
Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg, Juli 2016
Copyright © 2014 by Rowohlt Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg
Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt, jede Verwertung bedarf der Genehmigung des Verlages
Umschlaggestaltung any.way, Walter Hellmann, nach einem Entwurf der Hafen Werbeagentur, Hamburg
Umschlagabbildungen Stephen Carroll/Trevillion Images; Photodisc/Getty Images
Schrift DejaVu Copyright © 2003 by Bitstream, Inc. All Rights Reserved.
Bitstream Vera is a trademark of Bitstream, Inc.
ISBN Printausgabe 978-3-499-25575-5 (1. Auflage 2016)
ISBN E-Book 978-3-644-31341-5
www.rowohlt.de
Hinweis: Alle angegebenen Seitenzahlen beziehen sich auf die Printausgabe.
ISBN 978-3-644-31341-5
Alle Ereignisse und Personen sind frei erfunden.
Selbst der Vollmond scheint, wann er will.
À une belle endormie
«Selbst wenn alle Teile eines Problems sich einzuordnen scheinen wie die Stücke eines Zusammenlegspieles, müsste man daran denken, dass das Wahrscheinliche nicht notwendig das Wahre sei und die Wahrheit nicht immer wahrscheinlich.»
Sigmund Freud
«In dem Moment, wo das LKA aus übergeordneten Gründen die Ermittlungen übernimmt oder unterstützt, kann das mal zu Irritationen vor Ort führen.»
Sabine Thurau kurz nach ihrer Amtseinführung als Präsidentin des Hessischen Landeskriminalamtes
Frankfurter Rundschau 26.4.2010
Als der Ministerpräsident die Augen aufschlug und sah, wie Homer Simpson einen Donut verspeiste, bekam er augenblicklich Hunger. Eigentlich hatte er bis zur Landung in Frankfurt nichts mehr essen wollen, doch jetzt blickte er kurz zu seiner Frau Ruth, die auf dem Nebensitz schlief, winkte der indischen Stewardess und bestellte flüsternd eine weitere Portion jener rosafarbenen Honigbällchen, von denen er seit dem Start bereits ein halbes Dutzend verzehrt hatte.
Er kam gerade aus Dharamsala, wo er dem Dalai-Lama einen Privatbesuch abgestattet hatte. Im Gepäck hatte er neue Fotos, auf denen man ihn gemeinsam mit dem Oberhaupt der Tibeter lächeln sah. Seine Presseleute würden dafür sorgen, dass diese Fotos in allen wichtigen Zeitungen erschienen, und er hoffte, dass sich dadurch seine Umfragewerte endlich wieder verbesserten. Der Dalai-Lama galt als weise und witzig, zwei Eigenschaften, die man dem Ministerpräsidenten zu seinem Leidwesen völlig absprach. Und doch fühlte er sich dem Tibeter inzwischen so nahe, dass er sich manchmal vorstellte, ebenfalls ein buddhistischer Mönch zu sein, um dann in der Ti-cîvara, dem leuchtenden Gewand des Ordens, vor das Parlament zu treten und lange in die Kameras zu lächeln: entspannt, witzig und weise.
Aber selten hatte er weniger Anlass gehabt, entspannt zu sein. Das Jahr hatte nicht gut begonnen. Bei den Wahlen im Januar hatte er zwölf Prozentpunkte verloren. Er war nur noch geschäftsführender Ministerpräsident, er war nur noch ein halber Ministerpräsident. Und wenn sich seine Gegner irgendwann einigen sollten, wäre er auch das nicht mehr lange, dann wäre er nur noch Rolf-Peter Becker, ein Funktionär seiner Partei, der seinen Vornamen hasste und der deshalb froh gewesen war, seit Amtsantritt MP genannt zu werden. Er hatte alles für sein Bundesland getan, hatte jeden Tag vierzehn, manchmal sechzehn Stunden gearbeitet, hatte in hässlichen Bürgerhäusern vor rotgesichtigen Landfrauen gesprochen, in öden Einkaufszentren Würstchen gebraten, hatte Narrenkappen aufgesetzt und mit betrunkenen Ortsvorstehern angestoßen. Vom frühen Morgen bis weit in die Nacht hinein hatte er sich durchs Land fahren lassen, und immer hatten sich neben ihm auf der Rückbank seiner Dienstlimousine die Akten gestapelt, die er zwischen zwei Terminen studierte.
Niemand konnte, niemand wollte es bestreiten: Er war ein Vorbild an Fleiß, Disziplin und Zähigkeit. Und dafür war er nun bestraft worden. Nein, er konnte es nicht anders nennen: Seine Wähler hatten ihn bitter enttäuscht. Und jetzt, da sich die Maschine der Air India dem Rhein-Main-Flughafen näherte und er an seine Niederlage dachte, schob er sich, um seine schlechte Stimmung zu vertreiben, das vorletzte Honigbällchen in den Mund.
Sein neuerlicher Heißhunger auf Süßigkeiten stimmte ihn nachdenklich. Seit der Schulzeit kämpfte er gegen sein Übergewicht, und er war stolz darauf, es als Erwachsener halbwegs in den Griff bekommen zu haben. Trotzdem waren seine kulinarischen Vorlieben dieselben geblieben: Er mochte alles, was fett, süß und ungesund war. Seine Ernährungsgewohnheiten waren ein täglicher Anschlag auf seinen Körper und ein Hohn auf die Kochkünste seiner Frau. Seine Mitarbeiter sagten ihm das, seine Parteifreunde, seine Kinder, und alle paar Monate sagte es auch seine Ärztin.
Seit Jahren war er umzingelt von Feinschmeckern, die jeden Tag in den besten Restaurants der Landeshauptstadt speisten und dazu teure französische Weine tranken. Aber immer noch konnte er sich nichts Schöneres vorstellen, als seinen Fahrer nachts an einem Fast-Food-Restaurant halten zu lassen.
Er war anders als die anderen, und das schon immer. In der Schule hatte er meist allein auf dem Pausenhof gestanden oder war gleich in der Bibliothek geblieben, um Zeitung zu lesen. Während seine Mitschüler an der Bushaltestelle rauchten oder sich hinter der Turnhalle zum Knutschen trafen, vertiefte er sich in den Wirtschaftsteil. Während die anderen im Jugendzentrum Flugblätter schrieben und abends ihre Partys feierten, hatte er Besseres vor.
Einmal, ein einziges Mal, war er ausgebrochen, als er mit zwei älteren Cousins über Ostern in die Niederlande gefahren war. Sie waren durch das Amsterdamer Rotlichtviertel geschlendert und hatten die Mädchen beäugt, die hinter der Oude Kerk in den Schaufenstern saßen. Sie waren in einen der Coffee-Shops gegangen und hatten Marihuana geraucht, bis ihnen schlecht wurde. Sie waren ans Meer gefahren und hatten im Autoradio die Rolling Stones gehört. Am Strand von Zandvoort war ihm Annicke begegnet, ein bisschen kleiner als er, mit runden Hüften und schweren Brüsten. Ein paar Mal war sie an seinem Handtuch vorbeigeschlendert und hatte ihm zugelächelt. Dann hatte sie sich einfach zu ihm gesetzt und ihm von ihrer Limonade angeboten. Sein Herz hatte sofort schneller geschlagen. Dass sie ein Hippie-Mädchen war, hatte ihn nicht gestört. Und ihr schienen seine Aknenarben egal zu sein. Sie hatte ihm die Wange gestreichelt und ihn auf den Mund geküsst. Dann hatte sie ihn an der Hand und mit in ihr Zelt genommen.
Annicke war das erste Mädchen, mit dem er geschlafen hatte, und für viele Jahre auch das letzte. Als er ihr am nächsten Tag in einem der Strandrestaurants wiederbegegnete, saß ein junger Mann mit langem Haar neben ihr, der seinen Arm um ihre Schulter gelegt hatte. «Hi, Rolf-Peter», hatte sie gerufen. «Darf ich vorstellen, das ist Hendrik, mein Verlobter.»
Er hatte nie wieder von ihr gehört. Er hatte sie gehasst, und doch war sie ihm nicht mehr aus dem Sinn gegangen. Wenn er an sie dachte, hatte er auch heute noch das Bild eines gerade angebissenen Pfirsichs vor Augen, er erinnerte sich an den Geschmack ihrer Haut, an einen leichten Sonnenbrand, an seine feuchte Badehose. Annicke, Annicke, Annicke. Wie oft hatte er ihren Namen vor sich hin gemurmelt.
«Von wem sprichst du?»
Erschrocken wandte sich der Ministerpräsident um. Seine Frau war neben ihm aufgewacht und sah ihn argwöhnisch an. «Annicke – darf man erfahren, wer das ist?»
«Nichts, ich meine … niemand … ich muss wohl geträumt haben», erwiderte er.
Plötzlich verwandelte sich der misstrauische Blick seiner Frau in einen angewiderten. «Sag mal … was klebt da an deinen Fingern?»
Der Ministerpräsident folgte ihrem Blick. Erst jetzt bemerkte er, dass er das letzte der rosafarbenen Honigbällchen in seiner Faust zerquetscht hatte.
Es dämmerte gerade erst, als der junge Mann an diesem Morgen in seinem Haus in der kleinen Ortschaft Schwarzenfels erwachte. Er hörte das leise Atmen der schlafenden Frau, die sich von hinten an seinen Körper drängte, schob ihre Hand sacht von seiner Hüfte, schlüpfte aus dem Bett und ging in die Küche. Ohne die Deckenlampe einzuschalten, nahm er ein Glas aus dem Schrank, füllte es mit Leitungswasser und trank einen großen Schluck.
Der junge Mann hieß Tobias S. Büttner, wobei das S. für Süleyman stand, ein Name, der neben dem dunklen Haar und der bronzefarbenen Haut das einzige Erbe eines Vaters war, den er nie kennengelernt hatte. Süleyman – so nannte er sich erst, seit ihm aufgefallen war, dass der Klang der drei Silben nicht unausweichlich Misstrauen hervorrief, sondern manchmal auch Neugier und Wohlgefallen.
Süleyman mochte es, gemocht zu werden, ohne etwas dafür zu tun. Er war schmal, braun und gelenkig. Er hatte mit vielen Männern geschlafen, Frauen kamen erst später dazu, und manchmal, wenn er es sich leisten konnte, schlief er monatelang mit gar niemandem. Er verlangte nicht immer danach, aber wenn ihm jemand eine Bezahlung anbot, nahm er sie an. Außer diesem halbverfallenen Haus, das er von einer Tante geerbt hatte, besaß Süleyman nichts, und so hoffte er, dass die Frau, die jetzt in seinem Bett lag, ihn später fragen würde, ob sie ihm ein wenig Geld dalassen solle.
Zurück im Schlafzimmer, stellte er sich ans Fenster, schob die Gardine beiseite und schaute nach draußen. Die umliegenden Häuser waren noch dunkel. Über der Wiese am Bach lag Nebel. Süleyman wollte sich gerade wieder abwenden, als etwas seine Aufmerksamkeit erregte. Er sah, wie sich im Halbdunkel auf der Landstraße am Hügel gegenüber, etwa dreihundert Meter Luftlinie von seinem Haus entfernt, langsam ein Lichtschein näherte. Süleyman nahm das Fernglas von der Fensterbank, ein altes Dialyt der Firma Zeiss, das seiner Tante gehört hatte, stellte die Schärfe ein und erkannte, dass es sich um den Scheinwerfer eines Sportmotorrades handelte. Der Fahrer stoppte am Straßenrand, blieb auf seiner Maschine sitzen, zog die Handschuhe aus, klappte das Visier seines Helms hoch und steckte sich eine Zigarette an. Zwei, drei Minuten lang geschah nichts. Dann wurde der Scheinwerfer ausgeschaltet, nur um Sekunden später wieder aufzuflammen. Zweimal kurz, einmal lang. Gleich darauf wiederholte sich der Vorgang: zweimal kurz, einmal lang.
Süleyman blieb reglos stehen, beide Hände um das Jagdglas geklammert, die Brauen an die Gummimuscheln gepresst – er wagte kaum zu atmen. Er hatte ein Zeichen gesehen, das nicht für seine Augen bestimmt war, ein geheimes Signal, das in einer belebten Großstadt wohl kaum Beachtung gefunden hätte, das aber hier, in diesem nächtlichen Dorf, einer Ungeheuerlichkeit gleichkam. Erst als der Fahrer den Motor wieder anwarf, die Maschine wendete, sich langsam in jene Richtung entfernte, aus der er gekommen war, und kurz darauf aus Süleymans Blickfeld verschwand, entspannte sich der junge Mann.
«Was machst du da in Unterhose mit einem Fernglas am Fenster?» Die Stimme der Frau klang brüchig. Er versuchte, sich an ihren Namen zu erinnern.
Sie hatte die Nachttischlampe eingeschaltet und sah zu ihm herüber. «Komm wieder ins Bett!»
«Nein», sagte er, «ich glaube, Sie müssen jetzt gehen.»
«Und was, wenn ich bleiben möchte?»
«Möchten Sie nicht.»
«Woher willst du das wissen?»
«Weil alle zu ihren Männern zurückgehen.»
«Stimmt! Bringst du mir einen Kaffee?»
«Sie können sich einen machen.»
«Ach, leck mich!», sagte sie.
«Nein», antwortete er.
Sie lachte. «Darf ich wiederkommen, Süleyman?»
«Wenn Sie mögen.»
«Mehr nicht?»
Er hob die Schultern.
«Warum siezt du mich, weißt du nicht, wie ich heiße?»
«Susanne?», fragte er.
«So ähnlich», sagte sie. «Kann ich noch duschen?»
Er wies mit dem Kopf auf die Tür, die vom Schlafzimmer ins Bad führte.
Als die Frau an Süleyman vorbeikam, wollte sie ihn auf die Wange küssen. Er drehte sich weg.
«Was bist du nur für ein Mensch?», fragte sie.
Als er gerade vierzehn geworden war, hatte der neue Freund seiner Mutter versucht, ihn zu schlagen. Schon am Morgen darauf hatte Süleyman eine Reisetasche gepackt, das Haus verlassen und es nie wieder betreten. Er fuhr mit dem Zug nach Frankfurt und stellte seine Tasche in ein Gepäckfach. Ein Mann sprach ihn an und fragte, ob er allein sei. Der Mann trug einen Sommeranzug und glänzende Schuhe.
«Ja», antwortete Süleyman.
Ob er sich ein wenig Geld verdienen wolle.
«Was muss ich dafür tun?», fragte der Junge.
«Wir fahren zu mir nach Hause, dann wirst du sehen», sagte der Mann.
Süleyman wusste nicht, was der Mann von ihm wollte, also lehnte er ab. Er lief durch die Stadt und schaute sich die hohen Häuser an.
Bisher kannte er kaum mehr als seinen Heimatort in der Schwalm und die umliegenden Dörfer. In Frankfurt war er erst einmal gewesen, als sie fünf Jahre zuvor mit der Schulklasse den Zoo besucht hatten.
Weil er kein Ziel hatte, ließ er sich treiben. Er sah sich die Auslagen der Geschäfte an und streifte durch die Kaufhäuser. Er kaufte sich ein gelbes T-Shirt und eine neue Jeans. Es kam ihm vor, als würden sich die Leute hier anders bewegen als zu Hause, die meisten schneller – als würde sie etwas treiben oder ziehen –, manche aber auch langsamer, als wollten sie zeigen, dass sie frei über ihre Zeit verfügen konnten. Süleyman fühlte sich fremd, aber er ahnte, dass es nicht gut war, wenn man ihm das anmerkte. Er ging zum Mainufer und setzte sich auf eine Bank. Als er Hunger bekam, kaufte er an einem Imbiss zwei Fischbrötchen und eine Flasche Limonade. Das Wechselgeld warf er einem Bettler in die Schachtel.
Am Abend suchte er nach einem billigen Hotel. Mehr als ein Bett brauchte er nicht. Von dem Haushaltsgeld, das er daheim aus dem Küchenschrank genommen hatte, waren noch hundertfünfzig Mark übrig. Er bekam ein Zimmer für zwei Nächte, das er im Voraus zahlen musste.
Am übernächsten Tag konnte er sich gerade noch ein Croissant und eine heiße Schokolade leisten. Er ging zum Bahnhof und wartete. Dann sah er den Mann mit dem Sommeranzug wieder. Der Mann kam auf ihn zu und lächelte. «Hast du es dir überlegt?»
Süleyman nickte.
«Ich heiße Holger», sagte der Mann.
Holger fuhr ein schwarzes Mercedes-Cabriolet. Er ging um den Wagen herum, öffnete die Beifahrertür und ließ Süleyman einsteigen. Der Junge lachte, als sie durch die Stadt fuhren und ihm der Wind die Haare zerzauste. Holger war freundlich. Er arbeitete für eine Werbeagentur und wohnte in einem Bungalow am Stadtrand. Vom Wohnzimmer aus konnte man in den Garten schauen, hinter dem der Wald begann.
Holger legte dem Jungen eine Hand auf die Schulter: «Wir haben noch nicht über Geld gesprochen. Wie viel nimmst du denn?»
«Kommt drauf an, was ich machen muss», sagte Süleyman.
Der Mann sah ihn an: «Sag mal, kann es sein, dass du noch Jungfrau bist?»
«Jungfrau?»
Holger nickte. «Es stimmt also. Dann gehst du jetzt erst mal duschen, hinterher reden wir. Wie alt bist du überhaupt?»
«Achtzehn», log Süleyman.
Er blieb über Nacht. Auch die nächsten Tage verbrachte er in dem Haus. Nach einer Woche bot Holger ihm an, bei ihm einzuziehen. Süleyman wurde der Geliebte des Mannes. Er lernte, wie man sich in einem Restaurant benahm, er lernte, wie man Rotwein trank und wie man Cannabis rauchte. Er sah zum ersten Mal das Meer und die Berge, er aß seinen ersten Hummer und schnupfte sein erstes Kokain. Ein Jahr lang schlief er mit Holger, manchmal auch mit Holgers Freunden und Freundinnen. Er lernte, dass man ihn begehrte. Anders als die wechselnden Männer seiner Mutter machte ihm Holger keine Vorschriften. Süleyman konnte kommen und gehen, wie er wollte. Er dachte nicht nach über das Leben, das er führte. Er war weder glücklich noch unglücklich. Es war, wie es war.
Aber nach einem Jahr gab ihm Holger zweitausend Mark und teilte Süleyman mit, dass er sein Zimmer im Bungalow räumen müsse, weil dort ein anderer Junge einziehen werde. Süleyman ging, ohne zu widersprechen. Er hatte keinen Plan. Weil ihm der Klang des Wortes Marseille geheimnisvoll vorkam, kaufte er eine Fahrkarte, stieg in den Zug und fuhr ans Mittelmeer. Als sein Geld aufgebraucht war, zog er an der Küste entlang weiter Richtung Osten. In dem kleinen Ort Agay lernte er einen alten Mann kennen, der am Strand eine Ferienanlage besaß. Für ein paar Monate durfte Süleyman dort arbeiten – als Gehilfe des Gärtners und als Küchenjunge in dem kleinen Strandrestaurant. Gegen Ende der Urlaubszeit, als er nicht mehr gebraucht wurde, fuhr er mit einem jungen Ehepaar zurück nach Deutschland. Die beiden ließen ihn an einem Rastplatz in der Nähe von Frankfurt aussteigen. Sie hatten nicht bemerkt, dass Süleyman den Geldbeutel der Frau gestohlen hatte.
Er ging wieder zum Bahnhof. Mal hatte er Geld, mal hatte er keines. Mal schlüpfte er bei jemandem unter, mal wohnte er in einer Pension. Im Sommer übernachtete er oft im Freien. Er stahl, er handelte mit Drogen, und schließlich kam er ins Jugendgefängnis nach Rockenberg, wo man ihn nach sechs Monaten wieder entließ.
So ging es weiter. So verbrachte er die nächsten Jahre.
Kurz vor seinem neunzehnten Geburtstag wurde Süleyman krank. Tagelang litt er unter Schüttelfrost und hohem Fieber, sodass er Angst hatte zu sterben. Er rief die Schwester seiner Mutter an und bat sie, ihm zu helfen. Er hatte ein paar Mal seine Ferien bei ihr verbracht; er wusste, dass sie ihn mochte. Zwei Stunden später stand seine Tante vor ihm, packte ihn und seine wenigen Habseligkeiten in ihren Wagen, nahm ihn mit in ihr kleines Haus und pflegte ihn gesund. Seitdem wohnte Süleyman in Schwarzenfels. Fast sah es aus, als könne er in dem kleinen Ort zur Ruhe kommen.
Dann starb seine Tante. In ihrem Testament vermachte sie dem Neffen das Haus und ein kleines Sparkonto auf seinen Namen. Auf der Beerdigung traf Süleyman seine Mutter wieder und lernte seine Halbschwester Nele kennen. Als sie wieder abfuhren, kletterte das Mädchen auf die Rückbank des VW Polos der Mutter und winkte zum Abschied.
Inzwischen war Süleyman zweiundzwanzig Jahre alt, ein junger Mann, der immer noch aussah wie ein Siebzehnjähriger. Er fühlte sich wie ein Junge und wurde bis heute von allen so genannt: Süleyman oder «der Junge».
Obwohl er sparsam gelebt hatte, ging das Geld der Tante rasch zur Neige. Er wollte das Haus nicht verkaufen. Die Leute im Dorf hatten sich an ihn gewöhnt. Sie grüßten ihn und ließen ihn ansonsten in Ruhe. Am liebsten hielt er sich in dem kleinen, von alten Hecken umgebenen Garten auf. Er fuhr gerne mit der Handfläche über die Rinde der Obstbäume, er mochte den Geruch der Erde und das Kitzeln der Grashalme auf seiner Haut. Am liebsten lag er nackt in der Sonne, ohne an etwas zu denken.
Süleyman hatte sich angezogen und in der Küche darauf gewartet, dass die Frau das Haus verließ. Als er jetzt die Tür ins Schloss fallen hörte, ging er kurz rüber zum Nachttisch. Er lächelte. Sie hatte einen Hundert-Euro-Schein unter den Lampenfuß geschoben. Er nahm das Geld und steckte es in die Tasche seiner Jeans.
Durch die zugezogene Gardine schaute er nach draußen. Der Wagen der Frau, ein dunkelblauer BMW X5, stand am Rande des schmalen, asphaltierten Wirtschaftsweges, der nicht weit von seinem Haus verlief. Bevor sie die Fahrertür öffnete, schaute sie noch einmal in Süleymans Richtung. Er war sich sicher, dass sie ihn nicht sehen konnte. Sie startete den Motor, schaltete das Licht ein und fuhr los.
Dann sah Süleyman das Sportmotorrad. Es tauchte von rechts aus dem immer noch dichten Frühnebel auf und fuhr mit hoher Geschwindigkeit direkt auf den Wagen der Frau zu. Beide Fahrzeuge machten im letzten Moment einen kleinen Schlenker, um einander auszuweichen. Das Motorrad holperte über den Rand der Fahrbahn, erreichte noch einmal mit dem Vorderreifen den Asphalt, geriet erneut ins Schlingern, kippte nach rechts und rutschte die Böschung hinab.
Dann war es still.
Der blaue BMW war längst in der Ferne verschwunden.
Süleyman wartete.
Er wartete zwei Minuten, drei Minuten, vier Minuten. Nichts geschah. Der Motorradfahrer kroch nicht die Böschung herauf. Niemand rief um Hilfe. Niemand schrie. Nichts.
Süleyman zog sein rotes Kapuzenshirt über, trat vor das Haus und sog mit einem kräftigen Atemzug die feuchte Morgenluft ein. Er schaute hoch zum Dorf, dessen Häuser am Hügel unter der Burg klebten wie Schwalbennester unter der Traufe. Noch immer schien die Welt zu schlafen.
Er lief die wenigen Schritte bis zu jener Stelle, an der das Motorrad von der Fahrbahn abgekommen war. Er sah die Spur, die es im hohen Gras hinterlassen hatte. Sie führte bis hinter die hohe Hecke aus blühendem Weißdorn und Holunder.
Der Fahrer lag etwa zwei Meter von seiner Maschine entfernt auf dem Boden. Sein Kopf war auf unnatürliche Weise verrenkt. Fast sah es aus, als habe jemand versucht, ihm das Kinn auf den Rücken zu drehen. Der Mund stand offen, der Blick war gebrochen. Süleyman wusste, dass der Mann tot war.
Der Junge ging neben dem Toten in die Hocke, tastete die Taschen der schweren Lederjacke ab, öffnete einen Reißverschluss, zog die Brieftasche des Mannes hervor und ließ die Beute unter seinem Kapuzenshirt verschwinden. Er tat das, wie man eine Arbeit verrichtet, die getan werden muss: schnell, konzentriert und ohne Bedenken. Dann hob er den Oberkörper der Leiche ein wenig an, zog die schwarze Umhängetasche darunter hervor und inspizierte deren Inhalt. Er fand nichts außer einem großen Umschlag aus brauner Pappe. Süleyman stopfte auch diesen in seinen Hosenbund, dann entfernte er sich so rasch von der Unfallstelle, wie er gekommen war.
Zurück im Haus, legte er den Umschlag auf den Tisch und las die Adresse:
Herrn
Johann von Münzenberg (MdL)
Schlossgasse 24
36391 Sinntal – Schwarzenfels
Einen Absender gab es nicht. Aber den Empfänger kannte Süleyman. Es gab niemanden in der Gegend, der diesen Mann nicht kannte.
Der Junge ging zum Fenster und schaute hinaus. Nichts war zu sehen, nichts war geschehen. Selbst die Grashalme am Wegrand schienen sich bereits wieder aufzurichten.
Kaum dreihundert Meter entfernt, auf dem Parkplatz hinter dem Gelände der Burg, saßen zur selben Zeit die beiden Beamten der Abteilung 3 des Hessischen Landeskriminalamtes in ihrem grauen Opel Vectra V6 und warteten auf die Ankunft ihrer Kollegen. Sie hatten den Wagen dicht an der Mauer geparkt, sodass er vom Herrenhaus aus nicht zu sehen war.
Daniel Fichtner, der jüngere der beiden Ermittler, hatte die Augen geschlossen und beide Hände aufs Lenkrad gelegt. Obwohl er ansonsten ruhig wirkte, verrieten die Wangen seinen Eifer. Er hatte seine Stelle beim LKA erst vor einigen Wochen angetreten, und er war stolz darauf, schon jetzt an einem offenbar heiklen Einsatz beteiligt zu werden.
Daniel Fichtner wollte ein guter Polizist werden. Er wollte Geld verdienen, ein Haus bauen und zwei Kinder haben. Anders als seine Eltern, wollte er ein geordnetes Leben führen. Er hatte im Spätsommer des letzten Jahres geheiratet, seine Frau war im achten Monat schwanger, seine Tochter würde bald geboren werden.
Der junge Polizist wollte alles richtig machen. Er wollte zeigen, was er konnte, und wenn er etwas nicht wusste, wollte er die richtigen Fragen stellen. Er galt als ehrgeizig, klug und fleißig. Auf der Polizeihochschule war er einer der Besten seines Jahrgangs gewesen; seine Arbeit über «Sexuell motivierte Tötungsdelikte in den westlichen Ländern der Europäischen Union» war mit einer Eins bewertet worden und schon kurz darauf als Artikel in einer deutschen, einer englischen und einer tschechischen Fachzeitschrift erschienen. Alles, was Daniel Fichtner fehlte, war Erfahrung. Am heutigen Morgen würde er den ersten Schritt tun, um diesen Missstand zu beheben.
Viel war es nicht, was er über den Einsatz wusste. Man hatte ihn gestern am späten Abend angerufen und ihm mitgeteilt, dass er in der Nacht von Axel Rotteck abgeholt werde.
Rotteck, der jetzt neben ihm auf dem Beifahrersitz saß und immer wieder auf seine Armbanduhr schaute, war eine Legende. Er hatte als verdeckter Ermittler einen der größten Drogenringe auffliegen lassen, er hatte die Hintergründe des Sabana-Skandals aufgedeckt und mit seinen Recherchen dafür gesorgt, dass die Geschäftsführer des Kronberger Unternehmens wegen illegalen Waffenhandels für viele Jahre ins Gefängnis mussten. Und Axel Rotteck war es auch gewesen, der den seit sieben Jahren flüchtigen ehemaligen Staatssekretär Dr. Ludwig Hoffe in einem Hotel in Madrid aufgestöbert und damit dessen Auslieferung an die deutschen Behörden ermöglicht hatte. Der Prozess würde in Kürze stattfinden, und es war zu erwarten, dass auch diesmal die Zeitungen und Fernsehsender Schlange stehen würden, um ein Interview mit Rotteck zu bekommen.
Axel Rotteck war 48 Jahre alt, knapp eins neunzig groß, schlank und hatte dunkles, leicht krauses Haar, das er mit Gel zu bändigen versuchte. Seine Augenbrauen trafen sich über der Nasenwurzel, und sein Bartwuchs war so stark, dass die Wangen schon mittags einen blauen Schatten zeigten. Wie für die meisten jungen Kriminalpolizisten in Hessen war Axel Rotteck auch für Daniel Fichtner ein Vorbild. Er hatte ihn auf der Polizeihochschule als kenntnisreichen und schlagfertigen Dozenten erlebt, der gut mit den Anwärtern umgehen konnte.
Umso mehr irritierte Fichtner das Verhalten seines neuen Vorgesetzten an diesem Morgen. Rotteck zeigte sich wortkarg. Fast wirkte er nervös. Auf die Wissbegier seines jungen Kollegen hatte er bisher nur ausweichend geantwortet. Trotzdem war Fichtner entschlossen, sich nicht einschüchtern zu lassen.
«Sag mal …?»
«Haben Sie mich gerade geduzt, junger Mann?»
«Entschuldigung. Ich dachte, das macht man unter Polizisten so … Erinnern Sie sich nicht? Ich habe vor ein paar Wochen schon mal für einen Tag in Ihrem Büro gesessen, als ich gerade im Amt angefangen hatte.»
Rotteck grinste. «Ich lasse mich von einem Bullen duzen, aber nicht von einem Polizisten.»
«Hören Sie, ich weiß, dass Sie ein guter Polizist sind. Ich möchte das auch werden. Ich glaube, dass ich von Ihnen lernen kann, aber …»
Rottecks Gesichtsausdruck hielt Fichtner davon ab, weiterzusprechen. Fast sah es aus, als wolle der Ältere in Gelächter ausbrechen, das er im letzten Moment zu einem Lächeln zähmte.
«Aber?»
«Wenn es Ihnen nicht recht ist, dass wir zusammenarbeiten …»
Rottecks Lächeln verschwand. «Ganz egal, ob es mir recht ist, Sie sind mir zugeteilt worden, also arbeiten wir zusammen.»
«Aber dann brauche ich ein paar Informationen über den Fall. Ich muss doch wissen, was wir hier machen, was meine Aufgabe ist.»
Das Lächeln war wieder da. «Sie möchten ein guter Polizist werden?»
«Ja, natürlich!»
«Dann merken Sie sich drei Dinge: Erstens trägt ein guter Polizist sein Herz nicht auf der Zunge, er plappert nicht, er gibt sich keine solche Blöße, wie Sie es gerade getan haben. Zweitens müssen Sie wissen, dass Sie gar nichts wissen. Sie sind ein Greenhorn, ein Newbie, ein Nichts. Ich weiß das, weil ich in Ihrem Alter genau das auch gewesen bin. Klar?»
Fichtner nickte zögernd. «Und … drittens?»
«Drittens ist ein guter Polizist besser angezogen, als Sie es sind.»
«Hören Sie, meine Frau erwartet ein Kind. Wir wollen bauen. Ich verdiene noch nicht so viel Geld …»
«Dann sorgen Sie dafür, dass mehr Geld reinkommt!» Erst jetzt drehte sich Rotteck kurz zu Fichtner um und warf einen Blick auf dessen Jeans und Jackett. «Ich nehme an, C & A?»
«P & C», erwiderte der Jüngere.
«Immerhin … Und die Schuhe …»
«Was soll das? Was ist mit meinen Schuhen?»
«Die Schuhe gehen gar nicht. Man läuft nicht in Dockers rum, wenn man im LKA etwas werden will. Dockers sind Proll. Proll können Sie sich im Präsidium leisten; wir haben andere Kundschaft. Womit wir beim Thema wären. Sie wissen, wen wir gleich hochnehmen?»
«Hausdurchsuchung bei einem gewissen Münzenberg. Es hieß, alles Weitere würde ich von Ihnen erfahren.»
«Der Mann heißt Johann von Münzenberg. Freiherr Johann von Münzenberg. Wie auch immer er gekleidet ist, wenn er uns gleich die Tür öffnet: Sie können davon ausgehen, dass selbst sein Pyjama mehr gekostet hat als Ihre gesamte Garderobe. Der Mann ist Landtagsabgeordneter der Christlichen, und er war mehr als zwanzig Jahre einer der obersten Forstbeamten.»
«Er ist Landtagsabgeordneter, aber dann …»
«Dann genießt er eigentlich Immunität. Gut aufgepasst! Wir haben einen ernstzunehmenden Hinweis, dass wir bei ihm schmutzige Bilder finden werden. Das heißt, es besteht Verdunkelungsgefahr; wir können also nicht warten, bis der Immunitätsausschuss sich zu einer Entscheidung bequemt hat. Die Sache ist mit dem Landtagspräsidenten abgeklärt. Den Rest müssen die Juristen klären.»
«Schmutzige Bilder? Sie meinen …»
«Ich meine Kinderpornographie. Und jetzt tun Sie mir einen Gefallen, junger Mann: Steigen Sie aus, gehen Sie ein wenig spazieren und rauchen Sie eine Zigarette.»
Bei den letzten Worten hatte Rotteck sein Smartphone hervorgezogen und begonnen, etwas hineinzutippen.
«Hören Sie, weder will ich aussteigen, noch will ich rauchen …»
Rotteck verdrehte die Augen. Mit einem Wedeln seiner linken Hand gab er Fichtner zu verstehen, dass er sich zu entfernen habe, dass es sich nicht um eine Bitte, sondern um einen Befehl handelte.
Daniel Fichtner fühlte sich elend. Er kam sich beschmutzt vor. Die groben Steine des Schotter-Parkplatzes drückten durch die Sohlen seiner Dockers. Er lief ein paar Meter über das Gelände und drehte sich noch einmal zum Dienstwagen um. Er sah, wie sein Kollege die Beifahrertür öffnete und ebenfalls ausstieg. Wie ein Monument stand Rotteck in der Dämmerung. Ihre Blicke trafen sich kurz, dann umrundete Fichtner einen großen Stapel Bruchholz, der am Rande des Platzes aufgeschichtet war. Dahinter führte ein schmaler, steil abfallender Pfad in den nahen Wald. Missmutig trottete der junge Mann ihn hinab. Er hatte sich wegschicken, er hatte sich abhängen lassen.
Er versuchte sich zu erinnern, wann er das letzte Mal so gedemütigt worden war. Vielleicht, als er seinen Eltern eröffnet hatte, dass er Polizist werden wollte, was zu einem heftigen Wortwechsel geführt hatte. Sein Vater hatte ihn einen angepassten Spießer genannt. Damals hatte er an seinem Entschluss festgehalten. Er hatte den Kontakt zu den Eltern abgebrochen, bis seine Mutter ihn schließlich angerufen und um Versöhnung gebeten hatte.
Er blieb stehen. Wie damals würde auch jetzt sein Trotz über den Ärger siegen. Er würde sich nicht abhängen lassen. Er würde zurückgehen und Rotteck zur Rede stellen. Am Ende würde er ihm dadurch mehr Respekt abverlangen, als wenn er sich fortjagen ließ wie ein Hund.
Als er wieder hinter dem Holzstapel angekommen war, hielt Daniel Fichtner inne. Ganz aus der Nähe hörte er die Stimme seines Kollegen. Reglos lauschte er.
«Was? … Nein, der Empfang ist miserabel. Was ist jetzt, habt ihr ihn erreicht? … Den Boten, verdammt noch mal, wen denn sonst. Ich will wissen, wo er bleibt … Er hätte vor einer halben Stunde hier sein müssen und inzwischen längst wieder weg … Was heißt: nein? … Wie lange soll ich denn noch warten? Was sollen wir beschlagnahmen, wenn das Material nicht im Haus ist? … Abblasen? Wie stellt ihr euch das vor? Wir können die Sache nicht mehr abblasen … Nein, nein, kommt überhaupt nicht in Frage! Wir müssen es durchziehen … In zehn Minuten rollt hier die ganz große Karawane an …»
Rotteck klang erregt. Und mit einem Mal begriff Daniel Fichtner, dass er gerade etwas gehört hatte, das er keinesfalls hätte hören sollen. Er begriff, dass mit der bevorstehenden Hausdurchsuchung etwas nicht stimmte. Und dass er nun etwas wusste, das er nicht wissen durfte.
Noch einmal hörte er Rottecks Stimme.
«Ich weiß selbst, was ich zu tun habe … Es ist mir egal, was passiert ist! Seht zu, dass ihr ihn findet, bevor er von jemand anderem gefunden wird … Er muss hier in der Nähe sein. Schickt eine Putztruppe los und lasst das Material verschwinden … Dann macht ihr es halt selbst … So eine verdammte Scheiße!»
Plötzlich war es still. Rotteck hatte aufgelegt. Daniel Fichtner überlegte, was zu tun war. Er würde warten, bis der andere wieder im Auto saß. Erst dann würde er weitergehen. Er würde so tun, als sei nichts geschehen, als sei er vollkommen ahnungslos.
Er hörte Rottecks Schritte auf dem Schotter. Sie wurden lauter statt leiser. Fichtner fuhr herum.
Rotteck stand keine zwei Meter von ihm entfernt. Sein Gesicht war bleich. In seiner Miene rangen Erstaunen und Wut miteinander. Er ging einen Schritt auf Fichtner zu, dann schnellte seine rechte Hand vor, umschloss die Gurgel des Jüngeren, drückte aber nur leicht zu. Er sprach leise, mit scharfer Stimme: «Ich glaub’s nicht: Da hockt dieses kleine Nichts und belauscht einen Kollegen. Was haben Sie gehört, Fichtner? Sie sagen mir augenblicklich, was Sie gehört haben!»
Als Fichtner seine Arme hob, um sich aus dem Griff des Kollegen zu befreien, erhöhte dieser den Druck.
«Nein, wir machen es anders. Egal, was Sie gehört haben, Sie werden es vergessen. Wir bringen die Sache jetzt hinter uns, und Sie werden spuren. Wir reden später über alles. Ist das klar?»
Fichtner versuchte ein Nicken.
Rotteck ließ von ihm ab. Er lächelte. Dann drehte er sich um und ging zurück zum Auto.
Zuerst sah Süleyman die drei Streifenwagen. Sie fuhren mit eingeschaltetem Blaulicht, aber scheinbar lautlos am Ortsschild vorbei und verschwanden hinter der Kurve. Süleyman sprang auf, schnappte sich das Fernglas, rannte die Treppe hinauf bis zum Dachboden, kletterte vorsichtig die kleine Holzleiter hoch, deren beide mittlere Stufen angebrochen waren, und drückte die Luke gerade so weit auf, dass er den Kopf ins Freie stecken konnte. Jetzt überblickte er den oberen Teil des Dorfes. Er sah die Rückseite des Marstalls und die Spitze der großen Fichte, die neben dem Herrenhaus stand.
Süleyman hatte sich nicht getäuscht. Die Polizeiautos, die eins nach dem anderen kurz zwischen den Häusern aufblitzten, fuhren Richtung Burg. Dort war die Straße zu Ende.
Das hieß: Sie wollten zum Baron. Und dass sie dorthin wollten, hatte etwas mit dem Motorradfahrer zu tun, der unten in der Wiese lag. Es hatte etwas mit dem braunen Umschlag zu tun, den er, Süleyman, bei dem toten Mann gefunden hatte. Und mit den Bildern, die in dem Umschlag gesteckt hatten und die jetzt auf seinem Küchentisch lagen.
Süleyman war nicht überrascht gewesen über den Inhalt des Umschlags. Es überraschte ihn selten etwas. Er hatte sich die Bilder ohne Regung angeschaut. Es kam ihm vor, als kenne er das alles. Aber er wusste, dass es solche Aufnahmen nicht geben durfte.
Es waren Jugendliche und Kinder darauf zu sehen, sowohl Jungen als auch Mädchen. Manche waren halb bekleidet, die meisten waren nackt. Auf einigen der Fotos sah man Männer und Frauen, die sich an den Kindern zu schaffen machten. Die Gesichter der Erwachsenen waren nicht zu erkennen. Sie waren hinter Masken verborgen oder nachträglich verpixelt worden. Fast alle dieser Fotos waren in Innenräumen aufgenommen, ein paar wenige auch im Freien, zwischen Sträuchern an einem See, auf einer Wiese, vor einer offenen Garage.
Süleyman kannte solche Bilder. Auch Holger hatte ihn gelegentlich gebeten, nackt zu posieren und sich dabei fotografieren zu lassen. Süleyman hatte es weder gemocht, noch hatte er sich dagegen gewehrt. Auch hatte er nie gefragt, was Holger mit diesen Bildern vorhatte. Es war ihm egal gewesen.
Aber unter den Fotos aus dem Umschlag gab es eines, das sich in dem kurzen Moment, den er es angeschaut hatte, in sein Gedächtnis gebrannt hatte. Es zeigte zwei unbekleidete Mädchen, die in einem leeren Raum auf dem Boden knieten. Sie waren vier, höchstens fünf Jahre alt. Ihre Augen waren vor Angst geweitet. Über ihnen stand ein dicker, nackter Mann, dessen Körper stark behaart war. Sein Gesicht war unter einer Scream-Maske verborgen. Er hatte die Arme gehoben und die Fäuste triumphierend geballt. Das Glied des Mannes war erigiert.
Sofort hatte Süleyman sich gewünscht, dieses Bild nie gesehen zu haben. Er hatte sich gewünscht, den dicken Mann töten zu können.
Jetzt sprang er von seinem Aussichtsposten in der Dachluke herunter, war eine Minute später in der Küche, packte mit wenigen Griffen die Fotos zurück in den Umschlag und versteckte diesen hinter der Rückenlehne der Eckbank. Bevor er die Tür hinter sich zuzog, vergewisserte er sich mit einem Griff an seine rechte Hosentasche, dass er den Hausschlüssel eingesteckt hatte. Dann lief er los.
Inzwischen war es hell geworden. Die Kühe in den Ställen verlangten nach Futter, und aus den Häusern hörte man das Klappern von Geschirr. Eine junge Bäuerin stand in ihrer Kittelschürze im Hof. In den Händen hielt sie zwei Eimer, die sie nun abstellte.
«Na, Süleyman, so früh unterwegs?»
Der Junge hob den Kopf, schaute die Frau an, lief aber weiter, ohne zu antworten.
Schon drei Häuser weiter wurde er wieder angesprochen. Ein Mann, noch im Unterhemd, lehnte im offenen Fenster. Mit dem Kopf zeigte er hoch zur Burg: «Scheint was los zu sein beim Baron.»
Süleyman nickte. Er bog von der Straße ab und ging nun den gepflasterten Fußweg hinauf, der, kurz bevor er die Schlossgasse erreichte, in eine Steintreppe mündete.
Als er die Treppe erreicht hatte, blieb Süleyman stehen und überlegte. Er hörte einen Mann und eine Frau sprechen. Süleyman stellte sich auf die Zehenspitzen, reckte den Hals und sah das Blaulicht eines Polizeiautos. Schnell zog er seinen Kopf wieder ein und ging in die Hocke. Wenn er nicht gesehen werden wollte, musste er die Richtung wechseln und einen anderen Weg nehmen.
Und er wollte nicht gesehen werden. Er wollte nicht, dass man ihm Fragen stellte. Er wollte nur wissen, was dort oben geschah.
Er lief ein paar Meter zurück, drückte sich rechts an der Mauer einer Scheune vorbei, kletterte über einen Zaun und stand nun auf einer der Streuobstwiesen, die sich unterhalb der Burg erstreckten. Er hielt sich im Schatten der letzten Wirtschaftsgebäude, die das untere Ende der Wiese begrenzten, dann lief er geduckt ins freie Gelände, um kurz darauf Deckung zwischen den Bäumen und Hecken zu suchen, deren Bewuchs zur Burg hin dichter wurde.
An der äußeren Burgmauer angekommen, atmete Süleyman durch. Nicht weit von ihm, in der Krone eines Apfelbaums, saß eine Elster, die kreischend davonflog, als er sich näherte. Er schaute ihr einen Moment lang nach, dann setzte er seinen Weg fort.
Zwei Minuten später hatte er den Fuß des alten Wehrturms erreicht. Er wusste, dass sich hinter den Brombeerbüschen eine kleine Eisentür befand, durch die man ins Innere des Turms gelangen konnte. Er bedeckte seinen Kopf mit der Kapuze, zog die Ärmel des Shirts über die Hände und kämpfte sich durch das dichte Gestrüpp der dornigen Zweige.
Die niedrige Tür stand halb offen; ihre Scharniere waren längst verrostet. Süleyman musste sich bücken. Er zwängte sich durch den Spalt und stöhnte kurz auf. Er hatte sich den Knöchel an einem Mauervorsprung aufgeschürft.
Das Innere des Turms war düster. Das feuchte Mauerwerk roch modrig. Süleyman wartete, bis sich seine Augen an die Dunkelheit gewöhnt hatten, dann tastete er sich an dem rauen Sandstein entlang bis zu der schmalen Wendeltreppe. Langsam setzte er einen Fuß vor den anderen. Bei jedem Schritt knirschte herabgefallener Putz unter seinen Sohlen. Er meinte, sein Herz schlagen zu hören.
Am ersten Treppenabsatz legte er sich auf den Boden, kroch unterhalb der Fensterluke weiter, um von außen nicht gesehen zu werden, stand wieder auf, wiederholte das Ganze auf dem nächsten Treppenabsatz, bis er schließlich den oberen Teil des Turms erreicht hatte.
Auch hier gab es einen kleinen, etwa dreißig mal fünfzig Zentimeter großen Durchbruch, der auf den Innenhof des Burggeländes hinausging. Süleyman positionierte sich so, dass er im Schatten stand. Erst dann wagte er einen Blick ins Freie.
Der Hof war noch leer. Die grünen Fensterläden des Herrenhauses waren geschlossen. Einer der Streifenwagen stand quer vor dem offenen Burgtor und versperrte die Ausfahrt. Die beiden anderen waren weiter vorne auf der Straße vor dem «Lindenkrug» geparkt. Süleyman erkannte einige der Dorfbewohner, die sich hinter dem rot-weißen Absperrungsband eingefunden hatten. Zwei uniformierte Polizisten waren rechts und links der Fahrbahn postiert; sie kehrten den Neugierigen den Rücken zu.
Fünf Minuten lang geschah nichts. Es herrschte eine merkwürdige, angespannte Ruhe. Fast sah es aus, als wage niemand zu sprechen, als dürfe niemand sich rühren.
Doch mit einem Mal kam das Bild in Bewegung. Über die Schlossgasse näherten sich zwei Fahrzeuge, ein Kleinbus mit Wiesbadener Kennzeichen und ein roter Kombi mit der Aufschrift TV news aktuell. Die Absperrung wurde kurz geöffnet, beide Fahrzeuge durften passieren.
Süleyman sah, wie zwei Männer vom Parkplatz heraufkamen und den Innenhof der Burg betraten. Der Ältere der beiden hielt ein Funkgerät in der Hand. Er griff in die Innentasche seines Jacketts und zog ein Blatt Papier hervor. Dann ging er zum Eingang des Herrenhauses und drückte auf den Klingelknopf.
Eine halbe Stunde später beschloss Süleyman, seinen Posten im Wachturm zu verlassen. Er hatte genug gesehen. Jetzt wusste er, dass das Haus des Barons durchsucht wurde. Er hatte gesehen, wie der Hausbesitzer die Tür geöffnet hatte und in einen heftigen Streit mit den Polizisten geraten war. Er hatte gesehen, wie immer mehr Leute in das Haus gegangen waren und wie man einige Zeit später einen Computer und Kisten voller Akten nach draußen gebracht und in den Kleinbus verfrachtet hatte. Süleyman wusste, was die Männer suchten. Er wusste auch, dass sie es nicht finden würden.
Als er sich erneut durch das Gestrüpp der Brombeersträucher gekämpft hatte und wieder auf der Streuobstwiese stand, sah er keine zehn Meter weiter einen Mann, der direkt auf ihn zukam. Süleyman erkannte ihn sofort. Es war der große Polizist mit dem Funkgerät.
Bevor der Junge noch überlegen konnte, was zu tun war, stand der Mann bereits vor ihm. Er zog ein Mäppchen aus seiner hinteren Hosentasche, klappte es auf und zeigte Süleyman seinen Dienstausweis.
«Mein Name ist Rotteck. Ich bin Kriminalpolizist. Was dagegen, wenn ich dir ein paar Fragen stelle?»
Süleyman zuckte mit den Schultern. Der Polizist lächelte.
«Du warst in dem Turm, nicht wahr?», sagte Rotteck.
Der Junge nickte.
«Und was hast du dort gemacht?»
«Geguckt», sagte Süleyman.
«Du bist also neugierig?»
«Ich hab die Streifenwagen gesehen, die zur Burg gefahren sind.»
«Und da wolltest du wissen, was wir hier machen?»
«Ja, Sie haben das Haus durchsucht.»
«Du bist ein kluger Junge», sagte Rotteck. «Und weil du auch ein neugieriger Junge bist, verrate ich dir ein Geheimnis: Wir haben nicht gefunden, was wir gesucht haben. Und deshalb müssen wir jetzt überall herumlaufen und den Leuten Fragen stellen. Ist dir irgendwas Ungewöhnliches aufgefallen?»
«Nö», sagte Süleyman.
«Du weißt ja noch gar nicht, was dir aufgefallen sein könnte.»
Süleyman schüttelte den Kopf.
«Zum Beispiel könnte dir ein Fremder im Dorf aufgefallen sein, ein Motorradfahrer.»
Wieder verneinte der Junge.
«Du bist dir sicher, dass du hier keinen Mann auf einem Motorrad gesehen hast?»
«Nö», sagte Süleyman.
Der Polizist nickte. Er zog ein Kärtchen mit seinem Namen und seiner Telefonnummer hervor. «Weißt du, was? Du kannst mir helfen. Hör dich einfach ein wenig im Dorf um! Und wenn du etwas erfährst, was mich interessieren könnte, rufst du mich an, ja?»
Süleyman nahm das Kärtchen und hielt es in der Hand. «Kann ich jetzt gehen?», fragte er.
Der Polizist schien bereits das Interesse an ihm verloren zu haben. Er hatte sein Handy aus der Tasche geholt und schaute auf das Display. «Was hast du gesagt?»
«Ich habe gefragt, ob ich gehen kann.»
«Ja, natürlich kannst du gehen.»
Süleyman wandte sich ab und trabte davon. Als er sich noch einmal umschaute, war der große Polizist verschwunden.
«Recht so?», fragte der Fahrer und schaute erwartungsvoll in den Innenspiegel.
Der Ministerpräsident hob den Kopf und streckte den Daumen seiner linken Hand in die Höhe. Der Bacon-Burger, den ihm sein Chauffeur besorgt hatte, war genau das, was er jetzt brauchte.
Rolf-Peter Becker hatte seiner Frau zum Abschied einen Kuss auf die Wange gegeben und noch einmal gewinkt, dann war das Taxi, in das Ruth am Frankfurter Flughafen mitsamt dem Reisegepäck gestiegen war, an ihm vorbeigefahren. Er hoffte, dass sie bereits schlafen würde, wenn er spät am Abend nach Hause kam. Er hoffte, dass sie ihn nicht noch einmal an sein Missgeschick mit dem rosafarbenen Honigbällchen erinnern und nicht noch einmal nach Annicke fragen würde.
Um 7.15 Uhr betrat der Ministerpräsident mit federndem Schritt die Staatskanzlei. Er nickte dem Pförtner zu und fuhr mit dem Fahrstuhl hoch in sein Büro. Seine Sekretärin würde ihren Arbeitstag frühestens in einer Dreiviertelstunde beginnen. Die Sitzung mit seinen Mitarbeitern war wie immer für neun Uhr angesetzt, so hatte er genügend Zeit, einen ersten Blick auf die Post zu werfen, die sich während seiner Abwesenheit angesammelt hatte. Er hatte den Ehrgeiz, und es war Teil seines Erfolges, nach Möglichkeit früher und gründlicher informiert zu sein als alle anderen. Und er liebte es, seine Umgebung dadurch zu verblüffen, dass er bereits Antworten auf Fragen hatte, die noch gar nicht gestellt waren.
Doch als er nun vor seinem schweren Mahagonischreibtisch stand und die beiden Stapel mit Umlaufmappen sah, die sich rechts und links der ledernen Unterlage türmten, verließ ihn augenblicklich aller Elan. Wie kleine, gelbe Zungen ragten aus den Mappen jene Aufkleber hervor, mit denen seine Sekretärin ihn darauf aufmerksam machte, dass es sich bei dem Inhalt um einen Vorgang handelte, der «eilig» oder «sehr eilig», im schlimmsten Fall sogar «umgehend zu erledigen» war. Der Ministerpräsident schaltete den großen iMac ein, dann trug er die beiden Aktenstapel hinter seinen Schreibtisch und platzierte sie so auf dem Boden, dass sie außerhalb seines Blickfeldes lagen. Er ließ sich in seinen Schreibtischsessel sinken und musste unwillkürlich lächeln. So gefiel ihm sein Arbeitsplatz – rein und leer, als sei alle Arbeit getan.
Er zog die Tastatur zu sich heran, überlegte kurz, die Adresse einer Erwachsenenseite einzugeben, merkte aber, dass er dafür nicht in Stimmung war.
Stattdessen zog er die untere Schublade seines Schreibtischs auf, wo er die Sammlung mit Zeichentrickfilmen aufbewahrte, wählte seine Lieblings-DVD mit den Abenteuern von Daffy Duck und Porky Pig und schob sie in das Laufwerk des Rechners.
Schon als die vertraute Melodie ertönte und das Emblem von Warner Brothers auf dem Monitor erschien, entspannte sich der Ministerpräsident. Seit seiner Kindheit fühlte er sich dem kleinen, dicken Schweinchen verbunden, das sich stotternd und bescheiden durchs Leben schlug und am Ende kraft seiner Klugheit oft über die großmäulige Ente