Für Chuck Cahoy – für immer
Inhalt
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Rafes Geschichte (Teil 1)
Kapitel 10
Rafes Geschichte (Teil 2)
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Rafes Geschichte (Teil 3)
Kapitel 14
Rafes Geschichte (Teil 4)
Kapitel 15
Rafes Geschichte (Teil 5)
Kapitel 16
Kapitel 17
Rafes Geschichte (Teil 6)
Kapitel 18
Kapitel 19
Rafes Geschichte (Teil 7)
Kapitel 20
Rafes Geschichte (Teil 8)
Kapitel 21
Freies Schreiben: »Je länger ich darüber nachdenke …«
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Kapitel 28
Kapitel 29
Kapitel 30
Kapitel 31
Kapitel 32
Kapitel 33
Kapitel 34
Rafe im hier und jetzt
Kapitel 35
Kapitel 36
Kapitel 37
Kapitel 38
Danksagung
Über den Autor
Impressum
Buchtipps
1
Ginge es nach meinem Dad, wäre mein ganzes Leben ein Video.
Was ich auch mache, er schnappt sich sein Handy. »Opal«, ruft er dann meiner Mutter zu, »Rafe isst Cornflakes. Das müssen wir auf Film bannen.«
Er sagt ›Film‹, als hätte er statt eines iPhones ein ganzes Kamerateam bei sich.
Als unser Hybridauto vor dem riesigen Gebäude mit Steinfassade stoppte und ich ausstieg, um mir zum ersten Mal mein neues Heim anzuschauen, war es also kein Schock für mich, dass er sofort zum Handy griff.
»Benimm dich so, als kämst du nach drei Jahren Auslandseinsatz in der Armee wieder nach Hause«, sagte er mit dem linken Auge hinterm Handy. »Schlag doch ein Rad.«
»Ich glaube nicht, dass Soldaten Räder schlagen«, antwortete ich. »Und außerdem: Nein.«
»Einen Versuch war’s wert.«
Die Sache ist die, dass kein Mensch sich je diese Videos ansieht. Er hat buchstäblich Wochen an Filmmaterial aufgenommen, und dabei schaut er es sich nicht mal selbst an. Er hat es auch nicht bei dem ›Face-Teil‹ hochgeladen, wie er es immer nennt, obwohl er dauernd damit droht.
»Ich schmeiße das Ding weg, wenn du nicht aufhörst«, sagte ich. »Im Ernst jetzt. Es reicht.«
Er befreite sein Auge von dem Handy und warf mir einen beleidigten Blick zu. Er stand da in seinen Birkenstock-Schlappen, und seine knorrigen Knie schimmerten in der Sonne. »Das würdest du meinem Kind nicht antun.«
»Dad, ich bin dein Kind.«
»Schon«, sagte er, »aber mit dir kann man keine Videos aufnehmen.«
Er steckte sein anderes Kind in die Tasche, und wir standen Seite an Seite und bestaunten die steinerne Festung namens East Hall, die von nun an mein Wohnheim war. Um uns herum packten Familien Kisten und Koffer aus ihren Autos. Typen schüttelten sich die Hand und begrüßten sich wie alte Freunde. Es war brütend heiß, und die riesige Eiche neben dem Haupteingang bot den einzigen Schutz vor der Sonne. Ein paar Eltern hatten sich in den Schatten gesetzt und betrachteten die Karawane der Autos, die zum Wohnheim strömte. Zikaden zirpten und zischten, und ihre unsichtbare Kakophonie kitzelte an meinem Trommelfell.
»Na, so was bauen sie in Boulder jedenfalls nicht«, sagte Dad und wies auf das Gebäude, das wahrscheinlich älter war als ganz Boulder.
»Nein, das nicht«, antwortete ich und verschluckte mich fast an den Worten.
Ich fühlte mich, als hätte jede Hausaufgabe, über der ich je geschwitzt hatte, und jeder Test, den ich mit Bestnote bestanden hatte, nun einen Sinn bekommen. Hier war sie, meine Chance auf einen Neuanfang. Hier, in Natick, konnte ich einfach nur Rafe sein. Nicht der schillernde Sohn der zwei Verrückten Gavin und Opal. Nicht der ›Andere‹ in der Fußballmannschaft. Nicht der offen schwule Junge, der mit sich im Reinen ist.
Vielleicht habe ich von außen so gewirkt. Ich meine, ja, ich habe mich geoutet. Erst habe ich es meinen Eltern gesagt, als ich in der achten Klasse war, und im ersten Highschool-Jahr auf Rangeview habe ich es allen gesagt. Ist ja auch eine weltoffene und tolerante Schule. Ein sicherer Ort. Es gab ein Treffen der Fußballmannschaft, wir setzten uns hin, und dann wussten sie es. Erweiterter Familienkreis, Freunde von Freunden. Rafe = schwul.
Niemandem platzte der Kopf. Niemand wurde verprügelt oder bedroht oder beleidigt. Jedenfalls nicht viel. Alles lief prima.
Und das ist großartig. Aber.
Eines Tages wurde ich wach und schaute in den Spiegel, und ich sah das:
SCHWUL SCHWUL SCHWUL RAFE SCHWUL SCHWUL SCHWUL SCHWUL SCHWUL SCHWUL SCHWUL SCHWUL SCHWUL SCHWUL SCHWUL SCHWUL RAFE SCHWUL SCHWUL SCHWUL SCHWUL SCHWUL SCHWUL SCHWUL SCHWUL SCHWUL SCHWUL SCHWUL SCHWUL SCHWUL SCHWUL SCHWUL RAFE SCHWUL SCHWUL SCHWUL SCHWUL SCHWUL SCHWUL SCHWUL SCHWUL SCHWUL SCHWUL SCHWUL SCHWUL SCHWUL SCHWUL SCHWUL RAFE SCHWUL SCHWUL SCHWUL SCHWUL SCHWUL SCHWUL SCHWUL SCHWUL SCHWUL SCHWUL SCHWUL SCHWUL SCHWUL SCHWUL SCHWUL RAFE SCHWUL SCHWUL SCHWUL SCHWUL SCHWUL SCHWUL SCHWUL SCHWUL SCHWUL SCHWUL SCHWUL SCHWUL SCHWUL
Wo war Rafe geblieben? Wo war ich? Das Bild, das ich sah, war so zweidimensional, dass ich mich nicht darin wiedererkennen konnte. Ich war im Spiegel ebenso unsichtbar wie vor einem Monat in der Schlagzeile der Boulder Daily Camera: SCHWULER HIGHSCHOOL-SCHÜLER OUTET SICH.
In Wirklichkeit gab es eine Menge Gründe für meinen Umzug nach Natick, wo ich die elfte Klasse besuchen wollte. Es wäre mir nur sehr schwergefallen, diese Gründe der Präsidentin der Organisation PFLAG – Parents, Families and Friends of Lesbians and Gays in Boulder zu erklären, denn die würde sicher nicht verstehen, dass ein schwuler Junge, dem sie das Leben so einfach gemacht hatten, unbedingt weg wollte.
Vor allem, weil besagte Präsidentin von PFLAG in Boulder meine Mutter ist.
Vielleicht habe ich die Wahrheit ein wenig vertuscht. Ich meine, es war nicht gelogen, als ich sagte, dass ich später auf eine Uni wie Harvard oder Yale will; das stimmt ja. Mom machte sich Sorgen, dass eine Internatsschule nur für Jungs sicher eine schwulenfeindliche Umgebung wäre, aber ich zeigte ihr, dass es in Natick nicht nur die Gay-Straight Alliance, eine Gruppe für Homo- und Heterosexuelle gab, sondern dass im Vorjahr sogar ein ehemaliger Footballspieler der Schule, der schwul ist, eine Ansprache gehalten hatte. Im Boston Globe gab es einen Artikel dazu, dass selbst eine Schule wie Natick sich der ›neuen Weltordnung‹ anpasste, wo Schwulsein kein Problem mehr darstellte. Damit gab sie sich zufrieden. Und ohne es zu wissen, gab sie mir damit die Chance, ein Leben ohne Schublade zu führen.
Am Vorabend war ich mit Dad in einem vietnamesischen Restaurant in Harrisburg, Pennsylvania, essen gegangen. Als wir da saßen und Glasnudeln mit Hühnerfetzen in Salat aßen, wusste Dad nicht, dass ich mich von einem Teil von mir verabschiedete: meiner Schublade. Dem Wort, das mich für alle anderen als die eine Sache und sonst nichts definierte.
Das schränkte mich wahnsinnig ein.
»Ich wüsste gerne, was gerade in deinem Kopf vorgeht«, sagte Dad.
»Ich denk bloß nach«, antwortete ich. Ich dachte daran, dass Schlangen sich jedes Jahr häuten, und wie toll es wäre, wenn Menschen das auch könnten. In mehr als einer Hinsicht war es genau das, was ich gerade vorhatte.
Von morgen an würde ich eine neue Haut haben, und diese Haut konnte wer weiß wie aussehen, und sie würde sich anders anfühlen als alles, was ich kannte. Und deswegen fühlte ich mich ein bisschen so, als würde ich gleich geboren. Also wiedergeboren. Nur hoffentlich nicht als wiedergeborener Christ.
Dad öffnete die Hecktür und stellte meine Reisetaschen und Kisten auf den heißen Asphalt. Schweiß bildete sich auf meiner Stirn und tropfte mir auf die Oberlippe, als ich versuchte, eine Kiste zu heben. Es war eine feuchte Hitze, wie ich sie erstmals im Mittleren Westen erlebt hatte, vielleicht in Iowa. Vor dieser Fahrt war ich noch nie östlich von Colorado gewesen, und jetzt wohnte ich auf einmal in Neu-England.
Wir mussten vier Mal schweißbedeckt die Treppen in den vierten Stock latschen, bis wir meine ganzen Sachen auf meinem Zimmer hatten. Mein Mitbewohner – laut der E-Mail, die ich bekommen hatte, hieß er Albie Harris – war nicht da. Sein Zeug schon, wie wir sahen, als wir die Tür öffneten.
Albies Seite des Zimmers sah aus, als wäre eine Bombe eingeschlagen. Die Einrichtung war ziemlich standardmäßig: Linoleumboden, zwei Schreibtische aus Spanplatten, zwei weiße Garderoben am Fuß zweier Einzelbetten mit Metallrahmen, die an entgegengesetzten Wänden des Raumes standen. Auf dem Boden ergoss sich der Inhalt einer offenen Schachtel Cornflakes. Ein Kissen ohne Bezug war quer durch den Raum gesegelt und befand sich unter meinem Bett, ebenso wie ein schwarzes T-Shirt, ein Lehrbuch und etwas, das wie eine Brille mit falscher Nase und Schnurrbart aussah. Der Typ war höchstens einen Tag vor mir hier angekommen – das Wohnheim hatte erst gestern geöffnet –, und schon befanden sich mindestens fünf zerknüllte Cola-Dosen um sein ungemachtes Bett herum. Mitten im Zimmer lagen zwei offene Koffer, immer noch voll, auch wenn die Klamotten in alle Richtungen hingen. Auf dem Schreibtisch standen zwei Funksprechgeräte und ein Radio mit Dutzenden von Knöpfen. Über seinem Bett hing ein riesiges, bedrohliches Poster mit einem explodierenden Auto. Am unteren Ende stand in großen, blutroten Buchstaben: Survival Planet.
Ich sah Dad mit weit aufgerissenen Augen an, und er grinste halb, wie er es immer macht, wenn er später etwas gegen mich einsetzen kann. Ich gehöre zu der Art Teenager, die immer ein frisches Staubtuch im Schrank liegen haben, und er kannte mich gut genug, um zu wissen, wie mich der Anblick dieses Katastrophengebiets fertigmachte.
Ich ließ mich auf mein Bett fallen, das mein Mietbewohner immerhin unberührt gelassen hatte. Dad stand in der Tür und nahm sein iPhone heraus, und ich stöhnte.
»Da haben sich ja zwei gefunden«, sagte er und machte eine Panoramaaufnahme vom Zimmer.
Nichts ist nerviger, als wenn Dad recht hat. Seit vier Monaten und vor allem während der 2.164 Meilen, die wir gerade zurückgelegt hatten, lag er mir damit in den Ohren, dass ich einen Fehler mache. Normalerweise müsste ich ihm jetzt widersprechen und ihm klarmachen, dass er falsch lag, aber das kam mir sinnlos vor. Es war fast so, als hätten Mom und Dad meinen Mitbewohner dafür bezahlt, dass er das Zimmer so aussehen ließ, wie es meinen schlimmsten Albträumen entsprach.
Also gab ich nach. Ich legte den Kopf in die Hände und schüttelte ihn übertrieben, als sei ich mit den Nerven am Ende. »Das fängt ja gut an«, sagte ich.
Dad lachte und setzte sich neben mich. Er legte mir den Arm um die Schulter.
»Es ist so, wie es ist«, sagte er, ganz der große Philosoph.
»Ich weiß, ich weiß. Ich habe meine Entscheidung getroffen und muss mit den Konsequenzen leben. Es steht mir frei, meine eigenen Fehler zu machen.«
»Hey«, sagte er und zuckte die Achseln, »das Weltall ist unendlich.« In der Sprache meines Vaters heißt das: Ich bin auch nur ein Mensch. Was weiß ich denn schon?
Er stand auf. »Soll ich dir beim Auspacken helfen?«, fragte er im Tonfall eines Mannes, der noch einen Rückweg von 2.164 Meilen vor sich und echt keinen Bock darauf hatte, vorher noch Polohemden in Schubladen zu legen.
»Ich komme alleine klar«, sagte ich.
»Sicher?«
»Ja«, sagte ich.
Dad ging ans Fenster, ich ging ihm nach. Mein Zimmer lag auf der Rückseite des Wohnheims mit Aussicht auf den riesigen, grasbewachsenen Hof. Draußen versammelten sich Typen in kleinen Gruppen und warfen Frisbees. Alles Jungs. Alle wirkten ziemlich geschniegelt und konservativ. Es sah nicht viel anders aus als auf den Bildern, die ich im Internet gesehen hatte – den Bildern, die mein Interesse an dieser Schule geweckt hatten. Ganz im Gegensatz zu dem, was ich von meinem Mitbewohner bislang sehen konnte.
»Bist du dir sicher, dass das hier die richtige Schule für dich ist?«, fragte er.
»Ich komm schon zurecht, Dad, mach dir keinen Kopf um mich.«
Er starrte aus dem Fenster, als würde dieser Ort ihn furchtbar traurig machen.
»Seamus Rafael Goldberg auf der Natick School. Irgendwie passt das nicht«, sagte Dad.
Ja, ich heiße Seamus – das spricht man SCHey-MES aus – Rafael Goldberg. Versuch mal, mit dem Namen ein Fünfjähriger zu sein. Als Kind wurde ich Seamus genannt, dann Rafael (was ich fast noch schlimmer finde), bis ich zehn wurde. In der fünften Klasse wollte ich nur noch Rafe genannt werden, und darauf bestehe ich bis heute.
Dad stapfte durchs Zimmer, ließ mich allein am Fenster stehen. Ich sah zu, wie ein Junge eine Frisbee-Scheibe gut fünfzig Meter weit warf.
Dad richtete die Kamera auf mich, und ich winselte.
»Komm schon, ein Video für deine Mom«, sagte er, und ich zuckte die Achseln. Ich ging in die Zimmermitte und zeigte auf den Cornflakes-Haufen wie ein Reiseleiter am Grand Canyon. Dad lachte. Dann trottete ich zum Bett meines Mitbewohners, faltete die Hände und legte meinen Kopf seitlich darauf, als wollte ich sagen: Ich bin verliebt!
Das iPhone lief noch, als ich wieder ans Fenster ging und mir noch eine lustige Pose ausdenken wollte, aber dann passierte etwas Seltsames. Ich spürte einen Stich in der Magengrube und biss mir auf die Lippe. Ich halte sonst nicht viel von emotionalen Ausbrüchen, und das machte die Sache eben so seltsam. Ich glaubte, ich würde zusammenbrechen und zu heulen anfangen, als mir auf einmal klar wurde, dass ich, sobald Dad wegfuhr, nur noch von Fremden umgeben war. Dad muss meine Körpersprache richtig gedeutet haben, denn er legte sein Handy weg, kam zu mir und verpasste mir eine schwitzige Umarmung.
»Hey, du wirst hier ein Rockstar sein, Rafe«, flüsterte er mir ins Ohr.
Den Spruch hatte er schon drauf, seit ich das erste Mal in den Kindergarten ging. Für ihn war ich ein Rockstar im Sandkasten, ein Rockstar in der Schülerband der sechsten Klasse, und jetzt sollte ich halt ein Rockstar in Natick sein.
»Ich liebe dich, Dad«, sagte ich mit erstickter Stimme.
»Das weiß ich. Wir lieben dich auch, Kumpel. Verpass allen einen Arschtritt, mach sie fertig.« Als er mich losließ und in Richtung Tür ging, wäre er beinahe über die ausgekippte Cornflakes-Schachtel gestolpert. »Such dir ’nen festen Freund.«
Ich verkrampfte mich. Das war nicht gerade das, was ich schon in meiner ersten Stunde in Natick hinausposaunen wollte. Draußen gingen Jungs vorbei, aber keiner blieb stehen oder sah uns an.
»Drück Mom von mir«, sagte ich und drückte ihn ein letztes Mal.
»Noch ein letztes Video für unterwegs?«, fragte er und fuchtelte wieder mit dem iPhone herum.
Ich hielt mir die Hand vors Gesicht wie ein Promi, der von den Paparazzi die Schnauze voll hat. Und genauso ging es mir auch. Ich war zwar kein Promi, aber ich hatte die Schnauze voll davon, gefilmt zu werden.
Wenn du der schwule Sohn von Gavin und Opal bist, hast du immer das Gefühl, angestarrt zu werden. Nicht unbedingt auf negative Art. Die Leute schauen dich einfach an. Weil irgendwas an dir interessant und anders ist. Aber du weißt nie, was sie in dir sehen. Und so was kann dich in den Wahnsinn treiben.
Dad verstand den Wink mit dem Zaunpfahl und steckte das Handy endgültig in die Tasche. »Tschüss, Sohnemann«, sagte er, und ein süßes, unnachahmliches Lächeln legte sein Gesicht in Falten.
»Ciao, Dad.«
Und dann ließ er mich allein in meiner neuen Welt, und ich starrte in das halbleere Grau meiner Zimmerhälfte.
Eines hatte ich vergessen, als ich mir in meiner Fantasie die idyllische Welt von Natick ausmalte: In Wirklichkeit gab es hier keine Klimaanlage. Lag wohl am Altbau. Ich hatte Fenster und Tür weit geöffnet, um Durchzug zu erzeugen, aber das änderte nicht viel an der stickigen Luft oder meinen triefenden Achselhöhlen. Als ich meinen zweiten Seesack in den Schrank stopfte, entschied ich mich für eine Dusche – ich roch, als hätte ich mein Haltbarkeitsdatum mehrere Wochen überschritten. Ein Typ ging an der Tür vorbei, dann wurden seine Schritte langsamer, bis er stehen blieb. Er kam zurück. In meiner Tür stand ein großer, gut gebauter Junge in einem königsblauen Muskelshirt, mit schwarzen Haaren, blauen Augen und Schultern zum Reinbeißen.
»He du«, sagte er, »wir wollen unten ein Spiel machen, willst du … ach du heilige Scheiße!«
»Was?«, fragte ich und sah hinter mich.
»Du siehst genau aus wie Schroeder.«
»Der von den Peanuts?«
»Was? Nein. Wie ein Typ, der letztes Jahr hier abgegangen ist. Der war megabeliebt. Du könntest sein Zwilling sein.«
»Ach«, sagte ich, und mein Herz schlug schneller.
»Bin ich etwa der Erste, der dir das sagt?«, fragte der Junge und zeigte seine makellosen, perlweißen Zähne.
Ich erwiderte das Lächeln, weil ich von seinem geblendet war. Ich hoffte, dass ich nicht rot wurde. »Du bist der Erste, der überhaupt was zu mir sagt. Du bist der Erste, mit dem ich hier spreche.«
»Echt jetzt? Na, komm doch mit runter. Wir spielen Touch-Football und könnten noch ein, zwei Spieler gebrauchen.« Er hielt mir die Hand hin. »Ich heiße Nickelson, Steve Nickelson.«
»Rafe Goldberg«, sagte ich.
»Kommst du?«
»Ähm, klar«, antwortete ich. Die Dusche konnte definitiv noch warten.
2
Wir liefen die Treppe runter, und als wir auf dem Hof hinter dem Wohnheim ankamen, sah ich einen Haufen großer und muskulöser Kerle, die auf dem Rasen standen und sich einen Football zuwarfen. Es war wie ein lebendig gewordenes Werbeplakat von Abercrombie & Fitch.
»Alle mal herhören«, rief Steve und rannte auf sie zu. »Wem sieht er hier ähnlich?«
»Deiner Mutter?«, sagte einer der Jungs. Dann sahen mich alle an, und ein paar fingen zu grinsen an.
»Und ich dachte, wir wären den Schroedster los. Wo ist der jetzt eigentlich, auf Tufts?« Das kam von einem Typen mit tiefer Stimme und Akne im ganzen Gesicht.
»Jepp.«
»Wie heißt du?« Die Kommentare und Fragen kamen so schnell, dass mir nur eine Sache bewusst war: Ich stand vor etwa einem Dutzend Kerle, die alle gut gebaut und größtenteils ziemlich gut aussehend waren. Ein riesiger Haufen, ein gigantischer Klumpen Testosteron.
»Rafe Goldberg.«
»Oh! Du bist neu in der Elften, oder? Wo kommst du her?«, fragte ein Junge mit strähnigen blonden Haaren und einem Skater-T-Shirt.
»Aus Colorado.«
»Genau. Ich hab schon gehört, dass es einen Neuzugang gibt«, sagte ein braungebrannter Junge, der ein umgedrehtes Football-Trikot trug. »Spielst du mit?«
»Klar«, sagte ich.
Eine großartige Vorstellung gab es nicht, so war man hier offenbar nicht drauf. Der Typ mit der tiefen Stimme und der Akne streckte mir die Hand entgegen und sagte »Robinson«, und das war’s.
»Hey, Colorado«, sagte Steve, »bist du schnell?«
»Ja«, sagte ich. Vom Skifahren mal abgesehen war das meine sportliche Stärke. Ich bin ein durchschnittlicher Fußballspieler, und die Leute, mit denen ich in Boulder so abhing, standen nicht darauf, zum Kennenlernen eine Runde Football zu spielen. Vielleicht war das bei den Leuten, mit denen ich hier zu tun haben würde, ja anders?
Eine Mannschaft wurde gewählt. Ich war in einem Team mit Steve, dem gebräunten Jungen mit dem umgedrehten Trikot (er hieß Zack), einem stillen Schwarzen namens Bryce, der ein T-Shirt mit der Aufschrift I Want to Go to There trug, sowie mit Ben, einem Riesen, der doppelt so breit war wie ich und dessen Beine wie Hydranten aussahen.
»Ihr habt den Anstoß, weil wir euch eh den Arsch aufreißen werden«, sagte Steve zu den anderen, und wir gingen an den ›Kickoff‹. Ich kannte mich eigentlich gar nicht mit Football aus und wollte die anderen erst mal dabei beobachten.
Steve warf den Ball ziemlich hoch und weit in Richtung der anderen Mannschaft, die uns gegenüberstand. Dann rannten wir alle aufeinander los, die Sonne brannte heiß, die Luft war zäh wie Honig.
Eigentlich war das Ganze ziemlich lustig. Die Typen aus der gegnerischen Mannschaft versuchten uns den Weg zu blockieren, als wir auf den Jungen zurannten, der den Ball gefangen hatte. Ein Typ hob die Unterarme vors Gesicht, als ich auf ihn zulief, also versuchte ich, ihm auszuweichen. Er traf mich auf der Brust, was mir fast den Atem raubte. Dann drehte ich mich um und sah, wie Steve den Typen mit dem Ball mit zwei Händen abschlug, und das Spiel war vorbei.
Während die aus dem anderen Team sich zusammendrängten, gab Steve uns Anweisungen für die zweite Runde. Ich sollte Robinson decken. Er trat an die Linie, sah mich und grinste. Er war größer und breiter als ich, seine Beinmuskeln waren viel größer als meine, und er trug ein Kreuz um den Hals. Ich dachte mir, wenn er den Ball bekommen sollte, würde ich ihn mir einfach schnappen, ehe er an mir vorbei war.
In der Mitte stand ein großer Junge mit blütenweißer Haut und Stoppelhaaren, flankiert von zwei Typen, die uns ansahen. Er schrie: »Hike!«
Robinson rannte los wie ein Rennpferd, und ich machte einen Rückzieher. Ich starrte sein Gesicht an: Seine Augen waren weit aufgerissen. Er sauste an mir vorbei, also drehte ich mich um und rannte so schnell ich konnte. Ich hörte Steve in meine Richtung rufen und wusste irgendwie, dass ich nach oben sehen musste.
Da war der Ball, und er flog auf uns zu. Robinson drehte sich so um, dass er ihn fangen konnte. Ich stand direkt neben ihm, und hob einen Sekundenbruchteil vor ihm zum Sprung ab.
Ich habe früher Volleyball gespielt, ich kann hoch springen, und ich weiß, wie man dem Gegner den Ball wegschnappt. Ich setzte meine Fäuste ein und knallte den Ball auf den Boden.
»Yo!«, rief Steve und rannte wie ein Irrer auf mich zu. »Das ist wirklich Schroeder! Niemand bringt diese Scheiße in mein Haus!«
Auch Zack kam auf mich zu, und die beiden sahen mich an, als hätte ich gerade etwas Unglaubliches gemacht. Das Blut raste durch meine Adern, und ich spürte, wie meine Nackenhaare sich aufstellten.
»Das hat Schroeder immer gesagt«, erklärte Steve und gab mir einen High-Five.
Ich ahmte die Stimme nach, mit der Steve diesen Schroeder imitiert hatte: »Niemand bringt diese Scheiße in mein Haus!«, brüllte ich.
Steve sah Zack an, dann gaben sie sich die Faust. »Er hört sich sogar an wie Schroeder!«, sagte Steve.
Ich zeigte auf Robinson, der zu seinem Team zurückjoggte. »Äh-äh«, sagte ich und wackelte mit dem Finger. Er ignorierte mich einfach.
Steve und Zack schütteten sich vor Lachen aus. »Na, das ist jetzt aber typisch Colorado. Der Schroedster hat nie mit dem Finger gewackelt. Wir nennen dich einfach Schroedster Zwei!«
In meinem Leben hatte es Augenblicke großer Freude gegeben, aber mir wollte keiner einfallen, der sich so angefühlt hatte wie dieser. Ich war von mir selbst überrascht. Ich hatte mich nie für jemanden gehalten, der unbedingt von den Sportlern auf der Schule akzeptiert werden wollte, aber hier war ich und platzte fast vor Stolz, weil sie mir einen Spitznamen gaben.
Ich, ein Sportler? Ich dachte darüber nach, ließ es mir auf der Zunge zergehen. Es brachte mich zum Lächeln, dann zum Lachen. Ich war begeistert. Das war das Gefühl in meiner Brust: Begeisterung. Ich hatte das noch nie so empfunden.
Ich suhlte mich in diesem Gefühl und warf einen Blick auf Ben und Bryce. Die beiden verdrehten die Augen. Ich hörte auf zu lachen und schämte mich. Was sollte das denn? Was hatte ich ihnen denn getan? Ich hatte mich doch nur gefreut. Die beiden waren wohl die Sportler-Variante der Gruftis in Boulder, die immer schwarze Mäntel trugen, am Rand saßen und über alle anderen lästerten. Wer zum Teufel waren sie, dass sie mich verurteilten?
Trotzdem gefiel mir das Football-Match. Ich war ganz froh, dass der Name ›Schroedster Zwei‹ eines raschen Todes starb, als sich herausstellte, dass ich bei Weitem nicht so gut darin war, einen Pass zu fangen. Steve warf mir zwei hintereinander zu; der erste glitt mir aus der Hand, der zweite traf mich auf der Brust und sprang davon. Ich hatte geglaubt, den zweiten beinahe gefangen zu haben, aber knapp daneben ist schließlich auch vorbei. Der Spitzname verschwand. Auch gut. War eh bloß eine weitere Schublade, um mich festzulegen.
»Okay«, sagte Steve vor der letzten Runde, als Gleichstand herrschte. »Colorado, du machst einen Buttonhook in zehn Schritten. Zack, du gehst flach nach links. Benny, raus und rein. Bryce, du spielst tief. Okay?«
Bei den vorigen Besprechungen hatte er die Routen mit dem Finger auf die Handfläche gezeichnet, aber jetzt auf einmal benutzte er Fachbegriffe. Ich hatte keine Ahnung, was ich tun sollte. Nachdem wir alle »Break!« gerufen hatten, tippte ich Ben den Trottel auf seine massive linke Schulter.
»Ähm, was ist ein Buttonhook?«, fragte ich.
Er sah mich komisch an. Dann hielt er die Handfläche auf und zeichnete den Spielverlauf für mich nach: ein schneller Lauf – zehn Schritte, vermutete ich – und eine Wendung.
»Danke«, sagte ich und zwang mir ein Lächeln ab, »du hast was gut bei mir.«
Er legte den Kopf leicht schief und schloss dann zu Steve auf. Ich stellte mich links auf, Robinson gegenüber, und als Steve »Hike!« rief, rannte ich die zehn Schritte und drehte mich um.
Ich hatte den Ball sofort in der Fresse. Er landete auf meiner Nase, als ich gerade die Hände hochreißen wollte. Zu spät. Der Schmerz raubte mir den Atem. Der Football prallte von meiner Nase in meine linke Hand, und ich versuchte ihn festzuhalten.
Der Ball tanzte auf meinen Fingerspitzen. Ich bekam ihn ganz zu fassen, drückte ihn fest gegen meine Brust und rannte los.
»Er hat ihn mit nur einer Hand gefangen!«, hörte ich Steve rufen. Ich drückte auf die Tube und raste auf die Endzone der gegnerischen Mannschaft zu. Ich wusste, wenn ich einmal weg war, würde Robinson mich nicht mehr einholen.
»Touchdown!«, schrie Steve, und ich wuchtete den Ball so auf den Boden, wie ich es im Fernsehen und bei einigen der anderen Spieler gesehen hatte. Dann machte ich einen kleinen Tanz, weil man eben tanzen muss, wenn man die Endzone erreicht. Weiß doch jeder. Ich zuckte von einer Seite zur anderen und hob dabei rhythmisch die Schultern an.
»Der Typ kann tanzen!«, sagte Steve und kam rüber, um mir auf die Schulter zu klopfen. Ich drehte mich zu ihm um und wollte etwas sagen, da bemerkte ich das Blut.
»Oh, Scheiße«, sagte Steve, und die anderen aus der Mannschaft rannten zu uns rüber.
»Sieht aber übel aus«, sagte Bryce.
»Ich bin in Ordnung«, sagte ich. So fühlte ich mich zwar ganz und gar nicht, aber ich war nicht gewillt, mir meine Siegesfeier nehmen zu lassen, auch nicht von einem medizinischen Notfall.
Ben packte mich an der Schulter. »Wir sollten dich ins Krankenzimmer bringen. Die Nase könnte gebrochen sein.«
»Nee«, sagte ich und zog meine Schulter weg. »Meine Nase blutet schon, wenn man sie nur komisch ansieht. Mir geht’s gut.«
Er sah mir in die Augen. Seine Augen waren so hellblau, dass sie fast durchsichtig waren. Sein Blick war freundlich. Ich wollte nicht wegsehen. Mir wurde bewusst, dass ich dank der Tatsache, dass ich hier nicht der Schwule war, mehr Freiheiten hatte. Mit den Sportfreaks in Boulder konnte ich keinen Augenkontakt halten. Das war eine stumme Abmachung: Sie akzeptierten mich, und ich machte ihnen keine Angst mit Blickkontakten. Hier gab es keine solche Abmachung. Ben zwinkerte mir zu, ich zwinkerte zurück, und als es mir etwas zu intim wurde, wandte ich die Augen ab.
Mein Touchdown hatte das Match für uns entschieden. Ich spielte die letzten Downs mit blutender Nase, und als das Spiel vorbei war, gab Bryce mir ein paar Papiertaschentücher.
»Danke«, sagte ich.
»Nichts zu danken«, antwortete er ohne jede Betonung und schlenderte mit Ben ziemlich selbstherrlich davon. Ich blieb bei Steve und Zack.
Wir gingen zusammen ins Wohnheim, und sie fragten, ob ich nachher mit ihnen zu Abend essen wolle. »Klar doch«, sagte ich. Und ich ging auf mein Zimmer mit einer blutigen Nase und einem euphorischen Gefühl in der Brust, das mir völlig neu war.
3
Wow, dachte ich, als ich zwei Stufen auf einmal nahm und das Taschentuch gegen meine Nase drückte. Mein Abenteuer in Natick hatte vor gerade mal zwei Stunden begonnen, und schon steckte ich in der ganz neuen Haut, von der ich fantasiert hatte. Rafe, die Sportskanone.
Das fühlte sich verdammt gut an, um ehrlich zu sein.
Mir kann niemand einen Strich durch die Rechnung machen, dachte ich – und dann verfluchte ich mich dafür, denn wie jeder weiß, der auch nur einen einzigen Hollywoodfilm gesehen hat, folgt auf diesen Gedanken in der Regel ein ganz dicker Strich.
Dicker Strich Nummer eins:
Die Tür zu meinem Zimmer war offen, und ich spähte hinein. Drinnen packte ein kleiner und dicklicher Typ in einem schwarzen T-Shirt gerade die Koffer aus, die mitten im Raum gestanden hatten. An ihrer Stelle lag nun in dem ganzen Chaos aus Cornflakes und Cola-Dosen ein dürrer Junge mit Stachelhaaren. Er blickte in die andere Richtung und hatte die Hände hinterm Kopf verschränkt, als würde er gerade Sit-ups machen. Ich presste das Taschentuch an meine Nase und warf einen Blick darauf. Immer noch ziemlich blutig.
»Eine Frage«, sagte der Typ mit den Stachelhaaren, »stell dir eine Bande von Sechsjährigen vor, die dich auf offener Straße angreifen. Wie viele davon könntest du in die Flucht schlagen?«
Ich stand unbemerkt in der Tür. Von dem Katastrophengebiet mitten im Zimmer mal abgesehen, nahm ich erfreut zur Kenntnis, dass nun wenigstens Dinge weggepackt wurden. Ein Stapel, der anscheinend aus nichts als schwarzen T-Shirts bestand, wuchs auf dem Bett des dicklichen Typen immer höher. Er öffnete eine Schublade der Garderobe neben dem Bett und stopfte die Shirts rein.
»Sind sie bewaffnet?«, fragte er.
»Nein, sie haben nur ihre Fäuste«, sagte Stachelhaar.
»Dann wahrscheinlich vier davon. Zwei von ihnen könnten mich an den Beinen festhalten, aber dann hätte ich noch die Arme. Zwei weitere könnten sich meine Arme schnappen, aber dann wäre keiner mehr da, um meine Bauchgegend zu attackieren. Ich wäre wohl ziemlich bewegungsunfähig, aber am Leben.«
»Jepp«, sagte Stachelhaar, »also vier. Ich glaube, ich würde auch mit vier fertig. Wenn es fünf wären, hätte ich ein Problem.«
»Und was, wenn sie Waffen haben?«, fragte Pummelchen.
Ich verschränkte die Arme und lehnte mich gegen den Türrahmen, der dabei knarrte. Die beiden drehten sich um und schauten mich an.
»Und warum sind diese Sechsjährigen in einer Bande?«, fragte ich und wischte mir Blut von der Nase.
Stachelhaar musterte mich.
»Schlechtes Elternhaus«, sagte er. »Die Eltern sind voll auf Crystal Meth, und die Kids wissen nicht, wo sie abends hin sollen. Also ziehen sie durch die Straßen und suchen nach Ärger.«
Pummelchen ergriff das Wort: »Und dann ist da noch der Gruppenzwang. Sie haben ältere Brüder, die in Banden von Acht- und Neunjährigen unterwegs sind.«
Ich nickte und faltete das Taschentuch so, dass ich eine saubere Stelle unter meine Nasenlöcher halten konnte. »Ja, Gruppenzwang ist voll übel. Wollen die dir wirklich wehtun, oder machen sie nur einen auf dicke Hose?«
»Vor allem das«, sagte Stachelhaar. »Das ist so eine Art Initiation.«
In Rangeview wären diese Typen Survival-Freaks, Jungs in Militärklamotten, die dauernd auf dem Schießübungsplatz herumhängen und sich Sendungen über Fischer anschauen, die auf der Jagd nach Krabben umkommen. Daher auch das Poster mit dem explodierenden Auto.
»Ich frage mich, was ein Sechsjähriger tun muss, um Chef seiner Gang zu werden«, sinnierte ich. »Muss er dafür ein Legohaus kaputtmachen?«
Pummelchen sah mich scheel an. »Wie naiv«, sagte er. »Das ist eine Frage der Macht. Das Recht des Stärkeren. Der Härteste wird zum Anführer. Wie in Der Herr der Fliegen.«
»Ja, in Herr der Fliegen gab es einen Kampf auf Leben und Tod um diesen Platz«, sagte Stachelhaar, setzte sich auf, sah mich an und rieb an einem Pickel auf seiner Wange.
»Aha«, sagte ich. Und dann waren wir alle still.
»Bist du Rafe?«, fragte Pummelchen.
»Jepp.«
»Ich bin Albie. Das hier ist Toby.«
»Hallo«, sagte ich, trat ein und setzte mich auf mein Bett. »Dein Radio hier hat aber ’ne Menge Knöpfe.«
»Das ist ein Polizeiempfänger. Wissen ist Macht«, sagte Albie. »Deine Nase blutet, und du hast eine Menge Dreck an den Beinen.«
»Football«, sagte ich.
Albie warf Toby einen Blick zu. »Super«, sagte er in einem Tonfall, der genau das Gegenteil besagte.
Ich sah mich im Zimmer um. »Ich denke mal, dass du nicht unbedingt hier bist, um Haushaltsführung zu studieren?«
»Nicht wirklich«, sagte er. »Und du hast hoffentlich keinen Ordnungstick?«
»Nö«, sagte ich und erkannte im selben Moment, dass ich sehr wohl einen Ordnungstick hatte, weil der bloße Anblick unseres Zimmers in mir das starke Verlangen weckte, einen Staubsauger zu besorgen. Oder besser gleich einen Butler. »Das sind aber viele schwarze T-Shirts.«
»Danke«, sagte Albie.
»Albie kauft in Klamottenläden für Kellner ein«, sagte Toby.
»Ja, und du kaufst im ›Mich würde man wegen meines Vorstrafenregisters nicht mal als Hilfskellner anstellen‹-Laden«, erwiderte Albie.
»Gute Antwort«, sagte Toby.
»Was muss ich alles über Natick wissen?«, fragte ich.
Toby und Albie sahen sich wieder an.
»Renn, so schnell du kannst, und versteck dich in den Bergen!«, sagte Toby.
»So schlimm wird’s schon nicht sein. Außerdem komme ich gerade aus den Bergen. Aus Colorado.«
»Nun, dann hängt es wohl davon ab, was für ein Typ du bist«, sagte Albie.
Der alte Rafe hätte das einfach so stehen gelassen. Aber ich hatte den starken Drang, ihm nicht das letzte Wort zu lassen. »Warum muss ich irgendeinem bestimmten Typ entsprechen?«
Er musterte mich nicht gerade subtil von oben bis unten. »Nun, das musst du nicht, aber das tust du.«
Ich schnappte mir von meinem Schreibtisch ein weiteres Taschentuch und hielt es mir vor die Nase. »Okay«, sagte ich, »und was für ein Typ bin ich?« Ich verschränkte die Arme und schob die Brust ein wenig vor.
»Wahrscheinlich so ein sportbegeisterter Schönling«, sagte Albie.
»Und ist das was Schlechtes?«
Albie zuckte die Achseln. »Was Schlechtes ist, wenn dir eine Motte ins Ohr fliegt und sich in deinem Gehirn festbeißt. Ein sportbegeisterter Schönling zu sein ist eben, was es ist.«
»Also was Schlechtes.«
»Nun, es ist vielleicht keine Motte, die sich durch dein Hirn frisst, aber es ist schon irgendwie lahm.«
»Boah, Albie!«, warf Toby ein.
»Na, er hat doch gefragt.«
Vielleicht lag es an dem Adrenalin wegen des Footballspiels und der blutenden Nase. Vielleicht lag es auch an der Ironie, dass man mich endlich als Teil des Mainstreams akzeptierte und mir mein Verlierer von Mitbewohner deshalb die Hölle heißmachte. »Du bist also so der Typ, der Spaß an explodierenden Karren und an Polizeiempfängern hat«, sagte ich. »Bist du Mitglied in einer Bürgerwehr?«
»Klar«, sagte er. »Du hast voll den Durchblick. Ich bin in einer Bürgerwehr. Du solltest besser mit offenen Augen schlafen.«
»Volltrottel«, murmelte ich.
»Republikaner«, lautete seine Antwort.
Ich? Ein Republikaner? Vor meinem geistigen Auge sah ich den Kopf meiner Mutter explodieren. Mein Gesicht lief rot an, und Albie drehte sich zu mir um. Sein Gesicht war ausdruckslos, doch in seinen Augen konnte ich etwas Unbestimmtes erkennen. Angst? Hatte er etwa Angst vor mir? Niemand hatte je vor mir Angst gehabt, zumindest nicht im Sinne einer körperlichen Bedrohung. Ich fühlte mich, als hätte ich eine völlig neue Dimension erreicht. Toby stand auf und ging zwischen uns – beinahe hätte ich deswegen gelacht, so nach dem Motto: ›Was, schlagen wir uns jetzt die Köpfe ein?‹
»Ist die Stimmung hier drin gerade ein bisschen angespannt, oder kommt mir das nur so vor?«, fragte Toby. »Okay, Jungs, wir machen das jetzt mal so.« Er ging zu Albie und legte ihm die Hand auf die Schulter. »Du. Du hörst jetzt damit auf, gegen jemanden auszuteilen, der das nicht verdient hat.«
Albie zog seine Schulter weg, gab dann aber nach und nickte.
Dann kam Toby auf mich zu. Er war extrem dünn, und seine Stachelhaare waren stellenweise platingrau gefärbt. In Boulder wäre er mit Sicherheit einer von den schwulen Jungs. Aber warum sollte gerade ich ihn in eine Schublade stecken?
»Und du. Du nimmst den Spruch mit der Bürgerwehr zurück und sagst nie wieder was Negatives über dieses hammermäßige Poster, das zufällig zur coolsten Sendung in der Geschichte des Fernsehens gehört.«
»Survival Planet? Nie davon gehört.«
»Dagegen können wir was unternehmen«, sagte Toby. Er drückte meine Schulter, und ich errötete. Ja, gut möglich, dass er schwul war. Auf jeden Fall war er so gar nicht mein Typ.
Ich atmete tief durch, ehe ich antwortete. »Cool. Ich bin immer offen für Neues.«
Ich warf einen Blick auf Albie. Er hatte mit dem Auspacken aufgehört, stand bloß da und sah aus dem Fenster. Er wirkte traurig. Ich hatte ihn gerade einen Volltrottel genannt. So hatte ich mir meine erste Unterhaltung mit meinem neuen Zimmergenossen eigentlich nicht vorgestellt.
»Hey, Albie«, sagte ich, »das mit dem Volltrottel war nicht so gemeint. Ich hätte das nicht sagen sollen. Ich leide am Tourette-Syndrom.«
Er sah mich an und verdrehte die Augen. »Wenn du am Tourette-Syndrom leidest, dann hast du es so gemeint, wie du’s gesagt hast. Du kannst einfach nur nicht deine Gedanken filtern.«
Jetzt musste ich lachen. »Ach, komm schon. Du machst es einem wirklich schwer, den Volltrottel zurückzunehmen.« Er machte ein langes Gesicht, also ging ich zu ihm rüber und verpasste ihm einen sachten Fausthieb auf die Schulter. »Das war nur ein Witz! Mann, bist du empfindlich.«
Darüber schien er einen Moment nachzudenken, dann zuckte er die Achseln. »Schon gut. Neuanfang?«
Ich grinste. »Klar.«
Er runzelte die Stirn, legte die Hände übers Gesicht, und als er sie wieder entfernte, lächelte er.
»Hi! Du musst Rafe sein, mein sportlicher neuer Mitbewohner.«
Ich schüttelte ihm die Hand. »Und du musst Albie sein, mein unordentlicher neuer Mitbewohner.«
»Freut mich.«
»Und ich verspüre auch überhaupt keinen Drang, dieses grauenhafte Durcheinander aufzuräumen. Ach übrigens, tolles Poster! Ich stehe total auf diese Sendung«, sagte ich.
»Lass uns doch mal zusammen Sport machen«, sagte er.
»Na bitte, geht doch«, lautete Tobys Kommentar.
Albie machte sich wieder ans Auspacken, und ich legte mich auf mein Bett, den letzten Rückzugsort von dem Chaos in unserem Zimmer. Ich fragte mich, ob unser Zusammenleben funktionieren würde. Positiv war schon mal, dass die beiden auf ihre Weise witzig waren. Und die negative Seite – nun, warum sollte ich mich darauf konzentrieren?
»Scheiße, die Glühbirne kratzt ab«, sagte Albie und schaltete die Lampe auf seinem Schreibtisch an und aus.
Toby legte den Kopf in die Hände und tat so, als würde er leise weinen. »Ach, Glühbirne! Du warst doch noch so jung.«
Ah ja. Die negative Seite.