Feindliche Welt
Luiz Ruffato wurde 1961 in Cataguases im brasilianischen Bundesstaat Minais Gerais geboren und wuchs in einer armen Migrantenfamilie auf. Er arbeitete u.a. als Verkäufer und Mechaniker und studierte Journalismus. Im Jahr 1998 veröffentlichte er einen ersten Band mit Kurzgeschichten. Drei Jahre später folgte der Roman »Es waren viele Pferde« (Eles eram muitos cavalos), der die brasilianische Literatur revolutionierte, von der Kritik enthusiastisch aufgenommen und u.a. mit dem Prêmio Machado de Assis der brasilianischen Nationalbibliothek ausgezeichnet wurde.
Zwischen 2005 und 2011 schrieb Luiz Ruffato den fünfbändigen Zyklus »Vorläufige Hölle« (Inferno próvisorio), dessen erster Band »Mama, es geht mir gut« 2013 bei Assoziation A auf Deutsch erschien. Luiz Ruffato lebt in São Paulo.
Vorläufige Hölle • Band 2
Aus dem Portugiesischen von Michael Kegler
Titel der Originalausgabe:
O mundo inimigo (Editora Record)
Obra publicada com o apoio do Ministério da Cultura do Brasil/Fundação Biblioteca Nacional
Die Übersetzung aus dem Portugiesischen wurde mit Mitteln des Auswärtigen Amtes unterstützt durch litprom – Gesellschaft zur Förderung der Literatur aus Afrika, Asien und Lateinamerika.
© Luiz Ruffato 2005
© der deutschsprachigen Ausgabe Berlin | Hamburg 2014
Assoziation A | Gneisenaustr. 2a | 10961 Berlin
www.assoziation-a.de
hamburg@assoziation-a.de | berlin@assoziation-a.de
Titelgestaltung und Satz: kv & mg
ISBN (Print) 978-3-86241-430-7
ISBN (EPUB) 978-3-86241-605-9
Für Geni und Sebastião, meine Eltern
Für Helena und Filipe, meine Kinder
Freunde
Zerstörung
1. Juli in Flammen
2. Disney
3. Raum in der Zeit
4. Der Keller
Das Boot
Die Lösung
Der Fleck
Jorge Pelado
Agonie
Wehklagen
Reigen
Landschaft ohne Geschichte
Die Verdammung
Die Entscheidung
Eine andere Welt
Schwindel
Da sagte Daniel: Gott, du hast also an mich gedacht;
du lässt die nicht im Stich, die dich lieben.
Daniel 14,38
Geschichte ist Reue.
Carlos Drummond de Andrade
Die letzten Arbeiter strömen eilig aus der Fabrikhalle von Manufatora, Frohe Weihnachten!, Frohe Weihnachten!, verabschieden sich aufgekratzt, der wolkenlose Nachmittag leert sich. Betäubt von der vom Straßenpflaster zurückstrahlenden Hitze, schnappt Luzimar sich sein Fahrrad und fährt langsam durch Vila Domingos Lopes (strampelt im Zickzack von Laden zu Laden), soninha irgendwas mitbringen ich brauche geld, die Rua do Comércio hinauf (Lichter umkränzen die Schaufenster, ein keuchender Weihnachtsmann verneigt sich rot ho ho ho), vielleicht senhor zé pinto weihnachtsgeld sie verdient es, überquert angespannt die Neue Brücke (darunter fett der Rio Pomba), ja sie hat es verdient die gute ich schaffe das irgendwie, überquert in Gedanken den kleinen Platz (Jungs schieben träge einen Kinderfußball hin und her), ob er mir etwas leiht?, kommt nach Vila Teresa, ich unterschreibe auch einen wechsel, bestimmt!, er tritt die Pedale ins Leere!, mist!, er steigt ab, wütend, boxt den Sattel, scheiße! scheiße!, am Rinnstein gegenüber dem Haus von Gildo und Gilmar steht ein grüner 1300er Käfer, Nummernschild von São Paulo, eine Frau kehrt den Bürgersteig, dona marta? Die Finger entwirren die Fahrradkette, er geht hinüber, »Dona Marta?«, sie kneift die Augen zusammen hinter zerkratzten Gläsern, stützt sich mit dem Unterarm auf den Reisigbesen, »Erinnern Sie sich nicht mehr an mich? Luzimar … Sohn von Marildo … und Dona Zulmira … Wir haben da hinten gewohnt, in der Gasse von Zé Pinto.« »Ach je, ich erinnere mich! Natürlich erinnere ich mich! Jesses!, wie bist du … was bist du groß geworden!, ein richtiger Mann schon … Wie die Zeit doch vergeht! Deine Mutter?« »Es geht … Wäscht immer noch Wäsche für andere Leute.« »Ach je!, so viele Jahre! Und deine Schwester?, die … die …« »Hélia.« »Ja, Hélia, ist sie verheiratet?« »Sie hat doch bei Ihnen Nähen gelernt, nicht wahr?« »Ja …« »Hat geheiratet … drei Kinder …« Die Frau wischt sich mit der Hand über die Stirn, steckt weiße Strähnen zurück unter das Kopftuch. »Ja also, Frau Marta, ich kam gerade vorbei, hab das Auto gesehen … dachte, das sind sicher Leute aus São Paulo …« »Hast du gesehen? Das gehört Gildo … stell dir mal vor!, ist die ganze Strecke mit dem Auto gefahren, so weit … Wie gefährlich, um Gottes Willen!« »Ist er da?« »Gott sei Dank ist er gut angekommen. Soll ich ihn rufen?« »Wenn’s keine Umstände macht …« »Sind doch keine Umstände, um Gottes Willen!« Mühsam steigt sie die eine Stufe hinauf und verschwindet im Schatten mit ihren Warzen.
Luzimar wischt sich in der Hosentasche das getrocknete Kettenfett von den Fingern, wischt sich die winzigen Baum-wollflusen aus den Haaren, vom Hemd, von der Hose.
Gildo erscheint in der Tür, schläfrig.
»Luzimar!«
»Hey Gildo!«
Sie umarmen sich.
»Luzimar, Junge! Los, komm herein …«
»Gut … Also ich muss nur … Ist gut … Aber … Nur kurz … Ich hab’ noch was zu erledigen heute …«
Gildo kräftig – Bermudajeans, ausgeblichenes T-Shirt mit Werbung, Gummilatschen – führt Luzimar ins Haus. Reißt hastig die Fenster auf und zieht die Hüllen aus einfachem Stoff, die zum Schutz vor Staub über den Sesseln und dem Sofa liegen, herunter, wirft sie zusammengeknüllt auf den noch verschlossenen Karton mit dem Fernseher. Nimmt ungeduldig den herzförmigen Aschenbecher und die einsame Plastikmargerite von der marmornen Couchtischplatte, stellt beides unter dem winzigen Weihnachtsbaum ab, der blinkende Farben gegen die Wand wirft, an der in einen schmierigen ovalen Rahmen gezwängt das gemalte Porträt von Herrn Marciano hängt.
Verstohlen schleppt sich die Stille durch den Raum, tastet sich mit gespaltener Zunge durch die Luft, klebrig, schmierig, so weit entfernt von dem Anderen, der Kindheit, als sie auf dem Boden im Hof hockten und gar nicht merkten, wie die Stunden über den Seiten der Heftchen vergingen, die Gildo und Gilmar immer an der Bude des Italieners an der Praça Rui Barbosa kauften, oder im Gras des Bolzplatzes liegend den sich auflösenden Wolken zusahen und nachdachten, nachdachten, nachdachten … Nun waren sie Fremde.
»Und São Paulo?«, fragt Luzimar.
»São Paulo?«
Dona Marta kommt eifrig herbei: »Ich mach euch mal Kaffee.«
»Kaffee, Mutter? Ach was! Es ist Bier im Kühlschrank, bring das mal her, es gibt was zu feiern, nicht wahr?«
»In Ordnung … aber nur einen kleinen Schluck … Ich hab’ noch was zu erledigen heute …«
»Kaffee, bei der Hitze! Die Mutter! Und du?«
»Gott sei Dank alles in Ordnung.«
»Was gibt’s Neues?«
»Neues? Hier gibt es nichts Neues …«
»Na, das ist auch wieder wahr. Sieben Jahre bin ich schon weg … und was hat sich verändert? Nichts, gar nichts …«
»Ja …«
Dona Marta kommt mit einem Bier und einem Flaschenöffner. »Machst du mal auf, Gildo? Ich hab keine Kraft mehr in den Fingern … das Rheuma …« Sie kommt mit den Gläsern zurück, stellt sie auf das Couchtischchen, verschwindet im Haus. »Lass uns anstoßen!«
»Auf uns!«
»Auf uns!«
»Wann bist du denn weg aus der Gasse, Luzimar?«
»So vor zehn oder elf Jahren …«
»So lange schon?«
»Ja … so ungefähr …«
»So lange haben wir uns nicht mehr gesehen?«
»Kann sein … Das heißt, am Anfang bin ich immer noch mal hier vorbeigekommen, weißt du noch? Dann ist Herr Marciano gestorben … ihr seid nach São Paulo …«
»Manchmal hab ich deinen Vater gesehen, den Herrn …«
»Marlindo.«
»Ja genau! Manchmal habe ich ihn gesehen, wenn er da vor der Schule sein Popcorn verkauft hat … Ich hab’ nach dir gefragt …«
»Ist ’ne Weile her, was?«
»Und ob! Gleich als Papa gestorben war, hat Onkel Gesualdo uns mit nach São Paulo genommen … Erst mich … dann Gilmar …«
»Und der?«
»Gilmar? Hab ihn schon länger nicht mehr gesehen …«
»Geht es ihm gut?«
»Na klar … weißt doch, Fußballer … für Palmeiras … ausgeliehen irgendwo ins Landesinnere von São Paulo … Ich glaube, er musste am Meniskus operiert werden … Manchmal meldet er sich … Aber er ist nie lang irgendwo …«
»Er konnte verdammt gut spielen …«
»Und ob! Hätte er das nicht mit dem Knie …«
Gildo leert die Flasche und ruft: »Mutter, bring noch eine!«
»Und du, wo arbeitest du?«
»Manufatora.«
»Manufatora?«
»Ja, Watte … Weißt du, das Zeug, das man benutzt, um Jod aufzutragen …«
»Ah, und was machst du da?«
»Ich …«
Dona Marta bringt eine neue Flasche, nimmt die leere mit.
»Verpackung.«
»Verpackung?«
Gildo steht auf.
»Hast du den Fernseher gesehen, den ich meiner Mutter mitgebracht habe? Ganz neu! Teuer! Aber sie hat ihn verdient, findest du nicht? Immer hier so alleine, die Arme … Ein bisschen Ablenkung wenigstens …«
Er geht zum Fenster, atmet die Nachmittagsluft ein. Niedergeschlagen.
Füllt wieder die Gläser.
Der Betrieb auf der Straße hat abgenommen. Hin und wieder ein Auto, ein Omnibus, ein Fahrrad, hastige Schritte auf dem Bürgersteig, Stimmen, die nicht zu verstehen sind.
Langsam versinkt die Sonne hinter der Arbeitersiedlung.
Luzimar steht auf, »Ich muss dann mal«, Gildo erwidert: »Nein, nein, lass uns doch noch einen trinken, hast du es eilig? Setz dich ruhig wieder.«
»Erinnerst du dich noch an Isaías?«
»Isaías?, dein Cousin?«, fragt Luzimar und setzt sich wieder hin.
»Ja, der, dem du den Arm gebrochen hast.«
»Ich?«
»Erinnerst du dich nicht mehr? Du hast ihn gestoßen … er ist den ganzen Abhang heruntergekullert …«
Und im Stehen, ein imaginäres Mikrofon in der rechten Hand: »Pistolinha im Mittelfeld nimmt den Ball mit der Brust an und passt ihn weit zu Isaías auf rechts außen. Isaías nimmt an, sprintet zur Torlinie, müsste schießen, aber … was ist denn das? Luzimar kommt und schickt Isaías in die Wüste … mit Ball und allem …« Sein Übergewicht schüttelt sich vor Lachen, kracht in die Polster, er gluckst, bis ihm Tränen in den Augen stehen. »Und Isaías … da … unten … weint … der Armknochen verdreht … ›Aua, aua, aua … ‹ Das war lustig … Echt lustig … und du … an dem Tag … du warst du weg …«
»Ich … ich bin weggerannt«, gesteht Luzimar, und es ist ihm peinlich.
»Wir wollten dich fangen«, Gildo lacht immer noch.
Ruft: »Mutter, noch ein Bier!« Sie kommt still und hastig aus dem Flur.
»Weißt du?, ich erinnere mich noch genau an die Mannschaftsaufstellung … Guck mal. Wart’ mal … So: Reginaldo, Gildo, Jorge Pelado, Caboré und Luzimar, Remildo, Ailton und Gilmar, Dinim, Paco und Vicente Cambota.«
»Ja … ganz genau …«
»Was wohl aus denen geworden ist?«
»Keine Ahnung … Die meisten sind wohl immer noch hier … Du und Gilmar sind nach São Paulo … Paco ist, glaube ich, in Betim, bei Fiat … Ah, und Remildo ist im Stadtparlament!«
»Stadtparlament?«
»Ja, seit den letzten Wahlen …«
»Remildo im Stadtparlament? Kaum zu glauben!«
»Ja, und Teilhaber von einem Baustoffhandel …«
»Tatsächlich?«
»Hat natürlich mit Politik zu tun …«
Er nimmt noch einen Schluck.
»Ach, und Vicente Cambota ist gestorben …«
»Gestorben? An was denn?«
»Cachaça.«
»Cachaça?«
»Ja, er hat einfach zu viel getrunken. Sie haben ihn in einer Abwasserrinne gefunden, unten am Fluss, nach so einem Regen …«
»Sachen gibt’s!«
Gildo steht auf und ruft: »Auf Vicente Cambota!«
»Na gut, Gildo, schön, so mit dir zu plaudern, aber …«
»› … muss gehen, hab’ noch was zu erledigen … ‹, ach Luzimar, bleib doch noch. Lass uns noch einen trinken, einen noch. Mutter, bring noch ein Bier. Salami ist auch noch da, bring mal ein paar Scheiben.«
»Okay, eins noch! Und … Und São Paulo?«
»Was ist mit São Paulo?«
»Ist … ist es schön da?«
»Schön? Pass auf, ich hab keine Ahnung … Groß ist es … Und man verdient dort gut Geld. Jedenfalls kann ich nicht klagen … Ich bin da hingezogen, habe Arbeit gefunden, verdiene gut, sogar ein Auto habe ich, hast du gesehen?, der grüne VW da draußen, ich schicke Geld an die Mutter … Kann sogar Ana Elisa und Ana Lúcia noch unter die Arme greifen manchmal, erinnerst du dich noch an sie?«
»Natürlich. Wo sind sie?«
»Verheiratet natürlich. Ana Elisa wohnt in São Paulo, São Miguel Paulista … Ana Lúcia ist hier, in Muriaé … hat so eine Drecksau von Arschloch geheiratet …«
Dona Marta bringt noch ein Bier und auf einem Pappteller Zahnstocher mit Salamischeiben.
»Du hast es geschafft, was Gildo?«
»Ja. Aber leicht war das nicht, Mann … Ich hab mir den Arsch aufgerissen am Anfang …«
»Aber besser als hierbleiben, oder?«
»Na sicher! Die Stadt hier ist aber auch eine Scheiße, es gibt nichts …«
Er springt auf, stellt sich in der Tür auf und macht mit dem Arm eine Geste in Richtung der Straße, »Hier!«, lacht er, »Scheißkaff! Drecksvolk!«
Luzimar lacht gezwungen. Steht auf.
»Kann ich mal zur Toilette?«
»Na klar … Immer noch da, wo sie war …«
Luzimar geht durch den kurzen, dunklen Flur, die Zimmer rechts, nein, die würde er nie vergessen, dann durch die Küche, draußen das Häuschen. Als er zurückkommt, sieht er Dona Marta in einer Ecke, im Licht einer kleinen Lampe. Sie strickt. Sie hält inne, schaut über den Brillenrand auf. »Wie heißt noch mal deine Schwester, Junge?« »Hélia, Dona Marta, Hélia.« »Hélia! Ich dachte mir schon … ob sie wohl immer noch näht?« »Weiß nicht … glaub’ nicht …« »Trinkt ihr nicht ein bisschen viel, Junge?« »Wir hören schon auf …« »Es ist spät, schon … Gleich ist Mitternacht. Gildo hat gesagt, er macht einen Cidre auf für uns beide.« Sie senkt den Kopf, um dem Hin und Her der Nähnadel zu folgen. »Ich hätte zu gerne Gilmar hier bei mir … und die Mädchen … Marciano … wie früher … das Haus voller … Fröhlichkeit … so gerne … so sehr …«
Luzimar kommt ins Wohnzimmer zurück, wo nun Licht brennt.
»Setz dich.«
»Nein, nein, ich muss wirklich gehen.«
»Was juckt es dich denn, dauernd zu gehen, Mann?«
»Soninha wartet auf mich …«
»Wer?«
»Soninha … meine Frau …«
»Was? Du bist verheiratet?«
»Ja, und sie macht sich wahrscheinlich schon Sorgen …«
»Ach was, Mann! Die ist wahrscheinlich heilfroh, dass du nicht da bist und ihr auf die Nerven gehst.«
Er lacht auf. »War nur Spaß, Mann.«
Dona Marta kommt. »Gildo, ihr habt schon zu viel getrunken, der Junge will heimgehen.« »Hey, Mutter geh … Bring uns noch Bier, ist noch eins da? Ich hab den Kühlschrank vor dem Mittagessen erst aufgefüllt … Ich halte hier niemanden auf. Wenn Luzimar gehen will, geht er …«
»Stimmt doch, oder?«
»Na ja …«
»Ach was, Mann. So muss man mit Frauen umgehen. Wenn man nicht aufpasst, tanzen sie einem auf der Nase herum. Glaub mir. Nachher bringe ich dich nach Hause, lass mal. Stell dir mal vor, du kommst da im VW an! Stell dir mal vor! Das macht Eindruck, ist doch so!«
Unruhig sucht Luzimar Unterstützung in Dona Martas Augen, die allerdings sofort wieder geht, resigniert, nachdem sie eine neue Flasche gebracht hat.
»Es ist doch gleich Weihnachten … ich hab noch nichts für Soninha gekauft …«
»Wir fahren einfach in der Rua do Comércio vorbei …«
»Auf gar keinen Fall …«
»Was soll das, Mann! Wir fahren dahin, und du kaufst irgendein tolles Geschenk … Ein … eine … eine Halskette zum Beispiel … Was meinst du?«
»Als ob ich mir das leisten könnte!«
»He, dann bezahle ich eben! Abgemacht! So machen wir das! Schon erledigt! Nachher fahren wir in die Rua do Comércio und kaufen ihr eine Halskette, ja? Also lass uns noch ein Bier trinken …«
»Aber wir sind doch schon ziemlich …«
»Ziemlich was? Und wenn schon? Egal! Wir sind niemandem Rechenschaft schuldig … Du müsstest mal nach São Paulo kommen, Mann. Da hättest du schnell eine Stelle, würdest jede Menge Geld machen, es würde dir gut gehen!«
»Quatsch, Gildo … Für mich ist das nichts mehr … Jetzt, also, wo ich verheiratet bin …«
»Nicht einmal das Schwarze unter dem Nagel hast du hier. Entschuldige, dass ich das sage, aber es ist doch wahr! Du musst das hier loslassen, gehen … Auf dich wartet da draußen die Welt …«
Schwankend zieht er Luzimar zum Fenster.
»Was siehst du?«
»Von hier aus?«
»Ja. Was siehst du?«
»Das eingezäunte Gelände.«
»Und dahinter.«
»Den Bolzplatz.«
»Und dahinter?«
»Die Arbeiterhäuser.«
»Und dahinter?«
»Dahinter?«
»Ja, dahinter.«
»Weiter kann man nicht sehen …«
Gildo schiebt Luzimar zurück aufs Sofa und redet im Stehen auf ihn ein:
»Siehst du! Hinter den Arbeiterhäusern kannst du nichts mehr erkennen. Aber dahinter ist die Welt. Die Welt, Mann! Diese Stadt hier ist Scheiße. Gilmar hat es richtig gemacht. Als er gegangen ist, hat er geschworen, nie mehr zurückzukommen, nicht mal, um hier begraben zu werden!«
»He, Gildo, so schlimm ist es auch wieder nicht! Wir sind hier geboren … hier aufgewachsen … haben hier Freunde …«
Gildo setzt sich aufs Sofa, neben Luzimar.
»Freunde? Ich kenne hier niemanden mehr, Luzimar … Niemanden! Ich bin heute Morgen hier angekommen, todmüde, bin ein bisschen herumgelaufen, mal sehen, ob ich jemanden treffe, um ein bisschen zu quatschen, mich auszutauschen … Aber … nichts … Ich kenne die Häuser noch, die Straßen, die Bäume, alles ist irgendwie immer noch so … Aber es ist wie eine andere Welt … Die Leute sind anders, Luzimar, und die Stadt gehört ihnen, es ist nicht mehr meine, verstehst du?, ist nicht mehr meine …«
»Ja …«
»Ich will nichts mehr wissen von diesem Dreck hier, Mann, will nicht, verstehst du?«
Er füllt die Gläser nach. »Ich gehe aufs Klo. Warte.«
Luzimar setzt sich auf, fährt sich mit den Fingern durchs Haar, richtet den Hemdkragen und merkt mit dem Blick auf die Nacht, die sich hinter ihm ausbreitet, dass er betrunken ist, soninha wird sauer sein, und das zu recht
Gildo kommt wieder und sackt in die Polster.
»Du tust mir leid, Mann. Tust mir echt leid, ich schwör’s … Weil du am Arsch bist … Ich sehe schon: Bald kommen Kinder, ein ganzer Sack voll, und du reißt dir den Arsch auf in der Fabrik … Das Geld reicht nicht, sie gehen von der Schule, fangen an zu arbeiten, um mitzuverdienen … Und du wirst alt … Eines Tages, bevor du es merkst, ist es aus … Endstation … Und was für ein Scheißleben hast du dann gehabt, Mann!, was für ein Scheißleben!«
Luzimar steht auf.
»He, Gildo, wie kommst du dazu, so mit mir zu reden?«
»Ich? Gar nicht … Aber du wirst schon sehen … Ich hab’s geschafft, verstehst du? Alle, die gegangen sind, haben’s geschafft … Die geblieben sind … sind alle am Arsch … Alle! Wie du: am Arsch!«
Luzimar geht zur Tür.
»Wart mal, Mann, geh noch nicht!«
»Ich muss gehen.«
Gildo fasst Luzimar kräftig am linken Arm.
»Setz dich, Mann. Hör auf, den Deppen zu spielen. Hast du dich geärgert über mich? Schwamm drüber, in Ordnung!, alles klar?«
»Mutter, bring noch ein Bier!«
»Lass mich los, Gildo, ich muss gehen!«
»Wart mal, Luzimar. Erst fahren wir in die Rua do Comércio, das Geschenk für deine Frau kaufen, wie heißt sie noch mal? Danach bringe ich dich nach Hause.«
»Lass meinen Arm los, verdammt!«
»Mutter, bring schon das Bier, Scheiße!«
Dona Marta kommt mit dem Bier. »Was ist denn das für ein Geschrei, um Himmels Willen? Lass den Jungen in Ruhe, mein Sohn!« Luzimar nutzt die Gelegenheit, macht sich von Gildo los, schwingt sich auf sein Fahrrad, tritt fest in die Pedale.
Von der Mutter zurückgehalten stürzt Gildo auf die Straße, »Fahr doch, du Trottel, fahr doch zu deinem Frauchen! Fahr doch, du Arsch! Weichei! Trottel! Geh doch!«, brüllt er, und in den Nachbarhäusern gehen die Lichter an.
Luzimar fährt am Flussufer entlang, Lachen tanzt wie die Glühwürmchen durch die Nacht. Wo es nach Ibrahim reingeht, zieht ihn das Licht an, das sich auf den schwarzen Straßenköter ergießt, der vor einer Kneipentür ausgestreckt liegt. Er hält, lehnt das Fahrrad an, steigt über den Hund, grüßt die Säufer, die einen letzten Schnaps herunterspülen, den Ladenbesitzer, der im Unterhemd schwitzend den Kühlschrank mit Limonade auffüllt. Er fragt nach der Uhrzeit, halb zwölf, »Ein Bier für mich, bitte, schön kalt.« Der Mann wischt mit einem dreckigen Lappen über die Theke, öffnet die Flasche, stellt ihm ein Glas hin, nimmt seine Tätigkeit wieder auf, soninha macht sich bestimmt schon sorgen die arme
Aus der Ferne das Rauschen des Rio Pomba
Dona Marta hockt sich vor das Sofa und flüstert, »Gildo, es ist Mitternacht … Willst du den Cidre nicht aufmachen, den du mitgebracht hast?«
Er dreht sich zur Seite, grunzt etwas und schnarcht weiter.