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Das Buch

Als Sarah eine Nachricht aus Kanada erhält, in der sie zur Beerdigung der Indianerin Little Drum eingeladen wird, fällt sie aus allen Wolken. Sie hat Little Drum nur ein einziges Mal getroffen, und das ist dreißig Jahre her. Damals war sie eine junge Frau, die mit ihrer Schwangerschaft haderte. Little Drum war diejenige, die ihr bei der Entscheidung für das Kind geholfen hat.

Sie lässt sich auf die Reise ein – begleitet von ihrer Tochter Stella und ihrem Enkelsohn Niklas. Doch in Kanada kommt alles anders als erwartet: Im Haus der verstorbenen Little Drum herrscht eine düstere Stimmung. Der eigenbrötlerische Indianer Luke, der ebenfalls bei der Familie lebt, verhält sich sehr merkwürdig, und schließlich geschieht ein Mord. Ist Luke der Täter? Warum fühlt Stella sich so sehr zu ihm hingezogen? Und wer hat politische Interessen in der Gegend?

Werden die durch die Eulen herbeigerufenen Ahnen Stella helfen, unbeschadet von der Reise zurückzukehren?

Die Autorin

Sanna Seven Deers ist geborene Hamburgerin. Sie heiratete einen kanadischen Indianer und zog mit ihm in die Wildnis der Rocky Mountains. Dort leben die beiden mit ihren vier Kindern.

www.sannasevendeers.com

Von der Autorin sind außerdem in unserem Hause erschienen:

Der Ruf des weißen Raben

Das Windlied des Bären

Das Geheimnis des Felskojoten

Sanna Seven Deers

Auf den Schwingen
der Sterneneule

Roman

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Ullstein

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Der Verlag dankt David Seven Deers für die freundliche Genehmigung, seine Illustration für die Covergestaltung sowie seine Karte zu verwenden.

ISBN 978-3-8437-0748-0

Originalausgabe im Ullstein Taschenbuch
© Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2014
Umschlaggestaltung: ZERO Werbeagentur, München
Titelabbildung: Landschaft: © Wayne Simpson/Getty Images;
Himmel: © Antony Spencer/Getty Images;
Illustration (Eule): © David Seven Deers

Alle Rechte vorbehalten. Unbefugte Nutzungen, wie etwa Vervielfältigung, Verbreitung, Speicherung oder Übertragung können zivil- oder strafrechtlich verfolgt werden.

E-Book: Pinkuin Satz und Datentechnik, Berlin

Es gibt ein Auge der Seele. Mit ihm allein kann man die Wahrheit sehen.
Plato

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1982, BRITISH COLUMBIA, KANADA

1

Die Morgendämmerung hatte kaum eingesetzt, und die Umrisse der Baumkronen zeichneten sich nur schwach gegen den fahlen Horizont ab. Elizabeth Collinson lag wach in ihrem schmalen, niedrigen Bett neben dem alten Holzofen und lauschte. Aus der Küche waren leise Geräusche zu hören. War etwa eines ihrer Kinder so früh schon auf den Beinen? Sie sollte wohl besser nachsehen. Seufzend warf sie die Decke zur Seite. Sie brauchte einen Moment, bis sie aufgestanden war, denn seit ein paar Wochen war ihr ihr runder Bauch überall im Weg.

»Es dauert nicht mehr lange, mein Süßes«, murmelte sie zärtlich und legte ihre Hand liebevoll auf ihren Leib.

Die Dielen des kleinen Holzhauses waren kalt, die Luft im Zimmer kühl – es war Herbst. Schnell schlüpfte Elizabeth in ihre Hausschuhe und schlang sich ein Wolltuch um die Schultern.

»Wer ist denn hier schon auf?«, fragte sie leise, als sie in die Küche kam. Sie wollte den Rest der Familie nicht wecken. Vielleicht konnte sie noch einmal kurz zurück ins Bett kriechen, bevor ihr geschäftiger Tag endgültig begann.

Doch zu ihrer Überraschung fand sie keines der Kinder vor, sondern eine zierliche Frau Anfang siebzig mit langem, schneeweißem Haar. Ihre Gestalt war gebeugt, ein Zeichen der schweren körperlichen Arbeit, die sie ihr Leben lang geleistet hatte. Aber ihre dunklen Augen funkelten noch immer wie Sterne.

»Großmutter, fehlt dir etwas?«, fragte Elizabeth besorgt. Sie sprach in ihrer indianischen Muttersprache, denn die alte Dame weigerte sich, English zu lernen.

Little Drum lächelte ihre Enkeltochter wohlwollend an.

»Es ist alles in Ordnung, mein Kind«, erklärte sie mit sanfter, leiser Stimme. »Es tut mir leid, dass ich dich geweckt habe. Ich war draußen. Du weißt, die Zeiten des Wechsels zwischen Tag und Nacht gehören den Geistwesen. Und heute Morgen hatten sie eine besondere Botschaft für mich.«

Elizabeth musste nun ebenfalls lächeln. Ihre Großmutter sprach oft mit den Geistwesen. Im Stamm war sie aufgrund dieser besonderen Gabe hochangesehen.

»Etwas Gutes, hoffe ich?«

»Jede Nachricht von den Geistwesen ist gut«, erwiderte Little Drum nachsichtig. »Denn sie lassen uns wissen, dass sie uns Menschen nicht vergessen haben und uns ihre Hilfe anbieten. Zugegeben, einige ihrer Worte sind angenehmer als andere.« Sie wurde ernst.

»Kurz vor der Morgendämmerung ist die Eule zu mir gekommen, die mächtige Botschafterin der Ahnenwelt. Der anbrechende Tag wird viele wichtige Ereignisse mit sich bringen. Die Eule sagte mir, dass heute jemand meine Hilfe brauchen wird. Es ist sehr wichtig. Ich werde gleich nach dem Frühstück in den Wald gehen, um Beeren zu pflücken. Dort werde ich auf den Hilfesuchenden treffen.« Sie blickte Elizabeth bestimmt an. »Du machst dich besser bereit, mein Kind, denn die Eule sagte mir, dass du mich begleiten sollst.«

Elizabeth sah Little Drum forschend an. Dann drehte sie sich wortlos um, um der Aufforderung ihrer Großmutter Folge zu leisten. Eine Gänsehaut überkam sie, und sie sprach ein leises Gebet für diejenigen, die in die Ereignisse des heutigen Tages verwickelt waren. Denn so viel stand fest: Little Drum hatte die Botschaften der Geisterwelt noch nie falsch gedeutet.

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Außer Atem hastete Sarah Stadler die lange Abflughalle des Vancouver International Airport entlang. Die Handtasche war ihr beim Laufen von der Schulter gerutscht, und der große braune Koffer, den sie hinter sich herzog, drohte umzukippen. Warum hatte ausgerechnet ihr Flug Verspätung haben müssen? Ohne ihre Schritte zu verlangsamen, warf sie einen flüchtigen Blick auf die Schalternummer ihres Anschlussfluges, die auf dem Ticket vermerkt war.

»A14?«, rief sie auf Englisch einem Mann zu, der sie verwundert beobachtete.

»Immer weiter geradeaus!«, entgegnete er hilfsbereit.

»Danke!«, rief Sarah ihm über die Schulter zu.

Ein paar Minuten später hatte sie ihr Ziel erreicht. Ihr Puls raste, Schweißperlen standen auf ihrer Stirn, und sie hatte Seitenstiche. Zudem war ihr auch noch übel geworden.

»Völlig aus der Übung«, keuchte sie und lächelte die junge Frau hinter dem Schalter entschuldigend an. Das war nicht die ganze Wahrheit, aber darüber wollte sie mit niemandem sprechen. Noch nicht. Sie schob ihr zerknittertes Ticket über den Tresen. »Sarah Stadler. Ich habe einen Platz in der 13-Uhr-Maschine nach Victoria. Mein Flug aus Frankfurt hatte Verspätung. Und erst die Schlange bei der Passkontrolle. Ich bin froh, dass ich es doch noch rechtzeitig geschafft habe!«

Die junge Frau sah sie teilnahmsvoll an.

»Mrs Stadler, es tut mir sehr leid, aber die Maschine nach Victoria ist vor fünf Minuten gestartet.«

Das Lächeln verschwand aus Sarahs Gesicht.

»Aber es sind doch noch zehn Minuten bis zur Abflugzeit«, meinte sie und blickte verdutzt auf ihre Armbanduhr.

»Ihre Uhr muss falsch gehen«, antwortete die Bodenstewardess. »Es tut mir wirklich sehr leid. Wir haben Sie ausrufen lassen, und der Pilot hat auf Sie gewartet, so lange es ging.«

Sarah stützte sich am Tresen ab. All das Laufen, all das Unwohlsein – alles umsonst. Sie strich sich eine lockige, rotbraune Haarsträhne aus dem Gesicht.

»Wann geht der nächste Flug nach Victoria?«

»Morgen früh um neun Uhr.«

»Morgen früh um neun? Aber ich muss heute noch dort ankommen«, erklärte Sarah aufgebracht. »Es ist sehr dringend. Beinahe lebensnotwendig. Ich habe einen neuen Job, und morgen ist mein erster offizieller Termin. Bitte – ich darf ihn nicht verpassen!« Sie sah ihr Gegenüber eindringlich, fast flehentlich an.

»Sie könnten die Fähre von Tsawwassen nehmen. Als Passagier ohne Auto müssten Sie dort auf jeden Fall einen Platz bekommen.«

Eine Fähre? Dann konnte Sarah den Job gleich vergessen. An eine Seefahrt war bei ihr nicht zu denken, besonders im Augenblick nicht.

»Danke, aber ich kann keine Fähre nehmen. Ich werde immer furchtbar seekrank.« Sie ließ entmutigt den Kopf hängen. Ihre Schläfe begann schmerzhaft zu pochen.

»Ich könnte versuchen, Sie im 16-Uhr-Flug nach Nanaimo unterzubringen«, meinte die Bodenstewardess unvermittelt und griff nach dem Telefonhörer. »Von dort sind es nur knappe hundert Kilometer bis nach Victoria. Sie könnten sich einen Mietwagen nehmen und noch heute Abend dort sein.«

Sarahs Miene hellte sich auf.

»Bitte versuchen Sie es!«

Ein paar Stunden später fragte Sarah sich, was wohl schlimmer war: seekrank zu sein oder flugkrank. Sie saß in einem kleinen Flugzeug – einem sehr kleinen Flugzeug – und betete inständig, dass sie Nanaimo bald erreichen würden. Sarah wusste, dass sie grün im Gesicht war. Sie konnte es an den Blicken der anderen Fluggäste erkennen. Und ihr war auch wirklich speiübel. Zugegeben, sie wusste, dass es auch körperliche Ursachen hatte, aber das kleine Flugzeug trug nicht gerade zu ihrer Besserung bei: Die Propeller dröhnten laut, und die gesamte Maschine ruckelte bedenklich. Sarah sah sich vorsichtig um. Die wenigen Mitreisenden störten sich anscheinend nicht daran; sie unterhielten sich entspannt.

Sarah schloss die Augen und versuchte sich zu entspannen. Sie hätte den Job ablehnen sollen. Sie hätte sich gegen alle Vernunft, gegen alle noch so rosigen Zukunftsaussichten stemmen und den Job ablehnen sollen. Doch jetzt war sowieso alles egal, denn aus diesem alten klapprigen Ding würde keiner von ihnen lebend herauskommen.

Vielleicht ist das meine Strafe, weil ich keinen Mut habe, eine Entscheidung zu treffen, dachte Sarah verzagt. Was für eine vertrackte Situation es doch war, in die sie so unvorhergesehen hineingeraten war! Und dabei hatten sich die Dinge gerade so zu entwickeln begonnen, wie sie es sich vorgestellt hatte.

Vor einem guten Jahr hatte sie einen schweren Entschluss getroffen. Sie hatte sich von dem Mann, den sie über alles liebte, getrennt – zugunsten ihrer Karriere. Sarah seufzte schweren Herzens, als sie sich jetzt an den Moment erinnerte. Philip war Musiker und mit Abstand der aufrichtigste und beste Mensch, der ihr je begegnet war. Aber – finanziell würde er es nie zu etwas bringen. Materielle Dinge waren ihm vollkommen unwichtig. Sarah hingegen hatte hochfliegende Pläne: Sie wollte ein neues Auto haben und ein eigenes Haus, wollte weite Reisen unternehmen. Vor allem aber wollte sie Karriere machen. Und um genau diesen Punkt ging es bei ihrer Trennung. Philip wollte, dass sie abends früher nach Hause kam, mehr Zeit mit ihm verbrachte, wenn möglich sogar ihren Job als Dolmetscherin bei einem großen Konzern ganz aufgab, um mit ihm von einem Auftritt zum nächsten zu reisen. Die Situation war eskaliert – wie es wirklich dazu gekommen war, wusste Sarah selbst nicht mehr. Aber sie hatte sich entscheiden müssen, von einem Tag auf den anderen: ein Leben mit Philip oder ihre Karriere mit allem, was daran hing. Sie hatte ihren Entschluss getroffen und nach vorn geschaut. Es gab kein Zurück.

Die Ironie dabei war, dass Sarah vor ein paar Monaten mit einem Arbeitskollegen angebändelt hatte. Er hieß Günter Ammersbach, war bei der Firma, für die sie arbeitete, im Verwaltungsbereich tätig. Beruflich befand er sich auf dem aufsteigenden Ast, und er war wirklich ein netter Kerl. Eine richtig »gute Partie«, wie ihre Mutter es bezeichnet hatte. Aber tief in ihrem Herzen wusste Sarah, dass sie sich aus Einsamkeit mit Günter eingelassen hatte, nicht, weil er die große Liebe war. Und nun, nun war sie schwanger. Von Günter. Und wieder musste sie eine schwere Entscheidung treffen: das Baby oder die Karriere, für die sie sich erst vor kurzem von der Liebe ihres Lebens getrennt hatte. Eine wortwörtliche Ironie des Schicksals, die Sarah als beinahe grausam empfand.

Unvermittelt öffnete sie die Augen. Wenn nur die morgendliche Übelkeit aufhören würde! Aber sie wollte jetzt nicht über diese Dinge nachdenken. Sie würde mit der Entscheidung warten, bis sie wieder zu Hause war. Zunächst galt es, nicht gefeuert zu werden, und dazu musste sie Victoria noch an diesem Abend erreichen. Ihr Chef hatte am nächsten Morgen ein wichtiges internationales Meeting im Empress Hotel, und seine persönliche Dolmetscherin war plötzlich krank geworden. Daher war sie, Sarah Stadler, kurzfristig dazu auserwählt worden, ihm nach Kanada nachzureisen und den Job zu übernehmen. Es war eine großartige Gelegenheit für sie. Eine Chance, die die Weichen für ihren weiteren Werdegang stellen könnte – eine Chance, die sich ihr so vielleicht nie wieder bieten würde.

Gedankenversunken blickte Sarah aus dem schmalen Fenster des Flugzeugs. Ein paar Minuten starrte sie einfach ins blaue Nichts des Himmels, doch dann begann sie die Landschaft wahrzunehmen. Sie überquerten einen Seitenarm des Pazifik. Die kleine Propellermaschine flog recht niedrig, und daher konnte Sarah leicht alle Einzelheiten erkennen. Das Meer breitete sich nach beiden Seiten aus, so weit das Auge reichte. Die Strahlen der sinkenden Sonne spiegelten sich auf dem Wasser, und weiße Schaumkronen tanzten auf den tiefblauen Wellen. Am Horizont war die Küste Vancouver Islands zu sehen. Dicht bewaldet und in ihrer Mitte von hohen Bergketten durchzogen, rückte die große Insel mit jeder lauten Umdrehung der Propeller näher. Sarah starrte sie wie gebannt an. Etwas schien sie magisch zu der Insel hinzuziehen.

2

Erleichtert steuerte Sarah ihren kleinen Mietwagen den wenig befahrenen Highway entlang. Sie war froh, endlich wieder Boden unter den Füßen zu haben. Die Übelkeit hatte sich etwas gelegt, und sie genoss den Blick auf die unbekannte Welt außerhalb des Wagens. Die Sonne war bereits hinter den hohen Berggipfeln verschwunden, und die mächtigen Zedernbäume, die dicht an dicht neben der Straße standen, warfen lange dunkle Schatten auf den grauen Asphalt. Häuser oder kleine Dörfer gab es nur wenige, aber hin und wieder tat sich eine Schneise in den Bäumen auf, und dann war für ein paar Augenblicke das Meer zu sehen.

Sarah hielt an einer Straßenbucht an, um den Ausblick auf den Pazifik zu genießen. Nur ein weiter sandiger Streifen trennte den Highway an dieser Stelle von den ungezähmten, schaumgekrönten Wellen, die sich bis zum Horizont erstreckten. Vereinzelt ragten große, vom Wasser rundgewaschene Felsen aus dem Sand, und der Strand war mit Seetang und Treibholz übersät. Möwen hockten auf den angeschwemmten Baumstämmen, hüpften im Sand umher und schwangen sich laut kreischend in die Lüfte. Ansonsten war weder Mensch noch Tier zu sehen.

Was für eine Macht, was für eine Energie von den Wassermassen auszugehen schien! Sarah ließ das Fenster ihres Wagens herunter, auszusteigen wagte sie in dieser Wildnis nicht. Ein frischer Wind wehte herein und wirbelte durch ihr kurzes, lockiges Haar. Sie atmete tief ein. Die Luft war herrlich! Kühl und klar und salzig, dazu der fischig-modrige Geruch des Seetangs und der würzige Duft der Zedern. Es war eine Mischung, wie Sarah sie nie zuvor erlebt hatte: wild, geheimnisvoll und frei.

Eine Weile saß sie schweigend da. Sie konnte sich kaum von dem Anblick losreißen. Aber es war Mitte September, und obwohl es kaum 18.30 Uhr war, würde es bald schon dämmern.

Sarah warf einen flüchtigen Blick auf die Straßenkarte. Mit etwas Glück sollte sie Victoria noch vor Einbruch der Dunkelheit erreichen.

Sobald ich im Hotel bin, werde ich sofort ins Bett fallen, dachte sie, und ein entspanntes Lächeln umspielte ihre Lippen. Zufrieden lenkte sie den Wagen zurück auf den Highway.

Plötzlich zog dichter Nebel vom Meer her auf. Er schien wie aus dem Nichts zu kommen und legte sich wie eine schwere Decke über das Land. Sarah konnte die Straße vor sich kaum noch erkennen. Sie schaltete die Nebelscheinwerfer ein und hoffte, dass die Autos, die hinter ihr kamen, sie rechtzeitig sehen würden. Wo war der Nebel nur auf einmal hergekommen?

Sie verlangsamte den Wagen, bis sie kaum schneller als Schritttempo fuhr. Die Straße machte eine scharfe Rechtskurve. Sarah musste sich stark konzentrieren, denn sie konnte lediglich ein paar Meter weit voraussehen. Sie fühlte sich wie blind in dem grauen Meer aus Nebelschleiern.

Aber damit nicht genug. Der Nebel wurde immer dichter.

Wenn die Sicht nicht bald besser wird, muss ich anhalten und abwarten, bis der Nebel sich verzieht, dachte Sarah. Es geht kein Weg daran vorbei. Ein Schauer lief ihr über den Rücken. Etwas Unheimliches lag in der Luft.

Im nächsten Augenblick sprang etwas aus dem Unterholz und landete genau vor ihr auf der Straße. Sarah schrie laut auf und trat auf die Bremse. Ein dumpfer Aufprall folgte, dann kam der Wagen zum Stehen.

Sarah versuchte ruhig zu atmen, aber ihr Herz raste wie wild.

»Ich habe irgendetwas angefahren«, flüsterte sie entsetzt. Mit zitternden Händen tastete sie nach dem Türgriff. Sie öffnete zaghaft die Wagentür und stieg aus. Vorsichtig ging sie um das Auto herum. Ein Knirschen unter ihren Füßen ließ sie innehalten. Irritiert blickte sie nach unten. Sie ging nicht, wie vermutet, auf Asphalt, sondern auf Schotter. Dies war nicht der Highway, dies war Wildnis! Sie spähte durch den Nebel. Wo um alles in der Welt war sie gelandet?

Sarah ging vorsichtig weiter. Als sie den Kotflügel erreichte, blieb sie wie angewurzelt stehen. Das Licht der Scheinwerfer fiel auf ein blutüberströmt Etwas, das vor ihrem Wagen lag. Ein Hirsch. Sie hatte eine Hirschkuh angefahren!

»Oh Gott!«, stieß sie aus, und ihr Magen zog sich unwillkürlich zusammen. Sie konnte einfach kein Blut sehen.

Die Hirschkuh lebte noch, aber ihr Atem ging schwer und keuchend. Sie gab einen kläglichen Laut von sich und blickte Sarah mit ihren großen, sanften Augen flehentlich an.

Sarah kamen Tränen. Sie liebte Tiere. Und nun lag eines vor ihren Füßen im Sterben. Noch dazu war es ihre Schuld. Sie und niemand anderes hatte das Leben dieser wunderschönen Hirschkuh auf dem Gewissen.

»Es tut mir so leid«, murmelte sie und hockte sich neben das Tier. Sie streckte die Hand aus, um der Hirschkuh über den Hals zu streichen. In dem Moment, als ihre Fingerspitzen das weiche Fell des Tieres berührten, begann sich alles vor Sarahs Augen zu drehen. Es war, als würde sie in ein tiefes, schwarzes Loch gezerrt. Weiter und immer weiter. Panik stieg in ihr auf. Sie wollte aufspringen und davonlaufen, aber es war zu spät. Die Dunkelheit umhüllte sie jetzt vollkommen, und sie verlor das Bewusstsein.

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Sarah wusste nicht, wie viel Zeit vergangen war, als sie wie aus weiter Ferne einen leisen fremdartigen Gesang zu vernehmen schien. Sie lauschte angestrengt, aber sie vermochte nicht mehr auszumachen. Schon war ihr, als verebbte der Gesang, da wurde er plötzlich lauter und deutlicher. Und mit einem Mal spürte sie, dass jemand sie umschlungen hielt. Sie versuchte, die Augen zu öffnen.

»Meine Großmutter sagt, es ist an der Zeit, in diese Welt zurückzukehren. Wach auf!«, sagte eine sanfte, melodische Stimme dicht neben ihr.

Wieder dieses fremdartige Singen. Dann folgte ein stetes Rasseln.

Sarah schlug unvermittelt, fast wie auf Befehl, die Augen auf. Eine junge Frau mit langem, schwarzem Haar war über sie gebeugt. Sie hatte Sarahs Kopf auf ihre Knie gebettet und strich ihr sanft über die Stirn. Neben ihr hockte eine ältere Frau. Ihr Gesicht war runzelig, ihr schneeweißes Haar dünn und zu zwei Zöpfen geflochten.

Indianerinnen, ging es Sarah durch den Kopf. Verwirrt sah sie die beiden an.

»Du warst ohnmächtig, aber es ist dir nichts geschehen«, erklärte die junge Indianerin leise. »Bleib noch eine Weile ruhig liegen.«

»Es war ein Unfall«, stammelte Sarah. »Die Hirschkuh …«

Die ältere der beiden Frauen sagte etwas in indianischer Sprache und deutete zuerst auf Sarah und dann auf das Tier.

»Es tut mir leid, ich verstehe nicht …«, sagte Sarah.

»Meine verehrte Großmutter spricht kein Englisch. Deshalb werde ich ihre Worte übersetzen«, erklärte die junge Frau. »Sie sagt, du sollst dir keine Vorwürfe machen. Das Tier hat sich für dich geopfert.« Sie lächelte Sarah an.

Die Stimme der jungen Frau kam Sarah merkwürdig vertraut vor, obwohl sie sicher war, dass sie sie nie zuvor getroffen hatte. Ein jähes Gefühl von Sicherheit überkam Sarah, und sie entspannte sich.

Die beiden Indianerinnen wechselten wieder ein paar Worte.

»Meine Großmutter sagt, dass nichts auf dieser Welt durch Zufall geschieht. Sie sagt, die Geistwesen haben ihr am Morgen mitgeteilt, dass sie heute jemanden treffen würde, der Hilfe bräuchte. Den ganzen Tag über, während wir im Wald Beeren sammelten, hat sie auf ein Zeichen gewartet. Nun weiß sie, wovon die Geister gesprochen haben.«

»Oh«, erwiderte Sarah bedrückt und richtete sich auf. »Ich fürchte, für die Hirschkuh kommt jede Hilfe zu spät.«

Die junge Frau kicherte verhalten und wandte sich in indianischer Sprache an die Alte. Erst jetzt bemerkte Sarah, dass die junge Frau schwanger war. Ihr runder Bauch zeichnete sich deutlich unter ihrem einfachen Baumwollkleid ab.

»Sie erwarten ein Kind!«, rief Sarah und konnte sich kaum zurückhalten, den schwangeren Leib der anderen zu berühren.

Die junge Frau sah sie überrascht an.

»Ja«, erwiderte sie. »Mein sechstes. Im November.«

»Ihr sechstes«, wiederholte Sarah ungläubig. Die junge Indianerin konnte kaum älter sein als sie selbst. Und dabei sprach sie von ihrer sechsten Schwangerschaft, als sei es die selbstverständlichste Sache auf der Welt. Eine unglaubliche Ruhe ging von ihr aus, und sie schien in völliger Harmonie mit sich selbst und ihrem Leben. Sie war bestimmt nicht reich, das konnte Sarah an ihrer Kleidung erkennen. Aber trotzdem ertappte sie sich dabei, ihr Gegenüber zu beneiden. All ihr schönes sicheres Gehalt vermochte es nicht, Sarah die Ruhe und Harmonie zu verschaffen, die von der anderen Frau ausgingen. Und wie sehr hatte Sarah sich in den letzten Wochen gerade nach diesen einfachen Dingen gesehnt. Um einen klaren Gedanken fassen zu können, um eine Entscheidung zu treffen.

»Bitte lass mich erklären. Du hast das falsch verstanden«, sagte die Indianerin nun. »Aber zuerst möchte ich uns vorstellen. Ich heiße Elizabeth Collinson, und dies ist meine ehrenwerte Großmutter Little Drum.«

Die alte Dame lächelte Sarah an. Fast ein wenig nachsichtig, fand Sarah. Da bemerkte sie, dass die beiden Frauen sie erwartungsvoll ansahen.

»Oh, Verzeihung! Ich heiße Sarah Stadler«, erklärte sie hastig und erhob sich. Ihr war noch immer etwas schwindlig, aber sie konnte sich auf den Beinen halten.

Elizabeth schickte sich an, ebenfalls aufzustehen. Unvermittelt reichte Sarah ihr die Hand und half ihr auf.

»Danke«, sagte Elizabeth mit sanfter Stimme. Dann wiederholte sie: »Du hast mich falsch verstanden. Als ich eben davon sprach, dass die Geistwesen Großmutter sagten, dass sie heute jemanden treffen würde, der Hilfe benötigt, habe ich nicht die Hirschkuh gemeint, sondern dich.«

»Mich?« Sarahs Gedanken begannen wirr zu kreisen. Die ganze Situation kam ihr unwirklich vor. Sie sollte längst in Victoria sein und in ihrem warmen weichen Hotelbett liegen. Stattdessen stand sie hier draußen im Nebel, inmitten der Wildnis, mit einem toten Hirsch zu ihren Füßen und zwei wildfremden Indianerinnen an ihrer Seite.

»Bitte lass es mich erklären«, bat Elizabeth, die ihre Verwirrung bemerkte. »Wie meine Großmutter vorhin schon sagte, gibt es keine Zufälle auf dieser Welt. Und so ist es denn auch kein Zufall, dass du dich im Nebel verfahren hast, dass das Tier vor deinen Wagen gesprungen ist und wir dich hier gefunden haben. Auch deine Ohnmacht hat einen Grund.«

»Woher weißt du, dass ich mich im Nebel verfahren habe?«, fragte Sarah zaghaft.

Elizabeth übersetzte ihre Worte, damit ihre Großmutter sie verstand, dann lachten beide Frauen amüsiert auf.

»Jemand wie dich und in einem solchen Wagen haben wir noch nie so weit entfernt vom Highway auf einer unbefestigten Straße in der Wildnis getroffen.«

Sarah nickte verlegen. »Es stimmt, ich habe mich verfahren. Daran ist allein dieser schreckliche Nebel schuld.«

»Und die Hirschkuh ist vor deinen Wagen gesprungen und hat dich zum Anhalten gezwungen, damit wir dich hier treffen konnten. Sie hat ihr Leben geopfert, um dir zu helfen.«

Sarah starrte die junge Frau erneut fassungslos an. Ihr ging es doch schon wieder gut, die Ohnmacht war längst vorüber. Sie brauchte keine Hilfe.

Die alte Indianerin warf einige Sätze ein, und Elizabeth übersetzte.

»Meine Großmutter möchte, dass du verstehst, was vor sich geht«, begann sie zu erklären. »Du musst wissen, dass die Tiere viel enger mit der Welt der Geistwesen verbunden sind als wir Menschen. Sie spüren und hören Dinge, die uns meist verborgen bleiben. Und daher versuchen sie oft, uns ein Zeichen zu geben, uns aufhören oder uns umsehen zu lassen; uns zu warnen oder uns eine Botschaft zu überbringen, damit wir auf dem richtigen Weg bleiben. Die Tiere sind die Helfer der Menschen, Vermittler zwischen unserer Welt und der Geisterwelt.«

Grauen packte Sarah, als sie sich an das tote Tier zu ihren Füßen erinnerte, und sie schüttelte sich. »Ich hasse es, wenn ein Lebewesen sterben muss. Und das Leben dieser Hirschkuh habe noch dazu ich selbst auf dem Gewissen«, flüsterte sie.

Die beiden Indianerinnen sprachen leise miteinander.

»Du verachtest es, ein Tier zu töten«, gab Elizabeth die Worte Little Drums wieder und schaute kurz auf den ein Stück entfernt liegenden Hirsch. »Aber gleichzeitig ziehst du es in Erwägung, ein Menschenleben auszulöschen.« Die junge Frau sah Sarah eindringlich an und deutete auf ihren Unterleib.

Sarah erstarrte. Die alte Indianerin konnte doch unmöglich von ihrer Schwangerschaft wissen!

Little Drum ging zu Sarah und legte ihr lächelnd eine Hand auf den Bauch. Sie sprach leise in indianischer Sprache, und ihre weisen, alten Augen blickten Sarah dabei unverwandt an. Ihre Blicke schienen bis in Sarahs Innerstes vorzudringen.

»Meine Großmutter sagt, dass jedes Lebewesen eine bestimmte Aufgabe in dieser Welt zu erfüllen hat. Um dieser Aufgabe gewachsen zu sein, bekommt ein jedes eine besondere Gabe mit in die Wiege gelegt. Jedes noch so kleine Lebewesen wird gebraucht, um seine Aufgabe zu erfüllen, sonst kann das Gleichgewicht, die Harmonie in unserer Welt nicht erhalten werden. So wird denn auch ein jeder Mensch gebraucht, um den ihm zugeteilten Platz in unserer Welt einzunehmen und die ihm vorbestimmte Aufgabe zu erfüllen. Jeder. Jedes Kind ist ein einzigartiges Geschenk, und niemand hat das Recht, ein solches Geschenk zu vernichten. Unser aller Leben liegt allein in der Hand von Great Spirit, dem Großen Geist.«

Sarah spürte, wie die Farbe aus ihrem Gesicht wich. Wie konnte die Indianerin so viel über sie und ihre innersten Gedanken wissen? Etwas ging hier nicht mit rechten Dingen zu! Angst stieg in ihr auf.

Elizabeth legte beruhigend ihre Hand auf Sarahs Arm.

»Du brauchst dich nicht zu fürchten, im Gegenteil. Die Geister sind dir wohlgesinnt. Sie versuchen dir und deinem ungeborenen Kind zu helfen. Besonders deinem Kind. Es wird in dieser Welt dringend gebraucht.«

Sarah blickte die beiden Frauen forschend an. Konnten Little Drums Worte wirklich wahr sein? Sie konnte es kaum verneinen, wusste die alte Frau doch Dinge über sie, die sie eigentlich nicht wissen konnte.

Little Drum wandte sich noch einmal an ihre Enkeltochter.

»Du darfst den Worten meiner Großmutter gern Glauben schenken«, erklärte diese daraufhin. »Denn es war die Eule, die heute kurz vor Anbruch der Morgendämmerung zu ihr gesprochen hat. Die Eule ist ein sehr machtvolles Wesen. Sie besitzt viele magische Eigenschaften, aber bei unserem Volk wird sie vor allem als Vermittler zwischen den Menschen und den Ahnen gesehen. Und den Ahnen liegt offenbar sehr viel an dir und deinem Baby. Großmutter sagt, dass die Botschaft, die die Eule ihr heute überbracht hat, besonders nachdrücklich und kraftvoll gewesen ist.« Sie lächelte Sarah aufmunternd an.

»Aber nun dürfen wir dich nicht länger aufhalten. Du musst deine Reise fortsetzen. Lebe wohl!« Sie wechselte ein paar Worte mit Little Drum, dann wandten die beiden Frauen sich ab und machten sich auf ihren Weg.

Sarah stand wie angewurzelt da und vermochte keinen klaren Gedanken zu fassen. Als sie endlich verstand, was vor sich ging, waren die beiden Frauen im Nebel kaum mehr zu erkennen.

»Wartet!«, rief sie und lief ihnen einige Schritte hinterher. »Bitte wartet!«

Die beiden Indianerinnen drehten sich überrascht um.

»Ich danke euch für euren Rat«, sagte Sarah mit stockender Stimme. »Danke euch von ganzem Herzen. Euch beiden. Ich weiß nun, wie meine Entscheidung ausfallen wird.« Sie kramte in ihrer Jackentasche. »Hier ist meine Visitenkarte. Bitte zögert nicht, mich anzurufen oder mir zu schreiben, sollte es jemals etwas geben, womit ich euch helfen kann.«

Elizabeth warf einen flüchtigen Blick auf die Karte und steckte sie in die Tasche ihres Kleides.

»Leb wohl, Sarah«, sagte sie noch einmal.

Beide Frauen hoben grüßend die Hand, dann waren sie auch schon im Nebel verschwunden.

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Der sechsjährige Luke Lumly saß auf dem Rücksitz des alten, zerbeulten Ford Thunderbird, der seinen Eltern gehörte, und schaute aus dem Fenster. Draußen war alles dunkel, nur direkt vor ihnen, wo das Licht der Scheinwerfer die Straße erhellte, war etwas zu erkennen. Der Highway schien verlassen, kein Wagen begegnete ihnen. Nur die hohen Zedernbäume huschten wie bedrohliche Schatten am Straßenrand entlang.

Luke rutschte tiefer in den Sitz. Sie hatten Freunde seiner Eltern in Nanaimo besucht und waren viel später als geplant nach Hause aufgebrochen. Luke war nicht gern im Dunkeln im Auto unterwegs, aber das wollte er sich unter keinen Umständen anmerken lassen.

Auf dem Vordersitz unterhielten seine Eltern sich leise. Luke wusste, sie wollte ihn nicht beim Einschlafen stören. Er konnte das fein geschnittene Gesicht seiner Mutter und ihr langes, schwarzes Haar gerade eben erkennen. Wie schön sie war!

Seufzend kuschelte Luke sich in seine Jacke. Bald würden sie zu Hause sein. Dann würde die Mutter ihn zu Bett bringen, ihm das alte indianische Wiegenlied singen, das sie von ihrer Mutter gelernt hatte, und seine Welt würde wieder in Ordnung sein.

Der kleine Junge unterdrückte ein Gähnen. Er wollte seinen Eltern beweisen, dass er schon groß war und ohne Probleme auch mal bis zehn Uhr aufbleiben konnte.

Aber da war noch etwas anderes, das ihn beunruhigte, nicht nur die Dunkelheit. Den ganzen Tag schon war ihm irgendwie unheimlich zumute. Doch auch das wollte er die Eltern nicht wissen lassen.

Er starrte wieder aus dem Fenster. Da tauchte wie aus dem Nichts eine Nebelbank vor ihnen auf der Straße auf – wie ein dichter weißer Vorhang, der alles zu verschlucken drohte. Selbst die starken Strahlen der Scheinwerfer vermochten den Nebel nicht zu durchdringen.

Luke machte sich noch kleiner. Aus weiter Ferne schien er den Ruf einer Eule zu hören; wie eine Warnung, wie eine schlimme Vorahnung.

»Dad, pass auf!«, schrie er.

Aber es war zu spät. Der Nebel hatte das entgegenkommende Fahrzeug zu lange verborgen gehalten. Es war keine zehn Meter von ihnen entfernt und kam geradewegs auf sie zu.

Lukes Vater riss den Wagen zur Seite. Vergeblich. Das andere Fahrzeug stieß seitwärts mit ihnen zusammen und schob den Thunderbird von der Straße, als sei er nichts weiter als eine Fliege auf der Windschutzscheibe.

»Luke!«, hörte der Junge die verzweifelte Stimme seiner Mutter.

»Mom! Mom!«, schrie Luke, von Panik erfasst.

Der Thunderbird schoss über den Straßenrand und die Böschung hinunter, prallte mit der Schnauze hart auf und überschlug sich mehrere Male. Dann war plötzlich alles still. Totenstill.

»Mom?« Lukes Stimme war schwach und leise. Er bekam keine Antwort.

Bevor er das Bewusstsein verlor, war ihm, als sähe er seine Eltern Hand in Hand neben dem Autowrack stehen. Sie lächelten ihn an. Dann drehten sie sich um und gingen davon.

»Mom! Dad!«, flüsterte Luke mit Tränen in den Augen, aber sie hörten ihn nicht.

Da erschien mit einem Mal eine große Eule am Himmel. Ihr Flug war lautlos; Luke hörte sie nicht kommen. Doch er sah ihre leuchtend gelben Augen. Sie durchschnitten das Dunkel der Nacht wie Sonnenstrahlen. Näher und näher kamen sie.

Luke fürchtete sich nicht. Im Gegenteil, er war froh, dass die Eule zu ihm kam und er nicht mehr allein war.

Im nächsten Augenblick spürte er, wie sich das Tier behutsam auf seiner Brust niederließ und seine Flügel wie riesige schützende Arme über ihn legte. Dann erfasste ihn eine dunkle Welle und riss ihn mit sich.

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Sarah fiel todmüde in das Bett in ihrem Hotelzimmer. Sie konnte sich kaum daran erinnern, wie sie den Weg zurück zum Highway gefunden und die restliche Strecke nach Victoria bewältigt hatte. Alles, woran sie sich entsann, war, dass der Nebel sich so augenblicklich gelegt hatte, wie er gekommen war, und dass mit einem Mal die ersten Sterne am Himmel standen. Dann waren auch schon die beleuchteten Straßen von Victoria vor ihr aufgetaucht. Aber sie hatte von alldem nur wenig mitbekommen. Und noch bevor sie das Hotel erreicht hatte, war sie sich schon nicht mehr sicher darüber gewesen, ob sie alles nicht vielleicht einfach nur geträumt hatte.

In ihrem Kopf überschlugen sich die Gedanken, und sie versuchte die Ereignisse der vergangenen Stunden zu verdrängen. Endlich gelang es ihr, und schließlich fielen ihr die Augen zu. Doch sie hatte einen beängstigenden Traum. Undurchdringliche Dunkelheit. Ein großer Vogel – eine riesige Eule mit unheimlichen, leuchtend gelben Augen. Sie schoss wie ein Blitz vom Himmel, lautlos, bedrohlich. Ein kleiner Junge, die dunklen Augen weit aufgerissen, das unschuldige Gesicht verzerrt in Todesangst. Dann legten sich die Flügel des Vogels um das Kind, und beide verschwanden in der Nacht.

Sarah war ruckartig wach. Kalter Schweiß stand auf ihrer Stirn. Was mochten die Bilder bedeuten? Verwirrt setzte sie sich im Bett auf. Im Zimmer war es vollkommen dunkel. Ein seltsames, unheimliches Gefühl überkam sie. Sie knipste die Nachttischlampe an und ließ sich beunruhigt zurück aufs Kissen sinken. Sie zog die Decke bis zum Kinn hoch und versuchte an etwas anderes zu denken. Aber alles, was sie sah, waren die grell leuchtenden Augen der Eule und das ängstliche Gesicht des Kindes.

Als sie am nächsten Morgen aufwachte, stellte Sarah erstaunt fest, dass sie in der vergangenen Nacht viel tiefer geschlafen hatte als sonst, und es dauerte eine Weile, bis sie wusste, wo sie sich befand und warum sie dort war. Verschlafen blickte sie auf die Uhr. Es war noch früh. Das Meeting, bei dem sie als Dolmetscherin agieren sollte, würde erst in ein paar Stunden beginnen. Sie drehte sich auf die andere Seite, fest entschlossen, sich das schöne Gefühl von völligem Frieden und tiefer Entspannung, dass sie eben empfunden hatte, als sie aufgewacht war, nicht nehmen zu lassen. Doch sie konnte nicht wieder einschlafen. Irgendetwas nagte an ihr. Eine Erinnerung. Sarah wälzte sich ein paar Minuten hin und her. Dann seufzte sie frustriert, schob die Decke zur Seite und stieg aus dem Bett.

Noch im selben Augenblick überkam sie die morgendliche Übelkeit, die sie seit Beginn ihrer Schwangerschaft regelmäßig heimsuchte. Sie ließ sich zurück aufs Bett fallen. Die Schwangerschaft hatte sie beinahe vergessen.

Der Gedanke an das Baby rief ihr die Ereignisse des vergangenen Tages und den seltsamen Traum, den sie in der Nacht gehabt hatte, wieder ins Gedächtnis. Oder hatte sie sich alles nur eingebildet? Sie grübelte eine Weile. Sie meinte sich vage daran zu erinnern, dass sie in der Nacht die kleine Tischlampe neben dem Bett angeknipst hatte. Sie blickte zum Nachttisch hinüber. Die Lampe brannte noch immer, also hatte ihre Phantasie ihr in dieser Hinsicht keinen Streich gespielt.

Auch das Treffen mit den beiden Indianerinnen, der Tod der Hirschkuh und der unheimliche Nebel waren in so weite Ferne gerückt, als sei es vor unendlich langer Zeit geschehen. Doch so unwirklich und traumhaft ihr das Ganze auch erscheinen mochte, sie wusste, dass alles so geschehen war, wie sie es erinnerte. Sie hatte einen eindeutigen Beweis: der rechte Kotflügel ihres Mietwagens war vollkommen zerbeult. Der Zusammenstoß mit der Hirschkuh hatte eine unbestreitbare Spur hinterlassen. Sarah hatte den Schaden bei ihrer Ankunft am Vorabend in der Tiefgarage des Hotels untersucht.

Aber was mochte es mit alledem auf sich haben? Allein der Gedanke an die seltsamen Vorkommnisse ließ sie erschauern. Sie war ein sehr realistischer Mensch, und Dinge solcher Art beunruhigten sie zutiefst.

Sarah schüttelte den Kopf in der Hoffnung, dass es ihr helfen würde, wieder einen klaren Gedanken zu fassen. Es brachte nichts. Dann sah sie zum ersten Mal wirklich, wo sie sich befand. Das Empress war eines der ältesten Hotels in Victoria. Als sie am vergangenen Abend angekommen war, war die neugotische Fassade des hundert Jahre alten Steingebäudes festlich erleuchtet gewesen. Ihr Zimmer spiegelte dieselbe alteuropäische Eleganz – von dem Stuck an den Decken über die hohen Fenster und Türen bis hin zu den altmodischen Möbeln und dicken Teppichen. Sarah musste lächeln. Sie kam sich beinahe vor wie eine Prinzessin.

Sie stand auf und ging durch das geräumige Hotelzimmer hinüber zu einem der Fenster. Sie schob die schwere Brokatgardine zur Seite und spähte forschend hinaus. Auch jetzt war keine Spur von Nebel zu sehen. Der Morgen brach klar und sonnig an und sie konnte sowohl die geschäftige Straße vor dem Hotel als auch das Meer und die vielen Boote, die im Hafen lagen, klar erkennen.

Sarah war noch immer in Gedanken versunken, als sie das Zimmer verließ, um im Hotelrestaurant zu frühstücken. Als sie in der eleganten Eingangshalle an der Rezeption vorbeikam, sprach sie der junge Mann an, der dort arbeitete. Mit ihm hatte sie sich auch beim Einchecken am Vorabend über den Zwischenfall mit der Hirschkuh unterhalten.

»Miss Stadler, einen Augenblick bitte!« Der junge Mann kam zu ihr herüber. »Ich habe mich wegen des Schadens an Ihrem Wagen mit der Autovermietung in Verbindung gesetzt. Die Versicherung deckt alle Kosten. Die Firma stellt Ihnen einen Ersatzwagen; er müsste im Laufe des Vormittags hier eintreffen. Ich habe auch mit der Polizei gesprochen. Sie haben mir versichert, dass derartige Zwischenfälle bedauerlicherweise häufiger vorkommen und Sie sich keine Gedanken zu machen brauchen. Sie können also ganz beruhigt sein.« Er lächelte sie zufrieden an.

»Ich danke Ihnen. Mir fällt ein großer Stein vom Herzen«, sagte Sarah.

»Sie sind sehr glimpflich davongekommen«, stellte der junge Mann fest. »Der Nebel letzte Nacht hat ein junges Ehepaar das Leben gekostet.«

»Oh Gott!«, entwich es Sarah.

»Ja, es war ein schlimmer Unfall. Ihr Wagen ist im Nebel mit einem entgegenkommenden Fahrzeug zusammengestoßen und von der Fahrbahn geschleudert worden. Die beiden müssen sofort tot gewesen sein. Der Fahrer des anderen Wagens liegt im Koma. Aber der sechsjährige Sohn des Ehepaares muss einen Schutzengel gehabt haben. Die Männer vom Rettungsdienst sagten, dass sie ihn beinahe unversehrt aus dem Wrack geborgen hätten.«

Sarah blickte erschrocken auf. »Das arme Kind!« Mehr vermochte sie nicht herauszubringen. Konnte es wirklich Zufall sein, dass sie in der vergangenen Nacht – derselben Nacht, in der ein sechsjähriger Junge in einen schrecklichen Verkehrsunfall verwickelt gewesen war – von einem kleinen Jungen in Todesangst geträumt hatte?

Für einen kurzen Augenblick sah Sarah den Nebel wieder; diese unheimliche, angsteinflößende, undurchdringliche weiße Wand, die alles hinter sich zu verbergen schien. Die Farbe wich aus ihrem Gesicht. Ja, sie war glimpflich davongekommen. Die Eltern des Jungen und der Fahrer des anderen Wagens nicht. Aber was hatten all diese Ereignisse nur zu bedeuten? Sie konnte es sich nicht erklären.

Überstürzt verabschiedete sie sich von dem jungen Mann. Der Unfall der jungen Familie hätte mir gestern ebenso gut passieren können, dachte sie, und ein kalter Schauer jagte über ihren Rücken. Unvermittelt blieb sie stehen, als ihr das ganze Ausmaß ihrer Feststellung bewusst wurde.

Als sie sich nach einer Weile wieder auf das Hier und Jetzt konzentrieren konnte, bemerkte sie, dass sie an der exklusiven Ladenpassage des Hotels angekommen war. Sie warf einen flüchtigen Blick in das geschmackvolle Schaufenster der Kunstgalerie vor ihr und wollte sich schon abwenden. Dann aber hielt sie abrupt inne und starrte in die Auslage. Im nächsten Moment stand sie in der Galerie.

»Guten Morgen, kann ich Ihnen behilflich sein?« Ein elegant gekleideter älterer Herr kam ihr entgegen.

»Das Gemälde im Schaufenster«, sagte Sarah und wusste selbst nicht, warum ihre Stimme so heiser klang. »Ich möchte es kaufen.«

»Aber gern. Welches genau soll es sein?« Der Herr ging zum Fenster hinüber, wo eine Reihe von Gemälden ausgestellt waren.

»Das Bild mit der Eule«, erklärte Sarah fast mechanisch.

»Es tut mir aufrichtig leid«, entschuldigte der Herr sich freundlich, »aber das Gemälde ist bereits verkauft. Könnte ich Sie für eines der anderen Werke interessieren?«

»Bereits verkauft …«, murmelte Sarah niedergeschlagen und trat ebenfalls ans Schaufenster. Dort betrachtete sie das Bild, das ihr eben ins Auge gefallen war, aus nächster Nähe. Das Gemälde war nicht groß, vielleicht 45 mal 30 Zentimeter. Es zeigte einen tiefdunklen, fast schwarzen Nachthimmel, an dem unzählige Sterne standen. Sie schienen regelrecht zu funkeln. Im Vordergrund befand sich ein Baum, dessen winterlich kahle Zweige sich kaum gegen den Himmel abzeichneten. Und dort, auf einem der Äste, saß sie – eine große Eule. Sarah wusste sofort, dass es sich um eine Eule handelte, denn ihre Augen leuchteten ihr wie die hellen Strahlen zweier Taschenlampen in grellem Gelbgrün entgegen. Das Bild war sehr düster, beinahe unheimlich – genau wie der Traum, den sie in der Nacht gehabt hatte.

Irgendetwas an dem Gemälde zog sie auf magische Weise an. Sarah konnte es sich nicht erklären, sie wusste nur, dass sie das Kunstwerk haben musste. Koste es, was es wolle. Sie drehte sich zu dem Galeriebesitzer um.

»Nein«, erklärte sie bestimmt, »kein anderes. Es muss dieses sein.« Sie wandte sich noch einmal zu dem Bild um und betrachtete es genau. Was war es nur, das sie derart faszinierte? Gleich darauf erkannte sie es. Erst hatte die alte Indianerin von einer Eule gesprochen, dann hatte Sarah eine Eule im Traum gesehen, und nun war es wieder eine Eule – die Eule in dem Gemälde.

»Es ist die Eule, um die es mir hauptsächlich geht«, erklärte sie dem überraschten Herrn schließlich.

»Es tut mir wirklich sehr leid«, wiederholte der Mann. »Dieses Gemälde ist verkauft und bezahlt, daran ist nichts mehr zu ändern.«

»Wohnt der Käufer hier im Hotel?«

Der Mann schüttelte den Kopf. »Es kam ein Anruf von außerhalb. Der Käufer hat per Kreditkarte bezahlt und darum gebeten, dass das Gemälde noch einige Tage hierbleibt, bis er es abholen kann.« Er machte eine kurze Pause, als er Sarahs enttäuschtes Gesicht sah. »Wenn es Ihnen wirklich hauptsächlich um die Eule geht«, fuhr er fort, »dann kann ich Ihnen vielleicht doch weiterhelfen. Folgen Sie mir.«

Der Mann führte Sarah zu einem gläsernen Schaukasten weiter hinten im Geschäft, in dem einige kleinere Schnitzereien ausgestellt waren. Als sie an den Schaukasten herantrat, erkannte Sarah sofort, was der Mann ihr zeigen wollte. Im oberen Regal stand eine kleine Eule aus grünlichem Stein, kaum größer als fünf Zentimeter.

»Die Jade, aus der diese Schnitzerei gefertigt ist, stammt aus British Columbia«, erklärte der Herr und reichte sie Sarah.

Sarah nahm die kleine Eule zögernd entgegen. In ihrem Traum war etwas so Unheimliches von dem Vogel ausgegangen. Doch sobald sie die Schnitzerei in ihrer Hand spürte, überkam sie ein ganz anderes Gefühl. Es war beinahe Erleichterung, die sie jetzt verspürte, so als habe sie etwas sehr Wichtiges wiedergefunden, das ihr vor langer Zeit abhandengekommen war. Sie erinnerte sich an die Worte der alten Indianerin: Die Eule ist ein Botschafter zwischen unserer Welt und der Welt der Ahnen.

»Ich nehme sie«, sagte sie bestimmt.