Der ewigen Frage, wann ein Interview gelungen ist, kann man mit langen Abhandlungen begegnen, vielleicht aber auch mit einer wahren Geschichte: Es ist für einen der beiden Protagonisten eine besonders peinliche. Dieser eine bin ich. Als ich Mitte 20 war, moderierte ich eine Jugendsendung des Bayerischen Fernsehens. Sie hieß »Live aus dem Alabama«, war als kritisch bekannt geworden, und wir Moderatoren fühlten uns diesem Ruf verpflichtet. Eines Montags also war eine Popsängerin namens Sandra mein Gast. Sie hatte damals einen Titel in den europäischen Charts, »Maria Magdalena«. Ich hatte mich, soweit das Material etwas hergab, auf sie vorbereitet und dabei wohl den Eindruck gewonnen, dass sie aufreizende Outfits trug. Daraufhin war eine meiner ersten Fragen an Sandra, sinngemäß: Wie fühlt man sich als singende Onanievorlage?
Ich sah, wie Sandra mit den Tränen kämpfte, und in dem darauf folgenden Wortwechsel gab sie so gut wie nichts mehr von sich preis. Sie versuchte nur noch, das rettende Ende zu erreichen. Was ich noch erinnere: Für einige Kollegen war ich – ob der ungemein kritischen Frage – ein paar Tage lang ein Held. Die überwiegende Reaktion aber entsprach dem, was da stattgefunden hatte: ein für den Moderator beschämender Auftritt.
Er hat wenigstens im Nachhinein einen Lerneffekt ausgelöst. In meinen ersten Berufsjahren bewegte mich vor allem eine Sorge: Wie kommen meine Fragen rüber, sind sie scharf genug? Und viele Jahre habe ich mich bei der Vorbereitung auf Interviews besonders darauf konzentriert, welche Achillesferse, welche Schwachstelle mein Gesprächspartner bis dahin offenbart hatte – um ihn genau an dieser Stelle zu treffen. Als ob es irgendeinen Menschen gäbe, der ohne Bruch, ohne Niederlage, ohne Fehler durchs Leben kommen würde.
Einmal traktierte ich den wunderbaren Sänger Lucio Dalla mit Fragen über Fragen nach den Gründen, aus denen er sich als bekennender Linker nicht stärker politisch engagierte, bis er völlig entnervt den Tisch verließ, an dem wir Platz genommen hatten. Durch solche Erlebnisse erst merkte ich, dass das, was in einem Interview wirklich zählt, etwas völlig anderes ist: einen Gesprächsfaden zu finden, eine Stimmung, von mir aus auch eine Strategie, die dazu führt, dass sich das Gegenüber in die Karten schauen lässt, am Ende vielleicht sogar eine Art Porträt in eigenen Worten ermöglicht.
Natürlich, es gibt unzählige Interviews, die diese Funktion überhaupt nicht haben oder haben dürfen: Fachgespräche, schnelle aktuelle Befragungen, eine Konfrontation in der Sache. Auch in meiner journalistischen Laufbahn waren solche Formen eher die Regel als die Ausnahme, und das ist auch völlig in Ordnung. Aber das, was mir immer besondere Freude gemacht hat, war eben etwas anderes: in einem Gespräch eine Spannung aufzubauen, einen Moment der Authentizität einzufangen, im besten Falle auch eine Überraschung, im Guten wie im Schlechten.
Dies zu schaffen ist für Printjournalisten leichter als für die meisten Fernsehjournalisten und Talkmaster: Sie haben nur wenige Minuten, um eine Person zu öffnen, deren Professionalität meist darin besteht, nicht aus der Rolle zu fallen. Aus diesem Grund wird die Arbeit von TV-Journalisten von uns Printkollegen gelegentlich unterschätzt. Fernsehleute haben auch nicht die Möglichkeit, eine gelegentlich gestammelte oder sich endlos hinziehende Frage noch einigermaßen ehrenhaft umzuformulieren, ohne dass es an Fälschung grenzt. In gedruckten Medien geht das.
Das Fernsehinterview hat dafür einen anderen Vorteil. Es kann dem Zuschauer eine bessere Antwort auf die Frage geben: Wie ist der? Der persönliche Eindruck von der Person auf dem Bildschirm ist so meistens wichtiger als die Aussagen selbst. Und das Gesagte kann vom Interviewten auch nicht im Nachhinein, bei der Autorisierung, bis zur Unkenntlichkeit entstellt werden; bei gedruckten Gesprächen passiert das häufig.
Aber wir von den Printmedien können in einem Gespräch oft stundenlang lauern. Wir können (und müssen) durch Kürzungen eine dramaturgische Stringenz schaffen, die ansonsten oft nicht da gewesen wäre. Und der Interviewte ist schon alleine deswegen meistens entspannter, weil er weiß, dass er den einen oder anderen Satz im Nachhinein auch noch verändern kann.
Ich muss gestehen, dass ich Interviews, die mir besonders am Herzen liegen, meistens lieber alleine führe (von dieser Regel gibt es in diesem Buch vier Ausnahmen): weil ich eine Grundstimmung brauche, die alleine meistens besser herzustellen ist als mit einer noch so geschätzten Kollegin oder einem Kollegen. Oft reicht ein falscher Satz oder das Überhören einer wichtigen Aussage, und das ganze Gespräch kippt. Was mir immer hilft, ist eine möglichst umfassende Vorbereitung. Manchmal beschäftige ich mich Monate vor der Verabredung schon mit dem Gesprächspartner. Das macht mich sicher, vor allem aber vermittelt es gerade den Persönlichkeiten, die als schwierig gelten, ein Gefühl von Respekt. Wenn es dann richtig losgeht, habe ich allerdings kaum mehr als eine beschriebene Karteikarte dabei. Nie formuliere ich vorher schon Fragen aus.
Ich danke meinem Verleger Helge Malchow, dass er mir dieses mich sehr bewegende Angebot gemacht hat, auf 33 Jahre Interviews zurückschauen zu dürfen. Die 20 Gespräche, die wir ausgesucht haben, sind hier in umgekehrt chronologischer Reihenfolge abgedruckt: angefangen mit jenen Gesprächen, die ich in den vergangenen Jahren für die ZEIT geführt habe, bis hin zu zwei ganz frühen Interviews aus den Achtzigerjahren, inklusive einer Jugendsünde. Bei dem einen oder anderen Gespräch haben wir Kürzungen vorgenommen, vor allem an jenen Stellen, die sich aus der damaligen Aktualität speisten und im Nachhinein zu vieler Erklärungen bedürften.
Es hat sich erst beim Sammeln und Nachlesen herausgestellt, dass die meisten meiner Gesprächspartner – vom Fußballtrainer über den Politiker bis zur Bischöfin und zum Filmregisseur – etwas verbunden hat, und sind sie noch so unterschiedlich: eine empfindliche Niederlage, ein Schicksalsschlag, eine Entscheidung, die ihr Leben veränderte, zumindest aber die Angst vor dem Absturz. Manchmal haben sich Erfolg und Krise auf groteske Weise verschränkt. Daher auch der Titel des Buches: »Vom Aufstieg und anderen Niederlagen«.
Was in den neueren Interviews ebenfalls auffallend oft zur Sprache kommt: das Wissen um oder die Erfahrung von großer Gnadenlosigkeit der Öffentlichkeit im Umgang mit Gestrauchelten oder Gefallenen. Ein falscher Auftritt, ein falscher Satz, und es kann das Ende einer Karriere bedeuten. In einer der freiesten Gesellschaften, die es je gegeben hat, macht das Menschen immer vorsichtiger. Das ist schade, nicht nur für uns Journalisten.
Es gibt ein Gespräch, von dem ich viele Jahre geträumt habe und das auch heute noch zum Spannendsten zählt, was ich mir vorstellen kann: ein Interview mit Fidel Castro. Nach vielfältigen und sehr aufwendigen Bemühungen gab es plötzlich auch einen Termin. Und ausgerechnet in dieser Zeit hatte ich eine so schwere Grippe, dass ich buchstäblich nicht transportfähig war. Nie zuvor war mir so etwas passiert. Mit Sicherheit hätte Fidel Castro im Gespräch sein Programm über den siegreichen Kommunismus auf Kuba abgespult. Aber ich hätte so gerne versucht, aus diesem widersprüchlichen, sündenbeladenen und charismatischen alten Haudegen herauszubekommen, was in seinem Leben Aufstieg und Niederlage war und was davon bleiben wird.
Den Plan, Fidel Castro zu interviewen, habe ich aufgegeben. Aber ein paar Anfragen in dieser Liga sind noch nicht endgültig abgeschmettert worden. Ich halte Sie auf dem Laufenden.
Giovanni di Lorenzo, im Juni 2014
Ich danke meinen früheren und heutigen Mitarbeitern Sabine Gülerman, Marcus Krämer, Jan Patjens und Caroline von Bar für die engagierte Hilfe bei den Interviews – aber wirklich nicht nur dafür. Und für seine große Geduld und Umsicht dem Cheflektor von Kiepenheuer&Witsch, Lutz Dursthoff.
Für Elea
© Stephanie Füssenich
Renate Lasker-Harpprecht, 1924 in Breslau geboren, lebt heute mit ihrem Mann, dem Publizisten Klaus Harpprecht, in Südfrankreich.
Renate Lasker-Harpprecht
Dieses Gespräch liegt mir besonders am Herzen, auch wenn es sich von den anderen Interviews in diesem Buch deutlich abhebt. Es geht hier nicht um Aufstieg oder Niederlage eines Menschen. Diese Kategorien verbieten sich in diesem Fall sogar. Es ist ein Blick in die schlimmsten Abgründe der Menschheit. Und ich muss gestehen: In der Zeit der Vorbereitung auf die Begegnung mit Renate Lasker-Harpprecht, die Auschwitz und Bergen-Belsen überlebt hat, kam mir nicht nur einmal der Gedanke, dass ich über den Holocaust doch schon so viel weiß. Da ging es mir nicht anders als vermutlich vielen zweifelnden Lesern vor der Lektüre des Interviews: Will ich das alles wirklich noch mal hören?
Ich musste also einen beträchtlichen inneren Widerstand überwinden, um dann umso verstörter und auch beschämter von der Begegnung zurückzukommen. Gar nichts hatte ich mir vorher richtig vorstellen können! Wie nah das alles plötzlich war – und wie unfassbar es bleibt, was den Juden von den Deutschen angetan worden ist.
Auf das Gespräch brachte mich Klaus Harpprecht, der große Publizist, der bis heute auch immer wieder für die ZEIT schreibt. Er hatte mir öfter von seiner Frau erzählt und davon, wie schwer es ihr falle, das Erlebte mit anderen zu teilen, sogar mit ihm. Bei einem seiner Besuche in Hamburg erwähnte er eines Tages einen Satz seiner Frau, der für sie offenbar die größte Form der Liebesbezeugung war und mir dennoch einen kalten Schauer über den Rücken jagte. Renate Lasker-Harpprecht hatte zu ihrem Mann gesagt: »Ich weiß, dass du mitgegangen wärst.« Gemeint war: ins Lager, vielleicht auch in den Tod. Man merkte Klaus Harpprecht seine Verlegenheit an. Ich fragte, ob es vielleicht denkbar wäre, dass sie mit der ZEIT sprechen würde.
Wir trafen uns in einem Dorf in Südfrankreich, wo die beiden seit den Achtzigerjahren leben. Zwei Dinge fielen mir an Renate Lasker-Harpprecht besonders auf: Sie konnte ihre Erinnerungen viel nüchterner und linearer ordnen als viele andere Opfer, deren Aussagen ich bis dahin kannte. Zum anderen war sie in der Lage, ihre Erlebnisse auch mit 70 Jahren Abstand noch aus der Perspektive einer Heranwachsenden zu schildern, was sie zu einer außergewöhnlichen Zeugin macht.
Das lange Gespräch in der ZEIT hat zu vielen spontanen und sehr mitfühlenden Reaktionen geführt, von Leserinnen und Lesern, aber auch von Weggenossen, deren Spuren sie schon lange verloren hatte. Die Zeitung La Repubblica hat es in großen Teilen und auf vier Seiten nachgedruckt, verbunden mit einem Aufruf, den ich mir nach dem Gespräch so sehr gewünscht hatte: ein Versuch, die Identität jenes kleinen, blonden Mädchens aus Italien herauszufinden, dessen Schicksal Renate Lasker-Harpprecht bis heute mehr als vieles andere bewegt.
Ihr Mann hat mir gesagt, dass Sie so gut wie nie über Ihre Zeit im Konzentrationslager reden, auch mit ihm nicht.
Wir reden nicht so schrecklich viel darüber.
Fällt es Ihnen mit 90 Jahren denn etwas leichter als früher, davon zu erzählen, was Ihnen in Auschwitz und in Bergen-Belsen widerfahren ist?
Ja, aber nur mit bestimmten Personen. Und nicht unbedingt mit Klaus: Bei dem habe ich das Gefühl, dass er sowieso alles weiß. Ich habe auch Angst, die Leute zu langweilen.
Müssten Sie nicht eher Angst haben, dass Ihnen das Erzählen zu sehr wehtut? Dass die Menschen unsensibel oder grob reagieren?
Ich würde niemals mit Menschen reden, die grob reagieren könnten. Aber ich werde oft gefragt, warum ich nicht mit Bekannten oder Freunden gesprochen habe. Und sehr viele Menschen wundern sich über meine Antwort: Man hat uns nicht gefragt.
Die Leute wollten gar nicht so viel wissen?
Die Deutschen wollten es nicht wissen.
Wie erklären Sie sich das?
Einerseits schämen sie sich alle irgendwie, weil es ja um Deutschland geht. Aber sie tun auch etwas, das mir sehr auf die Nerven geht: Sie fangen sofort an, von ihrem eigenen schrecklichen Schicksal im Krieg zu erzählen. Wie sie ausgebombt wurden. Dann breche ich das Gespräch ab. Der verstorbene Schriftsteller Hans Sahl hat einen Satz geprägt, den ich immer benutze, wenn es nützlich ist: »Wir sind die Letzten. Fragt uns aus!«
Sie sind in Breslau aufgewachsen. Wann haben Sie die Feindseligkeit gegenüber den Juden zum ersten Mal bemerkt?
Im Gegensatz zu meiner Schwester Anita habe ich keine persönliche Anfeindung erlebt. Was in dieser Zeit sehr wichtig war: Ich sehe nicht, wie man so schön sagt, besonders jüdisch aus. Ich habe keine krumme Nase, ich habe keine kohlschwarzen Haare. (lacht) Meine Schwester dagegen ist im Grunde genommen ein sephardischer Typ, sie hatte blauschwarze Haare und einen Zinken. Das war ganz schlecht.
Und Ihre Mitschüler, waren die bösartig?
Nein, das kann ich nicht sagen. Aber da waren diese fabelhaften Eltern, die ihre Kinder sofort in die Hitlerjugend stecken wollten. Ich hatte damals eine Freundin, die einen großen Namen trug: Hella Menzel, eine Nachfahrin von Adolph von Menzel.
Dem berühmten Maler?
Ja, mit der war ich sehr gut befreundet. Sie hat oft bei uns übernachtet, ich war auch öfter bei ihr. Dann kam der Nazi-Umschwung, und ich war wieder mit ihr verabredet. Als ich sie abholen wollte, machte das Dienstmädchen die Tür auf und sagte: »Die gnädige Frau möchte nicht mehr, dass Sie unsere Wohnung betreten.« Da war ich erst ein bisschen vor den Kopf gestoßen, aber …
Sie haben Hella Menzel nie wieder gesehen?
Doch, ich habe sie heimlich noch ein paarmal getroffen. Aber dann habe ich gesagt: »Ich mache das jetzt nicht mehr mit, sonst kriegst du Ärger mit deinen Eltern!« Ich nehme an, sie hat sich ein bisschen geschämt. Denn sie war wirklich nett.
Ich weiß, dass so viel Schlimmeres kam. Dennoch muss diese Abweisung an der Haustür für Sie als Mädchen doch sehr kränkend gewesen sein.
Natürlich. Aber man entwickelt, nachdem das ja alles verhältnismäßig schnell ging, eine dicke Haut. Sonst geht’s überhaupt nicht.
Wie hat denn Ihr Vater reagiert, als die Ausgrenzung der Juden begann?
Es kam ja schlagartig. Wer hätte einen denn vor 1933 auf der Straße ein Judenschwein genannt? Mein Vater hat sich mit Deutschland identifiziert. Er sagte: »Man wird doch diesem Wahnsinnigen sehr bald zeigen, dass wir das nicht gewollt haben!« Deshalb hat er sich auch nicht genug um die Emigration gekümmert. Er ist noch mit dem Schiff nach Israel gereist, damals Palästina, um sich das anzugucken. Aber er ist wieder zurückgekommen.
Er wollte da nicht leben?
Ja, wissen Sie, wenn man ein sehr prominenter und außerordentlich guter Anwalt ist und in ein völlig anderes Land geht, was macht man da?
Hat denn auch die Reichspogromnacht 1938 Ihren Eltern nicht das Gefühl vermittelt: »Nichts wie weg«?
Doch, schon. Man sah immer weniger Juden auf den Straßen. Aber es war überhaupt nicht einfach, das Land zu verlassen. Die anderen Länder wollten nicht unbedingt jüdische Emigranten haben. Mein Vater hat versucht, uns nach Italien zu bringen. Er war ja ein großer Freund der italienischen Kultur. Und es hätte beinahe geklappt! Wir hatten sogar schon unsere Möbel mit einem riesigen Container losgeschickt. Die sind nie wieder aufgetaucht. Wir hatten keine Möbel mehr, wir mussten aus der Wohnung raus, und wir haben dann zusammengepfercht bei Verwandten gelebt, mit denen wir eigentlich nicht schrecklich viel am Hut hatten. Anita und ich wurden zur Zwangsarbeit eingezogen.
Ihre Räume wurden buchstäblich immer enger. Hatten Sie da schon große Angst? Oder haben Sie das verdrängt?
Uns hat sicher beim Überleben geholfen, dass wir im Grunde genommen sehr sorglos waren. Wir haben immer nur von einem Tag auf den anderen gelebt.
Weil Sie so jung waren?
Wir waren so jung. Und wir mussten den Alltag meistern. Als der Krieg ausgebrochen war, mussten wir ja furchtbar schuften. Anita und ich haben in einer Papierfabrik gearbeitet und Klopapier fabriziert. Vorher war ich bei der Müllabfuhr, das war noch schlimmer. Da mussten wir Metallteile aus dem Müll suchen, zwischen Ratten und toten Katzen.
Am 9. April 1942 wurden Ihre Eltern deportiert. Wussten Sie vorher, dass sie jetzt abgeholt werden?
Nein, die wurden nicht abgeholt, und es trommelte keiner an der Tür. Meine Eltern hatten eine Mitteilung bekommen: »Am nächsten Morgen um soundso viel Uhr kommen Sie zum Sammellager …« Und man ging halt da hin. Man hat gehorcht. Eigentlich hätten viel mehr Leute abhauen sollen.
Man ist selbst zur Schlachtbank gegangen?
Ja, man ist zur Schlachtbank gegangen. Am Abend vorher haben meine Eltern gepackt, man durfte 20 Pfund Kleidung mitnehmen oder so. Und da haben wir uns verabschiedet. Mein Vater hat meiner Schwester noch eine Art Testament diktiert. Ich bin irgendwann schlafen gegangen. Ich schäme mich dafür immer, aber ich konnte nicht mehr. Meine Mutter saß im Nebenzimmer und weinte. Das hörte ich noch. Sie wusste, dass sie ihre Kinder nicht wiedersehen würde.
Haben Ihre Eltern geahnt, wie furchtbar es im Lager werden würde?
Ich könnte mir vorstellen, dass meine Eltern beim Transport genug gehört haben. Wir haben erst später erfahren, dass sie in ein Lager in der Nähe von Lublin gebracht worden waren. Ich denke, eines Tages wurde dann eine Gruppe von Leuten vor ein Grab gestellt. Die mussten sich nackt ausziehen, dann hat man ihnen ins Genick geschossen, und sie sind in den Graben gefallen. So sind meine Eltern vermutlich umgebracht worden. Ich weiß nicht, ob irgendwann mal die Gerippe rausgeholt und in ein Massengrab gelegt wurden.
Aus dem Buch Ihrer Schwester, zu dem auch Sie einige Erinnerungen beigetragen haben, weiß ich: Sie selbst erfuhren schon vor Ihrer Einlieferung in Auschwitz, dass die furchtbaren Gerüchte über das Lager stimmten.
Ja, das war im Zuchthaus. Meine Schwester und ich hatten ja einen Prozess gehabt …
… weil Sie für französische Kriegsgefangene Reisepapiere gefälscht und selbst zu fliehen versucht hatten. Sie wurden verurteilt, von Anita getrennt und kamen ins Zuchthaus …
… und da saß ich Gott sei Dank in einer Einzelzelle. Ich war im Zuchthaus die einzige Jüdin und sollte die anderen nicht »anstecken«. Das war ein Segen. Vor dem Prozess hatten wir in einer Zelle mehr oder weniger übereinander geschlafen. Ich kann Menschenmassen bis heute nicht ertragen. Eines Nachts kriegte ich furchtbare Zahnschmerzen und wurde zum Gefängnisarzt gebracht. Im Wartezimmer saß ein Mädchen neben mir: Ich habe sie ganz leise gefragt, wo sie herkommt. Da antwortete sie: »Aus Auschwitz.« Ich konnte ihr das eigentlich gar nicht glauben.
Auschwitz war Ihnen ein Begriff?
Ja, ja, Auschwitz war die Endstation. Ich habe gedacht: Wie ist die da wieder rausgekommen? Ist die vielleicht ein Spitzel? Und ich habe sie gefragt, ob das denn alles stimmt, was die Leute über Auschwitz erzählen, ob das wirklich so schrecklich ist. Und das Mädchen sagte: »Es ist noch viel schlimmer.« Da wusste ich, was auf mich wartet.
Sie kamen 1943 nach Auschwitz.
Man hörte im Zuchthaus aus den Lautsprechern: »RENATE SARAH LASKER MIT ALLEN SACHEN!« Das bedeutete, dass man mit seinem Blechnapf und seinen Holzpantinen runterkommen musste. Da stand dann ein Gestapo-Mann, und der sagte ganz sachlich: »Also, du kommst jetzt nach Auschwitz, und bitte unterschreib, dass du da freiwillig hinkommst.« Und das habe ich halt unterschrieben. In dieser Nacht bekam ich Angst.
Gab es in dieser Not wenigstens eine gedankliche Zuflucht?
Ich hatte einen gewissen Glauben, der mir sehr geholfen hat. Darüber habe ich selbst mit meiner Schwester nie gesprochen. Ich habe also gebetet: »Lieber Gott …« Am nächsten Morgen wurden wir zum Hauptbahnhof gebracht, in einen Gefangenenwagen. Da saß ich wieder alleine, weil sie wahrscheinlich nicht wollten, dass ein jüdisches Mädchen neben den anderen sitzt. Und dann kamen wir in Auschwitz an.
Was war Ihr erstes Bild von Auschwitz?
Das ganze Lager war taghell erleuchtet, weil sich die Deutschen damals sagten, die Alliierten werden das nicht bombardieren – was ja stimmte. Ich sah SS-Leute, Kapos und Hunde. Dann wurden wir in einen großen Saal getrieben, wo ich mich sehr erschrocken habe, weil lauter Duschköpfe an der Decke waren. Ich hatte gehört, dass die ganzen Vergasungsanlagen so gebaut waren, dass hier die Leute zusammengepfercht wurden, dass aus diesen Duschen das Gas …
Das hatte sich auch schon herumgesprochen?
Ja. Inzwischen war Nacht, alles war dunkel, und ein großer Tross splitternackter Frauen kam rein. Da habe ich mich wieder furchtbar erschrocken, weil ich dachte, wenn die hier nackt reinkommen … Das war nicht nur wegen der Duschen … Es war auch wegen der Häftlinge, die da reinkamen. Sie sahen so schrecklich aus, dass ich mich fragte: Werde ich jemals so aussehen?
Wie sahen diese Häftlinge aus?
Die hatten keine Haare auf dem Kopf und waren Haut und Knochen. Sie wurden geduscht und wieder rausgetrieben. Und am nächsten Morgen fing der Arbeitstag an. Ich musste mich nackt ausziehen und auf einen Stuhl setzen. Und dann wurden mir die Haare abrasiert.
Von einem anderen Häftling?
Das haben alles die Häftlinge gemacht. Sie tätowierten mir auch eine Nummer auf den Arm: 70195. Anita war eine Woche vorher gekommen, sie hat die 69388. Komischerweise ist ihre Nummer noch ganz klar zu sehen, während meine verblichen ist. Als ich auf diesem Stuhl saß und mir die Haare abrasiert wurden, sah ich auf der Erde neben mir ein Paar schwarze Schuhe stehen. Die hatten vorne Lederklappen und rote Schnürsenkel. Und da dachte ich mir, diese Schuhe kenne ich doch! Also fragte ich das Mädchen, das mir den Kopf rasierte: »Hast du eine Ahnung, mit welchem Transport die gekommen ist?« – »Ja«, sagt sie, »das weiß ich wohl, das Mädchen ist jetzt im Orchester.«
Sie meinte das Mädchenorchester von Auschwitz, in dem Ihre Schwester Cello spielte.
Dieses Mädchen war dann selbst so aufgeregt, dass es rübergerannt ist zu der etwas besseren Baracke, in der das Orchester wohnte. Sie hat die Anita gesucht und zu ihr gesagt: »Ich glaube, deine Schwester ist da!« Sie kamen dann zusammen zurück, und wir fielen uns in die Arme. So habe ich meine Schwester wiedergefunden, unter Hunderttausenden.
Was machte Ihre Schwester für einen Eindruck?
Ich sah sie zum ersten Mal mit rasiertem Kopf. Sie sah blendend aus, weil sie diesen kahlen dunklen Haaransatz hatte, mit diesen Intellektuellen-Ecken links und rechts, wie mein Vater. Sie sah aus wie ein junger Seminarist, ganz eigenartig. Dann ging meine Schwester wieder, denn die Kapelle musste zweimal am Tag Marschmusik spielen. Dieses Orchester bestand eigentlich nur aus Dilettanten. Deshalb wurde die Anita mit Begeisterung aufgenommen. Sie war noch kein Profi, aber sie war sehr gut.
Die Kapelle musste täglich den Ein- und Ausmarsch der Häftlinge, die außerhalb des Lagers schufteten, musikalisch begleiten, aber auch regelmäßig für das SS-Personal spielen. Ihre Schwester soll sogar ein Solo für den furchtbaren Lagerarzt Josef Mengele gegeben haben.
Ja, die »Träumerei« von Schumann. Sie hat das sicher wunderbar gemacht. Der Mengele hat mir persönlich nichts getan, aber das war ja ein schrecklicher Kerl. Das ist das Unbegreifliche an den Nazi-Deutschen, wenn man in Klischees sprechen will: diese Mischung aus absolutem Fanatismus, indoktriniert von einem Verrückten, und diesem Sinn fürs Romantische.
Nachdem Sie Anita wiedergefunden hatten: Was passierte mit Ihnen?
Ich kriegte schreckliche Kleider, Fetzen – es war Dezember, eiskalt. Und ich kam in die sogenannte Quarantäne, wo alle neuen Häftlinge hinmussten.
Warum mussten die dahin?
Entweder die SS-Leute hofften, dass die Häftlinge sterben, bevor man sie vergasen musste, oder weil sie Angst hatten, dass die irgendwelche Seuchen mitbrachten. Man schlief auf diesen Holzpritschen, mit drei Etagen. Die Schwächsten lagen immer in der untersten Etage, weil man da am leichtesten rauskam. Aber ich hatte noch ein paar Muskeln in den Beinen und bin ganz nach oben gestiegen. Da gab es nur eine zerfetzte Decke und ein bisschen Stroh. Ich war auch nicht alleine, wir lagen da zu viert oder so. Und in der Baracke stand ein Riesentrog. Alle hatten Durchfall, es war eine einzige stinkende Sauerei. Man kann es nicht anders bezeichnen. Und ich merkte sehr schnell, dass die Häftlinge sich gegenseitig bestahlen.
Was gab es denn zum Stehlen?
Die Klamotten, die man hatte, oder ein Stück Brot. Ich habe mir auch nachts nie die Schuhe ausgezogen, weil ich befürchtete, dass ich dann aufwache und überhaupt nichts mehr habe. Viele, die dazu Gelegenheit hatten, haben ihr Essen auch gegen Zigaretten eingetauscht. Denn im Lager gab es ja alles.
Alles?
Es gab alles. Na ja, dann kam die Weihnachtszeit, und die SS-Deutschen, sentimental wie fast alle Deutschen, haben natürlich auch in Auschwitz Weihnachten gefeiert. Jedenfalls stand da ein großer Weihnachtsbaum im Zentrum des Lagers.
Auf so einem Appellplatz?
Ja, ein Riesentannenbaum. Ich hatte als junges Mädchen eine sehr hübsche Stimme, und ich war auserwählt, auch durch die Beziehungen meiner Schwester, das Weihnachtslied unter diesem Baum zu singen.
Welches?
»Leise rieselt der Schnee«. Dazu ist es aber nie gekommen. Ich fiel beim Zählappell eines Tages einfach um. Und als ich meine Augen wieder aufmachte, war ich im Krankenlager. Ich dachte, das wird jetzt nichts mehr. In meinem Bett lag noch eine andere Frau. Aber die war inzwischen gestorben, die lag tot neben mir. (schweigt)
Sie sagen, wenn es nicht mehr geht …
… ja, ich war wirklich sehr krank, ich hatte wahnsinniges Fieber und Durchfall. Es war Flecktyphus. Daran sind die meisten, die man nicht umgebracht hat, gestorben. Eines Tages kamen SS-Frauen und -Männer, wir mussten aus den Betten raus. Die haben selektiert, wer von diesen ganzen abgemagerten Leuten nach links kommt und wer nach rechts. Links bedeutete Vergasung. Mich haben die sofort nach links geschickt. Da habe ich gut reagiert und mich etwas zurückgebeugt zu einem SS-Mann, der nicht besonders grimmig aussah: »Ich bin die Schwester der Cellistin.« Da hat er mir einen Tritt in den Hintern gegeben und mich auf die andere Seite bugsiert. Insofern verdanke ich meiner Schwester mein Leben.
Die Ihnen aber, so widersinnig das klingt, in diesen Tagen den Tod gewünscht hat – so hat es Ihre Schwester in ihren Erinnerungen aufgeschrieben.
Das stimmt. Man fiel ja vom Fleisch. Man bekam nichts zu essen und hatte blutigen Durchfall. Als meine Schwester mich in diesem elendigen Zustand sah, da wollte sie eigentlich, dass ich einschlafe … und fertig.
Aber Ihre Schwester ist dann doch zu Maria Mandl gegangen, der Oberaufseherin des Frauenlagers. Sie hat all ihren Mut zusammengenommen und gefragt, ob man Sie als Läuferin einsetzen könne.
Und das wurde ich auch: Ich habe dann Botschaften übermittelt zwischen den SS-Leuten. Die Mandl mochte meine Schwester, weil sie eine der wenigen war, die noch richtig Deutsch sprachen. Und es war ganz wichtig, keine Angst zu zeigen. Ich hab sie auch nie gezeigt.
War diese Maria Mandl eine primitive Frau?
Nein, überhaupt nicht. Das war eine gut aussehende Person. Man hat die wenig gesehen, aber sie war dabei, als dieses jüdische Mädchen mit seinem polnischen Freund hingerichtet wurde, dessen Job als Dolmetscherin ich dann bekam.
Sie meinen die Belgierin Mala Zimetbaum? Würden Sie ihre Geschichte erzählen?
Wir mussten uns zweimal am Tag in Fünferreihen vor der Baracke aufstellen, und dann wurden wir abgezählt – von einem Kapo und einer SS-Frau, die einen Block in der Hand hatte. Das dauerte immer sehr lange, denn es musste ja gerechnet werden: »Wer ist tot, wen gibt es noch?« Eines Abends standen wir stundenlang da, und es passierte nichts. Dann stellte sich heraus, dass im Männerlager und im Frauenlager zwei Personen fehlten.
Jeweils eine?
Ja, bei uns fehlte Mala. Und im Männerlager war es dieser Edek.
Edek Galinski, Malas Geliebter, dieser Fall ist dokumentiert.
Dann gingen die Sirenen los. Die beiden waren abgehauen. Wir haben in unseren Baracken Freudentänze aufgeführt, weil wir diese Mala alle gernhatten. Und wir haben nur gebetet, dass sie es schaffen. Aber ein paar Tage später, als ich zum Dienst antrat, sah ich die Mala am Lagertor stehen. Ich glaube, sie war gefesselt.
Die Flucht war gescheitert.
Es war furchtbar heiß in diesem Sommer in Auschwitz. Als ich an ihr vorbeigegangen bin – ich habe es erst gar nicht richtig mitbekommen –, da hat sie mir zugezischt, ob ich ihr nicht eine Rasierklinge verschaffen kann. Ich habe es versucht, ohne Erfolg. Aber offensichtlich hat ihr jemand anderes eine besorgt. Einige Tage später gab’s einen Riesenappell, wieder mit Sirenen. Auf dem zentralen Platz im Lager hatten sie einen Galgen aufgebaut. Wir sollten alle sehen, wie dieses Exempel statuiert wird: dass kein Mensch eine Chance hat, aus dem Lager wegzurennen. Ein SS-Mann hat die Mala zu diesem Galgen geführt. Und da hat sie ganz weit ausgeholt, hat sich die Pulsadern aufgeschnitten und diesem SS-Mann ins Gesicht geschlagen. Der war von oben bis unten mit Blut besudelt. Aber dann, Germany being Germany, oder sagen wir: KZ being KZ , wollte man ihr den Tod von eigener Hand nicht gönnen.
Das letzte bisschen Selbstbestimmung?
Ja. Man hat ihre Wunden verbunden, hat sie in den Hof des Krematoriums gebracht und da erschossen. Es wurden dann alle Häftlinge ausgetauscht, die im Lager kleinere und größere Funktionen hatten. Die mussten jetzt Steine klopfen gehen. Ich hatte in diesem Fall wieder Glück, weil die Aufseher wussten, dass meine Schwester im Orchester war. Die dachten sich: Wenn die eine noch da ist, wird die andere nicht weglaufen. Also habe ich den Job von der Mala bekommen.
Hat Ihnen allen Malas rebellische Geste imponiert?
Ja, ungeheuer. Aber es war eben auch total unrealistisch, sich vorzustellen, dass jemandem die Flucht gelingen kann.
Gab es denn unter den Häftlingen eine Art Zusammenhalt? Oder war sich in Auschwitz jeder selbst der Nächste?
Jeder war sich selbst der Nächste, keine Frage. Aber in der Baracke, in der meine Schwester war, da gab es ein paar Mädchen, die sich zusammengetan haben. Das hat mir immer sehr imponiert. Abgesehen von meiner Schwester waren es alles Französinnen. Elaine hieß eine, die ich nie vergessen werde, die hat sich auch im kältesten Winter mit Schnee gewaschen. Wir haben uns nicht mehr gewaschen, weil das zu sehr gejuckt hat. Aber die hat sich von oben bis unten mit Schnee abgerieben, jeden Tag. Das hat die am Leben gehalten. Und sie war außerdem eine gute Geigerin, das hat auch geholfen.
Haben denn die Jüdinnen in Ihrer Baracke ein bisschen zusammengehalten?
Nur wenn sich zwei angefreundet haben. Es geht auch nicht darum, wer zusammenhält, sondern wer sich am wenigsten oder am meisten hasst. Das ist ein großer Unterschied. Natürlich kann man nicht sagen: »Alle Polen haben uns gehasst oder alle Russen.« Aber nach dem Krieg habe ich in einer Gesprächsrunde eine Bemerkung gemacht, die viel Ärger auslöste. Ich habe ein selbst erlebtes Beispiel aus Auschwitz erwähnt: Als ich erst ein oder zwei Tage dort war, standen zwei polnische Mädchen neben mir. Und ich fragte: »Was stinkt denn hier so schrecklich?« Das war der Schornstein vom Krematorium. Da kam ein fetter, schwarzer Rauch raus. Und die sagten: »Das sind deine Eltern, die gerade durch den Schornstein gehen.« Wenn man so etwas erlebt hat, verallgemeinert man schnell. Klaus, mein Mann, sagte dann immer, mit ein bisschen Ironie, ich sei rassistisch, weil ich’s mit den Polen habe. Ich habe mir das jetzt auch abgewöhnt.
Ihre Erfahrung war, dass die polnischen Häftlinge besonders gehässig waren?
Nein, am schlimmsten waren die Russen. Das waren die Kräftigsten.
Sie meinen die Russinnen?
Ja, mit den Männern hatten wir nichts zu tun. Die Russinnen haben uns einfach auf den Kopf gehauen und uns das Brot aus den Händen gerissen. Solche Sachen vergisst man nicht. Die will ich auch nicht vergessen.
Haben Sie bei Ihren Bewachern jemals eine menschliche Regung erlebt?
Ja, bei einem SS-Mann, der auf den schönen Namen Kasernitzky hörte. Das war später, in Belsen. Der stand Wache, als ich heimlich Wasser holen wollte, und er hat sich weggedreht. Wasser war ungeheuer kostbar. Und dann war da ein Polizist, als ich in Belsen im Büro arbeitete, der hat mir ein großes Stück Brot in die Schublade gelegt. Jeden Tag.
Wissen Sie, warum er das getan hat?
Das weiß ich nicht. Jedenfalls hat er mich nach dem Krieg um einen Persilschein gebeten. Und den habe ich ihm auch mit dem größten Vergnügen ausgestellt. Der hat sich wirklich anständig benommen. Als sich bis zum Lagerpersonal in Belsen herumgesprochen hatte, dass der Krieg für die Deutschen nicht so gut lief, wurden die natürlich alle sehr viel freundlicher. Die jagten keine Hunde mehr auf uns und versuchten, so ein bisschen gut Wetter zu machen. Das hat uns nicht sehr beeindruckt, aber so war das halt.
Wie erklären Sie sich, dass fast alle Aufseherinnen und Aufseher das Elend komplett ausblenden konnten?
Das möchte ich auch sehr gerne wissen. Ich schweife jetzt kurz ab, aber einmal kam ein großer italienischer Transport an in Auschwitz. Aus irgendeinem Grund hat sich da ein kleines Mädchen weggestohlen, ein süßes Mädchen, ganz blond. Die ist sicher nicht alleine gekommen, aber auf einmal war die bei mir, in meiner Nähe. Und ich habe mich sehr um das Mädchen gekümmert, das kann ich wirklich sagen, ich fand die entzückend. Die hatte so viel Vertrauen zu mir. Ich habe der Essen gegeben, ich konnte Sachen organisieren für die, weil ich ein paar Freiheiten innerhalb des Lagers hatte. Ich habe auch gesehen, dass die SS-Frauen nett waren zu diesem Kind. Aber irgendwann habe ich die Kleine aus den Augen verloren, weil ich noch mal krank wurde. Nichts Ernstes, doch als ich zurückkam, hatten sie das Mädchen auch umgebracht. Um auf Ihre Frage zurückzukommen: Wie kann man? Das muss auch ein bisschen mit der Mentalität der diversen Nationalitäten zusammenhängen. Ich glaube nicht, dass sie in Italien, wo es ja auch schlimm war zum Schluss, so furchtbare Sachen mit den Kindern gemacht haben.
Von den etwa sechs Millionen Juden, die im Holocaust ermordet worden sind, war jedes vierte Opfer ein Kind. Sie meinen, dass so eine Grausamkeit auch in der Mentalität eines Volkes begründet ist?
Auch, ja. Jedenfalls bei gewissen Generationen und bei gewissen Schichten.
Wissen Sie noch, wie dieses italienische Mädchen hieß?
Mit M fing der Name an. Marta oder so ähnlich. Es war ein jüdisches Kind.
Sie haben vorhin gesagt, dass man sich im Lager alles organisieren konnte. Wie muss man sich das vorstellen?
Es gab im Lager Namen für die Orte, an denen man arbeitete. Die Baracke, in der man sich wirklich alles beschaffen konnte, hieß »Kanada«. Da gab es absolut alles. Offensichtlich war man der Ansicht, dass Kanada ein Schlaraffenland ist. Man hat den Menschen, die ins Lager kamen, ja ihre Sachen abgenommen. Und viele Häftlinge, vor allen Dingen aus Polen und Griechenland, hatten sich Goldmünzen und solche Sachen in ihre Kleidersäume eingenäht. Und in Kanada lagerte das alles. Die Kapos, die es ohnehin unter den Häftlingen noch am besten hatten, haben sich dann die ganzen Sachen organisiert, die die verschiedenen Kommandos aus Kanada, vom Steineklopfen oder vom Feld mitbrachten. Das war einer der Gründe, warum wir die nicht leiden konnten.
Die Kapos haben alles eingesteckt?
Natürlich, natürlich.
Was konnten die denn mit diesem Reichtum anstellen?
Bestechen.
Das heißt: eine Scheibe Brot mehr?
Na ja, das ging über hundert Kanäle. Ich konnte das leider nie betreiben. Ich habe nur eine einzige Sache regelmäßig gestohlen: frisches Gemüse. Die Häftlinge, die auf dem Feld arbeiteten, steckten sich natürlich furchtbar viele Zwiebeln und Knoblauch ein. Das war sehr wichtig im Lager, denn wir hatten totalen Vitaminmangel. Ich hatte auf einmal Löcher in den Beinen.
Wunden vom Vitaminmangel?
Ja, ich habe immer noch Narben davon. Immer wenn diese Kommandos vom Feld zurückkamen, wurden die durchsucht, und die frischen Sachen kamen auf einen Haufen. Und wenn die Häftlinge in die Baracke gingen, haben wir Dolmetscher und Läufer uns bedient. Das hat sich gelohnt. Ich habe da aber niemals ein Stück Gold gesehen.
Mir ist bewusst, dass diese Frage geradezu pervers anmutet: Aber haben Sie in der Zeit im Lager irgendetwas gemacht, wofür Sie sich schämen?
Ja, Sie werden das als eine Lappalie betrachten, aber ich schäme mich heute noch dafür. Eines Tages hat mir jemand – ich weiß nicht mehr, wer das war – eine halbe Tafel Schokolade geschenkt. Ich habe mich wahnsinnig gefreut, ich hatte so etwas seit Jahren nicht gesehen. Und ich habe mir gesagt: Jetzt gehe ich zu Anita, und wir teilen uns diese Schokolade. Auf dem Weg zu Anita habe ich aber die ganze Schokolade aufgegessen. Das ist das Einzige, wofür ich mich schäme.
So eine Kleinigkeit!
Aber es zeigt einen Mangel an Charakter und Disziplin. Das geht nicht.
Konnte man die SS-Leute bestechen?
Ja, damit sie nicht gleich anfingen, zu schreien und die Menschen niederzuschlagen, wenn nicht schnell genug geschaufelt wurde. Es herrschte ja eine solche Brutalität, davon macht man sich keine Vorstellung. Anita und ich haben das dann im Kleinstformat gesehen auf dem Transport von Auschwitz nach Belsen. Wir sind erst in Viehwagen transportiert worden, aber die letzte Strecke mussten wir laufen.
Kilometer um Kilometer …
… bis wir das Camp erreicht hatten. Und wer auf dem Weg hingefallen ist und nicht mehr aufstehen konnte, den haben sie einfach abgeknallt … (hält inne) Ich habe manchmal Hemmungen, dass ich jetzt Sachen sage, die irgendwie verletzen könnten.
Wie meinen Sie das?
Ich weiß es auch nicht. Weil man doch die Tendenz hat, zu verallgemeinern – wie vorhin, als ich davon sprach, dass die Deutschen so musikliebend sind. Aber es ist natürlich Quatsch: Entweder man redet, oder man redet nicht.
Ich glaube, Sie müssen nun wirklich keine Rücksicht nehmen. Der Marsch nach Belsen war 1944 – von einer Hölle in die nächste.
In Belsen hat man die Leute zwar nicht mehr vergast, aber sie sind …
… an Krankheit und Entkräftung …
… ja, und an dem Ekel an sich selbst gestorben. Man war ja derart verdreckt. Wir waren total verlaust, und man hatte ständig Durchfall. Die Mädchen und die Frauen, die in einem Alter waren, wo sie noch ihre Periode hatten, die hatten nichts, um sich in irgendeiner Weise … Dafür gab’s aber was in die Suppe, was das gestoppt hat. Das hat man auch den Soldaten an der Front gegeben. Keine Salzsäure, aber so ein ekelhaftes salziges Zeug. Wir wollten einfach nicht mehr, und wir konnten einfach nicht mehr, weil man sich selber so angewidert hat. Das ist auch das, was ich nie vergessen werde: dieser Ekel vor sich selbst und die entsetzliche humiliation … wie sagt man?
Erniedrigung.
… und die Erniedrigung, die man uns angetan hat. Das habe ich nie vergessen, und das will ich auch nicht vergessen. Die Engländer haben nach der Befreiung von Belsen etwas sehr Gutes gemacht: Sie haben die Leute aus dem nächsten Ort ins Lager gekarrt. Da hat mich ein schottischer Offizier gefragt: »Soll ich dir ein paar Leute raussuchen? Mit denen könnt ihr machen, was ihr wollt.« Ich habe nur geantwortet: »Vielen Dank, das interessiert mich überhaupt nicht.« Ich habe mir die Leute angeschaut wie im Kino.
Wie haben sich denn diese Deutschen verhalten, als sie im Lager ankamen?
Die Deutschen haben weggeguckt, die Frauen sowieso und auch die Männer, wenn man sie an den Massengräbern vorbeigeführt hat. Belsen hat derart gestunken nach verwesten Leichen, das haben wir überhaupt nicht mehr gerochen. Wir hatten die Leichen selbst in diese Gruben schleppen müssen. Man hatte uns sehr dicke Schnüre gegeben, mit denen wir die Handgelenke der Toten zusammenbinden sollten. Und dann haben wir die Leichen an diesen Schnüren quer durch das Lager gezogen. Aber wir konnten nicht mehr. Wir haben nur 50 Leichen am Tag geschafft. Am Schluss wurden die Toten mit Bulldozern zusammengeschoben. Es musste ja ordentlich sein.
Und als die Deutschen aus dem Nachbarort diese Leichenhaufen und die Gräber sahen: Wie haben die reagiert?
Die konnten das gar nicht begreifen. Die haben ein paar Kilometer weit weg gewohnt …
… und haben es nicht gewusst?
Natürlich haben die das gewusst! Aber die Leute hatten Angst, was zu sagen. Das ist die Misere in allen Diktaturen. Die durften von einem gewissen Punkt an keinen Fuß mehr in die Lüneburger Heide setzen. Von wegen Heideromantik! Ich hasse die Lüneburger Heide und will die niemals wieder sehen. Wir sind ja kilometerweit marschiert bis zum Lager. Auch durch Ortschaften. Da werden Sie mir doch nicht sagen, dass die Deutschen nicht wussten, dass da ein KZ ist.
Stimmt es, dass Sie nach der Befreiung durch die Engländer noch ein Jahr lang in Belsen leben mussten?
Ja, aber das war gar nicht so schlimm, weil wir nicht mehr in einer dieser Baracken gelebt haben. Dank der Engländer wohnten wir in einem richtigen Haus. Das hatten die beschlagnahmt. Es war für heutige Begriffe sehr primitiv, aber es war ein richtiges Haus mit Küche. Anita und ich sahen wieder ordentlich aus. Wir hatten beide wieder Haare, wir hatten was Ordentliches zum Anziehen. Und wir waren unentwegt unterwegs. Meine Schwester hat auch beim ersten Kriegsverbrechertribunal in Lüneburg ausgesagt.
Sie haben nach dem Krieg zunächst in Großbritannien gelebt, wo Sie beim deutschen Dienst der BBC einen Job fanden, erst als Sekretärin und dann als Moderatorin. Den deutschen Pass haben Sie später nur mit viel Mühe zurückbekommen.
Man hatte ja keine Papiere mehr, gar nichts. Kurz vor der Befreiung in Belsen haben die SS-Leute versucht, alles zu verbrennen. Da kamen die Rauchschwaden nicht aus dem Krematorium, sondern aus der Schreibstube. Überall flogen verbrannte Papierfetzen herum. Als ich die Lagerstraße entlangging, flog mir eine größere Ladung vor die Füße. Ich hob die auf – und da war meine deutsche Kennkarte.
Wenn man das in einem Film sähe, würde man sagen …
… das kann gar nicht sein. Aber ich habe diese Papiere nicht aufbewahrt. Ich war damals nicht so sentimental, wie ich es heute vielleicht wäre. Als Klaus und ich später nach Köln gezogen sind und ich meinen deutschen Pass zurückhaben wollte, aus Prinzip, weil ich ein Recht auf den Pass hatte, da musste ich Formulare ausfüllen – davon macht man sich keine Vorstellung. Ich war ja vorbestraft, wegen der gefälschten Pässe, die mich ins Zuchthaus gebracht hatten. Ein Gericht musste das Urteil aufheben – ein Witz. Es hat sehr lange gedauert.
Haben Sie da nicht innerlich gebebt vor Zorn?
Nein. Das ist wahrscheinlich auch einer der Gründe, warum ich immer noch einigermaßen bei Trost bin: Ich konnte mich über solche Sachen eigentlich nicht mehr aufregen.
Ist es Ihnen schwergefallen, nach Deutschland zurückzukehren?
Nein. Schon bald nach der Befreiung habe ich mir vorgenommen, dass ich mir nicht den Rest meines Lebens von Hitler diktieren lasse. Darum hatte ich keine Probleme mit den jungen Deutschen, die ich beim Auslandsdienst der BBC in London kennenlernte. Und darum kam ich dann auch mit den meisten Leuten beim WDR in Köln gut aus. Ich hatte allerdings ein Problem mit dem Höfer.
Mit dem Fernsehjournalisten Werner Höfer? Damals wusste man sicher noch nicht, dass er 1943 die Hinrichtung eines jungen Pianisten gutgeheißen hatte.
Nein, damals wusste ich das noch gar nicht. Er war Gast bei unserer Hochzeitsfeier in Köln. Er hat furchtbar viel gesoffen, und er ist mir auf die Pelle gerückt. Er guckte mir ganz tief in die Augen und sagte: »Sie schöne Jüdin, Sie.« Da kann man doch eigentlich nur kotzen. Aber ansonsten hatte ich, wie gesagt, eigentlich keine Schwierigkeiten. Das ist auch einer der wenigen Vorteile des Alters, dass ich mir nichts mehr gefallen lasse. Letztens bin ich hier in ein Café gegangen, was ich im Gegensatz zum Klaus häufig tue, um Freunde zu treffen.
Sie sind hier in La Croix-Valmer sehr bekannt …
… wie ein bunter Hund, ja. In diesem Café saßen an einem Nebentisch zwei nette Leute, die ich kannte, und ein dritter Mann, ein alter Knacker. Die sprachen über die Wirtschaftskrise. Da horchte ich etwas genauer hin, ich habe für mein Alter noch ein recht gutes Gehör. Und da sagte dieser Dritte: »Das ist alles die Schuld der Juden!« Daraufhin habe ich tief Luft geholt, bin aufgestanden und habe diesen Kerl gefragt: »Können Sie das wiederholen?« Er hat dann noch etwas gemurmelt und ist gegangen. Ich fahre solchen Leuten sofort über den Mund: »Ich habe keine krumme Nase, ich stinke nicht nach Knoblauch, was willst du noch?«
Reichen Worte eigentlich aus, um das Grauen zu beschreiben, das Sie und so viele andere in Auschwitz erlitten haben? Manche, auch Überlebende, sagen, dass Sprache dazu nicht in der Lage sei.
Das stimmt.
Aber Sie können doch mit Ihren Erzählungen aufleben lassen, was in Auschwitz und in Belsen passiert ist!
Finden Sie? Es hängt auch vom Zuhörer ab. Ich wurde kürzlich gebeten, vor einer französischen Schulklasse zu reden. Da habe ich die Direktorin gefragt: »Wie soll ich zehnjährigen Kindern erklären, was der Holocaust ist?«
Haben Sie es trotzdem versucht?
Ich hab’s gemacht, ja. Die Lehrerin hat mich beruhigt: »Diese Kinder sehen so schreckliche Sachen, im Fernsehen oder im Internet, die werden nicht anfangen zu schreien.«
Und wie haben die Kinder reagiert?
Gestern habe ich auf dem Markt zwei Mädchen aus dieser Klasse getroffen, ganz niedlich, mit langen Haaren. Die Ältere sagte: »Das war sehr beeindruckend, was Sie uns erzählt haben.« Ich wollte hauptsächlich, dass die Kinder sich nicht langweilen. Das ist ja wichtig, dass man zehnjährigen Kindern Geschichten erzählt, in denen a little action ist. (lacht) Deshalb hab ich dieser Klasse erst mal erzählt, wie ich meine Schwester wiedergefunden habe – die Geschichte mit den Schuhen. Das hat ihnen sehr gut gefallen. Und dann habe ich erzählt, wie meine Eltern umgekommen sind: »Ich will euch jetzt keinen Schrecken einjagen, euch wird niemals so etwas passieren. Aber stell dir mal vor, deine Mutter und dein Vater …« Totenstille. Diese Stille hat mich sehr beeindruckt, weil ich wusste: Die Kinder hören wirklich zu.
In den wenigen Interviews, die Sie gegeben haben, haben Sie sich mehrmals über ehemalige KZ-Häftlinge mokiert, die sich die Haare raufen und weinen, wenn sie von Auschwitz berichten.
Ja, das macht mich wirklich verrückt.
Haben die denn kein Anrecht darauf?
Nein.
Warum nicht?
(Stöhnt)