Present Shock
Wenn alles jetzt passiert
Aus dem Amerikanischen von Gesine Schröder und Andy Hahnemann
WENNALLES
JETZT
PASSIERT
Douglas Rushkoff: Present Shock. Wenn alles jetzt passiert.
Übersetzt von Andy Hahnemann und Gesine Schröder.
Freiburg: orange-press 2014
© 2013 by Douglas Rushkoff. All rights reserved.
Titel der Originalausgabe: Present Shock. When Everything Happens Now.
© für die deutsche Ausgabe 2014 bei orange press
Alle Rechte vorbehalten.
Gestaltung: Katharina Gabelmeier, unter Verwendung der Illustration von Harry Clarke zu Edgar Alan Poes Erzählung »A Descent into the Maelström« (1919)
Lektorat: Undine Löhfelm, Torben Pahl
Korrektorat: Birgitta Höpken
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ISBN: 978-3-936086-75-1 | www.orange-press.com
Für meine Tochter Mamie, meine Gegenwart
Vorwort
1 | Narrativer Kollaps
2 | Digiphrenie
3 | Überspanntheit
4 | Fraktalnoia
5 | Apokalypsie
Dank
Literaturnachweis
Auswahlbibliografie
Stichwortregister
Über das Buch
Der Autor
Weitere Titel bei orange-press
Er ist einer der wachsamsten Hedgefonds-Manager der Wall Street, und doch scheint er mit seinen Transaktionen immer zu spät zu kommen. Händler größerer Firmen mit schnelleren Computern bemerken sofort, wenn er eine Order platziert, und nehmen diese vorweg. Der Kurs steigt dadurch um den Bruchteil eines Cents, was sein Geschäft weniger rentabel macht als gedacht. Er agiert in der Vergangenheit, weil ihm Software und Rechenleistung fehlen, um zur Gegenwart aufzuschließen. Und seine Kunden halten sowieso nichts mehr davon, in die Zukunft von Unternehmen zu investieren; sie wollen am Handel selbst verdienen, und zwar sofort.
Sie sitzt in einer Bar in der Upper East Side von Manhattan, scheint sich aber weder für die Leute drumherum noch die Musik zu interessieren. Statt mit jemandem zu reden, scrollt sie durch Textnachrichten von Freundinnen, die an einem anderen Ort feiern – schließlich muss sie entscheiden, ob sie hierbleiben oder ob anderswo etwas Besseres geboten wird. Tatsächlich weckt etwas auf dem Bildschirm ihres Smartphones ihr Interesse, und Sekunden später ist sie mit ihrer Clique im Taxi Richtung East Village unterwegs. Sie betritt eine zweite, fast identische Bar und beschließt, das hier sei the place to be – aber statt die Party zu genießen, macht sie eine Stunde lang mit ihrem Handy Fotos von sich und ihren Freundinnen, die sie sofort hochlädt, damit die ganze Welt sie sehen kann.
Er sieht die Zeichen überall: eine neue »Naturkatastrophe« in den Abendnachrichten, die Schwankungen der Benzinpreise, Diskussionen um eine einheitliche Weltwährung. Die Flut der Informationen bedeutet nicht, dass mehr passiert. Aber mehr von dem, was passiert, dringt zu uns durch. Prophezeiungen scheinen nicht mehr die Zukunft zu beschreiben, sondern einen Leitfaden für die Gegenwart darzustellen. Ob man der Quantenphysik vertraut oder dem Maya-Kalender: Das Ende aller Zeiten steht ohnehin bald bevor. Wir müssen uns nicht mehr auf das messianische Zeitalter vorbereiten; wir sind schon mittendrin.
Das ist das neue »Jetzt«.
Unsere Gesellschaft konzentriert sich auf den gegenwärtigen Moment. Wir erleben alles im Liveticker, in Echtzeit, always-on.
Auch wenn neue Technologien und ein veränderter Lebensstil dafür gesorgt haben, dass wir alles immer schneller tun: Es geht nicht nur um Beschleunigung. Es geht um den Bedeutungsverlust von allem, was nicht gegenwärtig ist – weil der Ansturm von allem, was genau jetzt passiert, so gewaltig ist.
Es geht darum, dass sich die weltweit führende Suchmaschine zu einem in Echtzeit generierten Datenstrom namens Google Now weiterentwickelt, der sich ungefragt individuell anpasst und unsere Bedürfnisse antizipiert; darum, dass die Sofortnachricht die E-Mail verdrängt und Twitter-Feeds die Blogs ablösen. Es geht um die Frage, warum Schüler keiner linearen Argumentation mehr folgen können, warum Reality-TV einen so großen Platz im Fernsehen einnimmt und wir uns schon über Bücher und Platten aus dem letzten Monat kaum noch sinnvoll unterhalten können; geschweige denn über globale Probleme, die uns noch langfristig beschäftigen werden. Es geht um eine Finanzwirtschaft, die Unternehmern nicht mehr das nötige Kapital für ihre Investitionen zur Verfügung stellen kann. Und es geht um die Sehnsucht nach der »Singularität«, nach irgendeiner Form von Apokalypse, in der das lineare Zeiterlebnis abgelöst wird durch eine posthistorische, ewige Gegenwart, zur Not auf Kosten der menschlichen Freiheit oder der Zivilisation als Ganzes.
Das neue Jetzt bedeutet aber auch, dass wir erfahren, was auf den Straßen von Teheran, Istanbul und Kiew passiert, bevor CNN ein Kamerateam zusammenstellen kann. Es bedeutet, dass ein erfolgreicher Manager den Traum, mit seiner Familie nach Vermont zu ziehen und Kajaks zu produzieren, nicht auf den Ruhestand verschiebt, sondern jetzt verwirklicht. Es bedeutet, dass Millionen Menschen mit neuen Formen von Aktivismus experimentieren können, bei denen Konsens mehr gilt und mehr bewirkt als die Durchsetzungsfähigkeit eines Einzelnen. Es bedeutet, dass Firmen wie H&M oder Zara Überproduktion vermeiden können, indem sie quasi on demand produzieren: Sie reagieren fast in Echtzeit auf die Daten eines Etiketts, das in fünftausend Meilen Entfernung über den Kassenscanner läuft. Es bedeutet, dass ein Präsidentschaftskandidat die Wahl gewinnen kann, der weder die glorreiche Vergangenheit noch die drohende Zukunft ins Feld führt, sondern seinen Wählern zuruft: »Wir sind diejenigen, auf die wir gewartet haben.«
Tja, das Warten hat ein Ende. Wir sind da.
So wie das Ende des 20. Jahrhunderts vom Futurismus geprägt war, steht das beginnende 21. im Zeichen des Präsentismus.
Der Blick nach vorn, der in den späten 1990ern so verbreitet war, hatte sich mit dem Beginn des neuen Jahrtausends erledigt. Wie einige andere prophezeite auch ich damals ein gesteigertes Gegenwartsbewusstsein, ein Interesse an echten Erfahrungen und dem Wert der Dinge im Augenblick. Dann kam 9/11 und verstärkte diese Tendenz noch. Der Terror zwang Amerika dazu, sich mit der eigenen Endlichkeit auseinanderzusetzen. Die Menschen zeugten reihenweise Kinder1 oder reichten die Scheidung ein2, weil sie – zumindest unbewusst – spürten, dass wir nicht ewig leben, und weniger bereit waren, Entscheidungen immer weiter aufzuschieben. Wenn dann noch die Echtzeittechnologien von Smartphone bis Twitter dazukommen, permanentes Multitasking, kurzlebige Konsumkreisläufe und eine Wirtschaft, die darauf basiert, dass wir jetzt mehr ausgeben, als wir im ganzen Leben verdienen werden, dann kann man schon mal die Orientierung verlieren. Die Ausgangslage ist vergleichbar mit der, die der Futurologe Alvin Toffler in den 1960er-Jahren als »Zukunftsschock« bezeichnete.
Nur dass es heute ein Gegenwartsschock ist, den wir erleben. Und obwohl dieser ein Phänomen unserer unmittelbaren Gegenwart ist, hat er doch wenig mit Unmittelbarkeit und Gegenwärtigkeit zu tun.
Viele haben richtig vorausgesagt, wie dieser neue Präsentismus Investitionen und die Finanzwelt beeinflussen würde und wie sich Technologien und Medien weiterentwickeln müssten. Aber wir hatten keine Ahnung, was es für uns als Menschen bedeuten würde, im »Jetzt« zu leben. So hat uns unsere Konzentration auf die Gegenwart etwa von den großen Ideologien des 20. Jahrhunderts befreit. Niemand – na ja: fast niemand – lässt sich heute noch einreden, dass irgendwelche mythischen Zwecke alle Mittel heiligen. Arbeitnehmer und Konsumenten fallen nicht mehr so leicht auf die Loyalitätsrhetorik der Unternehmen herein. Aber der Wandel hat uns nicht dazu gebracht, genauer wahrzunehmen, was um uns herum vorgeht. Wir nähern uns keinem zenbuddhistischen Zustand der ewigen Gegenwart, in dem wir ganz mit uns selbst und unserer Umgebung eins werden und zu einer fundamentalen Erkenntnis unseres Selbst gelangen würden.
Stattdessen leben wir in einem Zustand ständiger Ablenkung, in dem wir das Unwichtige nicht mehr vom Wichtigen unterscheiden können. Unsere Fähigkeit, einen Entschluss zu fassen – geschweige denn ihm zu folgen –, leidet unter dem Bedürfnis, auf unzählige externe Impulse zu reagieren, die uns jeden Moment aus der Bahn werfen können. Wir sind im Hier und Jetzt nicht etwa sicher verankert, sondern reagieren nur noch auf den allgegenwärtigen Ansturm simultaner Impulse und Anforderungen.
In gewisser Weise entspricht das sogar dem, was die Entwickler unserer heutigen Rechner und Netzwerke erreichen wollten. Computer-Visionäre wie Vannevar Bush und J.C.R. Licklider träumten Mitte des 20. Jahrhunderts von Maschinen, die uns die Erinnerungsarbeit abnehmen würden. Sie sollten uns von der Last der Vergangenheit – und vom Schrecken des Zweiten Weltkriegs – befreien, indem sie es uns ermöglichten, uns ganz auf die Lösung gegenwärtiger Probleme zu konzentrieren und alles Zurückliegende zu vergessen. Die Informationen über die Vergangenheit sollten erhalten bleiben, aber außerhalb unseres Körpers, im Speicher der Maschine.
Und tatsächlich ist es ihnen gelungen, die Gegenwart von der Bürde der Erinnerung zu befreien, ohne diese zu verlieren. Wir können jetzt sozusagen mehr Rechenkapazitäten unseres Gehirns auf das RAM verwenden, den Prozessor, statt nur unsere zerebralen Festplatten ordentlich zu befüllen. Aber wir laufen Gefahr, diesen kognitiven Überschuss an die Beschäftigung mit Trivialitäten zu verschwenden, anstatt uns mit den Herausforderungen auseinanderzusetzen, die auf uns zukommen.
Verhaltensökonomen nutzen die wachsende Kluft zwischen unserem kognitiven Zugriff auf die Gegenwart und auf die Zukunft. Sie ermuntern uns, zukünftige Schulden als weniger wichtig zu erachten als gegenwärtige Kosten, und drängen uns zu finanziellen Entscheidungen, die eigentlich nicht in unserem Interesse liegen. Wo diese Kurzsichtigkeit auch das Bankwesen und die wirklich großen Budgets erfasst – etwa die der Federal Reserve oder der Europäischen Zentralbank –, tappen ganze Volkswirtschaften in dieselben logischen Fallen wie die einzelnen Darlehensnehmer und Kreditkartennutzer.
Wie wir unsere Entscheidungen treffen, beschäftigt eine ganze Reihe Neurowissenschaftler, meist im Auftrag von Konzernen, die auf gefügigere Angestellte und Konsumenten hoffen. Aber egal wie viele Probanden sie in ihre Kernspintomographen schieben: Im Mittelpunkt ihrer Untersuchungen stehen immer die Gehirnbereiche, die bei kurzfristigen, impulsiven Entscheidungen aktiv werden, und nicht die, die für rationale Erwägungen zuständig sind. So werden letztere zunehmend in den Hintergrund gerückt, und wir werden damit ermutigt, uns ganz auf spontanes, instinktgesteuertes Verhalten zu verlassen – so als sei es der einzige Schlüssel. Diese Betonung des Augenblicks hilft den Neurotechnologen vermutlich, ihre Dienstleistungen an Konzerne zu verkaufen, aber in Wirklichkeit wird das menschliche Verhältnis zum Augenblick dadurch nicht angemessen dargestellt.
Obwohl ihr Arsenal an Forschungsmethoden wächst und zunehmend invasiver wird, kommen Marketingexperten und Meinungsforscher doch nie an den lebendigen Prozess heran, in dem die Wahl auf ein Produkt oder auf einen bestimmten Kandidaten fällt. Ihre Hochrechnungen basieren immer nachträglich darauf, was die Probanden gerade gekauft oder beschlossen haben. Das »Jetzt«, mit dem sie sich befassen, verrät ihnen nichts über Wünsche, Gründe und Kontexte. Sie versuchen, aus Entscheidungen, die bereits getroffen wurden, künftige Entscheidungen abzuleiten – und zu beeinflussen. Ihre Kampagnen gaukeln uns vor, dass wir im Augenblick leben, und spornen uns zu entsprechend impulsiven Verhaltensweisen an. In Wirklichkeit macht uns das nur empfänglicher für Manipulationen.
In Wirklichkeit gibt es dieses »Jetzt« gar nicht – jedenfalls nicht das Jetzt, von dem die Marketingexperten sprechen. Es liegt in seiner Natur, dass es nicht festgehalten werden kann, und eigentlich spielt es auch gar keine Rolle. In dem Moment, wo das »Jetzt« wahrgenommen wird, ist es auch schon vorüber. Wie bei gesichtsgelähmten Botox-Junkies, die einer immer kleiner werdenden Schönheitsrendite nachjagen, nimmt uns gerade der Versuch, die Zeit anzuhalten und den Augenblick zu bewahren, unsere Fähigkeit, diesen Augenblick wirklich zu erleben.
Der Versuch, den flüchtigen Moment einzufangen, macht aus unserer Kultur ein einziges entropisches, statisches Rauschen. Erzählstrukturen und Ziele lösen sich auf, und was übrig bleibt, sind verzerrte Aufnahmen vom Echten und Unmittelbaren in Form von Tweets und Status-Updates. Was wir gerade im Augenblick tun, wird wichtiger als alles andere – mit verheerenden Folgen.
Denn dieser verzweifelte, narzisstische Zugriff auf die Zeit kann nicht gelingen. Welches »Jetzt« soll denn wichtiger sein – das von gerade eben oder das, in dem ich mich jetzt befinde?
In den folgenden Kapiteln untersuchen wir den Gegenwartsschock in verschiedenen Ausprägungen, auf unterschiedlichen Ebenen. Es wird darum gehen, wie wir Kulturgüter produzieren und erleben, wie wir unsere Geschäfte führen, unser Geld investieren, Politik machen, die Wissenschaften verstehen und uns die Welt erklären. Panikreaktionen auf den Gegenwartsschock werden ebenso betrachtet wie die erfolgreicheren Versuche, uns in der neuen Zeit zurechtzufinden.
Das Buch ist in fünf Abschnitte unterteilt, die sich jeweils einer charakteristischen Manifestation des Gegenwartsschocks widmen. »Narrativer Kollaps« stellt die Frage, wie sich Geschichten erzählen und Werte vermitteln lassen, wenn wir nicht mehr dazu kommen, einer linearen Handlung zu folgen. Die Popkultur kommt ohne traditionelle Plots aus – aber wie funktioniert Politik ohne Rückgriff auf die großen Erzählungen? In »Digiphrenie« befassen wir uns damit, dass es uns die Medien erlauben, an mehreren Orten gleichzeitig präsent zu sein, und was das für uns bedeutet. Wie jede andere Technologie davor prägt die Digitalität unser Zeitempfinden und stellt uns vor ganz neue Herausforderungen. »Überspanntheit« steht für den Versuch, große Zeitskalen in viel kleinere hineinzupressen, also in einem einzigen Augenblick Wirkungen zu erzielen, die sich eigentlich erst über einen längeren Zeitraum entfalten. Wie verändert das die Geschäfts- und Finanzwelt, die zunehmend mit Derivaten operiert? Im darauf folgenden Kapitel sehen wir uns an, was passiert, wenn wir die Welt ausschließlich aus der Gegenwart heraus interpretieren. Den verzweifelten Versuch, willkürlich und in Echtzeit Zusammenhänge herstellen, ohne Einordnung von Ursache und Wirkung auf einer Zeitschiene, bezeichne ich als »Fraktalnoia«. Und zuletzt betrachten wir die Symptome von »Apokalypsie – der Sehnsucht nach einem Ende angesichts einer alles dominierenden, nicht enden wollenden Gegenwart. Wir begegnen auf der Forschungsreise zu den verschiedenen Erscheinungsformen des Gegenwartsschocks Drohnenpiloten, die eben noch Bomben in einem entfernten Kriegsgebiet abgeworfen haben und wenig später in ihrem Vorstadthäuschen am Abendbrottisch sitzen. Wir erfahren, wie sich der Aktienhandel mit ultraschnellen Algorithmen sogar auf die Architektur der Gebäude in Manhattan auswirkt und was die Digitalisierung des Börsengeschäfts für die menschlichen Händler bedeutet. Wir lernen »Preppers« kennen, die sich für den Weltuntergang bevorraten und gleichzeitig den Klimawandel für eine Verschwörungstheorie halten.3 Und bei all diesen Themen geht es um die Frage, wie wir mit den Veränderungen umgehen sollen, wo wir doch gar keine Zeit mehr haben, um über all das einmal gründlich nachzudenken.
Ich schlage vor, dass wir intervenieren – und zwar genau jetzt, in diesem Moment. Wenn sich alles unkontrollierbar beschleunigt, ist manchmal Geduld das Einzige, was hilft. Drückt auf Pause.
Wir haben Zeit.
Ich hatte mich auf das 21. Jahrhundert gefreut. In den 1990ern ging das den meisten so: Unser Blick ging nach vorn. Alles schien sich zu beschleunigen, die Rechengeschwindigkeit der Computer genauso wie das Wachstum der Märkte. Auf allen PowerPoint-Folien sah man die gleiche steile Aufwärtskurve, ob es nun um die Höhe des zu erwartenden Profits, die Anzahl der Computernutzer oder den CO2-Ausstoß ging – das Wachstum war exponentiell.
1965 hatte Intel-Mitgründer Gordon Moore das mooresche Gesetz formuliert, eine Faustregel für den technologischen Fortschritt, die besagte, dass sich die Rechnerleistung alle zwei Jahre verdoppeln würde. Aber nun schien sich auch alles andere im Handumdrehen zu verdoppeln: der Aktienindex, die Arztrechnung, die Internetgeschwindigkeit, die Anzahl der Kabelfernsehsender. Wir hatten uns nicht nur an einzelne Veränderungen zu gewöhnen, sondern an die wachsende Geschwindigkeit, mit der die Veränderungen auf uns zukamen. Wir erlitten, wie es der Zukunftsforscher Alvin Toffler nannte, einen Zukunftsschock.
Daraufhin traten wir die Flucht nach vorn an. Jeder und alles richtete sich auf die Zukunft aus. Nicht, weil wir uns auf etwas Bestimmtes freuten, sondern weil unser Blick ganz allgemein in die Zukunft ging. Trendforscher und »Cool Hunter«, die einen exklusiven Ausblick auf das nächste große Ding versprachen, gehörten zu den bestbezahlten Beratern überhaupt. Optimistische Bücher über Die Zukunft des … füllten die Regale der Buchläden und wurden später von Titeln à la Das Ende der … abgelöst. Worum es jeweils ging, spielte eigentlich keine Rolle; es zählte nur, dass sie eine Zukunft hatten oder – und das war fast noch beruhigender – dass sie eben keine hatten.
Wir alle waren Zukunftsforscher, angetrieben von neuen Technologien, neuen Theorien, neuen Geschäftsmodellen und Denkansätzen, die nicht einfach nur mehr versprachen, sondern etwas völlig anderes: eine Verschiebung mit unbekannter Stoßrichtung und von noch nie da gewesenem Ausmaß. Mit jedem Jahr, das verging, zog es uns stärker zu einer Art »chaotischem Attraktor« hin, und je näher wir kamen, desto schneller schien die Zeit abzulaufen. Schließlich befanden wir uns in den letzten Jahren des letzten Jahrzehnts des letzten Jahrhunderts vor der Jahrtausendwende. Der unaufhaltsame, vom Internet verstärkte Boom der 1990er-Jahre war von genau diesem Blick nach vorne geprägt, von der Sehnsucht nach dem erlösenden Abschluss, dem ultimativen Wechsel ins nächste Jahrtausend.
Pedanten zählten das Jahr 2000 noch zum 20. Jahrhundert, doch uns galt es als Beginn eines neuen Zeitalters. Wir fieberten der Veränderung entgegen wie gläubige Millenaristen der Wiederkunft Christi. Die meisten erwarteten den Umbruch allerdings eher in der säkularen Gestalt des millenium bug: Computersysteme, die das Jahr in zwei Ziffern codierten, drohten am Übergang zur doppelten Null zu scheitern. Aufzüge würden stecken bleiben, Flugzeuge vom Himmel fallen, Kernkraftwerke eine Kernschmelze erleben – es wäre das Ende der Welt, wie wir sie kannten.
Und falls uns der Y2K-Bug verschonte, würden uns die Terroristen kriegen. Der Elfte September lag noch in der Zukunft, aber schon am 31. Dezember 1999 war man bei den Feierlichkeiten auf dem Times Square auf einen terroristischen Anschlag gefasst. In Seattle hatte man die Festivitäten aus Angst vor einem Terrorangriff sogar abgesagt. Die Berichterstatter von CNN verfolgten das mitternächtliche Hinüberschreiten ins neue Jahrtausend Zeitzone um Zeitzone und verglichen das Feuerwerk über dem Eiffelturm mit dem über der Freiheitsstatue.
Aber das Spektakulärste, was es von den verschiedenen Zwischenstationen zu berichten gab, war, dass überhaupt nichts Spektakuläres geschah – weder in Auckland noch in Hong Kong und auch nicht in Kairo, im Vatikan, in London, Buenos Aires oder Los Angeles. Die Flugzeuge blieben in der Luft – KLM hatte sicherheitshalber nur 3 ihrer 125 Maschinen im Einsatz –, und kein einziger Terroranschlag wurde verübt. Die Jahrtausendwende war eine einzige Antiklimax.
Aber etwas veränderte sich doch in dieser Nacht. Das Gefühl der Erwartung ließ nach. Der Blick in die Zukunft wich einer Auseinandersetzung mit der Gegenwart. Die Menschen fragten sich nicht mehr, was geschehen würde, sondern begannen, sich mit dem zu beschäftigen, was schon war.
Auf den Finanzmärkten etwa wurde der aktuelle Stand einer Geldanlage wichtiger als ihr zukünftiger Wert. Zehn Wochen nach der Jahrtausendwende erreichte der NASDAQ – der größte Markt für zukunftsorientierte Technologieunternehmen – mit 5.100 Punkten sein Allzeithoch, nur um kurz darauf abzustürzen. Er hat sich bis heute nicht erholt. Schuld gab man der Dotcom-Blase, dabei hatte der Absturz wenig damit zu tun, ob die digitalen Technologien hielten, was sie versprachen, oder eben nicht. Er markierte vielmehr einen umfassenden gesellschaftlichen Wandel: Was für die Menschen zählte, war nicht mehr der erwartete, sondern der aktuelle Wert einer Anlage. Die Perspektive eines Investments, auf die sich seine Gewinnaussichten gründeten, seine »Story«, verlor gegenüber der Jetztzeit an Bedeutung: Wie stehen meine Aktien im Moment? Wie viel Geld besitze ich tatsächlich? Was ist mein Portfolio jetzt wert?
Die bis dahin erfolgreich erzählte Geschichte vom unbegrenzten Wachstum der Aktienmärkte war nur eine von vielen in einer auf die Zukunft fixierten Gesellschaft. Alle großen »Ismen« des 20. Jahrhunderts – ob Kapitalismus, Kommunismus, Protestantismus, Republikanismus, Utopianismus oder Messianismus – beruhen auf einer großen, sinnstiftenden Erzählung. Nicht das, was sie in der Gegenwart leisten, macht sie aus, sondern das, was sie für die Zukunft versprechen. (Oder zumindest bieten sie im Heute etwas Besseres als die Schmerzen und Entbehrungen der Vergangenheit.) Der Zweck heiligt die Mittel. Der Krieg von heute ist die Freiheit von morgen. Das gegenwärtige Leid dient der zukünftigen Erlösung. Die Arbeit von heute wird morgen belohnt.
Eine Zeit lang funktionierten diese Geschichten wunderbar – besonders in den USA, wo Optimismus ein Grundbestandteil des Nationalcharakters zu sein schien. Immerhin ließ die Vision von einer besseren Zukunft einst Menschen ihr Leben riskieren für den Versuch, den Ozean zu überqueren und die Wildnis des amerikanischen Kontinents bewohnbar zu machen. Die neue Welt war aus ihrer Sicht ein unbeschriebenes Blatt, mit weiten Horizonten und scheinbar unendlichen Ressourcen, die erobert und mit einer eigenen Geschichte gefüllt werden wollten. Auch darum fiel in Nordamerika die protestantische Arbeitsethik, für die alles Streben einer besseren Zukunft zu gelten hatte, auf besonders fruchtbaren Boden. Und während sich die Europäer der Bewahrung ihrer Kultur widmeten, begriffen sich die Amerikaner als ein Volk, das sich einer gemeinsamen Herausforderung stellte, mit eigens dafür erschaffenen Mythen, die dazu beitragen sollten. Genau wie die Mormonen die Geschichte des Alten Testaments in die amerikanische Gegenwart hinein fortsetzten, sollten technologische Neuerungen vom Space Shuttle bis zum Computerchip Amerikas Manifest Destiny, seine »offensichtliche Bestimmung«, in die Zukunft überführen. Der amerikanische Traum war in all seinen Varianten an die gleiche narrative Struktur geknüpft. Ob ökonomisch, politisch oder spirituell: Wir stützten uns immer auf Geschichten.
In ihrer Gesamtheit gaben sie unserem Leben, unserer Nation, unserer Kultur und unserem Glauben eine erzählerische Ordnung. Die Art und Weise, in der wir unsere Erfahrungen strukturierten und über die Welt sprachen, war im Wesentlichen narrativ. So gesehen ist Amerika nicht nur ein Ort, an dem wir leben, sondern die Reise eines Volks durch die Zeit. Apple ist nicht nur ein Handyhersteller, sondern zwei Kerle in einer Garage, die ihren Traum von einer kreativeren Technologie verwirklicht haben; Demokratie nicht nur eine Regierungsform, sondern die Kraft, die die Menschheit befreien wird; Umweltverschmutzung nicht nur ein notorisches Problem der Industrie, sondern der drohende katastrophische Höhepunkt unserer Zivilisation.
Das Geschichtenerzählen wurde zum kulturellen Wert an sich. Vor Millionen hingerissenen Fernsehzuschauern erklärte der Mythenforscher Joseph Campbell dem Journalisten Bill Moyers in einer sechsteiligen Interviewreihe, wie Geschichten die Grundstruktur unserer Zivilisation bildeten. Joseph Campbell and The Power of Myth wiederum hat zahllose Regisseure, Werber und Management-Theoretiker dazu inspiriert, dem Geschichtenerzählen eine zentrale Rolle in ihren eigenen Entwürfen zuzuweisen. Sogar die Hirnforschung erkannte in der Narrativität eine wesentliche Komponente des Denkens. »Narrative Vorstellungen – Geschichten – sind ein fundamentales Werkzeug unseres Denkens, von dem unsere Fähigkeit zur rationalen Einsicht abhängt. Sie sind unser wichtigstes Instrument, um in die Zukunft sehen, Dinge vorhersagen, planen und erklären zu können«, schrieb Mark Turner von der Case Western Reserve University in Cleveland.1 Oder in den Worten der Science-Fiction-Autorin Ursula K. Le Guin: »Die Geschichte – von Rumpelstilzchen bis Krieg und Frieden – ist ein grundlegendes Werkzeug des menschlichen Geistes, mit dem er die Welt erfasst. Es hat komplexe Gesellschaften gegeben, in denen das Rad keine Rolle gespielt hat, aber eine Gesellschaft ohne Geschichten gab es nie.«2
Wenn wir die Welt als Geschichte erfahren, entwickeln wir ein Gefühl für den Kontext. Das beruhigt und gibt uns Orientierung. Hürden und Hindernisse werden zu kleinen Unebenheiten auf dem Weg zu einem besseren Ort oder zumindest zum Ziel der Reise. Solange der Schwung, der Vorwärtsdrall, die dramatische Spannung groß genug ist, werden wir den Unglauben aussetzen, um der Geschichte zu folgen.
Am Ende des 20. Jahrhunderts waren der Schwung, der Drall und die Spannung enorm. Vielleicht zu groß. Noch wenige Jahrzehnte davor, im idyllischen Jahr 1965, gewann Mary Poppins fünf Oscars, gaben die Grateful Dead ihr erstes Konzert, wurde die erste Staffel von Bezaubernde Jeannie auf NBC ausgestrahlt. Aber es war auch das Jahr, in dem der erste Mensch ins All geschossen, der Hypertext erfunden, das erste Beatmungsgerät erfolgreich eingesetzt wurde. Diese und andere Ereignisse und Erfindungen waren so vielversprechend, dass sie Alvin Toffler dazu bewegten, seinen grundlegenden Essay »The Future as a Way of Life« zu schreiben, in dem er den Begriff »Zukunftsschock« prägte.
Wir sollten uns auf vulkanische Erschütterungen gefasst machen und überraschende Richtungswechsel und Umbrüche, nicht nur in unserer Sozialstruktur, sondern auch in der Wertehierarchie und der Art und Weise, wie die Individuen die Realität wahrnehmen und begreifen. Die gewaltigen Veränderungen, die mit steigender Geschwindigkeit über uns hereinbrechen, werden die Menschen desorientieren, verwirren und einige unter sich begraben. […] Selbst die gebildetsten Leute gehen heute davon aus, dass die Gesellschaft verhältnismäßig statisch ist. Bestenfalls extrapolieren sie bestehende Trends. Die Folge ist eine totale Unfähigkeit, sich der Zukunft zu stellen, wenn sie eintritt. Kurz: ein Zukunftsschock.3
Toffler glaubte, die Dinge würden sich so schnell verändern, dass wir nicht mehr in der Lage wären, uns daran anzupassen. Neue Medikamente würden unsere Lebensspanne verlängern; medizinische Techniken würden uns ermöglichen, unseren Körper und unsere genetische Ausstattung nach Belieben zu verändern und neue Technologien die körperliche Arbeit obsolet machen sowie Echtzeitkommunikation über gewaltige Entfernungen ermöglichen. So wie die Einwanderer in ein fremdes Land ein Kulturschock erwartet, würde uns die sich rasend schnell bis zur Unkenntlichkeit verändernde Welt einen Zukunftsschock verpassen. Unsere Desorientierung wäre dabei nicht die Folge einer bestimmten Veränderung, sondern der Geschwindigkeit, mit der sich die Veränderung vollzieht. Toffler machte einen praktischen Vorschlag: Wir sollten alle Zukunftsforscher werden. Warum die Kinder in der Schule nicht mehr Science-Fiction lesen und Grundkurse in Prognostik besuchen lassen? Das Fehlen grundlegender prognostischer Fähigkeiten käme in der zeitgenössischen Welt schließlich einer Art funktionalem Analphabetismus gleich.4
Und so ähnlich geschah es auch. Zwar wurde Zukunftsforschung kein Schulfach, aber dafür erteilten uns die Populärkultur und die Geschäftswelt einige schmerzhafte Lektionen. Wir wurden Trendforscher und Hobbyfuturologen, die versuchten, das nächste große Ding auszumachen. Und das übernächste. Dann kamen wir tatsächlich an. Im Jetzt. Im Hier. In der Zukunft. Und als damit alle unsere Geschichten auseinanderfielen, stellten sich die ersten Symptome des Gegenwartsschocks ein.
Der Kollaps des Erzählens
Toffler hatte verstanden, dass die Kenntnis der Geschichte uns half, die Gegenwart in Perspektive zu setzen. Wir begreifen, wo wir uns befinden, weil wir wissen, wo wir herkommen. Was die Zukunft anging, so führte diese Fähigkeit zur narrativen Selbstverortung allerdings zu Problemen: Die neuen Erfindungen und Phänomene passten einfach nicht in die Geschichten, mit denen wir uns selbst unseren Platz in der Welt zuweisen wollten. Was geschieht mit unserer traditionellen Lebensplanung – vierzig Jahre arbeiten und mit 65 in Rente – in einer Zeit, in der die Lebenserwartung rasant gestiegen ist? Wie verändern Fruchtbarkeitsmedikamente die Familienplanung, die E-Mail unsere Wahrnehmung der Arbeitswoche und wie Roboter das Verhältnis von Arbeitern und Management? Oder, mit Blick auf den Nahen Osten: Wie verändern soziale Netzwerke die Ziele einer Revolution?
Kommende Veränderungen wären weniger traumatisierend für uns, wenn wir besser darin würden, verschiedene Szenarien zu entwickeln, zukünftige Realitäten vorherzusehen und neue Trends vorauszuahnen, meinte Toffler. Es würde uns nicht aus der nächsten Kurve tragen, wenn wir sie schon sehen würden und davon erzählen könnten.
Aber auch wenn Star Trek die Erfindung von Handy und iPad vorweggenommen hat, sind dem Versuch, mittels Science-Fiction-Geschichten eine Vorstellung von der Zukunft zu entwickeln, enge Grenzen gesetzt. Erstens bewegt sich die Realität manchmal schneller als die Fiktion. Während Geschichten bestimmten Plotkonventionen folgen müssen, um für ihre Zuschauer, Zuhörer oder Leser Sinn zu ergeben, ist die Realität oft chaotisch. Die Dinge passieren einfach, auch wenn man gerade nicht mit ihnen rechnet. Zweitens können Geschichten die Zukunft nicht nur voraussagen, sondern sie auch verändern. Sie haben sich als großartiges Medium erwiesen, um Informationen und Werte für die kommenden Generationen zu speichern. Wir erzählen unseren Kindern vor dem Zubettgehen eine Gutenachtgeschichte, in die wir Werte einflechten, die sie sie mit in ihre Träume (und ihr erwachsenes Leben) nehmen sollen. Unsere religiösen Mythen und unsere Nationalgeschichtsschreibung funktionieren ähnlich: Sie bewahren und vermitteln bestimmte Wertvorstellungen – das ist ein Grund, warum Zivilisationen über Jahrhunderte fortbestehen konnten.
Die hohe Kunst der Zukunftsforschung ist niemals wertneutral, egal, wie gewissenhaft sie betrieben wird. Als im Januar 1993 die erste Nummer von Wired erschien, war denen, die das Internet schon kannten, gleich klar, worauf diese Zeitschrift es anlegte: Sie wollte die Werte des Netzes mit denen des freien Marktes identifizieren. Die zahlreichen Zukunfts- und Trendforscher, die in den 1990ern unterwegs waren, sagten mit schöner Regelmäßigkeit eine Zukunft voraus, in der sie selbst die wichtigste Rolle spielten. Und die Geschichten, die sie den Konzernen zurechtschneiderten, erzählten immer auch vom Fortbestand der Unternehmensmacht. Im Grunde beschäftigten sie sich nicht mit der Zukunft, sondern pinselten jenen den Bauch, die eine überkommene Vergangenheit bewahren wollten.
All das Zukunftsgerede trug wenig dazu bei, uns mit der Gegenwart zu versöhnen. Wir hörten dadurch vielmehr auf, die Gegenwart als sinnvoll und bedeutsam wahrzunehmen. Anstatt in ihre Innovationskraft und ihre Kernkompetenzen zu investieren, gaben die Unternehmen jede Menge Geld dafür aus, Zukunftsszenarien an die Wand zu beamen. Sie bezahlten Berater (manchmal Medientheoretiker wie mich) dafür, ihnen eine Vogelperspektive auf ihr Unternehmensumfeld zu bieten – in dem festen Glauben, dass sie immer weiter voraussehen konnten, je höher sie flogen. Eine der Technologiefirmen, mit denen ich zu tun hatte, entschied anhand von Prognosen über die Entwicklung von Währungen, an welchen Standorten sie ihre Offshore-Fabriken errichten sollte. Der Finanzvorstand eines anderen Unternehmens spekulierte mit Warentermingeschäften – ohne einen Gedanken daran zu verschwenden, dass die in seiner eigenen Firma entwickelten Technologien genau diese Waren überflüssig machen würden. Manche Unternehmen verloren aufgrund solcher Spekulationen Millionen. Manche gingen sogar bankrott.
Individuen, Unternehmen, Institutionen oder Nationen opferten also den Blick auf die Gegenwart für den in die Zukunft. Aus Geschäftsführung wurde Strategieplanung, aus dem Arbeitsleben die Lebensarbeitszeit für den Rentenanspruch und aus globaler Kooperation die Spekulation an den Börsen. Das funktionierte ganz wunderbar, solange die Kurven auf den Charts allesamt nach oben zeigten. Doch dann kam der Jahrtausendwechsel. Die Börsenkurse brachen ein, das World Trade Center fiel in sich zusammen, und unsere Geschichten kollabierten.
Die Auswirkungen des Elften September auf unser Verhältnis zur Geschichte sind nicht zu unterschätzen. Während ich an diesem Kapitel arbeitete, lernte ich eine College-Absolventin kennen, die gerade ein Mentorenprogramm auf die Beine stellte. Es sollte junge Leute wie sie mit älteren Semestern wie mir ins Gespräch bringen. Sie erklärte mir, dass ihre Generation durchaus idealistisch und bereit sei, die Welt zu einem besseren Ort zu machen; seit den traumatischen Ereignissen des Elften September sei ihnen aber der Bezug zu den großen Menschheitsprojekten abhanden gekommen. Seit der Tragödie sähen sie irgendwie keinen Sinn mehr darin. Über das Gespräch mit Leuten wie mir hofften sie und ihre Altersgenossen, ihn wiederzufinden.
Ihre Generation war es dann auch, die bei der ersten sich bietenden Gelegenheit Barack Obama wählte und die Kernzielgruppe für den von Alice Walker geborgten, postnarrativen Refrain seiner Kampagne darstellte: »Wir sind diejenigen, auf die wir gewartet haben. Wir sind die Veränderung, die wir suchen.« Was für eine Beschwörung des Präsentismus! Die Erstwähler nahmen Obama beim Wort und stellten sich der Herausforderung, die Veränderung zu werden, anstatt sie passiv zu erwarten. Natürlich entpuppte sich das Ganze dann doch eher als Wahlkampf-Slogan denn als ernst gemeintes Angebot zur Partizipation – ein rhetorischer Kniff, ein Mittel, um an die Macht zu kommen. Erst die Occupybewegung unternahm später einen genuin präsentistischen Versuch, politische und soziale Veränderungen durchzusetzen. Doch Obamas Redenschreiber hatten den sich anbahnenden kulturellen Wandel klar erkannt: Geschichten konnten in uns kein Gefühl der Kontinuität und Teilhabe mehr erzeugen – dafür erwachte das Bewusstsein dafür, dass etwas Unmittelbareres und Relevanteres ihren Platz einnehmen musste.
Große Geschichten
Traditionelle Geschichten mit einer traditionellen, linearen Dramaturgie gibt es schon sehr lang – weil sie funktionieren. Sie scheinen den Lebensweg selbst zu imitieren, von der Geburt zum Tod. Wie ein Atemzug oder ein Liebesakt steigern Geschichten ihre Intensität, bis sie langsam ausklingen; sie haben einen Anfang, einen Höhepunkt und einen Schluss. Obwohl uns das ganz natürlich vorkommt, war es doch nicht immer so. Genau genommen setzte sich diese Struktur erst recht spät durch, mit Schriftkulturen wie der im antiken Griechenland.
Die Geschichten der Bibel – zumindest die des Alten Testaments – funktionieren anders. Sie entstammen oralen Kulturen, in denen der Geschichtenerzähler sein Publikum permanent miteinbezog. Natürlich wurden auch Informationen und Moral damit transportiert, meistens indem zwei Kollektive oder Figuren miteinander kontrastiert wurden – die eine gesegnet, die andere dem Untergang geweiht. Epische Gedichte und Theaterstücke entsprechen mit ihrer linearen Struktur schon mehr unserem Verständnis einer Geschichte mit Anfang und Ende, wie wir sie aus Büchern gewohnt sind. Egal an welcher Stelle der Narration wir uns befinden, sind wir uns immer bewusst, dass wir schon ein paar Seiten hinter uns gebracht haben und dass weitere folgen. Die Stelle im Buch sagt etwas darüber aus, wie nah das Ende ist, und unsere emotionale Reaktion hängt ganz von der Zeiterfahrung ab.
Aristoteles war der Erste, der die Hauptbestandteile einer solchen Narration identifizierte, ganz ähnlich wie ein Hacker, der im Reverse-Engineering-Verfahren ein Computerprogramm analysiert. Die von Aristoteles entdeckte Mechanik der Geschichten zu verstehen, ist auch heute noch wichtig, schon weil sie weiterhin von Regierungen, Unternehmen, Religionsgemeinschaften und Pädagogen aller Art verwendet wird, um uns zu erziehen und zu beeinflussen. Noch wichtiger ist es allerdings zu erkennen, dass sie für viele von uns ihre Wirksamkeit verloren hat – was den Geschichtenerzählern einen Schock versetzt hat, einen Gegenwartsschock.
Die traditionelle Geschichte erschafft eine Figur, mit der wir uns identifizieren können, setzt sie einer Gefahr aus und lässt sie schließlich einen Ausweg finden. Nehmen wir Ödipus, Luke Skywalker und Dora the Explorer. Durch ein ursächliches Ereignis wird unser Held auf eine abenteuerliche Reise geschickt. Ödipus befragt das Orakel nach seiner Herkunft, Luke möchte Prinzessin Leia befreien und Dora den Babyfrosch zurück auf seinen Baum bringen. Dann trifft unser Held einige Entscheidungen, die ihn in immer gefährlichere Situationen bringen. Ödipus entscheidet sich dafür, den Mörder von König Laios zu suchen und zu töten, Luke wird ein Jedi-Ritter und schließt sich dem Kampf gegen das Imperium an, und Dora entschließt sich, den Babyfrosch mit ihrem Affen Boots durch den dunklen Wald nach Hause zu bringen. Mit jedem Schritt begibt sich unser Held in größere Gefahr und nimmt das Publikum mit auf seinen spannungsgeladenen Weg.
Gerade wenn die Spannung kaum noch auszuhalten ist – wenn es uns kaum noch auf den Sitzen hält oder wir das Buch schon fast in die Ecke werfen wollen – kommt die überraschende Wende. Ödipus erfährt, dass er selbst der Mörder ist, den er sucht; Luke, dass Darth Vader sein Vater ist; und Dora, dass sie das Rätsel des hässlichen alten Trolls selbst entschlüsseln kann. Auf die Erkenntnis folgt endlich die Auflösung: Ödipus nimmt sich das Augenlicht, Luke ermöglicht seinem Vater die Rückkehr zur hellen Seite der Macht, und Dora bringt den Frosch zurück zu seiner Familie. Die Zuschauer erleben eine Katharsis und empfinden Erleichterung. Das Abenteuer ist vorbei. Und je mehr Spannung vorher aufgebaut wurde, desto mehr genießen sie den Ausklang der Geschichte.
Diese Erzählstruktur – bei Joseph Campbell »Heldenreise« genannt5 – ist wesentlich für unser Verständnis der Welt. Es mag daran liegen, dass sie das Leben selbst nachahmt, oder vielleicht haben wir uns umgekehrt so an sie gewöhnt, dass sie unsere Wahrnehmung der Ereignisse und der daraus entspringenden Probleme nachhaltig geprägt hat. Sie ist jedenfalls hervorragend geeignet, um Werte zu vermitteln. Sind wir dem Helden auf seine schwierige Reise, auf den aufregenden und mühsamen Weg in die Gefahr gefolgt, akzeptieren wir jede Lösung, die sich ihm als Ausweg anbietet. Arnold Schwarzenegger findet eine Waffe, mit der er die bösen Aliens erledigen kann, der Ermittler in Law & Order schafft es mit einem Psychotrick, das Ego des Serienmörders gegen sich selbst zu kehren, und die Kids in Glee lernen, dass Freundschaft wichtiger ist als der Sieg in einem Gesangswettbewerb. Und je größer die Spannung ist, desto größer ist auch unsere Abhängigkeit vom Geschichtenerzähler, der jede beliebige Moral oder Idee in seiner Geschichte platzieren kann.
Oder jedes beliebige Produkt. In der Fernsehwerbung erreicht diese Erzähltechnik ihre höchste Vollendung – eine Figur befindet sich in Schwierigkeiten, trifft riskante Entscheidungen und findet schließlich einen Ausweg (dank eines bestimmten Produkts, versteht sich). Das Ganze spielt sich in gerade einmal dreißig Sekunden ab. Zum Beispiel: Ein Mädchen bemerkt ein paar Tage vor dem Abschlussball einen fiesen Pickel auf der Wange und versucht, ihn loszuwerden – mit heißen Kompressen, Ausdrücken und anderen Hausmitteln. Das alles macht es nur noch schlimmer (steigende Spannung). Als sie schon sicher ist, dass ihr eine peinliche und demütigende Erfahrung bevorsteht, bemerkt eine Freundin den Pickel – aber anstatt unsere Heldin zu verspotten, erzählt sie ihr von dieser tollen neuen Anti-Pickel-Creme mit Sofortwirkung (überraschende Wende). Unsere Heldin probiert die Creme aus (Erkenntnis) und geht völlig pickelfrei zum Abschlussball (Auflösung).
Während wir den Protagonisten begleiten, schlucken wir so ziemlich alles, was der Erzähler uns anbietet, solange es nur zu einer befriedigenden Auflösung führt. Damit dieser Mechanismus greift, muss der Geschichtenerzähler sein Publikum allerdings mit seiner Geschichte gefesselt haben – das Wort Entertainment lässt sich nicht umsonst auf »in, innerhalb« und »halten« zurückführen. Und bis vor Kurzem hat es auch noch funktioniert: Der Zuschauer blieb an seine Couch gefesselt und kaufte am Ende brav die Anti-Pickel-Creme. Selbst wenn ihm bewusst war, dass man ihn nur auf die Folter spannte, um ihm ein Produkt anzudrehen: Was hätte er tun sollen, um der Werbung zu entgehen? Vor der Erfindung der Fernbedienung musste er aufstehen, zum Fernseher gehen, umschalten und vielleicht sogar die Antenne neu ausrichten. Oder er konnte den Raum verlassen – auf die Gefahr hin, die Fortsetzung der Sendung zu verpassen. Auch wenn die Fernsehzuschauer nicht ganz so devot waren wie Kirchgänger, die gehorsam auf ihren Bänken darauf warteten, bis der Pfarrer seinen Sermon beendete, schluckten sie doch brav fast jede Pille, die der Erzähler ihnen am Wendepunkt der Geschichte unterjubelte.
Dann kam die Interaktivität. Die Fernbedienung veränderte unser Verhältnis zum Fernsehen tiefgreifender als irgendeine postmoderne Medienkritik. Zusammen mit dem Kabelfernsehen und seinen unzähligen Programmen hat sie das Fernsehen revolutioniert: Plötzlich reichte ein Knopfdruck, um dem nervigen Werbeblock zu entgehen. Das Kind mit der Fernbedienung in der Hand sieht sich nicht mehr länger eine bestimmte Sendung an – es sieht fern. Wenn eine Sendung unangenehm wird, schaltet es einfach um.
Denken Sie an ihr eigenes Fernsehverhalten. Meistens wechseln Sie nicht das Programm, weil Ihnen langweilig ist, sondern weil Sie sich ärgern: Jemand versucht Ihnen Angst einzujagen, um Ihnen sein Produkt anzudrehen (Leiden Sie unter Haarausfall? Gefallen Sie Ihrem Partner noch? Und gibt es nicht ein Antidepressivum mit weniger Nebenwirkungen?), also wechseln Sie den Kanal. Oder Sie verabschieden sich von einer Erzählung, weil der Protagonist zu viele schlechte Entscheidungen trifft. Ihre Toleranz für seine Eskapaden ist nämlich beträchtlich gesunken, seit Sie zahllose alternative Erzählungen zur Auswahl haben. Und so zappen heutige Fernsehkonsumenten von einem Programm zum nächsten, um die guten Momente abzugreifen, wo sie sich gerade finden. Sobald die Sci-Fi-Serie von einer Werbepause unterbrochen wird, schalten sie ins letzte Viertel des Basketballspiels und von dort weiter zu einem Krimi – und das alles, bevor in der Science-Fiction-Folge die Aliens auftauchen.
Derart von den Nutzern dekonstruiert, verliert das Fernsehen die Fähigkeit, kohärente Geschichten zu erzählen – als wäre die lineare Narration von inkompetenten und manipulativen Erzählern so lange missbraucht und kompromittiert worden, dass sie schließlich aufgehört hat zu funktionieren, besonders bei jungen Zuschauern, die mit den interaktiven Medien vertraut und entsprechend wehrhaft sind. Folgerichtig haben sich die Fernsehmacher und die Popkultur im Ganzen an die neue Situation angepasst.
Die neue Popkultur
Nachdem also für lineare Geschichten mit Anfang, Mitte und Schluss keine Zeit mehr war, mussten die Fernsehmacher mit dem arbeiten, was ihnen blieb: dem Moment. Für die Eltern, Pädagogen und Medienexperten stellte sich das Ergebnis dieser Bemühungen nicht gerade als Fortschritt dar. Wie Aristoteles sinngemäß bemerkte: »Wenn das Story-Erzählen verkommt, ist das Ergebnis Dekadenz.«6 Zumindest oberflächlich betrachtet schienen die neuen TV-Formate Aristoteles Recht zu geben.
Zeichentrickserien, die sich wie Beavis and Butt-Head (1993) oder Die Simpsons (1989) als Kinderfernsehen tarnten, gehörten zu den Ersten, die direkt an Zapper gerichtet waren.7 Dabei zeigte der MTV-Hit Beavis and Butt-Head eigentlich nur zwei Teenager, die auf der Couch sitzen und sich MTV-Musikvideos ansehen. Obwohl die Sendung in den Augen der Eltern geradezu gefährlich stumpfsinnig war, gelang es ihr in kunstvoller Weise, die Erfahrung der Kids beim MTV-Gucken wiederzugeben. Indem die beiden Dumpfbacken Musikvideos kommentierten, hielten sie den Zuschauern den Spiegel vor. In der Sendung war häufig ein Bildschirm im Bildschirm zu sehen, auf dem meistens das echte MTV lief. Während die Videos dort mit sexuell aufgeladenen Bildern faszinieren wollten, wurde der Zuschauer von Beavis and Butt-Head für sein Interesse daran mit den dummen Kommentaren der beiden abgestraft: Sobald eine hübsche Frau ins Bild kommt, folgt Butt-Heads »Nice set« (»Geile Titten«), und Beavis giggelt peinlich dazu. Abgesehen davon, dass die beiden Zeichentrickfiguren unsere eigene Rezeptionshaltung reflektieren, erteilen sie uns auch eine einfache Lektion in Sachen Selbstbestimmung: Wenn sie irgendetwas nicht mögen, sagt der eine »This sucks, change it«, und der andere zappt weiter. Beavis und Butt-Head sind nicht im Alleingang für den Untergang des Musikvideos verantwortlich, aber ihre Persiflage hat die Distanz zwischen Zuschauer und Fernsehprogramm vergrößert.
Die Kultserie Mystery Science Theater 3000 (1988) hat die Mediensatire fast zur Kunstform weiterentwickelt. Sie spielt in der Zukunft, auf einer Raumstation, auf der ein Mensch und seine zwei Roboter-Gefährten dazu gezwungen werden, alte Trashfilme und Low-Budget-Science-Fiction-Produktionen anzusehen. Wir sehen die Leinwand und davor als Silhouette die Köpfe der drei Zuschauer, die das Geschehen im Film beständig kommentieren und sich darüber lustig machen – ganz so, als würden wir ihn mit ein paar guten Freunden gucken.
Aber das tun wir nicht. Die realen Zuschauer dürften in der Regel allein zu Hause gesessen und die fiktiven Charaktere als Ersatzfreunde benutzt haben. Auch in dieser Hinsicht ist die Geschichte also selbstreflexiv: In der Rahmenhandlung baut sich der Held seine Roboterfreunde aus überflüssigen Teilen des Filmprojektors – genau jenen Teilen, mit denen er die Startzeiten der gezeigten Filme hätte manipulieren können. Er benutzt die ihm zur Verfügung stehende Technik dazu, um menschliche Interaktion zu simulieren, aber gibt dafür einen Teil seiner Freiheit auf. Den großteils jungen Zuschauern ergeht es ähnlich: Sie quälen sich nachts durch lange, schwer erträgliche Trashfilme, nur um die Freuden simulierter Gemeinschaft zu erleben. MST3K, wie die Sendung von den Fans genannt wird, ist Unterhaltung und Spiegelbild zugleich. Wir können zwar der Geschichte einer Figur nicht mehr über einen längeren Zeitraum folgen, uns dafür aber einen Moment lang mit ihr identifizieren. Der Dialog des auf der Leinwand gezeigten Films wird zu einem guten Teil von den Sprüchen der drei Zuschauer überdeckt, und der Plot geht in einer endlosen Abfolge von Witzeleien und Nachäffereien verloren. Die lineare Narration des Films wird dem offenbar dringenderen Bedürfnis geopfert, die eigene Medienerfahrung gespiegelt zu sehen.
Dabei stellen die einzelnen Witze und Nebenbemerkungen auch so etwas wie eine Medienerziehung dar: Fast immer handelt es sich um Anspielungen auf andere mediale Produkte. Einmal bauen die Roboter einen Andrew-Lloyd-Webber-Grill, um die Partituren seiner Songs darin zu verbrennen. Und ein anderes Mal diskutieren sie die Vor- und Nachteile von Windows- und Macintosh-Betriebssystemen. Als Bela Lugosi in einem kitschigen alten Sci-Fi-Film den Laborkittel auszieht, singt einer der Roboter »It’s a beautiful day in the laboratory« – zur Melodie von Mister Rogers‘ Neighborhood. Den Robotern entgehen weder peinliche Spezialeffekte noch Drehbuchfehler. Als Gefängnisinsassen auf ihrer Flucht von Pistolenschüssen und Hundegebell aufgeschreckt werden, ruft einer der Roboter: »Schneller! Die Geräuschemacher sind hinter uns her!« Und gegen Ende eines anderen Films kommentiert er trocken: »Ist das nicht ein bisschen spät für eine Wende im Plot?«
MST3K