Beate
Grimsrud
Verrückt
und frei
Roman
Deutsch von Ina Kronenberger
Die norwegische Originalausgabe erschien 2010 unter dem Titel
»En dåre fri« bei Cappelen Damm, Oslo.
Die Übersetzung wurde von NORLA, Oslo, gefördert.
Der Verlag bedankt sich herzlich.
Zudem wurde die Arbeit der Übersetzerin am Text vom Deutschen
Übersetzerfonds e.V. gefördert, wofür sich die Übersetzerin
sehr herzlich bedankt.
1. Auflage
Copyright © 2010 by CAPPELEN DAMM AS
Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2014 by btb Verlag
in der Verlagsgruppe Random House GmbH, München
Satz: Uhl + Massopust, Aalen
ISBN 978-3-641-12162-4
www.btb-verlag.de
I.
Ich bin Eli. Auf Hebräisch bedeutet das »mein Gott«. Es ist sowohl ein Mädchen- als auch ein Jungenname.
Ich kann in dieser Wohnung nicht bleiben. Der Boden fällt zu den gefährlichen Fenstern hin ab. Ich wohne im sechsten Stock. Die Fenster ziehen mich an. Ich könnte mich hinausstürzen. Ich könnte hinunterspringen. Ich habe Angst. Ich rede und kann nicht aufhören. Ich bin diejenige, die erzählt, und diejenige, von der erzählt wird. Diejenige mit den Stimmen im Kopf. Diejenige, in der gesprochen wird, endlos. Muss mich gegen die Behauptungen der Stimmen wehren. Muss auf ihre Zurufe antworten. Muss in der Kochnische mit den Armen die immer gleichen Bewegungen machen. Wieder und wieder, wie die Stimmen es verlangen. Was passiert, wenn ich mich weigere? Ich kann platzen. Ich gehe kaputt. Mein Kopf bricht auseinander. Die ganze Wohnung kann wie eine Kommodenschublade aus dem Haus sausen.
Ich bin neununddreißig. In den letzten achtzehn Jahren ging es ständig rein in die Psychiatrie und wieder raus. Fast genauso lange lebe ich schon als Schriftstellerin, Dramatikerin und Filmemacherin. Schriftsteller sein ist kein Beruf. Es ist ein Leben. Ich habe gestern geschrieben. Ich schreibe heute und werde es morgen tun. Mich in den Worten bewegen. Sätze und Situationen erspüren und genießen. Sie aus mir herausholen und wieder abgeben. Sie weitergeben und dennoch behalten. Ein Geschenk, mit dem man verwachsen kann. An dem ich mich festhalten kann, wenn ich krank bin. An dem ich mich festhalten kann, wenn ich gesund bin. Im Moment sitze ich da und warte. Ich habe einen neuen Therapeuten, kognitive Therapie. Ziel ist, dass ich zu Hause wohnen kann, nach fünf Jahren, in denen ich immer wieder in die geschlossene Abteilung eingewiesen wurde.
Ich bin skeptisch, was den Therapeuten betrifft. Ich habe schon viele Therapien hinter mir. Aber jetzt will ich etwas Neues ausprobieren, warum auch nicht? Er ist in meinem Alter, groß und schlaksig mit einem Pferdeschwanz. Er kommt zu mir nach Hause, ich muss nicht zu ihm hin. Die Probleme finden sich schließlich auch in meiner Wohnung, unter anderem. Die gefährlichen Fenster. Die Angst, dass ich aus dem Fenster springe. Hinunterstürze. Hinunterfalle. Vom Luftzug nach draußen gesogen werde. Ohne mich an den glatten Möbeln festhalten zu können. Er fordert mich auf, eine Liste zu erstellen über Dinge, die mir schwerfallen. Sie gerät ziemlich lang. Er fordert mich auf, eine Liste zu erstellen über Dinge, die ich gut kann. Sie gerät genauso lang, das überrascht den Therapeuten. Die Krankheit bekommt ein Loch.
»Wo ist es am gefährlichsten?«, fragt er. »Im Schlafzimmer«, antworte ich. Der Fußboden fällt zur Seite hin ab, und ich werde von den dunklen Scheiben angezogen. »Ich muss mich ans Bett klammern.« Wir gehen ins Schlafzimmer. Das Fenster ist komplett von einem dunklen Vorhang bedeckt. Hinter dem Vorhang steht zum Schutz eine afrikanische Skulptur. Das Fenster wird nie geöffnet. Der Vorhang wird nie aufgezogen. »Der Fußboden fällt ab«, wiederhole ich. Der Therapeut nimmt einen kleinen Ball aus der Tasche. Er legt ihn auf den Boden. Der Ball bewegt sich ein wenig im Kreis, bleibt dann liegen. Er rollt nicht zum Fenster. Wir betrachten ihn beide. Die Vorstellung, dass etwas völlig Falsches richtig ist, steht nunmehr als vermeintliche Wahrheit im Raum, denke ich. Ich weiß nicht, was ich glauben soll. Müssen wir das Gleiche gesehen haben? Er hebt den Ball vom Boden auf und steckt ihn zurück in die Tasche. Sagt kein Wort.
Ich bin Eli. Das ist sowohl ein Mädchen- als auch ein Jungenname, auf Hebräisch bedeutet er »mein Gott«. Im Haus ist es still. Wir haben aufgehört zu schreien. Wir haben aufgehört, herumzutollen und Krach zu machen. Mama hat schon lange die Hoffnung aufgegeben, uns bändigen zu können. Im Wohnzimmer liegen Blumen auf dem Boden. Wir haben mit Sachen um uns geworfen und nicht gemerkt, wann Schluss sein muss. Ich bin anderthalb, mein Bruder Torvald ist ein Jahr und einen Tag älter als ich. Wir werden mit den Gurten aus dem Kinderwagen an unseren Gitterbetten festgebunden. In der Nacht haben wir immer wieder geschrien, haben dann aber aufgegeben. Keiner ist uns zu Hilfe gekommen.
Ich spüre, wie die Gurte an der nackten Haut scheuern. Ich winde mich wie eine Schlange, kann mich nicht befreien. Mein Körper ist nass vor Schweiß, das Gesicht nass vor Tränen. Wir haben die Schlafanzüge, die Unterhosen und die Windeln ausgezogen. Sie liegen neben dem Bett auf dem Boden. Wir haben die Kissen, die Decken und die Laken auf den Boden geworfen. Wir haben die Matratzen über das Gitter geworfen. Wir sitzen nackt auf den Planken im Bett, mit Gurten festgebunden, als Papa morgens ins Zimmer kommt. »Schau nur, wie stark sie sind«, sagt er.
Ich gehe früh zu Bett, nachdem ich eine Menge Schlaftabletten genommen habe. Es ist Nacht. Der Schlaf war da und ist plötzlich verschwunden. Mein Bein zittert. Ich werfe mich im Bett hin und her. Die Arme liegen ausgestreckt neben dem Körper, ich glaube, dass ich angegurtet bin. Bewege ruckartig die Arme und strampele mit den Beinen. Der Gurt spannt am Bauch. Ich kann ihn nicht selbst lösen. Ich glaube, dass ich auch an Händen und Füßen gefesselt bin. Jemand muss den Schlüssel dafür haben. Das Pflegepersonal hat ihn. Ich rufe um Hilfe, immer wieder. Komme nicht an den Lichtschalter. Es ist dunkel. Ich schreie erneut.
Ich fühle mich einsam in der Wohnung. In der Stadt. In diesem Land. Auf der Erde. In der Welt. Die Milchstraße ist mit einer Gaswolke kollidiert, kein Mensch lebt mehr. Alles menschliche Leben wurde ausgelöscht, nur ich bin noch da. Nur ich bin immun gegen das Gas, und all die anderen, die in den psychiatrischen Kliniken dieser Welt angegurtet sind. Ohne Schlüssel, ohne die Möglichkeit, sich zu befreien. Im Kühlschrank gibt es noch etwas zu essen. Die Autos stehen noch auf dem Parkplatz. In den Banken gibt es noch Geld. Auf den Weiden stehen noch Pferde. In den Krankenhäusern gibt es Medikamente. In den Fläschchen Pillen. Die Schulen sind ohne Schüler. Die Bücher ohne Leser. In den Blumenläden gibt es Blumen. Am Himmel die Sonne. In der Wolke den Regen. Bald klingeln auf der gesamten Nordhalbkugel die Wecker. Keiner wird sie ausstellen.
Ich kann die Geschichte so weiterspinnen. Mich aber nicht befreien. Die Gurte sind stabil. Ich habe keine Chance. Ich bin abhängig von denen, die nicht mehr leben. Ich bin diejenige, die bleibt, wenn alle anderen verschwinden. Ich habe noch die Sprache im Mund. Töne in der Kehle. Aber keinen Zugang zu Ohren. Ich schreie erneut. Weiß nicht, was ich sonst tun soll. Ich habe die Sprache im Mund, aber sie nützt mir nichts. Werde ich mein letztes Gebet laut oder leise sprechen?
Papa albert mit uns Kindern herum. Er krabbelt auf allen vieren über den Boden. Dann ist es mit dem Herumalbern vorbei. Plötzlich knurrt er furchterregend. Bellen ist, wie mit der Stimme prügeln. Seine Hand ist rasch wie eine Fliegenklatsche. Wir schreien. Laufen davon und verstecken uns. Mama schreit: »Es ist verboten, Hund zu spielen.« »Ich bin kein Hund«, knurrt Papa. »Ich bin ein Löwe.«
»Wille, Wille, Wille. Kämpfen, kämpfen, kämpfen.« Es ist die Stimme meines Boxtrainers. Aber sie muss schon immer da gewesen sein. Lange, bevor ich mit dem Boxen angefangen habe. Ich mache Sit-ups und Liegestütze. Gehe in den Ellbogenstand. »Muskelschmerz ist positiver Schmerz. Auf die Zehenspitzen. Boxen heißt, mit den Beinen musizieren!« Ich schlage gegen den Sack. Die Kraft kommt nicht aus den Armen, sondern aus der Hüfte. Ich soll meine Sparringspartnerin auf dem Rücken durch die Halle tragen und wieder zurück. Ich habe ein Fighterherz. »Vergiss nicht zu atmen«, schreit der Trainer. »Atmen, atmen, atmen.« Ich denke an meinen neuen Therapeuten. Wir wollen nichts in die Vergangenheit tragen. Wir wollen den Augenblick und die Zukunft atmen. Nicht so viel über die Vergangenheit reden. Wir wollen die Bürde abwerfen. Uns darunter herausschälen und sie Stück für Stück auf dem Weg zurücklassen. Wege drum herum finden. Routinen finden. Ans Ziel finden. Schwitzen. Nachts mit den Zähnen knirschen. Was erwartet mich jetzt?
Ich stehe auf einem Stuhl in der Küche und trage eigene Gedichte vor. Sie reimen sich. Ich rede laut und wedele mit den Armen. Mama, Papa und meine Geschwister sitzen da und hören mir zu. Ich bekomme viel Applaus, verbeuge mich und hüpfe vom Stuhl. Renne auf den Gang, doch der Applaus ebbt nicht ab. Ich laufe wieder hinein und verbeuge mich mehrmals. Ich sehe an den Gesichtern des Publikums, wie stolz alle sind. Ich frage Mama, ob ich so ein Mensch werden kann, wenn ich einmal groß bin, so ein Mensch, der Gedichte erfindet und ein Publikum hat. »Schriftstellerin«, sagt Mama. »Das kannst du nebenher sein.« Ich will nur Schriftstellerin sein und nebenher vielleicht Schreinerin. »Du bist Schriftstellerin«, sagt Papa. »Mach weiter so.«
Ich bin sechs. Rede und kann nicht aufhören zu reden. Fasse zusammen, erkläre, frage, erfinde, lüge und kaue an den Nägeln. Ich habe lange, lockige, gelbe Haare und große dunkle Augen. Lange Wimpern und rosige Bäckchen. Ich will mir die Haare abschneiden. Vielleicht kann man mit sieben selbst entscheiden. Ich habe eine blasse, fast durchscheinende Haut. Ich tolle überall herum, falle hin und verletze mich ständig. Für eine Prinzessin habe ich ungewöhnlich viele Wunden und Narben. Auf dem Knie klebt ein hellbraunes Pflaster. Unter dem Pflaster ist eine tiefe Wunde. Ich übe, freihändig Fahrrad zu fahren.
Es ist einer meiner letzten Tage in der Vorschule. Ich trage ein hübsches rosa Kleidchen, das meine große Schwester Marit genäht hat. Das Klassenzimmer ist ziemlich heruntergekommen. Die Schule ist ein einziges Provisorium. Sie besteht aus Baracken, die uns ein Jahr lang beherbergen sollten, bis die neue Schule fertig wäre. Sie stehen seit zehn Jahren da. Die Sonne fällt durch die schmutzigen Fenster, und unsere Zeichnungen verdecken die Risse in der Tapete. Für einen göttlichen Menschen wie mich ist das Zimmer nicht standesgemäß, dennoch sitze ich hier.
Ich weiß, dass es einen heimlichen Ausgang gibt aus dem, was Wirklichkeit heißt. Bald werde ich feststellen, dass es viele gibt. Bald bekomme ich einen Freund fürs Leben. Einen Freund und einen Feind. Einen, der mir Gutes will, dessen Tränen aber auch im Hals feststecken, bis er sie nicht mehr zurückhalten kann. Einen, der mich später im Leben daran erinnern wird, dass ich einmal klein war.
»Wer will Espen Askeladd spielen?«, fragt der Lehrer. Blitzschnell schießt meine Hand nach oben. Wir wollen vor den Sommerferien für die Eltern ein Theaterstück aufführen. Die meisten wollen nicht Espen Askeladd sein. Sie trauen sich eine Hauptrolle nicht zu. Ich weiß, dass es meine Rolle ist. Ich kann alle Sätze auswendig.
Es war einmal ein riesengroßes Reich mit einem König und einer Königin und ihrer Prinzessin im heiratsfähigen Alter. Die vermochte niemand zum Schweigen zu bringen. Sie beantwortete jede Frage mit einer Gegenfrage. Wer sie zum Schweigen bringt, soll sie und das halbe Königreich bekommen, sagte der König. In einer armen Familie gab es drei Brüder. Per und Pål beschließen, ihr Glück zu versuchen. Der jüngste, Espen, will mitkommen. Da brechen Per und Pål in Gelächter aus. Du, der du so schmutzig bist, stets am Feuer sitzt und mit der Asche spielst, hast bei einer Prinzessin keine Chance.
»Wer will die Prinzessin spielen?« Fast alle Mädchen wollen die Prinzessin sein. Der Lehrer zeigt auf mich mit meinem Engelsgesicht und den Prinzessinnenkleidern. »Eli spielt die Prinzessin«, sagt er. »Du brauchst dich nicht einmal zu verkleiden.«
»Ich will mich verkleiden«, sage ich. Ich will zerschlissene Kleider und eine kleine karierte Schirmmütze haben. Ich will eine Schultertasche aus abgewetztem Leder tragen und alles sammeln, was ich im Wald finde. Ich will derjenige sein, der die Prinzessin, die nie um eine Antwort verlegen ist, mit seiner Findigkeit und Fantasie zum Schweigen bringt. Sie verstummen lässt, sie verzaubert, sie bekommt.
Ich verlasse für einige Zeit meinen Körper. Schwebe zwischen den anderen Kindern. Kann mich von der Decke aus sehen. Wenn ich mich auf diese Weise verlasse, schneide ich Grimassen mit dem Mund, und die anderen ahmen mich nach und lachen. »Warum machst du so komische Bewegungen mit dem Mund?« Ich lächele steif, ohne zu lächeln. Ich kann nichts dafür. Papa macht das auch.
Ich winde mich mit meinem prinzessinnenhaft gekleideten Körper auf dem Stuhl. Wer bestimmt, dass ich wie eine Prinzessin aussehen soll und nicht wie diejenige, die ich in Wirklichkeit bin? Es ist meine Familie zu Hause, die mich einkleidet und in der Welt ausstellt. Alle Familien brauchen einen, den sie ausstellen. Ich beuge mich über das Pult. Blicke hoch und sehe, dass der Lehrer auf mich zeigt.
»Eli, du bist einfach perfekt. Du willst immer das Gegenteil, genau wie die Prinzessin.« Und das stimmt. Ich will nicht wartend am Lehrerpult sitzen, während Espen Askeladd ruft: »Hab was gefunden, hab was gefunden!« »Igitt, wirf es weg«, rufen seine Brüder. »Es ist zu nichts nütze.« »Mag sein, aber ich muss es sammeln«, sagt Espen und stopft es in seine Schultertasche. Hab was gefunden, hab was gefunden, denke ich. Eines Tages werde ich so viel aufgesammelt haben, dass nichts mehr weh tut. Eines Tages werde ich über alles bestimmen.
Aber jetzt wird gemacht, was der Lehrer sagt. Ich bin die Prinzessin und sitze mit geradem Rücken in einem meiner schönsten Kleider neben dem Lehrerpult. Ich habe ein Diadem im Haar und warte auf meine Freier. Die Eltern sitzen erwartungsvoll im Klassenzimmer. Große Körper auf unseren kleinen Stühlen. Sie sehen uns lächelnd zu. Ich fange an, mit dem Mund Grimassen zu schneiden. Zu blinzeln. Mein Lächeln zu zeigen, das kein Lächeln ist. Zu warten. Ich brauche eine Rolle, bei der ich die ganze Zeit reden darf und von Anfang bis Ende an der Handlung beteiligt bin.
Espen Askeladd ist unten im Klassenzimmer. Er flüstert seine Sätze. Er packt seine Tasche voll mit Dingen, die er findet, die der Lehrer im Raum verteilt hat. Es ist alles nicht echt. Derjenige, der Espen spielt, ist eigentlich ein mutiger Junge. Allerdings nicht, wenn die Eltern im Klassenzimmer sitzen. Nur ich nehme alles ernst. Ein Junge nach dem anderen muss sich über das Lehrerpult beugen, das Hemd hochheben und drei sanfte Hiebe mit dem Zeigestock über sich ergehen lassen. Die anderen Kinder machen nur schüchtern, was man von ihnen verlangt. Es ist ihnen nicht so wichtig. Es ist nur ein Märchen.
Per und Pål kommen zu mir nach vorn. Sie wissen nicht, wie man um eine Prinzessin wirbt, und ich habe das letzte Wort. Dann ist Espen an der Reihe. Wir haben die Szene viele Male geübt. Er zieht ein merkwürdiges Teil nach dem anderen aus der Schultertasche, und ich frage, was es ist. Er antwortet auf alle Fragen. Aber anders als bei den Proben frage ich jetzt weiter, obwohl er nichts mehr in der Tasche hat. Der Junge, der Espen spielt, verstummt, dabei sollte ich verstummen, die Prinzessin. Aber ich rede munter weiter. Heute habe ich ein Publikum.
Ich kann nicht aufhören. Aus meinem Mund bekommt das Märchen einen völlig anderen Schluss. Die ganze Vorstellung ist verdorben, und die Eltern, die das Stück auswendig kennen, wissen nicht, wann sie klatschen sollen. Das Märchen ist schon lange zu Ende. Wir sollen heiraten und bis in alle Ewigkeit glücklich miteinander leben. Der Lehrer fängt an zu klatschen, um mich zu übertönen.
Da passiert es, wir tauschen die Plätze. Ich entferne mich. Die Prinzessin war nur eine Schale, aus der ich mich löse. Ich krieche unter die karierte Schirmmütze. Nicht hinein in den Jungen, der Espen spielt. Ich nehme nur seinen Platz ein. Ich bin Espen Askeladd.
Eine Stimme in mir sagt: »Du bist Espen. Du bist nicht nur Eli. Du bist wirklich Espen Askeladd. Und du bist nicht allein in deinem Körper.« Ich höre auf zu reden. Eine Stimme in meinem Kopf macht mich plötzlich sprachlos. Eine, die bestimmt. Die übernimmt. Die in mich eindringt. Unter meine Haut, in meine Gedanken. Dieser andere befindet sich in meinem Kopf, und dort wird er bleiben. Er redet mit mir.
Er sagt, ich sei er. Er ist sechs, genau wie ich, ein findiger Junge, aber sehr traurig. Der Applaus ebbt ab. Wir kleinen Schauspieler verbeugen uns und laufen hinaus in den Gang. Warten auf weiteren Applaus, damit wir wieder hineinlaufen können.
Ich laufe nicht allein. Ich bin jetzt zu zweit. Ich sehe es von außen. Wie das Diadem abfällt und wie wir wieder ins Klassenzimmer stürmen. Ich bin Espen, ich hatte das letzte Wort. Hab was gefunden, hab was gefunden.
Espen taucht jetzt jeden Abend beim Zähneputzen auf. Wenn das Wasser aus dem Hahn läuft, ist er mit seiner sanften Stimme da. Wir können übereinander lachen. Dann erscheint ein Lächeln auf meinen Lippen, und keiner weiß, wo es herkommt.
Ich stecke in einem viel zu schönen Nachthemd, bin hübsch und lebhaft. Espen ist um den Mund ganz verschmiert und lustig. »Nächstes Mal spielst du alle Rollen selbst«, sagt er. Ich spucke die Zahnpasta aus. »Ich will so sein wie alle anderen«, antworte ich.
»Du bist nicht wie die anderen. Du hast mich.«
»Ich weiß nicht, ob ich dich haben will«, sage ich. »Ob ich die Einzige sein will, die dich hat.« Mein Bruder Torvald hat sicher keine Prinzessin im Kopf, so wie ich Espen Askeladd habe.
Ich drehe den Hahn zu, und Papa ruft: »Bist du fertig? Wollen wir noch was lesen?«
Kann ich Espen jetzt allein lassen? Im Bad? Im Wasser? Ich habe keine Wahl. Ich muss das Wasser wieder aufdrehen, und jetzt höre ich, wie er weint.
»Warum bist du so traurig?«
»Du bist diejenige, die traurig ist. Nach dem Märchen wird das Licht ausgehen, und du wirst heute Nacht wieder ins Bett machen. Du wirst in der Nacht aufwachen und mit den Zähnen knirschen. Du wirst Angst haben und unglücklich sein. Deine Beine werden zittern, und du wirst im Schlaf ein freudloses Lachen von dir geben.«
»Warum?«
Er antwortet nicht. Ich will wie Torvald sein. Espen weint hemmungslos. Ich nehme das Handtuch und versuche, seine Tränen zu trocknen. Ich kann ihn jetzt nicht allein lassen.
»Komm«, ruft Papa, »sonst gibt’s heute kein Märchen. Dein Bruder liegt schon im Bett.«
Wenn ich das Wasser aufdrehe, um den Abwasch zu machen, kommt Espen zurück. Er ist immer noch sechs, während ich erwachsen geworden bin. Er weint mit seiner glockenhellen Knabenchorstimme und sagt: »Willkommen in der Wirklichkeit.«
Sollte es nicht heißen: Willkommen im Wahnsinn? Das ist mittlerweile dasselbe. Alltag. Eine Gedichtzeile im Kopf: Die Wirklichkeit abgestürzt/Ohne Wirklichkeit geboren!
Espen sagt: »Ich sehe dich und werde dich immer sehen.« Mir ist klar, dass ich das eigentlich zu ihm sagen müsste. »Du existierst in mir und wirst immer existieren.« Seine Tränen treffen auf meine warmen Hände im Wasser.
Er sagt: »Warum grüßt du nicht?« Aber ich grüße doch. Laut sage ich »Ja, ja, ja« zu mir selbst. Das bedeutet, ich weiß, dass du da bist. Ich weiß, dass du meine Aufmerksamkeit haben willst, und die bekommst du auch. »Du musst zuhören, du musst mit mir reden«, sagt Espen. »Sonst!« »Was sonst?« »Sonst platzt du und gehst kaputt. Du tust überhaupt nicht, was ich sage«, fährt er fort.
»Ich tue genau, was du sagst. Meistens.« Aber jetzt versuche ich, mich nicht ständig leiten zu lassen. Versuche zu lernen, wie man die Stimmen ausschaltet. Versuche zu lernen, wie man nicht gehorcht, nicht die ganze Zeit zuhört. Ich schiebe die Stimmen in die Stirn. Dort können sie warten, während ich etwas anderes mache.
Espen kommt und geht mit den Jahren. Fast immer taucht er im Wasser auf. Wenn ich es auf der Haut spüre, ausgelöst von einem laufenden Wasserhahn, einer Dusche, einem Bach, einem Wasserfall, vom Meer. Manchmal mag ich ihn und seine Tränen. Manchmal hasse ich ihn, weil er stört. Weil er mir meine Zeit stiehlt und mich aus dem Leben anderer Menschen aussperrt.
Wir sitzen im Auto, Papa, Torvald und ich. Ich habe fünfunddreißig Kronen in der Tasche. Ich bin noch so klein, dass ich in meiner Erinnerung ein ganzes Leben lang gespart habe. Ich will mir einen Lederfußball kaufen. Plötzlich hält Papa vor einem Laden, der nicht das Sportgeschäft ist. Er geht hinein und kommt wieder heraus. Er will einen Eimer Farbe kaufen, aber ihm fehlen fünf Kronen. »Eli, kannst du mir fünf Kronen leihen?«, fragt er freundlich. »Sag nein«, sagt Torvald. »Die kriegst du nie zurück.« Ich blicke in Papas bittendes Gesicht. Und mein Fußball? Er kriegt den Fünfer aus meiner Hand, ohne dass ich richtig merke, wie es passiert.
Torvald hat sich schon vor langer Zeit einen Schritt von Mama und Papa wegbewegt. Er hat den Blick zu anderen Erwachsenen erhoben. Ich hänge immer noch fest, bin dicht an ihnen dran, weil ich nicht weiß, wo ich sonst sein sollte. Wir fahren zum Sportgeschäft, und Papa redet auf den Verkäufer ein, feilscht, bis wir einen leicht gebrauchten Lederfußball für dreißig Kronen bekommen.
Papa kann nicht, und ich kann nicht, aber irgendwie können wir doch.
Die Pausenglocke läutet, und die Klasse 1b springt von ihren Pulten auf. Ich nehme den Fußball, der in einem Netz am Ranzen hängt. Es ist mein Ball. Jetzt werden wir spielen. Wir bilden dieselben Mannschaften wie in der ersten großen Pause. Der Fußballplatz ist riesig. Die Tore sind groß. Die meisten berühren den Ball nur mit der Schuhspitze, wenn er auf sie zukommt. Überrumpelt und planlos. Andere dribbeln, bis sie auf zu viele gegnerische Füße stoßen und sich verheddern.
Ich liebe Fußball. Ich bin allein mit dem Ball vor dem gegnerischen Tormann. Ganz frei. Ich brauche ihn bloß ins Tor zu schieben. Ich dribble und täusche an, verlade den Tormann, aber verziehe den Ball. Ich, die ich so sicher bin. Jemand lacht. Was für eine todsichere Chance. Meine Mitspieler zeigen mir enttäuschte Rücken.
Kurze Zeit später bekomme ich eine neue Chance. Wieder schieße ich daneben. »Du gehst in die Verteidigung«, sagt einer der Jungs. »Ich spiele im Sturm«, antworte ich. Ich will Tore schießen, aber das sage ich nicht. Einer der Ersatzspieler tippt mir auf den Arm: »Du wirst ausgewechselt. Du bist nicht gut genug. Wir müssen gewinnen.«
Ich bin sehr gut. Ich halte mich für die Beste. Ich gehe auf den Ball zu, nehme ihn in die Hand. »Was machst du da?«, fragt ein Mädchen. »Freistoß«, ruft ein anderer. »Leg den Ball wieder hin«, sagt ein Junge. Ich drücke den Ball an die Brust und antworte: »Das ist mein Ball.«
»Du machst alles kaputt«, sagt eine Stimme und noch eine, und alle Kinder folgen mir wie ein langer Schwanz, als ich mit dem Ball an der Brust auf die Schule zugehe. Das nützt ihnen gar nichts, denke ich. Ich gehe schneller als alle anderen, und sie bleiben stehen und schreien hinter mir her: »Du bist blöd!« Es nützt ihnen nichts. Ich kann jetzt nicht mehr zurück.
Ich gehe an der Schule vorbei über die Straße und auf den Friedhof. Ich setze mich an ein Grab. Viktor steht auf dem Grabstein, es ist lange nicht gepflegt worden. »Viktor, Viktor«, sage ich. Da kommen die Tränen. Ich bin blöd. Wenn man spielt, gehört der Ball allen. Das weiß ich. Aber ich kann es nicht ändern.
»Eli ist nicht da«, sagt Espen. »Sie bestimmt hier nicht. Ich bestimme, Espen. Ich komme mit den Tränen. Ich komme mit dem Wasser. Du musst Tore schießen.«
»Ich kann es nicht«, sage ich. »Ich weiß, dass ich es nicht kann.« »Ich, ich, ich«, stammele ich. Stammelt Espen. Es ist Espen, der stammelt. Meine Worte sprudeln normalerweise wie ein Wasserfall aus mir heraus.
»Ich muss aufhören zu weinen. Ich kann nicht den ganzen Tag mit Tränen im Körper durch die Gegend laufen. Das mache ich nur, weil du da bist. Weil du in mir schwimmst und für mich bestimmst. Deinetwegen stammele ich. Weil du die Richtung und den Platz änderst und lärmst und schreist und nach mir rufst, wenn es keiner sieht.«
»Versteck dich!«, schreit Espen. »Der Hausmeister kommt. Versteck dich!«
»Guten Tag, kleines Fräulein. Die schönste und beste Fußballspielerin der ganzen Klasse. Immer schussbereit.« Er streckt den Fuß vor und berührt den Ball. »Warum sitzt du hier auf dem Friedhof? Ich meine doch, es hätte gerade geläutet.«
»Ich, ich, ich …«
Der Hausmeister rollt den Ball auf den Fuß und macht ein paar Tricks, bevor er danebentritt und der Ball ins Gras fällt. Ich pule rasch etwas Schorf von einer Schürfwunde am Knie. Es beginnt zu bluten. »Weinst du?«, fragt der Hausmeister, nachdem der Ball heruntergefallen ist. Wäre das schön, wenn ich ihm von Espen erzählen könnte. Von einer Stimme, die ruft, ohne dass man sie sieht.
»Huch, hast du dir weh getan, jetzt verstehe ich«, sagt der Hausmeister. Ich mag ihn, der so falsche Dinge glaubt. Der mich für die Beste im Fußball hält, obwohl ich es gar nicht bin.
»Jaaa«, sage ich. Er hält mir die Hand hin. »Komm, ich bring dich zurück in die Schule.«
Es klingelt an der Tür. Es ist mein Therapeut. Er ist derjenige, der mich gebeten hat, das Abstellen der Stimmen zu üben. Der mich gebeten hat, das Ausblenden der Stimmen zu üben, wenn ich mit anderen Menschen zusammen bin. Wir respektieren sie, aber sie müssen warten.
»Sag nein«, sagt der Therapeut. Ich sage nichts. »Sag es laut«, sagt er. Ich sage nein, und nichts passiert. Ich platze nicht.
Der Therapeut zieht die Jacke aus und setzt sich. Er hat eine Sporttasche im Retrolook, die mich an meine eigene erinnert. Er hat eine Mappe, in der steht, worüber wir sprechen. Wir sitzen in der Küche. Ich habe auch eine Mappe, darin schreibe ich Dinge auf. Fordere die Stimmen auf zu warten. Sie können warten, und ich kann sie steuern. Ich bin diejenige, die bestimmt.
Ich erzähle von Espen. Wie er auftauchte, als ich sechs Jahre alt war. »Espen Askeladd heißt auf Schwedisch Dummerjan«, sagt der Therapeut. Auch Espen hat das Land gewechselt. Hab was gefunden, hab was gefunden. Nur keinen neuen Namen.
Erst jetzt fällt mir auf, dass der Therapeut einen neuen Haarschnitt hat. Der lange Pferdeschwanz ist verschwunden, und er trägt einen neuen Look. Einen Pony, Haare, die die Ohren bedecken und im Nacken kurz sind. Ich sehe ihn an, und plötzlich bekommt er einen Namen. Er heißt Jonatan. Wie soll ich ihm vertrauen?
Papa beugt sich vor. Ich springe schnell davon. Ich weiß nicht, ob er mich schlagen oder in den Arm nehmen will. Ich höre, wie Espen zur Warnung pfeift. Es könnte ein Schlag kommen. Eine Ohrfeige. Ein Schubser. Eine Faust. Man weiß nie.
Papa macht mit dem Mund wie ich. Nervöse Grimassen. Er streckt die langen Arme aus. Die Hände kommen durch die Luft. Er will mich kitzeln. Ich lache gekünstelt. Renne durch das Haus. Papa rennt hinter mir her. Ist heute Spieltag? Ich weiß es nicht.
Papa fängt mich mit seinen gefährlichen und lustigen Armen ein. Er drückt mich fest an sich. Er ist warm und weich und riecht nach Kautabak und erwachsen. Aber er ist nicht erwachsen. Er will mich wieder kitzeln.
Ich bin wieder auf Station. Sie drängen mich seit Tagen, dass ich duschen und frische Kleider anziehen soll. Ich will nicht nass werden. Auch wenn ich den Regen mag, die Dusche mag ich nicht. Es regnet nicht, und ich darf nicht nach draußen gehen. Ich mag kein Wasser auf dem nackten Körper, danach friere ich, und das Handtuch ist zu klein, und das Zimmer wird kalt, wenn das heiße Wasser abgedreht wird.
Ich liege auf dem Bett und starre an die Decke. Höre über Kopfhörer Musik. Kann nicht aufhören. »Du kannst aufhören«, sagt Espen. »Ich kann nicht aufhören«, sage ich. »Du kannst«, sagt Espen. Plötzlich stehe ich auf, lege den MP3-Player weg und gehe ins Bad. Auf dem Spiegel ist ein Kussmund aus rotem Lippenstift. Ich drehe das heiße Wasser auf, ziehe mich aber nicht aus. Setze mich unter die Wasserstrahlen. Spüre, wie die Kleider am Körper schwer werden. Das Wasser dringt überall durch. Ich bleibe sitzen und lasse es einfach laufen. Ich denke an nichts.
Da höre ich, wie Espen weint. »Du bist jetzt eine erwachsene Frau, du solltest nicht hier sitzen. Du solltest nicht eingesperrt sein. Wo Türen und Fenster sich nicht öffnen lassen. Wie kannst du das hinnehmen?« »Das macht nichts«, tröste ich Espen. »Ich warte einfach. Bald ist alles wieder gut.«
Ich kann Espen nicht erklären, warum ich wieder hier bin. Stattdessen denke ich an all die Trainingsstunden bei Regen. Ich mache den Mund auf und trinke. Das Wasser läuft mir in den Mund und wieder heraus wie aus einer unendlichen Quelle. Die Kleider kleben am Körper. Espen weint. Ich warte darauf, dass er sich wieder beruhigt. Eines Tages einfach verschwindet. Genau das versteht er nicht, und er darf nicht wissen, dass es eines Tages vielleicht keinen Platz mehr für ihn gibt. Dass ich dann nur noch Eli bin.
Aber heute ist es noch nicht so weit, denn ich höre ihn jetzt weinen und muss hier in den warmen Wasserstrahlen sitzen und warten. Ich denke daran, wie es ist, im Regen und in der Kälte von Hütchen zu Hütchen zu spurten. Unendlich viele Sit-ups zu machen. Wie wir den Ball auf dem Fußballfeld zwischen den Linien führen. Dass man nicht richtig Fußball gespielt hat, wenn man nie auf der Bank sitzen musste. Ich habe schon auf der Bank gesessen. Hatte die Trainingsjacken der anderen auf dem Schoß und habe gehofft, dass jemand schlecht spielt oder sich verletzt, damit ich für ihn aufs Spielfeld komme. Ich, die ich mich kaltblütig und clever im Sechzehner präsentieren wollte.
Ich habe seit zehn Jahren nicht mehr Fußball gespielt. Aber ich bin wieder da. Im Spiel. Ich wünsche mir, diejenige zu sein, die in dem ganzen Chaos aus Beinen ruhig bleibt, die sich traut, ein letztes Mal anzutäuschen, bevor sie den Ball ins Netz drischt. Ich drehe das heiße Wasser noch weiter auf. Ich war diejenige, die Eckbälle anschneiden und knallharte Freistöße schießen konnte. Vergiss das nicht. Ich rücke ein Stück zur Seite, damit ich komplett unter den Wasserstrahlen sitze. Ich will nicht, dass mir kalt wird. Denn ich kann von hier nicht weg. Ich werde hier sitzen bleiben, bis die Zeit rückwärtsläuft und ich wieder Fußball spiele und eine Chance habe, in die Nationalmannschaft zu kommen.
Meine beste Zeit ist der Winter. Dann laufe ich auf Skiern im Wald hinter dem Haus eine Runde nach der anderen. An der steilsten Stelle hat jemand eine Sprungschanze gebaut. Ich springe am weitesten von allen. Ich traue mich, und ich kann was. Ich bin bis spätabends draußen und komme durchgefroren und hungrig nach Hause. Ich darf machen, was ich will. Heimkommen, wann ich will, und essen, wann ich will.
Ich sage, dass ich keine Hausaufgaben aufhabe. Sitze im Pyjama in der Küche und esse Brot mit Banane und Kaviar aus der Tube. Ich gehe in die dritte Klasse und kann noch nicht lesen und schreiben. Ich, die ich mich so auf die Schule gefreut hatte. Ich wollte ganz schnell lernen, wollte so viele Geschichten sammeln, jetzt bin ich die Schlechteste in der Klasse. Die Lehrerin sagt, ich sei Legasthenikerin. Ich liebe immer noch Märchen und erfinde sie selbst, anstatt sie zu lesen.
Noch lange, nachdem Papa die Buchdeckel von Büchern, die es schon gibt, zugeschlagen hat, lange, nachdem das Licht gelöscht wurde und mein Bruder eingeschlafen ist, liege ich im Dunkeln und erzähle. Dichte dort weiter, wo die Geschichte aufgehört hat. Es kann darin gern um Prinzessinnen gehen, aber ich selbst will nicht mehr wie eine aussehen. Ich will Michel aus Lönneberga sein. Eine blaue Schirmmütze haben und ein Holzgewehr. Ich habe angefangen, mich wie er zu kleiden. Unter der Mütze flattern die langen Haare.
Torvald kann eine Stunde stillsitzen und einen Comic lesen oder an einem Globus drehen und alle möglichen Länder dieser Welt auswendig lernen. Ich renne herum und kann nicht stillsitzen. Torvald macht nachts nicht ins Bett und schneidet keine Grimassen mit dem Mund. Es sieht nicht so aus, als interessierte er sich für die Welt, weder für die Welt um sich herum noch für die in sich drin. Oder tut er genau das? Er weiß, wie man lebt. Er zählt die Länder Afrikas auf und ist zufrieden. Ich wäre gern wie er.
Als wir klein waren, sagten die Leute manchmal: »Das hier ist das Mädchen, aber das dort ist der Junge.« Er wurde mit einem Schlag auf die Schulter begrüßt, man hörte ihm zu, was er zu sagen hatte. Mir tätschelten sie immer den Kopf und bewunderten meine schönen Haare.
Wäre alles leichter für mich, wenn ich ein Junge wäre? Bin ich ein Junge? Ich bin zu nervös. Das ist alles, was ich weiß. Mamas und Papas Körper sind gefährlich. Nicht immer. Aber man kann nie wissen. Ihr Trost, der nicht tröstet. All das, was ich nicht kriege und wovon ich nicht weiß, was es ist.
Mama, die immerzu müde ist. Die alles in die Hand nehmen muss. Die nicht fallen darf. Aber schon daliegt. Deren Job es ist, zu überleben. Die weiß, dass es mich gibt, aber nicht, was ich brauche. Ich, die ich die Verzweiflung in lauten Schreien herauslasse. Wie ein Vogel. Schreie, die durch die Wände dringen in dem kleinen Haus. Torvald macht mir geheime Zeichen, sie rauszulassen. Stumm lauscht er meinen Schreien, aber er hat beschlossen, dass sie hierher gehören.
Papa ist am gefährlichsten, aber auch am warmherzigsten. Wenn ich neben ihm im Bett liegen darf und ihm beim Lesen zuhöre, fühle ich mich sicher. Ich werde an die Wand gedrückt und spüre meinen Körper an seinem. Den ruhigen Atem, ich will nur, dass er weiterliest. Wenn er in die Welt der Märchen verschwindet, kann nichts Gefährliches passieren. Er braucht dann keine Angst zu haben, und auch ich brauche keine Angst zu haben. Niemand schimpft mit uns. Wir sind beschäftigt.
Torvald schläft ein, und ich flüstere Papa zu: »Noch ein bisschen.«
»Jetzt bist du dran«, sagt Papa. Und ich fange an zu erzählen. Er hört eine Weile zu und schleicht sich dann aus dem Zimmer. Wenn Torvald die Augen aufschlägt, hört er meine Stimme, die immer noch erzählt, als hätte ich die ganze Nacht geredet.
Ich höre von einem amerikanischen Mädchen, das mit elf Jahren ein Buch herausgebracht hat. Den Rekord will ich brechen. Ich will höchstens neun sein. Das Buch heißt Der Stein und handelt von Finn-Jon.
Ich stehe neben meiner ältesten Schwester, Marit, die an der Schreibmaschine sitzt. Ich diktiere, und sie schreibt die Geschichte auf. Wenn wir erst einmal angefangen haben, kann ich nicht mehr aufhören. Es spielt keine Rolle, ob es Zeit fürs Abendessen, für die Kinderstunde im Fernsehen, die Abendtoilette, die Gutenachtgeschichte oder Schlafenszeit ist. Nichts zählt. Sollen sie nur kommen. Ich kann jetzt nicht aufhören.
Ich bin eine echte Schriftstellerin. Ich bin tapfer, hübsch, wortgewaltig, und ich weiß es. Gleichzeitig mache ich jede Nacht ins Bett und habe schreckliche Träume. Ich bin allein im Wald oder in einem riesengroßen Haus mit endlosen Treppen. Ständig verliere ich die anderen. Den Lehrer, die Klassenkameraden, Mama, Papa, Marit, Hild, Torvald und den kleinen Odd. Sobald ich mich umdrehe, sind sie verschwunden.
Ich sitze neben Papa auf dem Kirchvorplatz und male ein Bild. Ich darf echte Ölfarben verwenden, wie er sie benutzt. Papa sagt, Schwarz darf man nicht nehmen, die Farbe gibt es nicht in der Natur. Es gibt nur dunklere Nuancen der anderen Farben. Die schwarze Tube muss also mit den anderen Farben vermischt werden. Ich benutze nur Schwarz. Frage mich, ob es Weiß in der Natur gibt. Dann wäre das Bild schon fertig, bevor ich überhaupt damit angefangen habe.
Wir malen eine Kirche mit großen Kastanienbäumen und alten Grabsteinen davor. Meine Kirche passt nicht ganz auf die Leinwand. Man sieht nur den mittleren Teil. Zwei große Fenster. Auf Papas Leinwand ist Platz für die ganze Kirche, plus die Bäume und Teile eines Grabsteins. Ich lobe sein Bild. Das gefällt ihm. Und ich weiß, dass er mich lieb hat. Ich weiß, dass es ihm gefällt, wenn ich hinter ihm sitze und wie er male. Er glaubt, dass ich etwas lerne. Aber ich mache nur, was ich will, und es wird trotzdem schön. Er hält den Arm mit dem Pinsel vor das Gesicht und malt. Ich halte mir mit der Hand ein Auge zu. Schaue hindurch. Spreize die Finger. Mit einem Auge sieht man nicht die halbe Welt.
Es ist Winter, und überall liegt Schnee. Ich erzähle den kleineren Kindern in der Straße Geschichten. Ihre Eltern fragen Mama, wo man die Bücher findet, von denen ich erzähle. »Die gibt es noch nicht«, sagt sie, »aber irgendwann wird es so weit sein.« Ich gehe mit meinen Klassenkameraden den Weg zur Schule und wieder zurück. Die anderen kommen gerne mit. Sie lauschen voller Neugier. Ich verstehe etwas von Dramaturgie. Wenn wir morgens an der Schule ankommen, beende ich die Geschichte mit einem guten Cliffhanger, einer spannenden Stelle, und sie wollen wissen, wie es weitergeht. Jetzt sind wir auf dem Heimweg, und endlich folgt die Fortsetzung.
Plötzlich muss ich mich setzen. Ich setze mich in einen Schneehaufen, drücke mit dem Absatz meines Stiefels gegen die Blase. Ich erzähle weiter. Die anderen stehen im Kreis um mich herum. Jetzt kommt der Schluss. Er ist ziemlich lustig: Der maskierte Mann ist unser Lehrer. Ich stehe auf. Die anderen lachen.
Aber nicht über die Geschichte. Sie lachen über den gelben Fleck, der an der Stelle, an der ich gesessen habe, im Schnee leuchtet.
Ich wasche mich nicht. Ich liege im Bett und warte auf ein Wunder. Ich bin jetzt erwachsen. Ich bin groß, und ich bin klein. Kann nicht aufwachen. Kann nicht einschlafen. Der Gelähmte sieht nichts.
Auf dem Grund des Augenblicks mache ich einen kleinen Knoten. Dann geht das Leben weiter. Ich bleibe nachts auf und bin tagsüber im Bett. Mal so, mal so. Die Welt ist verschlossen, und ich bin nicht da. Im Guten wie im Schlechten.
Ich war gerade in der Küche, habe Kaffee gekocht und mir ein Brot geschmiert. Nehme es mit ins Bett und fange an zu essen. Habe schon lange nichts Warmes mehr gegessen.
Es klingelt an der Tür. Es ist Jonatan.
»Hast du den ganzen Tag mit den Stimmen im Bett verbracht?«, fragt er.
»Ja.« Ich bitte die Stimmen, mich zu verstecken, damit mich niemand findet. Damit ich mich selbst nicht finde.
»Du hast unsere Absprache nicht befolgt. Und was macht das Essen im Bett? Schau mal in unsere Mappe. Das Bett ist nur zum Schlafen da.«
Jedes Mal, wenn es in unserem kleinen Haus an der Tür klingelt, glaube ich, dass jemand gestorben ist. Dass der Pfarrer kommt. Man kann aus dem Küchenfenster nach unten schauen und sehen, wer kommt. Wenn man sich traut. Ich habe es im Fernsehen gesehen. Wie die dunkle Gestalt mit gesenktem Haupt, traurigen Augen und einer fürchterlichen Nachricht daherkommt.
Es zieht im Bauch. Es brennt im Kopf. Die Tränen sind nicht weit. Die Vogelschreie. Die Aufspaltung. Niemand soll sterben. Es darf kein Jetzt und kein Später geben, in dem alles anders ist. In dem es Mama oder Papa nicht mehr gibt.
Ich kann die Welt nicht ertragen, wie sie ist, und noch weniger, wenn sie sich verändert.
Ich kann ein ganzes Zimmer zertrümmern. Kann mit dem Zertrümmern nicht aufhören. Mit den Schreien, dem Weinen. Es kann eine Zeichnung sein, die nicht fertig wird, weil Mama sagt, dass jetzt Schluss ist. Wenn ich die Zeichnung nicht zu Ende bringen darf, kann ich genauso gut das ganze Haus zertrümmern. Oder das Klassenzimmer in der Schule. Bin ich bei Schulschluss und beim Läuten der Glocke mitten in einer Sache, geht alles in mir kaputt. »Hör sofort auf damit, es wird nicht geschlagen, getreten, geweint oder geschrien, kannst du nicht normal reden und sagen, was los ist«, versuchen die Erwachsenen ihr Glück. Genau das kann ich nicht. Nicht jetzt. Noch nicht.
Aber jetzt, jetzt kann ich erzählen. Ich bin diejenige, die erzählt, und diejenige, von der erzählt wird. Ein Schriftsteller weiß so wenig, dann kriegt er etwas zu fassen. Bloß aufpassen, dass es nicht verloren geht!
Ich schreibe. Das Einzige, was wir verändern können, ist die Vergangenheit, hat jemand gesagt. Dem würde Jonatan nicht zustimmen.
Ich habe gerade den Kachelofen in meinem Arbeitszimmer angemacht, in einer Bürogemeinschaft mit vielen anderen. Ich soll einen Vortrag halten, wie man in einem schöpferischen Prozess persönliche Erfahrungen nutzt. Wir sind schlechte Zeugen. Das gilt auch für unsere eigene Geschichte. Doch wir sind gut darin, Geschichten zu konstruieren. Wir lassen Dinge vernünftig erscheinen. Wir füllen sie mit dem, was wir aus ähnlichen Situationen kennen.
Die Erinnerung ist eine leuchtende Quelle, wenn man die Kunst des Erzählens pflegt, ganz anders bei Gericht. Je länger ein Vorfall zurückliegt, desto sicherer sind wir uns, dass das, woran wir uns erinnern, richtig ist. Und das, was einmal lose Fäden waren, ist zu einer persönlichen Geschichte geworden.
Ich rede drauflos. Schreibe Schlüsselwörter auf. Ich will den Studenten Hoffnung machen. Man selbst ist die Quelle für Geschichten. Schöpft daraus.
Papa hat seit mehr als einem Monat Arbeit. Alle sind froh darüber. Wir wissen, dass heute Zahltag ist. Er hat seinen Lohn in einem Briefumschlag erhalten und kommt den langen Weg von der Straßenbahnhaltestelle herauf. Unterwegs ist er in jedem Laden gewesen.
Wir sitzen am Küchentisch und sehen ihn kommen. Mama ist unruhig. Als er in der Küche steht, zieht er hinter dem Rücken einen Blumenstrauß hervor. Mama ist aufgebracht. »Wo ist das Geld?«, schreit sie. »Du kannst doch nicht Blumen kaufen, wenn wir kein Essen auf dem Tisch haben. Was hast du sonst noch gekauft?« Papa lächelt, obwohl er sieht, dass Mama wütend ist. Er will sich vor uns Kindern aufspielen.
»Beefsteak.« Er holt einen großen, blutigen Klumpen aus der Tasche, der in graues Papier eingewickelt ist. Bei uns zu Hause gibt es immer nur Walfleisch, daher freuen wir uns auf den Leckerbissen. Wir kennen Beefsteak nur von den Nachbarn, wenn wir bei ihnen waren und gefragt wurden, ob wir Steaks mögen, und wir ja gesagt haben in der Annahme, sie meinten das billige Walfleisch.
Papa hat Pepsi gekauft, was wir sonst nie bekommen, und für Mama Pralinen. »Aber wir haben doch nichts zu feiern«, sagt sie. Sie liebt Schokolade, hat in der Regel ein Stück Blockschokolade in der oberen Nachttischschublade liegen. »Wir finden schon einen Grund zum Feiern«, sagt Papa. Aber zum Feiern kommen wir nicht.
Mama holt die Strom- und Telefonrechnungen und will von ihm den Lohn haben. Papa gibt ihr nur einen Teil. Mama schreit: »Letzte Woche noch hast du einem Säufer Geld geliehen. Dir ist schon klar, dass wir das nie zurückbekommen.«
»Es spielt doch keine Rolle, ob wir das Geld zurückbekommen. So ist das im Leben. Wir kriegen es von einem anderen zurück«, antwortet er. Dann rennt er aus der Küche, aus dem Haus und in die Garage. Er lässt den Motor der alten Klapperkiste an, ein Ruck geht durch das Auto, und er fährt davon. Das macht er immer, wenn sie sich gestritten haben.
Ich sitze in der Küche und betrachte die Blumen und das Fleisch und die Pralinen auf dem Tisch. Ich denke dasselbe wie Mama: Was sollen wir mit Blumen?
Ich werde wach und will nicht wach werden. Nicht aufstehen und nicht wach im Bett liegen. Ich bin erkältet. Die Nacht war hart. Raus aus dem Bett und wieder rein. Da klingelt das Telefon. Ein Blumenladen. Ich bleibe liegen und frage mich, von wem die Blumen sein könnten. Ich gehe in Gedanken alle durch, die in Frage kämen. Mir fällt niemand ein. Aber irgendwo da draußen findet jemand, dass ich eine kleine Ermunterung gebrauchen könnte. Ich brauche eine Ermunterung. Ich bleibe unter der Decke. Ein heimlicher Bewunderer?
Als der Blumenbote am Nachmittag endlich kommt, bringt er einen gigantischen Strauß. Zuerst entdecke ich keinen Begleitzettel, und der Strauß steht einfach nur auf dem Küchentisch und strahlt. Ich suche noch einmal zwischen den Blumen. Da finde ich die Nachricht:
»Liebe Eli! Wir gratulieren zum Ersterscheinungstag. Das Kinderbuch ist toll geworden! Viele Grüße von deinen Freunden im Verlag.«
Ich bin sprachlos. Kommt heute ein Kinderbuch von mir heraus?
Wie kann ich so etwas vergessen? Wenn ich ein neues Buch herausbringe, ist das normalerweise ein besonderer Tag. Die Zeitungen berichten darüber, das frisch erschienene Buch steht in den Regalen im Buchhandel und in der Bibliothek. Ich krieche wieder ins Bett und versuche, etwas zu empfinden. Es kommt nichts.
Ich hole den Blumenstrauß und stelle ihn ins Schlafzimmer. Ich denke heute nicht mehr wie Mama, was soll ich mit Blumen? Ich liege da und betrachte sie. Doch, ja, der Strauß sprüht Funken. Ich fange sie auf und spüre es: Es lohnt sich, weiterzukämpfen.
Ich sitze ganz vorn im Klassenzimmer. Die Lehrerin malt eine Kuh an die Tafel mit allen vier Mägen und ihren Namen. Ich sehe die Konturen der Kuh, aber nicht, wie die vier Mägen heißen. Das sollen wir lernen, und das will ich auch. Wie können die anderen den Text erkennen? Wir sollen ihn in unsere Hefte übertragen. Ich male eine Kuh, warte darauf, dass die Lehrerin die Wörter laut sagt. Das tut sie nicht.
Ich habe es schon lange geahnt. Die anderen sehen viel besser als ich. Aber das kann ich niemandem erzählen. Es reicht, dass ich Legasthenikerin bin. Dass ich die Buchstaben überhaupt nicht sehe, kann ich nicht sagen. Wem sollte ich es auch sagen? Nicht der Lehrerin, nicht zu Hause. Ich weiß es nicht.
Ich denke, wenn ich einmal groß bin, regelt es sich von selbst. Bis dahin muss ich es als Geheimnis hüten.
Heute ist ein sonniger Sommertag. Die ganze Familie will baden gehen. Ich habe mich den ganzen Tag darauf gefreut. Ich laufe mit der Sense durch das hohe Gras und warte. Ich will nur ein bisschen mähen. Ich kann gut mit der Sense umgehen.
Aber dann kommen ein paar frische Haselnusstriebe. Die sind eigentlich zu dick. Ich lasse die Sense mit der einen Hand los, um die Triebe festzuhalten. Dann führe ich die Sense mit aller Kraft und treffe die Hand, die die Sprösslinge hält. Ich lasse die Sense los, die Hand geht sofort zum Mund. Ich habe mir in den kleinen Finger geschnitten. Er blutet. Der Finger hängt fast lose an der Hand. Der Schnitt geht bis zum Knochen.
Ich renne in den Wald hinter dem Haus. Die anderen sollen ohne mich baden gehen. Ich halte den Finger mit der anderen Hand fest umklammert. Ich darf mich nicht verletzen oder krank werden oder eine Sehstörung haben. Mama erträgt keinen Schmerz. Mama erträgt es nicht, wenn Dinge nicht so laufen, wie sie es sich vorgestellt hat.
Als ich sicher bin, dass sie weg sind, gehe ich ins Haus. Das Blut schießt aus der Wunde. Es pocht in meinem Finger. Ich versuche, den Finger zu schienen, damit er nicht krumm wird. Mullbinde und viele Pflaster. Ich schiene den Finger mit einem Eisstäbchen aus der Bastelschublade. Es schaut oben heraus. Ich breche es ab. Das Ganze muss wie eine kleine Verletzung aussehen. Das Blut sickert durch, und ich muss den Finger erneut verbinden. Die Wunde verheilt mit der Zeit, aber der kleine Finger bleibt für immer schief.
Es klingelt an der Tür. Ich mache im Schlafanzug auf. Es ist zwölf Uhr. Ich habe die ganze Nacht geschrieben.
Es ist Jonatan. Schnell gehe ich ins Schlafzimmer und ziehe mich an. Wir setzen uns an den Küchentisch. Ich bin weniger neugierig auf Jonatan, als ich es auf meine früheren Therapeuten war. Er erzählt hin und wieder von sich, macht kein Geheimnis aus seinem Leben.
Wir schreiben alles auf, was wir machen. Listen und Strategien zur Angstbewältigung. Es gibt immer zwei Seiten, Probleme und Lösungen. Vorteile und Nachteile. Am Abend trage ich in einem Formular ein, wie die kommende Nacht auf einer Skala von eins bis zehn vermutlich ausfallen wird. Am nächsten Morgen trage ich ein, wie sie ausgefallen ist.
Papa sitzt im Auto in der Garage und raucht. Dabei hat er mit dem Rauchen aufgehört.