unsere Eltern in den 60ern und 70ern ausgemacht hat, war, dass sie einer Gruppe, einem »Wir« angehörten und zusammen mit anderen an der Verwirklichung eines Traumes arbeiteten. Heute sind die meisten Eltern keine Idealisten mehr, sondern nüchterne Realisten, Pragmatiker, vielleicht sogar Pessimisten. »Heute sagen unsere Eltern, dass sie früher naiv waren.« Bald hat auch sie der Subjektivismus zerschlagen und erkennen lassen, dass das, was sie glaubten, nicht der Glaube der anderen war. Es gibt nichts mehr, was man mit anderen teilen könnte. Wir sind alle subjektiv, und was der andere denkt und träumt, wird für immer ein Geheimnis bleiben. Alle großen Ideen sind dahin. Die Religionen, der Nationalismus, der Kommunismus und seit ein paar Jahren auch der Kapitalismus. Wenn du Ideale hast, dann bist du noch nicht erwachsen. Vom »Wir« redet nur das Kind. Selbst die polnische, tief katholische Putzfrau sagte, nachdem eine Bekannte gestorben war: »Maria wird uns beistehen. Zumindest glaube ich das.«
Fazit: Im Subjektivismus gibt es keine Allgemeingültigkeit. Objektive Wahrheit gibt es nicht. Alles ist subjektiv. Der Subjektivismus ist die Absolutierung der 1. Person-Perspektive! Es gibt nicht mehr das eine Ideal, für das alle gemeinsam kämpfen können.
2. Alltagsobjektivismus: Vor einiger Zeit trafen wir uns mit verschiedenen Wissenschaftlern in Den Haag. Dabei kam es zu einem Gespräch mit einer russischen Neurophysikerin, Alexandra. Ihre Forschung bestand darin, zu untersuchen, wie menschliche Emotionen durch atomare Bewegungen in den Nervenbahnen gesteuert werden. Die Ergebnisse ihrer Forschung werden helfen, ganz neue Medikamente für bestimmte Depressionsarten zu entwickeln. Was sie daran fasziniere, fragten wir sie. »Nichts so wirklich«, war die Antwort. Und wieder begegnet uns diese Lethargie. Ihre Forschung wird mit gutem Geld von der Pharmaindustrie bezahlt … Danach erzählte sie ganz verliebt von ihrem neuen Freund. Das verwunderte uns. Wie kann sie so ehrlich über ihr Verliebtsein reden, wenn am Ende jedes Gefühl durch naturgesetzliche atomare Vorgänge im Nervensystem vorherbestimmt ist. Nicht »ich« bin verliebt, sondern ein biochemischer Prozess lässt mich verliebt sein. Gib mir ein anderes Medikament und ich werde die Person hassen. Menschliche Freiheit gibt es nicht. Nicht ich entscheide, sondern die natürlichen Prozesse, die in mir arbeiten. Die Ironie ist, dass die biochemischen Prozesse mich denken lassen, dass ich es bin, der sich entscheidet. Menschliche Freiheit ist eine biochemisch erzeugte Illusion! Der Mensch ist eine komplexe Maschine, die so programmiert ist, dass sie ständig denkt, ein freies Individuum zu sein. Man nennt diese Sichtweise im Gegensatz zum vorher beschriebenen Subjektivismus »Objektivismus«. Denn Naturgesetze gelten ausnahmslos für jedes Individuum (Subjekt). Kein Mensch kann sagen, dass für ihn Kohlenstoffmonoxid nicht tödlich ist. Während im extremen Subjektivismus das »Ich« (1. Person-Perspektive) alle Objekte entstehen lässt (der/das Andere existiert immer erst durch meine Augen, mein Denken und mein Fühlen), wird im Objektivismus das »Ich« durch allgemeingültige Gesetze vorherbestimmt und geschaffen (3. Person-Perspektive). Es gibt verschiedene Variationen des Objektivismus (Biologismus, Psychologismus, Physikalismus, Kulturalismus, …). Die populärste ist wohl die Evolutionstheorie (Biologismus). In allen Variationen lässt sich die angebliche Freiheit des Menschen über Gesetzmäßigkeiten erklären. Im Kulturalismus z. B. ist der enthusiastische, gut argumentierende Atheist letztlich nicht aus Freiheit Atheist, sondern weil er in Russland auf einem Eliteinternat erzogen wurde; während der evangelisierende Christ nicht aufgrund eines persönlichen Bekehrungserlebnisses Christ geworden ist, sondern weil er in Texas sozialisiert wurde. Wir alle wären Muslime, wenn wir in Bagdad aufgewachsen wären … Ich frage Alexandra: »Wie bringst du dein Verliebtsein in Einklang mit deiner Forschung?« Sie schaut uns verstört an und sagt: »Bevor ich zu meinem Freund gehe, schließe ich das Labor und meine Forschungsgedanken ab, würde ich das nicht tun, müsste ich ja Selbstmord begehen.«
Fazit: Im Objektivismus gibt es keine Subjektivität, d. h. individuelle Freiheit. Wahrheit ist, was die Wissenschaft objektiv erklären kann. Der Objektivismus ist die Absolutierung der 3. Person-Perspektive! Es gibt keine Werte mehr, für die es sich zu kämpfen lohnt.
1.2 Problembeschreibung: Subjektivismus und Objektivismus
Sowohl der Subjektivismus als auch der Objektivismus haben sich zu zwei rivalisierenden Dogmen unserer Zeit entwickelt. Ich nenne sie Dogmen, weil sie von jedem geglaubt werden. Nun sind weder Subjektivismus noch Objektivismus Denkphänomene der Neuzeit. Im Prinzip stellen sie die Basisgegensätze der Philosophiegeschichte dar. Aber ihre Gegensätzlichkeit hat sich vor allem in der Moderne und ihrem Wissenschaftsbetrieb erheblich verschärft. Das Dogma von Subjektivismus und Objektivismus darf nicht nur negativ bewertet werden. Beide Dogmen haben auch geholfen, dass die Welt sich verbessert. Die Menschenrechtsbewegung baut vor allem auf den subjektivistischen Glauben auf, dass es individuelle Freiheit gibt und diese von keiner Macht manipuliert werden darf. Diese Bewegung hat Diktaturen gestürzt und blühende Demokratien entstehen lassen. Auf der anderen Seite sind die Fortschritte in Wissenschaft und Forschung (z. B. Medizin) dem Objektivismus zu verdanken, der davon ausgeht, dass es allgemeingültige natürliche Prozesse gibt, die das Leben zum Guten bzw. zum Schlechten steuern. Aber wie gezeigt wurde, sind diese beiden Dogmen auch problematisch.
→Der Subjektivismus hat zur Folge, dass es keine allgemeinen Werte und Ideale gibt, denen jeder Mensch untergeordnet ist:
→Was ist richtig, was ist falsch? z. B.: Heterosexualität oder Homosexualität; Unterordnung der Frau oder gleichberechtigte Geschlechter? Was ist gut, was ist schlecht? z. B.: Ehe oder offene Beziehung; körperliche Zucht oder aufklärendes Gespräch?
→Was ist schön, was ist hässlich? z. B.: behaarte Beine oder unbehaarte Beine; Klassik oder Punk?
→Was ist glaubwürdig, was ist illusorisch? z. B. Katholizismus oder Atheismus; Denken oder Fühlen?
Dies sind alles Fragen, die nur subjektiv beantwortet werden können – glauben wir. Das Dogma der Subjektivität sagt, dass kein Mensch die Wirklichkeit sieht, wie sie ist, sondern sie sich nur so vorstellt, wie er will. Darum darf auch kein Mensch behaupten, dass er die Wirklichkeit sieht, denn jeder sieht nur seine eigene Wirklichkeit. Deshalb darf man den nicht verurteilen, der andere Werte und eine andere Wirklichkeit kennt. Gemeinschaft oder Liebe besteht bei einem solchen Dogma nicht mehr wirklich, denn einen gemeinsamen Nenner gibt es nicht mehr. Was der eine unter »Wir lieben uns« versteht (z. B. er versteht mich und ist einfühlsam), ist etwas ganz anderes, als was eine andere Person unter »Wir lieben uns« versteht (z. B. mit ihr kann ich meine Lebensträume verwirklichen) (siehe Abb. 2).
Der Objektivismus mit seiner absolutierten 3. Person-Perspektive hat zur Folge, dass es keine individuelle Freiheit und damit keine Liebe oder Verantwortung gibt.
Das, was wir richtig oder falsch machen, verantworten wir nicht selbst, sondern wird durch allgemeingültige Prozesse gesteuert und verantwortet, die vom Menschen nicht beeinflusst werden können. Ich sterbe an Krebs, nicht weil ich das will, sondern weil meine Gene so programmiert sind (Biologismus: Selektion). Ich vergewaltige Kinder, nicht weil ich das will, sondern weil ich von meinen Eltern sexuell misshandelt wurde (Psychologismus: Trauma). Der Zweite Weltkrieg brach nicht aus, weil man das wollte, sondern wegen einer zu hohen Arbeitslosigkeit (Soziologismus/Historismus: Wirtschaftskrise) (siehe Abb. 3).
Subjektivismus und Objektivismus haben folglich ein gemeinsames Problem: Wirkliche Gemeinschaft zwischen Menschen ist nicht mehr möglich. Beim Subjektivismus ist jeglicher gemeinsame Nenner zwischen zwei Menschen abwesend und damit weder echte Kommunikation noch gegenseitiges Verstehen oder Verantwortung gegenüber dem anderen möglich. Beim Objektivismus ist ein gemeinsamer Nenner vorhanden (bestimmte allgemeingültige Prozesse), aber dieser gemeinsame Nenner tritt als Verursacher aller menschlicher Handlungen auf und hat zur Folge, dass keine individuelle Freiheit oder Verantwortung bestehen, was Grundvoraussetzungen für echte Gemeinschaft sind.
1.3 Jeder denkt es, jeder glaubt es
Die zwei eingangs beschriebenen Beispiele (siehe 1.1) stehen stellvertretend für unser Lebensgefühl – das Lebensgefühl des modernen Menschen. Sowohl der Subjektivismus als auch der Objektivismus haben verursacht, dass die zwei Studenten und Alexandra keine wirklich großen Träume mehr haben, sondern von Lethargie begleitet werden. Für die einen verhindert die allgemeine Relativität menschlichen Denkens, Fühlens und Glaubens, dass man sich für »das« Ideal völlig einsetzt. Für die anderen wirkt sich die Tatsache, dass die erlebte Freiheit nur Illusion ist und der Mensch in Wahrheit fremdbestimmt wird, sinnentleerend aus. Hier macht sich der Mensch nicht selbst, sondern er wird gemacht (3. Person-Perspektive). Nun kann man den modernen Menschen aber nicht in Subjektivisten und Objektivisten aufteilen. Weil der Mensch nicht sinnentleert leben kann, wird er nie entschlossen reiner Subjektivist oder Objektivist sein können. Es ist gerade typisch für den modernen Menschen, dass er gleichzeitig im Subjektivismus und im Objektivismus lebt. Durch die Kombination dieser beiden Dogmen möchte er deren Nachteile überwinden. Die Nachteile des Subjektivismus (z. B. keine allgemeingültigen Regeln) kehrt der Objektivismus in Vorteile um (z. B. allgemeingültige Naturgesetze). Die Nachteile des Objektivismus (z. B. Fremdbestimmung) werden im Subjektivismus oft vorteilhaft verändert (z. B. individuelle Freiheit) (siehe Abb. 4).
Jeder moderne Mensch denkt, handelt und fühlt täglich auf der Basis dieser beiden Dogmen:
1. Wenn wir krank sind, gehen wir zum Mediziner, der die allgemeingültigen Gesetze, aufgrund deren wir krank oder gesund werden, kennt. Wenn wir nach Lösungen suchen, um den Terrorismus zu bekämpfen, gehen wir zum Historiker oder Soziologen, die uns erklären, welche sozialen Mechanismen und historischen Kontexte einen Menschen zum Terroristen machen. Der Wissenschaftler ist der Priester des modernen Menschen, denn er allein scheint Zugang zum Schicksal zu haben. Er allein kann die Zukunft vorhersagen, weil er in »Kontakt« mit den allgemeingültigen Gesetzen ist, denen sich alles Leben unterwerfen muss. Er kann uns heilen, die Gesellschaft retten und uns den Weg in eine bessere Zukunft weisen.
Dass wir dabei schon längst dem Objektivismus verfallen sind, dem Glauben, dass alles nach Gesetzmäßigkeiten determiniert ist, und damit die menschliche Freiheit untergraben, ist uns oft nicht bewusst. Und da, wo wir uns dessen bewusst sind, schließen wir – wie Alexandra – das Forschungslabor und grenzen den Objektivismus ab. Wenn wir uns verlieben, in die Kirche gehen oder bevor wir uns bei einer politischen Partei engagieren, reden wir nicht mehr von Evolution oder Sozialisation als Erklärungsgrund für unser Handeln. An dieser Stelle trennen wir die Welten.
2. Wenn gute Bekannte sich in Holland bei der Begrüßung dreimal auf die Wangen küssen, dann beurteilen wir deren Begrüßungsritual nicht als zu intim. Wir gehen davon aus, dass es ihre Art der Begrüßung ist und diese in keiner Weise besser oder schlechter ist als z. B. die deutsche Umarmung. Wenn die jüdischen Kinder in der Wohnsiedlung fröhlich vom Purimfest erzählen, sagt mir die katholisch erzogene Nachbarin: »Ja, jeder hat eben so seine eigene Art, Spiritualität zu erleben«. Über Homosexualität wird schon lange nicht mehr aggressiv debattiert. Mein Arbeitskollege findet es zwar nach wie vor schwer nachvollziehbar, aber er sagt letztendlich: »Es gibt eben verschiedene Möglichkeiten, seine Sexualität auszuleben.« Den Papst und seine Auffassungen findet er menschenverachtend: »Der ist noch im Mittelalter stecken geblieben«, meint er.
Wir sind uns alle einig über die Unterschiedlichkeit. Während die einen Elvis vergöttern, trauern die anderen um Kurt Cobain – Musikgeschmack ist eben subjektiv. Wenn jemand noch an das Ideal oder die Wahrheit glaubt, dann nennen wir ihn Fundamentalist. Fundamentalisten glauben, dass ihr Erleben der Wirklichkeit das einzig Wahre ist, und alle anderen sich in ihrer Wahrnehmung täuschen. Auch wenn es immer mehr Fundamentalisten gibt, so sind sie doch die Minderheit in unserer Gesellschaft. Wir aber – als moderne Menschen – erkennen im Gegensatz zu den altmodischen Fundamentalisten, dass es viele unterschiedliche in sich stimmige Möglichkeiten gibt, die Welt zu erfahren.
Dass wir dabei oft schon längst subjektivistisch geworden sind, ist uns oft nicht bewusst. Aber wenn wir unseren eigenen Komfort bedroht sehen, lassen wir das Dogma Subjektivismus schnell fallen und berufen uns auf medizinische Gutachten (Objektivismus), um die 37-Stunden Woche zu bewahren. Da reden wir dann nicht vom 20-Zoll-LCD-Bildschirm, den wir uns geleistet haben, der aber eigentlich nicht nötig ist.
Niemand würde verneinen, dass es allgemeingültige Gesetze gibt, die zu einem großen Teil unser Leben bestimmen, aber keiner will sagen, dass wir fremdbestimmte Maschinen sind, und Freiheit eine Illusion ist. Niemand würde verneinen, dass es individuelle Freiheit gibt, aber keiner will behaupten, dass der andere tun und lassen kann, was er will. Und bevor wir zur Maschine oder zum Tyrannen werden, entscheiden wir uns für ein unklares Leben zwischen zwei Dogmen, denen wir glauben, aber dann doch nicht vertrauen wollen. Wir sind Opfer einer Erpressung zweier Dogmen: Wir leben in der Zwickmühle. Darin liegt die Ursache für die Sinnleere, die der moderne Mensch erlebt.
1.4 Problembehandlung
Manche sind sich ihrer Opferrolle sehr, manche sind sich ihrer weniger bewusst. Aber für alle gilt, dass das Leben zwischen den Dogmen sich auf die eigene Existenz sinnentleerend auswirkt. Ein Leben mit wirklicher Überzeugung und Orientierung kann der moderne Mensch nicht leben. Was bleibt, ist Lethargie als Grundstimmung. Es mag seltsam erscheinen, aber unsere Opferrolle ist zum großen Teil selbstgemacht. Zwar haben nicht wir das Problem erzeugt, aber die Grundlagen für die Entstehung dieser modernen Sackgasse sind durch unsere Vorfahren vor ungefähr 400 Jahren gelegt worden. Und weil wir als moderne, fortschrittsliebende Menschen lieber vorausschauen, als in die primitive Vergangenheit blicken, wissen wir oft nicht mehr, warum wir heute so denken wie wir denken.
Und so müssen wir uns die historische Frage stellen, wie die Zwickmühle zwischen Subjektivismus und Objektivismus entstanden ist. Nur so werden wir unser Dilemma verstehen. Und nur dann kann in den weiteren Reflexionen sichtbar werden, wie die biblischen Schriften mit ihren Propheten eine überzeugende Gegenposition zum philosophischen Dilemma unserer modernen Zeit entwerfen.
In der folgenden Reflexion wird versucht, den Ursprung der Zwickmühle zu verstehen und die Gedanken der Vorfahren zu begreifen. Danach wird das menschliche Denken kritisch hinterfragt (Reflexion 3). In den Reflexionen 4 bis 6 wird der biblische Gegenentwurf der Propheten aufgezeigt.
1.5 Klärung
Wir haben gesehen, dass Subjektivismus und Objektivismus als Dogmen bei allen modernen Menschen als Basis für Denken, Handeln und Entscheiden funktionieren. In den meisten Fällen operieren diese Dogmen im Unterbewusstsein. Dabei lassen sie eine sinnentleerte Atmosphäre im Leben des modernen Menschen entstehen. Es ist darum wichtig, sich bewusst zu werden, wo und wie diese Dogmen im eigenen Denken und Fühlen anwesend sind.
Die folgenden Aufgaben sollen helfen, Spuren des Subjektivismus und Objektivismus im eigenen Leben und Lebenskontext aufzuspüren.
→ Untersuche, wo sich in deinem täglichen sozialen Kontext (Schule, Universität, Arbeitsplatz) Hinweise auf Subjektivismus und Objektivismus finden lassen. Du entdeckst diese Hinweise meist in Gesprächen, in denen unterschiedliche Meinungen aufeinandertreffen.
→Wie wird in deinem Freundeskreis das Verhältnis zwischen Evolutionismus (Objektivismus) und persönlicher Freiheit und Vorstellungskraft (Subjektivismus) verstanden? Ist die Freiheit und Vorstellungskraft das Ergebnis der Evolution oder ist die Evolutionstheorie das Ergebnis menschlicher Vorstellungskraft? Oder gibt es sogar eine dritte Möglichkeit?
→Lies zur Vertiefung Alvin Plantingas »On Christian Scholarship«. (http://www.calvin.edu/academic/philosophy/virtual_library/articles/plantinga_alvin/on_christian_scholarship.pdf)
→ Schaue dir einen der folgenden Filme an und erörtere, wie sich in diesem Film das Verhältnis zwischen Subjektivismus und Objektivismus darstellt: A beautiful mind, Matrix, Inception.
Die alten vielen Götter, entzaubert und daher in Gestalt unpersönlicher Mächte, entsteigen ihren Gräbern, streben nach Gewalt über unser Leben und beginnen untereinander wieder ihren ewigen Kampf. Das aber, was gerade dem modernen Menschen so schwer wird, und der jungen Generation am schwersten, ist: einem solchen Alltag gewachsen zu sein.
(Weber, M. »Wissenschaft als Beruf (1919)«. In Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre, edited by Winckelmann, J., 582 – 613. 6th ed. Tübingen: Mohr Siebeck, 1985, 502)
Literatur: Kaufmann, W. A. Critique of Religion and Philosophy. Princeton: Princeton University Press, 1978; Nagel, T. »What Is It Like to Be a Bat?« The Philosophical Review 83, no. 4 (1974): 435 – 450; Randall, J. H. The Making of the Modern Mind: a Survey of the Intellectual Background of the Present Age. Boston, New York: Houghton Mifflin, 1926; Taylor, C. Sources of the Self: The Making of the Modern Identity. Cambridge: Harvard University Press, 2006.
2.1 Einleitung: Gegenwart nicht ohne Vergangenheit
In der letzten Reflexion wurde gezeigt, wie sich die modernen Dogmen von Subjektivismus und Objektivismus sinnentleerend auf den Menschen auswirken. Dennoch werden sie in einer gewissen Weise von jedem geglaubt und dominieren den Alltag meist unbemerkt. Die vorgeschlagenen Aufgaben zur Selbstreflexion und zur Beobachtung haben den Einfluss dieser zwei Dogmen auf das eigene Leben vielleicht noch stärker bewusst gemacht. Ich hatte allerdings darauf verwiesen, dass die Grundlagen für diese Zwickmühle selbst erzeugt sind – zwar nicht von uns, aber von unseren Vorfahren. In dieser Reflexion wird versucht zu verstehen, wie eine vergangene Generation der Konstrukteur der modernen Zwickmühle zwischen Subjektivismus und Objektivismus wurde. Danach lassen sich die Schriften des biblischen Prophetentums als sinnvoller Gegenentwurf begreifen.
2.2 Cogito Ergo Sum
In der Schule haben die meisten gelernt, dass Descartes’ Satz »cogito ergo sum« (Ich denke, also bin ich.) gewissermaßen das Fundament der Moderne gelegt hat. Warum? Descartes hatte ein abenteuerliches und von vielen Unsicherheiten geprägtes Leben. In seiner Zeit entstanden die Nationalstaaten im Trubel politischer Unsicherheit; die Spaltung der Großkirche und des Protestantismus fanden statt und riefen eine religiöse Unsicherheit hervor. Durch Entdeckungen von Wissenschaftlern wie Kepler und Kopernikus entstand eine metaphysische Unsicherheit, deren Hauptfrage war: Was ist Realität?
Als Söldner kämpfte er am Anfang des Dreißigjährigen Krieges mal für die Protestanten (Fürst Moritz von Nassau), mal für die Katholiken (Maximilian von Bayern). Descartes sah Tausende ermordete Menschen in Dörfern, Städten und auf Feldern, nur weil sie aus der Sicht der Protestanten nicht an die biblische Wahrheit glaubten. Auf der anderen Seite ermordeten Katholiken mit ganz ähnlicher Begründung Protestanten, um die christliche Wahrheit zu verteidigen. Mord wegen unterschiedlicher Auffassungen von Wahrheit! Neben dem Kriegsgeschehen tat sich in Europa aber noch mehr. Viele Ansichten, die man damals über die Natur und den Kosmos landläufig hatte, wurden durch die Entdeckungen von Kopernikus, Huygens, Kepler und Galileo Galilei überholt. Die Erde war nicht mehr Mittelpunkt des Universums (geozentrisches Weltbild), sondern die Sonne (heliozentrisches Weltbild). Zumindest deuteten darauf alle wissenschaftlichen Berechnungen. Für den wissbegierigen Descartes stellte die Nachricht darüber, dass Galileo Galilei von den Inquisitoren zur Widerrufung seiner Thesen aufgerufen wurde, eine endgültige Kehrtwende dar. Für ihn entstand die zentrale Frage: Wer hat die Autorität, sagen zu können, was Wahrheit und Wirklichkeit sind? Der Papst, Kepler oder Luther? Wann kann ein Mensch überhaupt Gewissheit darüber haben, dass sein Glaube von der Wahrheit handelt und nicht von einer Illusion? Wenn das, wofür man im Dreißigjährigen Krieg kämpfte, am Ende nur Illusion und nicht Wahrheit war, dann war noch weniger zu rechtfertigen, dass man wegen »der Wahrheit« halb Europa tötete. Wie jeder in der damaligen Zeit war Descartes gläubig und fest davon überzeugt, dass es die eine alleingültige Wahrheit gibt. Aber wenn ganz Europa sich nicht einig darüber sein kann, was die Wahrheit ist, dann scheint zumindest halb Europa einer Illusion zu glauben und sich getäuscht zu haben. Und so fand Descartes sehr schnell den Gegenstand seines kritischen Nachdenkens: Täuschung. In seinen Meditationen (Meditationes de prima philosophia) untersucht er, worin man als Mensch überall getäuscht werden kann. Freunde können einen täuschen, Gefühle können einen täuschen. Es ist gerade des Teufels Expertise, jeden einzelnen Menschen zu täuschen. Aber Descartes ist kein Pessimist. Er glaubt daran, dass absolute Gewissheit, die jegliche Täuschung überwindet, zu erreichen ist. In seinen Meditationen kommt er zum Schluss, dass das einzige, was uns von jeglicher Täuschung bewahrt, das unabhängige Denken, die neutrale Rationalität sei. Mit seinem Satz »cogito ergo sum« will er somit sagen, dass das, was den Menschen im Innersten ausmacht, seine Fähigkeit ist, rational in Unabhängigkeit zu denken. Menschen lassen sich irreführen, weil sie nicht in Unabhängigkeit denken. Wer alle Regeln der Logik anwendet und sich nur von ihnen leiten lässt, wird die Wahrheit entdecken – unabhängig von Papst, Luther oder Kepler! Gerade erst im Schulterschluss von persönlicher Unabhängigkeit (Neutralität) und Ratio (Vernunft) lässt sich Wahrheit finden.
2.3 Hinwendung zum Ich – Anwendung von Rationalität: ein Problem
Mit Descartes hat sich der Ausgangspunkt der Wahrheitserkenntnis grundlegend geändert. Wahrheit wird nicht mehr von außen an uns herangetragen. Nicht mehr ein Prophet, Priester oder die Tradition vermittelt oder verantwortet die Wahrheit, sondern sie erschließt sich von innen, aus mir selbst heraus (Unabhängigkeit). Durch mein Denken (Rationalität) kann ich die Wahrheit erkennen. Man spricht auch von der sogenannten »Hinwendung zum Ich/Subjekt« oder zur 1. Person-Perspektive (»Turn to the self«).
Descartes’ Gedanken sind zu einem großen Teil gut nachvollziehbar. Seine Werke und Gedanken wurden vom Papst verboten, aber sie fanden so viele Anhänger, dass Jahrhunderte später der moderne Mensch zu einem großen Teil das Programm Descartes’ auslebt – mit all seinen problematischen Konsequenzen! Was ist das Problem?
Um der Täuschung und dem Zweifel zu entkommen, muss der Mensch sein rationales Denkvermögen in Unabhängigkeit (Neutralität) einsetzen, um Gewissheit über Wahrheit und Irrtum zu erlangen (siehe Abb. 5).
Wie gesagt, misstraut Descartes im Prinzip allem, auch den eigenen Sinnen. Würden wir den Sinnen vertrauen, würden wir denken, dass die Sonne jeden Morgen aufgeht und am Abend wieder untergeht. Aber mit Hilfe von rational-analytischen Berechnungen hat man die sinnlichen Wahrnehmungen bis in die Kleinigkeiten zu zerlegen (Dekonstruktion) und zu untersuchen. Wenn man dann alle Elemente rational wieder zusammenstellt (Konstruktion), wird man herausfinden, dass sich in Wirklichkeit die Erde um die Sonne dreht. Diese rationale Analyseprozedur hat man auf alle Gegenstände anzuwenden. Und hier liegt das große Problem: Nach Descartes’ Methode wird die Welt da draußen durch meine innen liegende Rationalität rekonstruiert. Da die eigene Logik nach den Regeln der Kausalität funktioniert, ist die »wissenschaftlich« rekonstruierte Welt auch immer eine kausale Welt. Kausal bedeutet, dass die rekonstruierte Welt keine willkürliche Natur, sondern eine geregelte Natur hat. Wenn z. B. Sonnenlicht in einer bestimmten Wellenlänge auf bestimmte kugelförmige Wassertropfen einer Regenwand stößt, entsteht immer ein Regenbogen – ohne Ausnahme. Die Realität wird damit vorhersehbar. Wenn aber die gesamte externe Welt nach den Regeln der internen Logik rekonstruiert wird, ist alles kalkulierbar. Alles! D.h. wenn ich mit meiner Rationalität wissenschaftlich herausfinden möchte, wer ich in Wahrheit bin, dann bin sogar ich kalkulierbar, berechenbar, unfrei und eine Maschine. Auf einmal komme ich mit meinen Untersuchungen nicht nur zum Schluss, dass mein Haarausfall genetisch verursacht ist, sondern auch, dass meine Liebe zu meiner Frau aufgrund bestimmter biochemischer Prozesse zustandekommt. Und genau das ist das Problem des Objektivismus: Ich bin nicht mehr frei. Wenn ich das nicht anerkennen will, bin ich einer Täuschung zum Opfer gefallen. Das Ich wird durch eine objektive 3. Person-Perspektive definiert.
Mit der Hinwendung zum Ich (Subjekt) als rationales Wesen meint Descartes einen Weg gefunden zu haben, sich von der Gewalt der 3. Person, nämlich der Fremdbestimmung des Papstes, der Tradition und anderer Kräfte, zu befreien. Ironischerweise ist das Ich bzw. der Mensch in letzter Konsequenz aber wieder unfrei. Er ist zwar nicht mehr gefangen von den alten Kräften, wird aber jetzt von neuen, noch gewaltigeren Kräften beherrscht. Descartes’ rationalistische Methode ist wie ein Zauberstab: Jedes zuvor mysteriöse Objekt, das angetastet wird, ist auf einmal verständlich, erklärbar, logisch, aber gleichzeitig auch berechenbar und fremdbestimmt (siehe Abb. 6).
2.4 So sein wie du