Um jeden Preis
KRIMINALROMAN
Für Constanze, Henri und Hannes
© 2014 B3 Verlags und Vertriebs GmbH, Markgrafenstraße 12, 60487 Frankfurt Alle Rechte vorbehalten. Das Werk einschließlich seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Kopien, Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.
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Umschlag: Claudia Manns, KUNSTSTÜCK
Lektorat: Rainer Vollmar, SPRACHgewand(t)
Gesetzt aus den Schriften TASSE und BETON von Fagott, Ffm
Printed in Germany
ISBN 978-3-943758-46-7
Dieses Buch ist auch als E-Book unter der ISBN 978-3-943758-47-4 erhältlich.
Die volkswirtschaftliche Aufgabe
des Handels ist es, die Waren
örtlich und zeitlich zu verteilen
und auf diese Weise Überfluß
und Mangel zu begleichen.
Meyers Konversations-Lexikon,
6. Auflage, 1908
Prolog
1. Kapitel
2. Kapitel
3. Kapitel
4. Kapitel
5. Kapitel
6. Kapitel
7. Kapitel
8. Kapitel
9. Kapitel
10. Kapitel
11. Kapitel
12. Kapitel
13. Kapitel
14. Kapitel
15. Kapitel
16. Kapitel
17. Kapitel
18. Kapitel
19. Kapitel
20. Kapitel
21. Kapitel
22. Kapitel
23. Kapitel
24. Kapitel
25. Kapitel
26. Kapitel
27. Kapitel
28. Kapitel
ENDE
Das Licht fällt kühl von der Decke und verblasst in den strukturlosen und unbeschädigten Oberflächen der Fliesen. Die Wände, unbefleckt und kahl, und die Regale strahlen noch den unverbrauchten Glanz des Neuen aus. Die Waren stehen wie mit einem Lineal ausgerichtet in Reih und Glied. In makelloser Schrift auf orangefarbenem Grund sind die Produktinformationen und der Preis zu lesen. Die abgestandene Luft riecht nach einer Mischung aus Innenbinder und scharfen Putzmitteln.
Die Gänge laufen auf die Fensterfont zu, die sich fast über die gesamte Breite des Gebäudes erstreckt. Trotz der Fülle an Regalen, Schütten, Kühltheken, Eisschränken, Kassen und Einkaufswagen wirkt der Raum gespenstisch leer – bis auf eine Frau in einem weißblau gestreiften Kittel ist keine Menschenseele zu sehen. Sie trippelt mit einer Schreibunterlage in der Hand die Fronten entlang, bleibt hin und wieder stehen, schaut auf ihre Papiere, hakt etwas ab, geht einen Schritt weiter, hält wieder inne, rückt etwas gerade, zählt mit dem Stift dirigierend Flaschen nach, setzt wieder einen Haken, rückt wieder eine Fliese oder zwei nach vorne, einer Marionette gleich, so mechanisch und plötzlich sind ihre Bewegungen.
In der stockdunklen Nacht wirkt das gesamte Gebäude, mit seinem weithin strahlenden Eingang, dem bunten Firmenemblem und dem beleuchteten Parkplatz vor den schon fast im Schwarz versunkenen Feldern wie eine Fotografie aus dem Mittleren Westen der Vereinigten Staaten. Die im Wind flatternden rotweißen Absperrungsbänder – sie umrunden die bereits ausgehobenen Gruben für die noch nicht gelieferten Bäume, die der öden Parkfläche ein wenig Natur und etwas Schatten spenden sollen – betonen die Künstlichkeit des gesamten Areals zusätzlich. Ein einsames Fahrzeug steht in unmittelbarer Nähe einer halbrunden Kuppel aus Plexiglas, über die das Licht fließt wie ein aufgeschlagenes Ei. Ein alter Wagen, in einem ausgelaugten Grün, das kaum noch das Strahlen der Laterne über ihm reflektiert. Verloren steht er auf der weiten Fläche. Die Beulen links und rechts am Heck sind bei dieser direkten Beleuchtung aus der Ferne deutlich zu erkennen. Ein grellfarbener, klobiger Pickup, oder eine lange, unförmige Limousine, breit wie ein Fahrstreifen, mit geschwungenen Rückleuchten – ein Abbild einer Fotografie von William Eggleston –, und die Illusion, ein verlassenes Motel an einem vergessenen Highway in den USA zu betrachten, wäre nahezu perfekt. So ist es ein fantasieloser durchschnittlicher Kleinwagen, der die Tristesse des kleinen Vorortes der Mainmetropole zur Schau stellt.
Tagsüber, bis in den Abend hinein, hat es teilweise heftig geregnet. Wie Perlenschnüre haftet das Wasser an den milchig dumpfen Scheiben des Autos. Ab und an löst sich ein Tropfen, läuft, immer schneller werdend, dem grauen Verbundpflaster entgegen, reißt andere mit, wird dicker, springt über das schwarze Dichtungsgummi, kullert am Kotflügel entlang und zerplatzt auf den Steinen.
Unmittelbar vor der breiten Fensterfront hat sich eine große Wasserlache gebildet, die nun den Planungsfehler oder die mangelhafte Arbeit des beauftragten Bauunternehmens verrät. In dem schwarzen Spiegel steht die Welt kopf. Das Licht aus dem Inneren des Gebäudes fließt in breiten Bahnen darüber hin, das Leuchttransparent steckt wie ein Reißbrettstift daneben. Gelegentliche Windstöße raspeln über die Oberfläche, und das Bild zerspringt in tausend Teile, um danach von selbst wieder ineinanderzufließen, als wären es Puzzleteilchen, jedes mit seinem festen Platz, an den es eilends zurückkehren muss.
Der Wagen gehört Sara Davids, der Filialleiterin des neuen BILLI-Marktes in Nieder-Erlenbach, dem nördlichsten und mit etwas mehr als viereinhalbtausend Einwohnern auch einem der kleinsten Stadtteile Frankfurts. Nieder-Erlenbach bildet eine platte Nase im kartografischen Bild der Stadt und ragt weit in die Fluren, Felder und Obstwiesen der Wetterau hinein. Der Discountmarkt ist auf ehemaligen landwirtschaftlichen Nutzflächen errichtet und wirkt wie ausgestoßen aus der Gemeinde. Wem es das an der vorbeiführenden Landstraße stehende Schild nicht verrät, der käme nicht auf die Idee, dass dieser Ort ein Teil der etwa fünfzehn Kilometer weit entfernten City ist. Die ländliche Umgebung wird durch den dörflichen Charakter Erlenbachs noch verstärkt. Den Kern bilden Fachwerkhäuser aus dem achtzehnten Jahrhundert, kaum eines ist älter, da zwei große Brände das damals noch eigenständige Dorf fast vollständig zerstörten. Der namensgebende Erlenbach durchquert romantisch plätschernd, von Bäumen beschattet, am alten Ortskern vorbei diesen Wohnort der Besserverdienenden, die es aus dem hektischen Frankfurt in die Idylle gezogen hat. Seit der Eingemeindung Anfang der Siebziger hat sich die Zahl der Einwohner Nieder-Erlenbachs mehr als verdoppelt, die bebaute Ortsfläche allerdings vervielfacht, da keine Mehrfamilieneinheiten oder Wohnblocks entstanden sind, sondern in großzügige, allein stehende Häuser mit Garten investiert wurde.
Sara Davids kontrolliert ein letztes Mal die Auslagen, die Präsentation, die korrekte Auszeichnung und die Dekoration der Eröffnungsangebote. Es ist schon weit nach zehn am Abend, und morgen früh, am 17. September, um acht Uhr, soll es endlich losgehen. Sie hat alle Kolleginnen und Kollegen, die bis spätabends räumten, sortierten und reinigten, nach Hause geschickt. Nur Habibe Tosun, die Putzfrau, ist noch da und beseitigt die zahlreichen Schmutzspuren in den hinteren Räumen.
»Frau Tosun? Frau Tosun?« Sara Davids geht mit dem Klemmbrett unterm Arm nach hinten und sucht sie. Sara und Frau Tosun leben beide in Erlenbach, haben sich aber erst durch den Neubau des Discountmarktes kennen gelernt. Sara Davids ist gerade zur Filialleiterin aufgestiegen, sonst hätte sie Habibe längst das Du angeboten. So ist sie sich unsicher, ob ein zu enger Kontakt zu den Mitarbeitern nicht hinderlich wäre. Obendrein ist sie deutlich älter als die junge Türkin. Außerdem sieht es die Regionalleitung nicht gerne, wenn die Hierarchien übergangen werden. Dennoch zeigt sie, wo immer möglich, Habibe ihre Zuneigung. Selten ist sie einer solch sympathischen und engagierten Kollegin, jetzt ihre Mitarbeiterin, begegnet. Darüber hinaus hält Sara Frau Tosun für eine der schönsten Frauen überhaupt. Sie versteht es, obwohl sie immer ein Kopftuch und weit ausladende Kleider trägt, auf eine besondere Art weiblich zu wirken, die Sara mit neidloser Hochachtung beeindruckt. Sie treffen sich am Durchgang zu den Lagerräumen.
»Frau Tosun, da sind Sie ja. Schluss für heute. Sie haben genug gearbeitet. Sauberer wird’s nicht!«
»Da wäre noch Ihr Büro, dazu bin ich noch nicht gekommen«, antwortet Frau Tosun und will sich, mit Eimer und Wischmopp bewaffnet, an Sara vorbei auf den Weg machen.
»Nichts da, mein Büro kann bis morgen warten. Es ist schon fast elf. Schluss jetzt. Ich muss auch ein wenig schlafen. Zumindest muss ich es versuchen.« Mit jedem Tag, den die Eröffnung näher rückte, war Sara Davids unruhiger geworden. Die letzten Nächte hatte sie fast kein Auge mehr zubekommen.
»Aber, morgen …«
»Nichts aber, wenn ich sage Schluss jetzt, dann ist Schluss. Stellen Sie Ihre Sachen ab, ziehen Sie sich um, ich warte in meinem Büro auf Sie.« Sara versucht den Ton zu treffen, den sie in der Fortbildung zur Filialleiterin gelernt hat. ›Ein freundlicher, aber bestimmender Tonfall, der Ihren Mitarbeitern ganz klar die zu erledigenden Aufgaben definiert.‹, geht es ihr durch den Kopf – und es funktioniert. Frau Tosun stellt die Putzgeräte an die dafür vorgesehene Stelle und geht in Richtung Mitarbeiterraum.
Sara Davids sitzt am Schreibtisch in dem kleinen Büro, das neben ihrem eigentlichen Arbeitsplatz nur zwei dicht beieinander stehenden Stühlen, einem Regal im Rücken und zwei kleinen Stahlschränken Platz bietet.
Ein kleines, vergittertes und sichtgeschütztes Fenster ist die einzige Öffnung für Tageslicht. Ursprünglich sollte sie den größeren, aber abgeschlossenen Raum weiter hinten beziehen, doch die Regionalleitung war mit dem Tausch einverstanden, und sie bekam wenigstens etwas frische Luft. Unter dem Fenster, auf der äußersten Ecke des Tisches, in einem goldenen Übertopf, steht ein Pfennigbaum, ein Geschenk ihres Mannes zu ihrer neuen Stelle als Filialleiterin. An den Blumenkübel angelehnt eine Postkarte: ›99 Cent‹ – ein Foto von Andreas Gursky. Ein kleiner Seitenhieb von Gregor Davids, der die BILLI-Märkte verabscheut.
Sie kontrolliert nochmals die Arbeitspläne, Pausenzeiten, das Wechselgeld und die morgigen Termine. Der Regionalleiter möchte kommen, der Ortsvorsteher ebenfalls. Ansonsten ist sie sehr gespannt, wie viele Kunden kommen werden und welchen Umsatz die Filiale am Eröffnungstag erreichen wird. Die Beilage in der örtlichen Presse ist punktgenau erschienen, und es gibt einige tolle Angebote. Dies würde die Querelen der letzten Monate endgültig vergessen lassen.
Die Tour 9 der Firma ›Sec24 GmbH – Sicherheit rund um die Uhr‹ hatte sich erweitert. Ab dieser Nacht sollte auch der neue BILLI-Markt in Nieder-Erlenbach kontrolliert werden. Die entsprechenden Anlagen waren vor zwei Tagen eingebaut und getestet worden. Heute, einen Tag vor der Eröffnung, waren auch die Waren vollständig eingeräumt und Bargeld vorhanden. Damit stieg das Einbruchsrisiko, vor allem bei einem solch abgelegenen Standort.
Schon von weitem hatte der Fahrer den hell erleuchteten Parkplatz gesehen, auf den er kurze Zeit später fuhr. Aber auch das Licht im Inneren brannte, die Alarmanlage war nicht eingeschaltet, der Gebäudeschutz damit deaktiviert.
»Was ist denn hier los«, Sprach er zu sich selbst. »Arbeiten die immer noch?« Er konnte niemanden sehen, ein Wagen stand auf dem Parkplatz, daneben hielt er. Es war schon kurz nach zwei. Er stieg aus und klopfte mit der flachen Hand an die Scheibe der Eingangstür, mehrfach ein lautes »Hallo!« rufend. Nichts rührte sich.
»Das fängt ja gut an!«, fluchte er vor sich hin.
Er ging die Fensterfront entlang, in jede Regalflucht blickend, dann zu seinem Wagen zurück und gab über Funk der Zentrale den Stand durch.
»Ja, hier Wagen 9. Ich stehe vor dem neuen BILLI in Nieder-Erlenbach. Alles ist taghell erleuchtet, die Haussicherung nicht aktiv. Auf mein Klopfen und Rufen hat niemand reagiert. Könnt ihr bitte mal da anrufen, ich habe keine Nummer?«
Der Fahrer ging nach der Bestätigung durch die Zentrale wieder zum Eingang zurück. Auf seinem Rücken reflektierte die Aufschrift ›Sec 24‹ das Licht der Parkplatzbeleuchtung. Deutlich war das Klingeln des Telefons im Innern zu hören. Es läutete und läutete, niemand nahm ab. Eine kurze Unterbrechung, dann klingelte es von neuem, scheinbar endlos. Keine Reaktion.
Der Fahrer zog seine Taschenlampe aus dem Gürtel, ging nach rechts, um das Gebäude herum. ›Vielleicht stehen die irgendwo draußen und rauchen?‹, dachte er missmutig.
Bisher war es ihm nicht aufgefallen, und er wäre sicherlich auch jetzt daran vorbeigegangen, doch der intensive Geruch nach Lack ließ ihn den Strahl der Taschenlampe auf die Seitenfassade richten. Dort war etwas an die Wand gesprüht, in großen Lettern, die er aus der Nähe nicht entziffern konnte. Er übersprang den noch unbepflanzten Grünstreifen und stellte sich auf die Straße.
›ERLEBACH BRAUCHT KEINEN BILLI‹ stand dort, Tränen liefen von den Buchstaben herab. Er umkreiste den Markt über das angrenzende gemähte Feld. Auf der Rückseite eine weitere Parole:
›BeSSeR DIReKT ALS DISCOUNT!‹ Zwischen »DIReKT« und »ALS« leuchtete ein kleines Fenster in die Nacht hinaus. Auf das Tor an der Laderampe war ein schwarzes Kreuz gesprüht, ein Kreuz wie auf einem Grab. Der Mann in der dunkelblauen Kombination – eine Mischung aus Arbeitskleidung und Kampfanzug – ging weiter, auf der dritten Wand war nur ein ›B‹ zu sehen. Er rannte zu seinem Wagen.
»Hallo Zentrale, hier nochmals Wagen 9. Bitte verständigt die Polizei. Grobe Sachbeschädigung am neuen BILLI-Markt in Nieder-Erlenbach. Offenbar habe ich die Täter überrascht.«
»Wie? Nein, ich habe niemanden gesehen. Nein, auch niemand von den Mitarbeitern. Ja, ich warte hier, bis die Polizei eintrifft.«
Es war gegen vier Uhr in der Früh, als Martin Schwaners Handy klingelte. Benommen suchte er auf dem Boden nach seiner Hose, in der ein leuchtendes, vibrierendes Viereck den Lärm verursachte.
»Ja, hallo?«, kam es aus seinem trockenen Mund.
»Hauptkommissar Schwaner? Hier Tatortteam drei, Bender.«
»Was gibt’s?«
»Zwei Tote in einem Discountmarkt in Nieder-Erlenbach. Zwei Frauen. Der Wachmann hat uns alarmiert.«
»Einbruch?«
»Nein, definitiv ausgeschlossen. Der Markt war verschlossen von allen Seiten. Er sollte auch erst morgen eröffnet werden. Wir mussten uns gewaltsam Zutritt verschaffen.«
»Todesursache?«
»Ist nicht erkennbar. Die beiden liegen im Büro der Filialleitung.«
»Gut, ich komme. Informieren Sie sofort die KTU, und rühren Sie bitte …«
»Ja, ja. Schon klar. Die KTU ist schon unterwegs.«
Martin gab Sandra einen Kuss auf die Schulter und verabschiedete sich. Sie murmelte etwas Unverständliches in ihr Kissen. Mit dem Fahrrad fuhr er die wenigen Kilometer ins Polizeipräsidium und von dort mit einem Wagen zum Tatort.
Der Morgen meldete sich an, das Schwarz der Nacht schien aus dem Himmel zu laufen und auch die Sterne mit sich fortzuspülen. Schwaner nippte an einem Pappbecher mit starkem Kaffee, den er sich noch schnell in seiner Abteilung geholt hatte.
Auf dem Parkplatz des BILLI-Markts standen mehrere Streifenwagen und zivile Fahrzeuge der Polizei, ein Krankenwagen, ein Notarzt und der schwarze Kleinbus eines Bestattungsunternehmens. Von der Straße konnte der Leiter des K11 schon die erste Parole lesen. Ein weiteres Absperrband trennte den Eingang zum Gebäude ab, ein Beamter in Uniform stand an der offenen Glastür. Er nickte dem Hauptkommissar zu, der ihm im Gehen seinen Ausweis entgegenhielt, und trat zur Seite. Ohne weiter nach dem Weg zu fragen, ging Schwaner auf die doppelseitige Stahltür zu, öffnete sie und wurde augenblicklich von grellem Scheinwerferlicht geblendet. Reflexartig hob er die Hand, um die nur schattenhaft erkennbaren Personen identifizieren zu können.
»Messner? Messner? Bist du da?«
»Ja, hier. Voll im Dienst!«, kam es aus dem kleinen Raum schräg gegenüber. Schwaner trat aus dem Licht und schaute in das kleine Büro.
»Was machen all die Leute hier?«, grollte er missmutig vor sich hin, ohne jemanden direkt anzusehen. Zwei Beamte standen tatenlos hinter den beiden Bürostühlen, Günther Messner, im weißen Overall, kniete auf der anderen Seite des Schreibtisches auf dem Boden. Schwaner konnte nur die leuchtende Glatze und den grauen Haarkranz sehen. Ein weiterer Mitarbeiter der KTU, ebenfalls komplett in Schutzkleidung, setzte die Untersuchung der Stahltür fort. Schwaner hatte ihn dabei bei seinem Eintreten unterbrochen. Weiter hinten im Flur, am Eingang zum Lagerraum, konnte der Kommissar zwei Grüppchen erkennen, bestehend aus Sanitätern, Polizisten und Männern in Zivil. Etwas abseits stand ein Mann, der die tiefblaue Uniform eines Sicherheitsunternehmens trug. Ein leises Lachen war zu hören, Schwaner ging zu ihnen.
»Ich möchte vorschlagen, dass alle, die hier nichts zu tun haben, ihren Dienst fortsetzen oder bitte draußen vor der Tür warten.« Er wandte sich an den Herrn des Wachdienstes. »Sie bleiben bitte noch einen Moment.«
Wie ein Lehrer seine Schüler trieb Schwaner die Männer nach draußen. Verstärkt wurde dieser Eindruck dadurch, dass der Kommissar alle um mindestens eine Kopflänge überragte. Er winkte auch die beiden aus dem Büro heran und schickte sie hinaus.
»Günther, wie kannst du zulassen, dass die hier rumlaufen?«
»Guten Morgen erst mal, auch wenn du offenbar schlecht geschlafen hast. Bevor ich hier ankam, war der Fundort doch sowieso schon überrannt. Das Tatortteam, der Notarzt und die Sanitäter, neugierige Kollegen.«
»Was kannst du mir sagen?«, fragte Schwaner verkniffen.
Günther Messner stand auf, trat zur Seite und gab erstmals den Blick auf den Boden frei. Dort lag ausgestreckt ein weiblicher Körper auf dem Rücken, dessen Beine bis unter den Schreibtisch reichten. Der Bürostuhl war in die Ecke geschoben. Der Kopf der Frau war zum Eingang hin gedreht, das Gesicht kreidebleich, die Augen dunkel unterlaufen und ihr Mund leicht geöffnet. Quer über Bauch und Brustkorb der Toten lag ein weiterer Körper, in dunkle Kleider gehüllt, das Gesicht durch ein verrutschtes Kopftuch verdeckt. Ihre Beine waren angewinkelt, als habe sie auf dem Boden gekniet.
»Was ich dir sagen kann, ist, dass ich dir nicht viel sagen kann. Beide Opfer weisen, soweit ich das bisher feststellen konnte, keine Spuren von Gewalt auf. Nach dem Gesichtsausdruck der unteren zu urteilen, würde ich auf Herz-Kreislauf-Versagen tippen. Warum aber die obere auch tot ist, das …«, hier hob Günther Messner nur die Schultern.
»Wissen wir, wer sie sind?«
»Anhand der noch nicht ausgestempelten Zeiterfassungskarten, ja. Die untere ist die Filialleiterin Sara Davids, die obere die Hilfs- und Reinigungskraft Habibe Tosun.«
»Wurde etwas gestohlen, ist eingebrochen worden?«
»Nach ersten Erkenntnissen nicht. Der Markt war komplett abgeschlossen, als die erste Streife eintraf. Das war so gegen drei. Da niemand öffnete und niemand zu erreichen war, haben sie das Tatortteam verständigt. Gegen halb vier wurde die Eingangstür geöffnet, und wenig später wurden die Leichen gefunden. Die hintere Tür zum Lagerraum war, so die Kollegen, ebenfalls verschlossen. Weitere Türen oder Fenster, bis auf das kleine hier oben«, Messner deutete an die gegenüberliegende Wand, »gibt es nicht.«
»Also kein Einbruch?« Schwaner dachte laut vor sich hin und stellte sich neben den Kopf der unteren Leiche.
»Ist dir aufgefallen, wie sie hier liegen?«, wandte er sich an Messner. »Es scheint fast so, als hätte die obere der unteren helfen wollen und als sei sie dann ebenfalls zusammengebrochen.«
»Ja, das habe ich auch schon gesehen. Nur, woran ist dann die zweite Frau gestorben?«
»Ja, merkwürdig. Sehr merkwürdig.« Schwaner kniete sich nieder und hob mit den Fingerspitzen leicht das Kopftuch an. »Hübsche Frau«, sagte er und ließ den Stoff wieder fallen. Er drehte sich um, ging zur Tür. Es war eine Schiebetür, am Boden war ein zusammengefaltetes Blatt Papier eingesteckt, um sie offen zu halten.
»War die Tür so, als ihr kamt?«
»Nein, das Papier habe ich eingeklemmt, damit das verdammte Ding offen bleibt, sie geht nämlich immer automatisch zu. Ist wahrscheinlich absichtlich so, damit das Büro immer verschlossen ist. Aber in dem kleinen Raum hättest du ja nicht arbeiten können.«
Schwaner zog das Papier heraus und beobachtete, wie die Tür erst langsam, dann immer schneller ins Schloss lief und mit einem leichten Klicken einrastete. Er öffnete wieder und ging nach draußen. Wieder fiel die Tür ins Schloss. Er öffnete und kam herein.
»Ich bin die Putzfrau«, sagte er zu Messner. »Ich komme herein und sehe meine Chefin auf dem Schreibtisch liegen. Ich spreche sie an, sie reagiert nicht. Ich gehe zu ihr.« Der Hauptkommissar machte zwei Schritte nach vorne. »Ich spreche sie wieder an, sie reagiert immer noch nicht. Ich sehe, dass sie nicht bei Bewusstsein ist. Ich will ihr helfen. Ich ziehe sie auf den Boden und lege sie ausgestreckt hin. Ich horche an ihrem Mund, an ihrem Herzen, vielleicht versuche ich auch noch eine Beatmung, dann breche ich selbst zusammen.« Schwaner machte über den Leichen eine Kippbewegung mit seinem Oberkörper.
»So könnte es gewesen sein. Aber es wäre schon ein unglaublicher Zufall, wenn beide Frauen in mehr oder minder dem gleichen Augenblick an Herzversagen oder Ähnlichem gestorben wären.«
»Was könnte es sonst gewesen sein? Das Gebäude wurde doch gerade erst fertiggestellt, vielleicht irgendwelche giftigen Rückstände?«
»Das glaube ich nicht. Zum einen werden solche Stoffe gar nicht verwendet, zum anderen würden wir dann ebenso tot daliegen.«
»Na gut, warten wir auf die Untersuchung durch die Gerichtsmedizin. Du machst hier weiter, ich rede nochmals mit dem Wachmann.«
Gerade als sich der Hauptkommissar umdrehen wollte, klingelte ein Telefon. Das Geräusch kam aus einem der Metallschränke. Günther Messner kniete sich neben die beiden Frauen, öffnete, so weit es ging, die Tür, griff in eine dort abgestellte Handtasche und zog mit spitzen Fingern ein Handy heraus. Er schaute auf das Display – ›Daheim‹ stand dort zu lesen, er hielt es Schwaner hin, der las ebenfalls, schüttelte den Kopf, keiner der beiden Beamten wagte einen Ton zu sagen, solange das Telefon läutete, dann war es still.
»Wissen wir, wo die beiden wohnen?«
»Ja, beide hier im Ort.« Messner ließ das Handy in einen Plastikbeutel fallen.
»Verwandte?«
Messner hob die Schultern. »Zumindest wird sie wohl vermisst.« Er deutete auf Sara Davids.
»Ich rufe Beck an, er soll auch herkommen.« Der Hauptkommissar verließ das Büro und telefonierte mit seinem Assistenten Sven Beck, den er aus dem Schlaf riss. In knappen Worten schilderte er ihm die Situation und beorderte ihn zum BILLI-Markt.
Martin Schwaner ging mit dem Mitarbeiter der Sicherheitsfirma nochmals alle Einzelheiten durch, wie und wann er eingetroffen war, was er dann unternommen hatte, sie umkreisten das Gebäude und standen schließlich vor seinem Wagen.
»Ich habe die Polizei ja eigentlich nur wegen der Schmierereien gerufen. Mir war schon klar, dass ich den- oder diejenigen gestört haben muss, sonst stände auf der dritten Wand sicherlich mehr.«
»Aber gesehen haben Sie niemanden?«
»Nein, es war ja stockfinstere Nacht. Da sehen Sie keine zwanzig Meter weit.«
»Ihre Aussage haben wir, wenn noch etwas ist, melden wir uns. Sie können jetzt gehen.«
Der Hauptkommissar drehte nochmals eine Runde um das Gebäude. Auf dem gemähten Feld waren keine Spuren zu erkennen, dennoch würde er Messner mit einer genauen Suche beauftragen. Mittlerweile war das tiefe Schwarz am Himmel einem fleckigen Grau gewichen. Irgendwo in der Nähe krähte ein Hahn.
Kurz nach sechs, als der erste Spalt des Tages sich am Horizont zeigte, traf Sven Beck ein. Vom Himmel fiel ein mattes Licht, in dem alle Gegenstände, Pflanzen und Felder noch farblos erschienen. Kommissar Beck sah mehrere Beamte in Uniform, die den stoppeligen Boden im Umkreis des Gebäudes absuchten und dabei in kleinen Schritten vorrückten.
Im Innern traf er seinen Chef und den Leiter der KTU. Von beiden wurde er über den Sachstand informiert. Schwaner erteilte ihm den Auftrag, sich über den Wohnsitz und den Familienstand der beiden Frauen zu informieren. Gerade wollte er zu seinem Wagen zurück, als ein dunkler 3er BMW mit hohem Tempo auf den Parkplatz fuhr und mit quietschenden Reifen vor der Absperrung hielt. Die Tür wurde aufgestoßen, und ein bulliger Mann in schwarzer Jacke, Trainingshose und mit fast rasiertem Schädel sprang aus dem Wagen. Hinter der Tür stehend, rief er Beck zu:
»Was ist hier los, Mann?«
Der Kommissar blieb stehen und schaute ihn schweigend an.
»Hörst du nicht, was ist hier los?«
Beck ging auf den Wagen zu, blieb vor der Motorhaube stehen. »Wer sind Sie?«, fragte er kühl.
»Ich bin Achmed Tosun. Ich suche meine Frau. Sie arbeitet hier. Sie ist noch nicht zu Hause.«
»Könn’n Sie sich ausweisen, Herr Tosun?« Beck hob das Absperrband über seinen Kopf und ging zur Fahrertür.
»Bist du Bulle oder was?«
Der breitschultrige Typ verschwand einen kurzen Augenblick im Wagen, tauchte dann wieder auf und hielt Beck seinen Ausweis hin. Der Kommissar zögerte einen Moment, bevor er die Karte zurückreichte.
»Ein’n Moment bitte, Herr Tosun. Wart’n Sie hier. Ich bin gleich wieder da.« Beck ging zum Markt und rief nach Schwaner. Hinter der Glasscheibe steckten die beiden Polizisten kurz die Köpfe zusammen und kamen dann gemeinsam heraus.
»Herr Tosun, ich bin Hauptkommissar Schwaner.« Er streckte ihm die Hand entgegen, die der andere allerdings nicht ergriff.
»Was ist hier los? Wo ist meine Frau?« Tosuns Kopf wanderte nach rechts und nach links, suchend blickte er an den beiden Männern vorbei.
»Herr Tosun, wir haben eine traurige Nachricht für Sie.« Schwaner wartete einen Moment. »Ihre Frau ist tot.«
Augenblicklich stand der Kopf still, die Augen bohrten sich in Schwaners Gesicht. Dieser Bulle von Mensch schien von Sekunde zu Sekunde zu schrumpfen. Seine linke Hand klammerte sich am Türrahmen fest, die rechte suchte auf dem Autodach nach Halt, er sackte in die Knie. Schwaner und Beck sprangen um die Fahrertür herum, versuchten den mächtigen Körper aufzufangen, was ihnen nur mit Mühe gelang. Sie bugsierten Tosun auf den Sitz des Wagens. Kaum darauf angekommen, vergrub Achmed Tosun sein Gesicht in den Händen, stützte die Arme auf seine Oberschenkel und begann unter heftigen Zuckungen zu weinen. Die beiden Beamten standen hilflos daneben.
Nach einigen Minuten versuchten sie ihn anzusprechen.
»Herr Tosun? Herr Tosun?« Keine Reaktion. »Herr Tosun?« Das Schluchzen ließ nach, ein tiefer Atemzug, der Angesprochene richtete sich auf.
»Herr Tosun, wir müssen Ihnen einige Fragen stellen, verstehen Sie?«
Ein hilfloser Blick aus roten, feucht glänzenden Augen begegnete Schwaner, dann ein kurzes Nicken.
»Herr Tosun, seit wann haben Sie Ihre Frau vermisst?«
Wieder ein tiefer Atemzug, mit den Handballen wischte er sich die Tränen fort. Ein abermaliges Zittern der breiten Schultern.
»Sie ging heute früh weg. Sie hatte schon gesagt, wird spät, wegen der Eröffnung.«
»Wann genau ist sie weggegang’n?«
»So wie immer, gegen acht.«
»Sie waren da noch zu Hause?«
»Ja, ich war zu Hause.«
»Sie arbeit’n nicht?«
»Doch, ich arbeite. In einem Baumarkt. Habe aber Spätschicht diese Woche. Von zwölf bis zehn.«
»Also war’n Sie gestern bis zehn auf der Arbeit?«
»Ja.«
»Und dann sind Sie nach Hause gefahren?« Schwaner blickte kurz zu Beck hinüber.
»Ja, nein. Ich war noch mit einem Freund etwas essen.«
»Und dann sind Sie nach Hause gefahr’n?«
»Ja«
»Wie spät war es da?«
»Etwa halb zwölf war ich zu Hause.«
»Und da ham Sie Ihre Frau noch nicht vermisst?«
Achmed Tosun blickte finster in Becks Gesicht. Ein Ruck ging durch seinen Körper, und er stand auf, rollte die Schultern und drehte sich zu dem Kommissar hin, der hinter dieser Muskelmasse verschwand.
»Was sollen diese Fragen? Ich will meine Frau sehen, verstehst du.«
»Herr Tosun, bitte verstehen …« Schwaner versuchte, ihm seine Hand auf die fleischige Schulter zu legen. Bei der ersten Berührung wirbelte Achmed Tosun herum, schlug Schwaners Armzur Seite und wollte den Hauptkommissar an der Kehle packen. Schwaner hatte zwar nicht die massigen Muskeln wie Tosun, seine waren schlank, dafür aber stahlhart und durch das Rudern trainiert. Er überragte Tosun deutlich und war auf solche Situationen vorbereitet. Noch in der Luft packte er die heranfliegende Hand, zog sie an sich vorbei, dann ruckartig nach unten und stand hinter dem eben noch trauernden Ehemann. Im Winkel bog er dessen Arm auf dem Rücken nach oben, fasste ihn am Hals und richtete den Körper wieder auf.
»Herr Tosun, es gibt keinen Anlass, aggressiv zu werden. Lassen Sie uns alle ruhig bleiben. Wir möchten Ihnen nur einige Fragen stellen. Entschuldigen Sie bitte, wenn wir Sie damit jetzt behelligen müssen, aber wir tun auch nur unsere Arbeit. Verstehen Sie?«
Achmed Tosun hatte ein-, zweimal vergeblich versucht sich aus der Umklammerung zu befreien, dann gab er auf.
»Kann ich Sie wieder loslassen, Herr Tosun?« Dieser nickte. Langsam löste Schwaner seinen Griff und trat einen Schritt zurück. Tosun rieb sich den Hals und die rechte Schulter. Lehnte sich an seinen Wagen, ging in die Knie.
»Ich kann immer noch nicht glauben, dass …«, aus den Augen traten erneut Tränen, blieben einen Moment am unteren Lid hängen, kullerten die Wangen hinab. Tosun verbarg sein Gesicht mit den Händen.
»Später unterhalten wir uns weiter. Wir können Sie im Moment noch nicht hineinlassen. Bleiben Sie hier in Ihrem Wagen, wir holen Sie dann.« Tosun nickte, vergrub den Kopf zwischen seinen Knien. Die beiden Kommissare gingen in das Gebäude zurück.
»Danke für deine Hilfe, Sven!«, sagte Schwaner, als Tosun sie nicht mehr hören konnte.
»Och, du bist doch wunderbar ohne mich zurechtgekomm’n. Aber keine Angst, ich wär schon zur Stelle gewes’n, wenn du mich gebraucht hättest.«
»Das beruhigt mich jetzt aber ungemein.«
»Ja, ein ganz schöner Brocken, der Tosun.«
»Ja, und dazu ganz schön blau.«
»Wie meinst du das?« Beck war stehen geblieben.
»Der ist total besoffen, hast du das nicht bemerkt?«
»Nee, hab ich nicht bemerkt. Ich war ihm ja nicht so nah wie du.«
»Würdest du dich besaufen, wenn du deine Frau vermisst und zu Hause auf sie wartest?«
Beck überlegte, dann schüttelte er den Kopf.
»Ich auch nicht. Entweder lügt er, wo er war, oder etwas anderes stimmt nicht. Auch diese schnellen Stimmungsschwankungen. Im ersten Moment heult er Rotz und Wasser, im nächsten geht er einem an die Kehle. Wir werden ihm nachher etwas auf den Zahn fühlen müssen.«
Etwa eine halbe Stunde später waren die beiden Frauen in Wannen gelegt und auf dem Flur vorm Büro aufgebahrt worden. Kurz vor dem Transport der Leichen in die Gerichtsmedizin durfte Tosun seine Frau nochmals sehen. Wieder brach er fast zusammen und wurde von heftigen Weinkrämpfen geschüttelt. Der anwesende Arzt verabreichte ihm ein Beruhigungsmittel, wodurch eine weitere Befragung unmöglich wurde. Der Krankenwagen fuhr Habibes Ehemann nach Hause.
Als der rotweiße Rettungswagen das Absperrband passierte, schlüpfte ein weiteres Fahrzeug mit zwei Frauen durch. Sie drehten hektisch die Köpfe hin und her, einmal zu den Beamten, dann zum davonfahrenden Sanitätswagen, dann zum Eingang. Ihre Aufregung war von weitem zu erkennen, schließlich sprach sie ein Beamter an, bei dem sie sich als Mitarbeiterinnen des BILLI-Marktes ausgaben. Einer der Polizisten verständigte Schwaner, der Sven Beck bat, sich darum zu kümmern. Er selbst wollte unbedingt wissen, ob sie überhaupt Ermittlungen einleiten sollten oder nicht. Schwaner ging zurück zum Büro.
»Günther, hast du was für mich? Hier geht es zu wie im Taubenschlag, und wir wissen noch nicht einmal, ob wir hier überhaupt etwas zu tun haben.«
»Und ob, hier schau her.« Der Leiter der KTU hielt Martin Schwaner eine mit Leukoplast verschlossene Flasche entgegen, darin war nichts, aber auch gar nichts zu sehen.
»Was soll das sein?«, fragte der Hauptkommissar etwas ärgerlich.
»Das ist der Beleg dafür, dass die beiden Frauen nicht zufällig gestorben sind.«
»Hat man sie mit der Flasche niedergeschlagen, oder was?« Schwaner drehte das angebliche Beweisstück in seinen Händen.
»Ach was!« Messner riss die Flasche wieder an sich und hielt sie mit einer gewissen Ehrfurcht in seiner Linken. »Diese Flasche stand unverschlossen hier auf dem Boden, neben diesen anderen hier.« Er deutete auf eine Ansammlung in der Ecke zwischen Regal und Wand. »Ich hatte dir ja gesagt, dass ich nicht an den Zufall des zeitgleichen Todes oder so was glaube. Da fiel mir ›Gas‹ ein. Früher, in alten Kellern oder in Höhlen sind die Menschen auch, wie von unsichtbarer Hand getroffen, umgefallen.«
»Aber wir haben hier weder eine Höhle noch einen Keller!«
»Das ist richtig, aber wir haben diese Flasche.« Günther Messner deutete stolz mit dem Zeigefinger darauf. »Diese Flasche ist randvoll mit Kohlenstoffdioxid.«
»Könntest du dich bitte etwas klarer ausdrücken, ich verstehe immer noch nicht?«
Messner stellte die Flasche auf dem Schreibtisch ab, um gleich darauf mit beiden Armen durch die Luft zu fahren.
»Ich gehe davon aus, dass die beiden Frauen erstickt sind, und zwar an Kohlendioxid, das sich hier im Raum befand.«
»An Kohlendioxid? Hier? Aber wie soll das hier hereingekommen sein?«
»Wahrscheinlich durch das Fenster – kommen wir gleich dazu, unterbrich mich mal nicht.« Messner stellte sich wieder vor dem Schreibtisch in Position. »Also, Kohlendioxid ist ja bekanntlich schwerer als Luft und setzt sich unten am Boden ab. Du kannst dir das so vorstellen, als würdest du Wasser in einen Behälter gießen, hier ist es eben Gas, das…«
»Aber ein Gas würde sich doch verflüchtigen, oder nicht? Es ist doch auch gar keins mehr da! Und dieser ›Behälter‹ ist ein Raum mit einer Tür …«, so Schwaner ungläubig.
»… die von alleine ins Schloss fällt, schon klar. Aber selbst wenn die Tür geöffnet wird, fließt nur ein kleiner Teil des Gases heraus, wie wenn du etwas abgießen würdest. Und da die Tür eine Schiebetür ist, und dazu auch noch ziemlich neu, geht nur wenig durch den Türspalt unter ihr verloren. Oder anders gesagt, wenn der Raum einmal mit dem Gas gefüllt ist, dauert es sehr lange, bis er wieder voller Luft – genauer gesagt Atemluft – ist.«
Schwaner schaute ihn noch immer ungläubig an. »Und was hat das mit der Flasche zu tun?«
»Nun, das ist der Beweis für meine Theorie. Die Flasche stand am Boden, unverschlossen. Auch in sie ist das Gas hineingeströmt, hat die Luft verdrängt und sich darin abgesetzt. Nur – hier kam das Gas nicht mehr heraus. Ich habe mit unserem Gasdetektor darin gemessen und eine mehr als zehnprozentige Konzentration Kohlendioxid festgestellt, und das ist schon eine ganze Menge.«
»Aber merkt man das nicht, wenn man hereinkommt?«
»Nein, überhaupt nicht. Es war sicherlich reines Kohlendioxid, keine Abgase oder dergleichen, dann ist es farb- und geruchlos.«
Der Hauptkommissar war immer noch skeptisch. »Du meinst also, Frau Davids kommt herein, die Tür geht hinter ihr zu. Sie setzt sich an den Schreibtisch und …?«, hier schaute Schwaner den Mann von der KTU fragend an.
»… und sitzt sozusagen schon unter der Wasseroberfläche. Allerdings ist es bei Gas so, dass die Konzentration oben nachlässt, es verwirbelt auch mit der Luft und vermischt sich darin. Daher tritt keine sofortige Wirkung ein. Sie sitzt am Schreibtisch, spürt zunächst nichts, wird dann müde, bei höherer Konzentration fangen die Muskeln an zu zittern, sie schwitzt, dann verliert sie das Bewusstsein. Sie befindet sich immer noch in der Gaswolke …«
»Die Putzfrau kommt herein«, nahm Schwaner das Wort auf, »sieht sie auf dem Tisch liegen, möchte helfen …«
»… und begeht den größten Fehler überhaupt, indem sie den Körper ihrer Kollegin auf den Boden legt, wo die Konzentration des Gases am höchsten und praktisch keine Atemluft mehr vorhanden ist …«
»… kniet sich selbst daneben …«
»… und erstickt ebenfalls.« Die Polizisten schauten auf den Fundort der beiden Frauen hinab.
»Aber wie hätte sie das wissen können?«, wollte der Hauptkommissar die hilfsbereite Habibe entschuldigen.
»Gar nicht. Selbst für geschulte Feuerwehrleute sind Rettungen in gasgefluteten Räumen hoch gefährlich, da du die Gefahr nicht siehst.«
»Aber nochmal, wie kam das Gas hier herein?«
»Schau mal hier!« Messner hatte sich an den Stühlen vorbei zur Wand gezwängt und schob die Blätter des Pfennigbaumes etwas zur Seite. »Siehst du diese kleinen Kratzer auf der neuen Farbe. Das könnten Spuren eines Schlauches sein, der über das Fenster eingeschoben wurde.«
»Du meinst also, das war ein gezielter Anschlag?«
»Ich bin fest davon überzeugt! Nach der Konzentration des Gases in der Flasche zu urteilen, war es alles andere als ein Scherz.«
»Aber wie kann der oder die Täter das Gas zum Fenster bringen?«
»Bei der Größe dieses Büros – ich muss nochmals nachrechnen, Raumvolumen, Konzentrationen, Fülldruck und so weiter – genügte wahrscheinlich eine kleine Kohlendioxidflasche, wie du sie überall im Handel erwerben kannst.«
»Was heißt überall im Handel?«
»Na, dass du überall Kohlendioxid kaufen kannst. Es wird bei jeder Zapfanlage verwendet, um Druck und Kohlensäure zu erzeugen.«
»Das heißt, dass wir nicht einmal eine Spur aufnehmen können?«
»Ja, leider. Und leider hat sich unsere Tatwaffe auch buchstäblich in Luft aufgelöst, bis auf diesen kleinen Rest hier.« Stolz nahm Messner wieder die Flasche in die Hand. »Hätten wir dieses bisschen Gas nicht, würde es uns schwerfallen, überhaupt einen Anschlag zu beweisen.«
»Es besteht also ein direkter Zusammenhang zwischen den Parolen draußen und den Toten hier drinnen?«
»Vermutlich ja.«
»Dann hoffe ich, dass die anderen auf den Feldern etwas finden werden. Weißt du schon mehr zu den Graffiti?«
»Nein, das macht der Kollege, ich sag dir Bescheid.«
»Also suchen wir eine Gasflasche und ein oder zwei Sprühdosen, richtig?«
Messner nickte.
»Das gebe ich schon mal an die Kollegen weiter, bis später.« Schwaner ging hinaus in den hell erleuchteten Verkaufsraum. Durch das Fenster starrten ihn die beiden Frauen an, mit denen sich Sven Beck unterhielt. Schwaner informierte einen Kollegen über die ersten Ergebnisse, dieser sollte über Funk die Suche auf den Feldern und in der Umgebung präzisieren.
Er winkte Sven Beck zu sich, informierte ihn, dass sie von einem gezielten Anschlag mit Kohlendioxid ausgehen müssten, und fragte nach dessen Ergebnissen.
»Ich hab nicht viel. Die beid’n sind hier angestellt und ham gestern bis gegen acht Uhr gearbeitet, eingeräumt und so weiter. Dann hat Frau Davids sie nach Haus geschickt, damit sie für die Eröffnung heut fit sind.«
»Was sagen sie zu den Schmierereien auf den Wänden?«
»Sie sagt’n, gestern Abend war’n die noch nich’ da, aber dass es sie nicht unbedingt wundert. Es hatt’ wohl ziemlich Ärger gegeben hier im Ort, als bekannt wurde, dass ein BILLI herkomm’n soll.«
»Mehr nicht? Frag sie doch bitte nochmal. Vielleicht kennen sie Namen von Personen, die aktiv waren. Wir müssen davon ausgehen, dass diejenigen, die die Wände besprüht haben, auch das Gas eingeleitet haben.«
»Alles klar, Chef, ich bohr nach.«
BILLI