Cover

Von Brandon Sanderson sind im Wilhelm Heyne Verlag erschienen:

Sturmklänge

Die Seele des Königs

Der Rithmatist

DIE RÄCHER:

Steelheart

Firefight

Calamity

DIE STURMLICHT-CHRONIKEN:

Der Weg der Könige

Der Pfad der Winde

Die Worte des Lichts

Die Stürme des Zorns

Die Sturmlicht-Chroniken

DRITTER ROMAN

Aus dem Amerikanischen von Michael Siefener

WILHELM HEYNE VERLAG MÜNCHEN

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Die Originalausgabe ist unter dem Titel

Words of Radiance – Book Two of The Stormlight Archive (Part I)

bei Tor/Tom Doherty Associates, LLC, New York, erschienen.


Copyright © 2014 by Dragonsteel Entertainment, LLC

Copyright © 2017 der deutschsprachigen Ausgabe by Wilhelm Heyne Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH, Neumarkter Straße 28, 81673 München

Redaktion: Joern Rauser

Illustrationen und Karten: Isaac Stewart, Ben McSweeney, Dan dos Santos

Illustration im Vorsatz: Michael Whelan

Covergestaltung: Nele Schütz Design, München

Coverillustration: Max Meinzold

Satz: Schaber Datentechnik, Austria

E-Book Produktion: Satzwerk Huber, Germering

ISBN: 978-3-641-07182-0
V010


www.heyne.de

Für Oliver Sanderson,

der geboren wurde, als ich mitten in der Arbeit an diesem Buch steckte, und der bereits laufen konnte, als ich damit fertig war.

SECHS JAHRE ZUVOR

Jasnah Kholin tat so, als genieße sie das Fest, und ließ nicht erkennen, dass sie vorhatte, einen der Gäste ermorden zu lassen.

Sie spazierte durch die überfüllte Festhalle und lauschte, während der Wein die Zungen löste und die Hirne umnebelte. Ihr Onkel Dalinar war in vollem Schwung; er stand vom Hochtisch auf und rief den Parschendi zu, ihre Trommler zu holen. Jasnahs Bruder Elhokar eilte zu ihrem Onkel und wollte ihn zum Schweigen bringen, auch wenn die Alethi Dalinars Gefühlsausbruch höflich übersahen. Nur Elhokars Frau Aesudan kicherte geziert hinter ihrem Taschentuch.

Jasnah wandte sich vom Hochtisch ab und schlenderte weiter durch den Raum. Sie hatte eine Verabredung mit einem Attentäter und war froh, den stickigen Raum verlassen zu können, der nach zu vielen verschiedenen Parfüms roch, die sich miteinander vermischten. Ein Damenquartett spielte Flöte auf einem Podest, das dem knisternden Kamin gegenüber stand. Aber die Musik war schon längst ermüdend geworden.

Im Gegensatz zu Dalinar zog Jasnah viele Blicke auf sich. Sie folgten ihr wie die Fliegen dem verfaulenden Fleisch. Geflüster schwirrte wie Bienensummen umher. Wenn es etwas gab, das der Alethi-Hof noch mehr genoss als Wein, dann war es Geschwätz. Jedermann erwartete, dass sich Dalinar während eines Festes hemmungslos dem Wein hingab – aber die Tochter des Königs, die sich als Häretikerin erwies? Das war unerhört und beispiellos.

Genau aus diesem Grund hatte Jasnah über ihre Gefühle gesprochen.

Sie ging an den Abgesandten der Parschendi vorbei, die zusammengedrängt am Hochtisch standen und sich in ihrer rhythmischen Sprache miteinander unterhielten. Obwohl dieses Fest sie und das Abkommen, das sie mit Jasnahs Vater geschlossen hatten, ehren sollte, wirkten sie keineswegs ausgesprochen festlich gestimmt, ja nicht einmal glücklich. Eher schon sahen sie nervös aus. Natürlich waren sie keine Menschen, und aus diesem Grund erschien ihr Verhalten bisweilen seltsam.

Jasnah hätte sich zwar gern mit ihnen unterhalten, doch ihre Verabredung würde nicht auf sie warten. Sie hatte dieses Treffen absichtlich mitten in die Zeit des Festes gelegt, denn nun waren die meisten Anwesenden abgelenkt und betrunken. Jasnah ging auf die Tür zu, dann aber hielt sie doch inne.

Ihr eigener Schatten wies in die falsche Richtung.

Der stickige, laute Raum schien plötzlich in die Ferne zu weichen. Der Großprinz Sadeas schritt mitten durch den Schatten, der deutlich auf die Kugellampe an der Wand zeigte. Sadeas war so mit seinem Gefährten ins Gespräch vertieft, dass er es gar nicht bemerkte. Jasnah starrte den Schatten an; ihre Haut wurde feucht, ihr Magen krampfte sich zusammen – genauso fühlte sie sich, wenn sie sich übergeben musste. Nicht schon wieder. Sie suchte nach einer weiteren Lichtquelle. Nach einem Grund. Konnte sie einen Grund finden? Nein.

Träge floss der Schatten zu ihr zurück, quoll auf ihre Füße zu und erstreckte sich dann in die entgegengesetzte Richtung. Ihre Anspannung ließ nach. Hatte es sonst noch jemand gesehen?

Als sie sich in dem Raum umschaute, bemerkte sie zum Glück keine entsetzten Blicke. Die allgemeine Aufmerksamkeit war nun auf die Parschendi-Trommler gerichtet, die durch die Tür hereinkamen und sich aufstellten. Jasnah runzelte die Stirn, als sie einen Nicht-Parschendi-Diener in weißer Kleidung erkannte, der ihnen half. Ein Schin? Das war ungewöhnlich.

Jasnah riss sich zusammen. Was bedeuteten diese Vorfälle? In den abergläubischen Märchen, die sie gelesen hatte, hieß es, dass ungehorsame Schatten auf einen Fluch hinwiesen. Für gewöhnlich tat sie so etwas zwar als Unsinn ab, aber einige abergläubische Vorstellungen gründeten sich durchaus auf Tatsachen. Ihre Erfahrungen bewiesen das. Doch sie würde weitere Nachforschungen anstellen müssen.

Diese ruhigen, gelehrten Gedanken kamen ihr angesichts ihrer kalten, feuchten Haut und dem Schweiß, der ihr am Nacken herunterrann, wie eine Lüge vor. Aber es war wichtig, in jeder Lage vernünftig zu bleiben – und nicht nur dann, wenn man sich in einer ausgeglichenen Gemütsverfassung befand. Sie zwang sich, durch die Tür zu schreiten. Damit ließ sie den stickigen und feuchten Raum hinter sich und trat in einen stillen Korridor. Sie hatte den Hinterausgang gewählt, der für gewöhnlich nur von den Dienstboten benutzt wurde. Es war der kürzeste Weg.

Hier huschten Diener in Schwarz und Weiß umher, die sich auf Botengängen für ihre Hellherren und Damen befanden. Das hatte sie zwar schon erwartet, aber sie hatte nicht vermutet, plötzlich ihren Vater in einiger Entfernung vor sich zu sehen, der sich in einem leisen Gespräch mit Hellherr Meridas Amaram befand. Was tat der König hier?

Gavilar Kholin war kleiner als Amaram, doch dieser stand geneigt vor dem König. Dies war in Gavilars Gegenwart üblich, denn er sprach gewöhnlich mit einer solch leisen Eindringlichkeit, dass man sich zu ihm herunterbeugen musste, wollte man jedes Wort und jede Nebenbedeutung verstehen. Im Gegensatz zu seinem Bruder war er ein schöner Mann; sein Bart hob das starke Kinn eher hervor, als dass er es verbarg. Er besaß eine Anziehungskraft und Eindringlichkeit, die nach Jasnahs Meinung noch kein einziger Biograf korrekt wiedergegeben hatte.

Hinter den beiden Männern ragte Tearim auf, der Hauptmann der königlichen Wache. Er trug Gavilars Splitterpanzer, denn der König legte diesen in letzter Zeit nicht mehr an. Stattdessen hatte er ihn Tearim gegeben, der als einer der besten Duellanten der Welt bekannt war. Gavilar hingegen trug eine Robe in majestätischem, geradezu klassischem Stil.

Jasnah warf einen Blick zur Festhalle zurück. Wann hatte sich ihr Vater hierher geschlichen? Das war doch nachlässig, schalt sie sich. Du hättest überprüfen müssen, ob er noch in der Halle ist, bevor du gegangen bist.

Nun legte er die Hand auf Amarams Schulter, hob den Finger und sprach zwar harsch, aber leise. Jasnah konnte seine Worte nicht verstehen.

»Vater?«, fragte sie.

Er warf einen Blick zu ihr hinüber. »Ah, Jasnah. Ziehst du dich schon so früh zurück?«

»Es ist nicht mehr früh«, sagte Jasnah und schritt auf ihn zu. Es erschien ihr offensichtlich, dass Gavilar und Amaram einen abgeschiedenen Ort für ihr Gespräch gesucht hatten. »Das ist der unangenehmste Teil des Festes, wenn die Gespräche lauter, aber nicht gescheiter werden und die ganze Gesellschaft betrunken ist.«

»Viele Menschen halten gerade das für angenehm.«

»Leider sind viele Menschen Schwachköpfe.«

Ihr Vater lächelte. »Ist es sehr schwer für dich?«, fragte er sanft. »Mit uns anderen zu leben und unsere durchschnittliche Klugheit und unsere einfachen Gedanken ertragen zu müssen? Macht dich dein einzigartiger Scharfsinn einsam, Jasnah?«

Sie errötete, da sie die Frage als Tadel auffasste, und so war sie auch gemeint. Nicht einmal ihre Mutter Navani war in der Lage, eine solche Reaktion bei ihr hervorzurufen.

»Vielleicht würdest du diese Feste eher genießen, wenn du angenehme Freunde fändest«, sagte Gavilar. Sein Blick fiel wieder auf Amaram, den er schon lange als möglichen Partner für Jasnah erachtete.

Aber das würde nie geschehen. Amaram sah sie an, murmelte ihrem Vater einige Abschiedsworte zu und hastete den Korridor entlang.

»Welchen Auftrag hast du ihm gegeben?«, fragte Jasnah. »Worum geht es dir heute Nacht, Vater?«

»Natürlich um das Abkommen.«

Das Abkommen. Warum war es ihm so wichtig? Ihm war geraten worden, die Parschendi entweder gar nicht zu beachten oder ihr Land zu erobern. Aber Gavilar beharrte auf einer friedlichen Lösung.

»Ich sollte mich zum Fest zurückbegeben«, sagte Gavilar und gab Tearim ein Zeichen. Die beiden gingen durch den Korridor auf die Tür zu, durch die Jasnah vorhin geschritten war.

»Vater?«, fragte Jasnah. »Was verschweigst du mir?«

Er warf einen Blick zurück zu ihr und hielt inne. Seine Augen waren blassgrün – ein Zeichen seiner guten Herkunft. Seit wann war er so mitfühlend? Bei allen Stürmen … sie hatte das Gefühl, dass sie diesen Mann kaum mehr kannte. In erstaunlich kurzer Zeit war eine beachtliche Verwandlung mit ihm vorgegangen.

Die Art, wie er sie ansah, erweckte bei ihr das Gefühl, dass er ihr nicht vertraute. Wusste er von ihrem Treffen mit Liss?

Er drehte sich um, ohne noch ein Wort zu sagen, und begab sich zu den Feiernden zurück. Sein Wächter folgte ihm.

Was geht in diesem Palast vor?, dachte Jasnah und holte tief Luft. Sie würde sich darum kümmern müssen. Hoffentlich hatte er nichts über ihre Treffen mit bezahlten Mördern herausgefunden – aber wenn er doch etwas darüber wusste, dann würde sie auch damit umgehen können. Sicherlich verstünde er, dass jemand über die Familie wachen musste, da er selbst immer stärker von seiner Begeisterung für die Parschendi verzehrt wurde. Jasnah drehte sich um und setzte ihren Weg fort. Dabei kam sie an einem Diener vorbei, der sich vor ihr verneigte.

Nachdem sie einige Zeit durch die Korridore geschritten war, bemerkte Jasnah, dass sich ihr Schatten wieder merkwürdig verhielt. Sie seufzte verärgert, als er auf die drei Sturmlicht-Lampen an den Wänden zulief. Zum Glück hatte sie nun die belebteren Bereiche des Korridors hinter sich gelassen. Keine Diener waren mehr zu sehen.

»In Ordnung«, sagte sie giftig. »Nun reicht es.«

Sie hatte nicht laut sprechen wollen. Doch als ihr die Worte von den Lippen schlüpften, regten sich einige ferne Schatten, die aus einer Kreuzung des Ganges vor ihr flossen, und wurden lebendig. Sie hielt den Atem an. Die Schatten wurden länger und tiefer. Gestalten wuchsen in ihnen und erhoben sich.

Sturmvater, ich werde verrückt.

Einer der Schatten bildete die Form eines nachtschwarzen Mannes aus, doch dann waren gewisse Widerspiegelungen auf ihm zu erkennen, als wenn er aus Öl bestünde. Nein … aus einer anderen Flüssigkeit mit einem Überzug aus Öl, der ihm eine dunkle, prismatische Qualität verlieh.

Er schritt auf sie zu und zog ein Schwert aus der Scheide.

Eine kalte und unnachgiebige Logik lenkte Jasnah von nun an. Wenn sie um Hilfe rief, würde diese nicht rechtzeitig eintreffen, und die tintenartige Geschmeidigkeit der Kreatur verriet eine Schnelligkeit, die die ihre weit übertreffen musste.

Sie blieb stehen und begegnete dem starren Blick des Wesens, worauf dieses zögerte. Hinter ihm hatten sich einige andere Kreaturen aus der Finsternis materialisiert. Diese Blicke hatte sie während der letzten Monate oft auf sich ruhen gespürt.

Nun war der gesamte Gang verdunkelt, als würde er allmählich in lichtlosen Tiefen versinken. Mit rasendem Herzen und schnellen Atemzügen hob Jasnah die Hand und legte sie auf die Granitwand neben sich, weil sie etwas Festes spüren wollte. Ihre Finger sanken ein wenig in den Stein ein, als wäre die Wand zu Schlamm geworden.

Oh, bei allen Stürmen! Sie musste etwas unternehmen. Aber was? Was konnte sie denn tun?

Die Gestalt vor ihr warf einen raschen Blick auf die Wand. Die Lampe, der sich Jasnah am nächsten befand, erlosch. Und dann …

Dann löste sich der Palast auf.

Das gesamte Gebäude zerfiel zu Tausenden und Abertausenden kleiner Glaskugeln, die wie Perlen aussahen. Jasnah schrie auf, als sie rücklings durch einen dunklen Himmel stürzte. Sie befand sich nicht länger im Palast; sie musste irgendwo anders sein – in einem anderen Land, in einer anderen Zeit, in einem anderen … Etwas.

Sie sah nur noch die dunkle, glänzende Gestalt, die vor ihr in der Luft schwebte und nun zufrieden zu sein schien, denn sie steckte ihr Schwert in die Scheide zurück.

Jasnah fiel in etwas hinein – in einen Ozean aus Glasperlen. Zahllose andere regneten auf sie herab und versanken klickend wie bei einem Hagelsturm in dem seltsamen Meer. Sie hatte diesen Ort nie zuvor gesehen; sie konnte auch nicht erklären, was da geschehen war oder was diese Geschehnisse bedeuteten. Sie schlug einfach um sich, während sie versank; was eine Unendlichkeit zu dauern schien. Glasperlen an allen Seiten. Hinter ihnen konnte sie nichts mehr erkennen; sie spürte nur noch, wie sie durch diese brodelnde, erstickende, klirrende Masse immer tiefer sank.

Sie würde sterben. Sie würde ihre Arbeit unbeendet und ihre Familie schutzlos zurücklassen!

Also würde sie nie die Antworten erfahren.

Nein.

Jasnah schlug in der Finsternis um sich; Perlen rollten über ihre Haut, gelangten in ihre Kleidung, arbeiteten sich bis in die Nase vor, als Jasnah zu schwimmen versuchte. Doch es war sinnlos. Sie konnte sich in dieser Masse nicht halten. Sie hob die Hand vor den Mund und versuchte, eine Luftblase zu bilden, um atmen zu können. Tatsächlich gelang es ihr auch für kurze Zeit, doch dann rollten die Perlen um ihre Hand herum und drangen zwischen den Fingern hindurch. Sie sank wieder, nun langsamer, wie durch eine zähe Flüssigkeit.

Jede Perle, die sie berührte, verschaffte ihr einen schwachen Eindruck von … gewissen Dingen. Einer Tür. Einem Tisch. Einem Schuh.

Die Perlen fanden ihren Weg in Jasnahs Mund. Sie schienen sich aus eigenem Antrieb zu bewegen. Sie würden Jasnah ersticken, würden sie vernichten. Nein … nein, eher schienen sie von Jasnah angezogen zu werden. Ihr kam etwas in den Sinn – es war kein deutlicher Gedanke, sondern vielmehr … ein Gefühl. Die Perlen wollten etwas von ihr.

Sie nahm eine und hielt sie in der Hand; nun hatte sie den Eindruck eines Bechers. Sie … verlieh der Perle etwas? Die anderen Perlen um sie herum zogen sich zusammen, verbanden sich miteinander wie Steine, die durch Mörtel miteinander verklebt wurden. Schon im nächsten Augenblick fiel Jasnah nicht mehr durch einzelne Perlen, sondern durch gewaltige Massen von ihnen, die zu einer bestimmten Gestalt zusammengeklebt waren …

Zu einem Becher.

Jede Perle war ein Muster und eine Anleitung für die anderen.

Jasnah ließ die Perle los, die sie in der Hand gehalten hatte, und die Perlen um sie herum fielen auseinander. Sie geriet ins Taumeln und griff verzweifelt um sich, als ihr die Luft ausging. Sie brauchte etwas, das sie benutzen konnte – etwas, das ihr zu helfen vermochte. Sie brauchte eine Überlebensmöglichkeit! Verzweifelt schwang sie die Arme und berührte dabei so viele Perlen wie möglich.

Ein Silberteller.

Ein Mantel.

Eine Statue.

Eine Laterne.

Und dann – etwas Uraltes.

Etwas Gewichtiges und Schwerfälliges, aber irgendwie auch Starkes. Der Palast selbst. Wild entschlossen ergriff Jasnah diese eine Perle und zwang ihre eigene Kraft hinein. Ihre Gedanken verschwammen; sie gab der Perle alles, was sie hatte, und dann befahl sie ihr, sich zu erheben.

Die Perlen regten sich.

Ein lautes Knacken und Klirren und Rasseln und Klappern ertönte, als sich die Perlen miteinander verbanden. Fast war es wie das Anbranden des Meeres am Ufer. Jasnah stieg aus den Tiefen auf; etwas Festes bewegte sich unter ihr und gehorchte ihrem Befehl. Perlen bedeckten Kopf, Arme, Schultern, bis Jasnah schließlich an die Oberfläche des Meeres aus Glas schoss und dabei eine wahre Gischt aus Perlen in einen dunklen Himmel schleuderte.

Sie kniete auf einer Plattform aus Glas, die aus kleinen, miteinander verbundenen Perlen bestand. Während sie die Hände nach oben ausgestreckt hielt, umfasste sie die eine Perle, die ihr Führer war. Andere rollten um sie herum, bildeten sich zu einem Korridor mit Lampen an den Wänden und einer Kreuzung vor ihr aus. Es sah natürlich nicht richtig aus – alles bestand aus Perlen. Aber immerhin, es war eine Annäherung.

Sie war nicht stark genug, den gesamten Palast nachzubilden, sondern erschuf nur diesen Korridor, ohne Decke. Doch der Boden trug sie und bewahrte sie vor dem Versinken. Mit einem Ächzen öffnete sie den Mund; Perlen fielen herunter und klirrten auf den Boden. Dann hustete sie, atmete die süße Luft ein; Schweiß tropfte an ihren Wangen herab und sammelte sich am Kinn.

Vor ihr trat die dunkle Gestalt auf die Plattform. Wieder zog sie ihr Schwert aus der Scheide.

Jasnah hielt eine zweite Perle hoch; es war die Statue, die sie vorhin gespürt hatte. Jasnah verlieh ihr Kraft, und weitere Perlen sammelten sich vor ihr und nahmen die Gestalt einer der Statuen an, die die Vorderseite der Festhalle säumten. Es war die Statue von Talenelat’Elin, dem Herold des Krieges – das war ein großer, muskulöser Mann mit einem mächtigen Splitterschwert.

Die Statue war nicht lebendig, aber Jasnah steuerte sie und senkte ihr Perlenschwert. Sie bezweifelte, dass dieses Abbild zu kämpfen verstand. Runde Perlen vermochten kein scharfes Schwert zu bilden. Aber die Drohgebärde führte dazu, dass die dunkle Gestalt zögerte.

Jasnah biss die Zähne zusammen, stemmte sich auf die Beine; Perlen strömten aus ihrer Kleidung. Sie würde vor diesem da nicht niederknien, was immer es auch sein mochte. Sie trat neben die Perlenstatue und bemerkte zum ersten Mal die seltsamen Wolken über ihr. Sie bildeten ein schmales Band, das so gerade und lang war wie eine Straße, die in den Horizont wies.

Dem Blick der Ölgestalt hielt sie stand. Das Wesen betrachtete sie einen Moment lang, hob dann zwei Finger an die Stirn und verneigte sich wie in tiefem Respekt. Ein Umhang bauschte sich hinter ihm auf. Andere hatten sich dahinter versammelt, wandten sich einander zu und tauschten geflüsterte Worte.

Die Perlen verblassten, und Jasnah fand sich im Korridor des Palastes wieder. Es war der wirkliche Palast, erbaut aus richtigem Stein. Aber es war dunkel geworden. Das Sturmlicht in den Leuchtern an den Wänden war erloschen. Nur aus den Tiefen des Korridors drang ein wenig Licht herbei.

Sie lehnte sich mit dem Rücken gegen die Wand und atmete tief durch. Ich muss diese Erfahrung aufschreiben, dachte sie.

Das würde sie tun und das Geschehene dann analysieren und überdenken. Doch jetzt wollte sie erst einmal von diesem Ort verschwinden. Sie eilte davon, ohne auf die Richtung zu achten, und versuchte den Blicken zu entkommen, die sie noch immer auf sich ruhen spürte.

Es gelang ihr nicht.

Schließlich riss sie sich zusammen und wischte sich mit einem Taschentuch den Schweiß von der Stirn. Schadesmar, dachte sie. So heißt dieser Ort in den Ammenmärchen. Schadesmar, das mythologische Reich der Sprengsel. An diese Mythologie hatte sie allerdings nie geglaubt. Sicherlich würde sie etwas darüber finden, wenn sie die Berichte aufmerksam genug las. Fast alles, was jetzt geschah, war schon einmal geschehen. Das war die große Lehre, die aus der Geschichte zu ziehen war, und …

Bei allen Stürmen, ihre Verabredung!

Sie verfluchte sich selbst und eilte weiter. Das soeben Erlebte lenkte sie zwar noch immer stark ab, aber sie musste dieses Treffen unbedingt einhalten. Also stieg sie zwei Stockwerke nach unten und entfernte sich immer weiter vom Lärm der Parschendi-Trommeln, bis sie nur noch die heftigsten Schläge hören konnte.

Die Komplexität dieser Musik hatte sie schon immer verblüfft. Daraus folgte der Schluss, dass die Parschendi gar nicht jene unkultivierten Wilden waren, für die sie von den meisten gehalten wurden. Aus dieser großen Entfernung klang die Musik auf beunruhigende Weise wie das Klirren und Prasseln der Perlen an jenem dunklen Ort, den sie soeben verlassen hatte.

Diesen abgelegenen Teil des Palastes hatte sie absichtlich für ihre Zusammenkunft mit Liss ausgewählt. Niemand suchte je die Gästezimmer auf, die sich hier befanden. Vor der Tür zu ihnen stand ein Mann, den Jasnah nicht kannte. Das verschaffte ihr ein Gefühl der Erleichterung. Sicherlich war dieser Mann Liss’ neuer Diener, und seine Anwesenheit bedeutete, dass Liss trotz Jasnahs Verspätung noch immer hier war. Sie fasste sich, nickte dem Wächter zu – einem Veden-Untier, dessen Bart rot gesprenkelt war – und drückte die Tür auf.

Liss erhob sich von dem Tisch des kleinen Zimmers. Sie trug das Kleid einer Magd – natürlich tief ausgeschnitten – und hätte für eine Alethi gehalten werden können. Oder für eine Veden. Oder eine Bav. Es hing ganz davon ab, welchen Teil ihres Akzents sie hervorzuheben beliebte. Sie hatte lange, dunkle Haare, die sie offen trug, und ihre überaus anziehende Figur wies an allen Stellen die passenden Rundungen auf.

»Ihr kommt spät, Hellheit«, sagte Liss.

Darauf antwortete Jasnah nichts. Sie war hier die Auftraggeberin und hatte es keineswegs nötig, sich zu entschuldigen. Stattdessen legte sie etwas auf den Tisch neben Liss. Es war ein kleiner Umschlag, mit Rüsselkäferwachs gesiegelt.

Jasnah ließ zwei Finger darauf liegen und überlegte noch.

Nein. Das war zu dreist. Sie wusste nicht, ob ihrem Vater klar war, was sie hier tat, aber auch wenn dem nicht so sein sollte, geschah zu viel Unvorhersehbares in diesem Palast. Sie musste sich zuerst vollkommen sicher sein, bevor sie den Auftrag zu einem Attentat gab.

Glücklicherweise hatte sie einen Ersatzplan vorbereitet. Sie holte einen zweiten Umschlag aus einer Tasche im Innern ihres Ärmels und legte ihn statt des ersten auf den Tisch. Dann nahm sie die Finger davon, umrundete den Tisch und ließ sich nieder.

Liss setzte sich ebenfalls wieder hin und ließ den Brief im Ausschnitt ihres Kleides verschwinden. »Eine seltsame Nacht, Hellheit, um Hochverrat zu begehen«, sagte die Frau.

»Ich will dich nur zur Beobachtung einstellen.«

»Verzeihung, Hellheit, aber für gewöhnlich beauftragt man einen Attentäter doch nicht nur damit, jemanden oder etwas zu beobachten.«

»Deine Anweisungen befinden sich in diesem Umschlag«, sagte Jasnah. »Zusammen mit dem ersten Teil der Bezahlung. Ich habe dich ausgewählt, weil du eine Expertin für länger andauernde Beobachtungen bist. Genau das ist es, was ich brauche. Fürs Erste.«

Liss lächelte und nickte. »Ich soll die Frau des Thronerben bespitzeln? Das wird aber sehr teuer werden. Seid Ihr sicher, dass Ihr sie nicht einfach tot sehen wollt?«

Jasnah klopfte mit den Fingern auf die Tischplatte und erkannte bald, dass sie es im Einklang mit den Trommeln über sich tat. Die Musik war so unerwartet komplex – wie die Parschendi selbst.

Zu vieles geschieht, dachte sie. Ich muss sehr vorsichtig sein. Und möglichst feinfühlig vorgehen.

»Die Kosten nehme ich hin«, erwiderte Jasnah. »Ich werde dafür sorgen, dass in einer Woche eine der Zofen meiner Schwägerin entlassen wird. Du wirst dich um diese Stellung bewerben, indem du gefälschte Empfehlungsschreiben benutzt, die du gewiss selbst herstellen kannst. Man wird dich einstellen.

Aus dieser Position heraus wirst du beobachten und Bericht erstatten. Ich werde dir rechtzeitig mitteilen, ob auch deine anderen Dienste erfordert werden oder nicht. Du handelst nur, wenn ich es dir sage. Verstanden?«

»Ihr seid diejenige, die bezahlt«, sagte Liss. Nun klang ein schwacher Bav-Akzent durch.

Das bedeutete, dass sie Jasnah diesen Akzent hören lassen wollte. Liss war die erfahrenste Attentäterin, die Jasnah kannte. Man nannte sie auch das Weinen, da sie ihren Opfern die Augen ausstach. Selbst wenn sie diesen Spitznamen nicht geprägt hatte, leistete er ihr gute Dienste, da sie Geheimnisse zu verbergen hatte. Eines davon war die Tatsache, dass das Weinen eine Frau war.

Es hieß, das Weinen steche die Augen aus, weil es damit verdeutlichen wolle, dass ihm gleichgültig sei, ob seine Opfer helle oder dunkle Augen haben. In Wirklichkeit verbarg diese Handlung jedoch ein zweites Geheimnis. Niemand sollte wissen, dass die Art und Weise, auf die sie tötete, die Leiche mit verbrannten Augenhöhlen zurückließ.

»Dann ist dieses Treffen hiermit beendet«, sagte Liss und stand auf.

Jasnah nickte geistesabwesend und war in Gedanken schon wieder bei ihrem bizarren Erlebnis mit den Sprengseln von vorhin. Diese glitzernde Haut und die Farben, die auf einer Oberfläche wie aus Teer geschillert hatten …

Sie zwang sich, nicht mehr an jenen Augenblick zu denken. Sie musste ihre ganze Aufmerksamkeit dem widmen, was sich da vor ihr befand. Und fürs Erste war das Liss.

Diese blieb zögernd an der Tür stehen. »Wisst Ihr, warum ich Euch mag, Hellheit?«

»Ich vermute, es hat etwas mit meinen Taschen und ihrer sprichwörtlichen Tiefe zu tun.«

Liss lächelte. »Ich will nicht abstreiten, dass dies ein guter Grund ist, aber Ihr seid auch anders als die übrigen Hellaugen. Wenn ich von ihnen beauftragt werde, rümpfen sie die Nase über die ganze Angelegenheit. Sie wollen sich unbedingt meiner Dienste vergewissern, aber dann höhnen sie und ringen die Hände, als würden sie gezwungen werden, etwas ganz und gar Abscheuliches zu tun.«

»Ein Attentat ist auch etwas Abscheuliches, Liss. Ebenso wie das Säubern von Nachttöpfen. Ich kann denjenigen respektieren, der eine solche Arbeit tut, ohne die Arbeit selbst zu bewundern.«

Liss grinste und öffnete die Tür einen Spaltbreit.

»Dieser neue Diener da draußen vor der Tür …«, bemerkte Jasnah. »Hattest du nicht gesagt, dass du ihn nicht mehr hierher mitbringen wolltest?«

»Talak?«, fragte Liss und warf einen Blick auf den Veden. »Oh, Ihr meint den anderen. Hellheit, ich habe ihn schon vor ein paar Wochen an einen Sklavenhändler verkauft.«

»Wirklich? Ich dachte, er sei der beste Diener gewesen, den du je hattest.«

»Er war einfach zu gut«, sagte Liss. »Belassen wir es dabei. Dieser Schin-Knabe wurde allmählich unheimlich.« Liss erzitterte sichtlich und huschte dann durch die Tür.

»Denk an unsere erste Übereinkunft«, rief ihr Jasnah nach.

»Ich habe sie jederzeit im Hinterkopf, Hellheit.« Liss schloss die Tür.

Jasnah setzte sich wieder und faltete die Hände im Schoß. Ihre »erste Übereinkunft« bestand darin, dass Liss sofort zu Jasnah kommen sollte, falls ihr jemand anbot, eines von Jasnahs Familienmitgliedern zu töten. In diesem Fall würde ihr Jasnah dieselbe Summe für den Namen des Auftraggebers zahlen.

Liss wäre bereit, es zu tun. Vermutlich. Genau wie das übrige Dutzend Attentäter, mit denen Jasnah Umgang pflegte. Ein Stammkunde war wertvoller als ein einmaliger Kontrakt, und es lag im Interesse einer Frau wie Liss, einen guten Freund in der Regierung zu haben. Jasnahs Familie war vor solchen gedungenen Mördern in Sicherheit – es sei denn, sie selbst gab einen Mordauftrag.

Jasnah stieß einen tiefen Seufzer aus, dann erhob sie sich und versuchte das Gewicht abzuschütteln, das auf ihr zu lasten schien.

Halt. Hat Liss wirklich gesagt, ihr alter Diener sei ein Schin gewesen?

Das war vermutlich bloßer Zufall. Schin waren im Osten selten anzutreffen, aber gelegentlich sah man sie schon. Doch jetzt hatte Liss einen Schin erwähnt, und Jasnah hatte einen unter den Parschendi gesehen … nun, es konnte wohl nicht schaden, ein paar Nachforschungen anzustellen, selbst wenn das bedeutete, zum Fest zurückkehren zu müssen. Irgendetwas stimmte nicht in dieser Nacht, und das lag bestimmt nicht nur an den Schatten und den Sprengseln.

Jasnah verließ die kleine Kammer in den Eingeweiden des Palastes und trat auf den Gang hinaus. Sie richtete ihre Schritte wieder nach oben. Über ihr verstummten die Trommeln plötzlich wie ein Instrument, dessen Saiten durchtrennt worden waren. Endete das Fest so früh? Dalinar hatte doch wohl nicht die Feiernden beleidigt, oder? Dieser Mann und sein Wein …

Nun, die Parschendi hatten seine Beleidigungen in der Vergangenheit stets ignoriert und würden es wohl auch in Zukunft tun. Eigentlich war Jasnah sogar sehr froh über die plötzliche Begeisterung ihres Vaters für dieses Abkommen. Es bedeutete, dass sie die Gelegenheit haben würde, die Traditionen und die Geschichte der Parschendi nach ihrem Belieben zu studieren.

Könnte es sein, fragte sie sich, dass die Gelehrten all die Jahre in den falschen Ruinen gesucht haben?

Worte hallten im Gang wider; sie kamen aus weiter Entfernung – vor ihr. »Ich mache mir Sorgen um Asch.«

»Du machst dir um alles Sorgen.«

Jasnah hielt im Korridor inne.

»Es geht ihr immer schlechter«, fuhr die Stimme fort. »Es sollte uns aber nicht andauernd schlechter gehen. Geht es mir schlechter? Ich glaube, ich fühle mich zumindest schlechter.«

»Halt den Mund.«

»Das gefällt mir gar nicht. Was wir getan haben, ist doch falsch gewesen. Diese Kreatur trägt die Klinge meines eigenen Herrn. Wir hätten ihr nicht erlauben dürfen, sie zu behalten. Sie …«

Die beiden schritten über die Kreuzung der Gänge vor Jasnah hinweg. Es waren Botschafter aus dem Westen; einer von ihnen war der Azisch-Mann mit dem weißen Muttermal an der Wange. Oder war es eine Narbe? Der kleinere der beiden – er könnte ein Alethi sein – verstummte, als er Jasnah bemerkte. Er stieß ein Quieken aus und eilte weiter.

Der Azisch hingegen, der in Schwarz und Silber gekleidet war, blieb stehen und sah sie von oben bis unten an. Er runzelte die Stirn.

»Ist das Fest schon vorbei?«, fragte Jasnah. Ihr Bruder hatte diese beiden Männer zusammen mit jedem anderen ausländischen Würdenträger in Kholinar eingeladen.

»Ja«, sagte der Mann.

Sein starrer Blick war ihr unangenehm. Dennoch ging sie weiter auf ihn zu. Ich sollte mir diese beiden näher ansehen, dachte sie. Natürlich hatte sie bereits ihre Herkunft untersucht, dabei aber nichts Wichtiges festgestellt. Hatten sie denn über eine Splitterklinge gesprochen?

»Komm schon!«, rief der kleinere Mann, der zurückgekommen war und den größeren am Ärmel packte.

Er ließ es zu, dass er weggeführt wurde. Jasnah ging weiter bis zur Kreuzung der beiden Gänge und sah den Männern nach.

Wo vorher Trommeln zu hören gewesen waren, ertönten nun plötzlich Schreie.

O nein …

Entsetzt drehte Jasnah sich um, raffte den Rock und rannte, so schnell sie konnte.

Ein Dutzend verschiedener Katastrophen schoss ihr durch den Kopf. Was sonst hätte in dieser Nacht passieren können, in der sich die Schatten erhoben und ihr Vater sie mit Misstrauen bedachte? Mit angespannten Nerven erreichte sie die Treppe und lief nach oben.

Es dauerte viel zu lange. Sie hörte die Schreie, während sie die Stufen hochrannte, und endlich drang sie bis zum Chaos vor. Tote Körper in der einen Richtung, eine durchbrochene Wand in der anderen. Wie …

Der Pfad der Verwüstung führte zu den Gemächern ihres Vaters.

Der gesamte Palast erbebte, und dann ertönte ein Knirschen aus der Richtung der königlichen Zimmer.

Nein, nein, nein!

Während sie lief, bemerkte sie Risse in der Wand, die von einer Splitterklinge herrührten.

Bitte.

Leichen mit verbrannten Augen. Körper bedeckten den Boden wie weggeworfene Knochen beim Mittagstisch.

Nicht das.

Eine zerbrochene Tür. Die Gemächer ihres Vaters. Jasnah blieb draußen im Gang stehen und keuchte.

Beherrsch dich, beherrsch dich …

Sie konnte es aber nicht. Nicht jetzt. Wie eine Rasende stürmte sie in die Zimmerflucht, obwohl sie es damit einem Splitterträger erleichterte, sie zu töten. Sie vermochte nicht mehr klar zu denken. Unbedingt sollte sie Hilfe holen. Dalinar? Sicherlich war er inzwischen völlig betrunken. Also Sadeas.

Das Zimmer wirkte, als wäre es von einem Großsturm getroffen worden. Die Möbel waren umgestürzt, und überall lagen Splitter. Die Balkontüren waren nach außen aufgebrochen worden. Jemand sprang auf sie zu, ein Mann im Splitterpanzer ihres Vaters. Tearim, der Leibwächter?

Nein. Der Helm war zerbrochen. Es war nicht Tearim, sondern Gavilar selbst. Auf dem Balkon schrie jemand.

»Vater!«, rief Jasnah.

Gavilar zögerte kurz, als er auf den Balkon trat, und drehte sich dann zu ihr um.

Der Balkon stürzte unter ihm in die Tiefe.

Jasnah kreischte auf, schoss dann quer durch das Zimmer auf den abgestürzten Balkon zu und fiel am Rand der Bruchkante auf die Knie. Der Wind zerrte einige Haarstränge aus ihrem Knoten, während sie den Sturz der beiden Männer betrachtete.

Es waren ihr Vater und der Schin in Weiß, den sie auf dem Fest bemerkt hatte.

Der Schin erglühte in einem weißen Licht. Er fiel auf die Mauer, rollte herum, hielt dann inne. Schließlich erhob er sich und stand irgendwie auf der äußeren Palastmauer, ohne herunterzufallen. Das widersprach jeder Logik.

Er drehte sich um und stapfte auf ihren Vater zu.

Während Jasnah ihn beobachtete, wurde ihr kalt. Sie war vollkommen hilflos, während der Mörder zu ihrem Vater ging und sich über ihn beugte.

Tränen rannen von ihren Wangen, dann fing der Wind sie auf. Was tat er da unten? Sie konnte es nicht erkennen.

Als der Attentäter fortging, ließ er den Leichnam ihres Vaters zurück. Er war auf einen Holzpfahl gespießt – also tot; seine Splitterklinge war neben ihm erschienen, wie es immer der Fall war, wenn ihr Träger starb.

»Ich habe so hart gearbeitet …«, murmelte Jasnah benommen. »Alles, was ich getan habe, um diese Familie zu schützen …«

Wie war das geschehen? Liss. Liss hatte das getan!

Nein. Jasnah konnte nicht mehr klar denken. Dieser Schin … wenn es so wäre, hätte Liss doch nicht zugegeben, dass sie ihn besessen hatte. Sie hatte ihn verkauft.

»Wir sind betrübt über Euren Verlust.«

Jasnah drehte sich herum und blinzelte. Drei Parschendi, einschließlich Klade, standen in ihrer absonderlichen Kleidung in der Tür. Sowohl die Männer als auch die Frauen trugen sauber vernähte Stofftücher, Schärpen um die Hüfte, lockere Hemden ohne Ärmel, dazu seitlich offene Westen in hellen Farben. Sie unterschieden die Geschlechter nicht nach Kleidung. Jasnah glaubte aber, dass es bei ihnen Kasten gab, und …

Hör auf damit, schalt sie sich. Hör wenigstens einmal einen verdammten Tag lang damit auf, wie eine Gelehrte zu denken!

»Wir übernehmen die Verantwortung für seinen Tod«, sagte das Mitglied der Parschendi, das ihr am nächsten stand. Gangnah war eine Frau, doch bei den Parschendi schienen die Geschlechtsunterschiede geringfügig zu sein. Die Kleidung verbarg Brüste und Hüften, doch beides war nie besonders stark ausgeprägt. Zum Glück war das Fehlen des Bartes ein deutliches Anzeichen für eine Frau. Alle Parschendi-Männer, die sie je gesehen hatte, trugen Bärte, in die sie kleine Edelsteine eingewoben hatten, und …

HÖR AUF.

»Was sagt ihr da?«, wollte Jasnah wissen und zwang sich auf die Beine. »Warum sollte es denn eure Schuld sein, Gangnah?«

»Weil wir den Attentäter angeworben haben«, sagte die Parschendi-Frau mit ihrer stark akzentuierten Singstimme. »Wir haben deinen Vater getötet, Jasnah Kholin.«

»Ihr …«

Plötzlich erkalteten ihre Gefühle wie ein Fluss, der im Gebirge gefriert. Jasnah sah von Gangnah zu Klade hinüber, dann zu Varnali. Sie alle waren Älteste – Mitglieder des herrschenden Rates der Parschendi.

»Warum?«, flüsterte Jasnah.

»Weil es getan werden musste«, sagte Gangnah.

»Warum?«, fragte Jasnah erneut und machte einige Schritte nach vorn. »Er hat doch für euch gekämpft! Er hat die Jäger im Zaum gehalten. Mein Vater wollte Frieden haben, ihr Ungeheuer! Warum habt ihr uns ausgerechnet jetzt verraten?«

Gangnah kniff die Lippen zusammen. Die Melodie ihrer Stimme veränderte sich. Sie wirkte nun fast wie eine Mutter, die einem kleinen Kind einen äußerst schwierigen Sachverhalt erklären will. »Weil dein Vater etwas sehr Gefährliches tun wollte.«

»Holt den Hellherrn Dalinar!«, rief eine Stimme draußen im Gang. »Bei allen Stürmen! Sind meine Befehle bis zu Elhokar gedrungen? Der Kronprinz muss sofort in Sicherheit gebracht werden!« Großprinz Sadeas taumelte zusammen mit einer Gruppe von Soldaten in den Raum. Sein knolliges, gerötetes Gesicht war feucht vor Schweiß, und er trug Gavilars Kleidung – die königliche Amtsrobe. »Was machen diese Wilden her? Bei allen Stürmen! Schützt Prinzessin Jasnah. Derjenige, der das hier getan hat – er hat sich im Gefolge der Parschendi befunden!«

Die Soldaten umzingelten die Parschendi. Jasnah beachtete sie nicht weiter, sondern drehte sich um und trat wieder an die geborstene Tür. Mit der Hand stützte sie sich an der Wand ab und warf einen Blick hinunter, wo ihr Vater auf den Felsen lag; die Klinge befand sich noch immer neben ihm.

»Es wird Krieg geben«, flüsterte sie. »Und ich werde ihm nicht im Wege stehen.«

»Das ist selbstverständlich«, bemerkte Gangnah hinter ihr.

»Dieser Attentäter …«, sagte Jasnah. »Er ist auf der Mauer gegangen.«

Darauf sagte Gangnah nichts.

Während ihre Welt zersplitterte, hielt sich Jasnah an diesem Bruchstück fest. Heute Nacht hatte sie etwas gesehen. Etwas, das nicht hätte möglich sein dürfen. Stand es in Verbindung zu den seltsamen Sprengseln? Hatte es etwas mit ihren Erfahrungen an diesem Ort der Glasperlen und des dunklen Himmels zu tun?

Diese Fragen wurden zur Rettungsschnur ihrer geistigen Gesundheit. Sadeas forderte Antworten von den Parschendi-Anführern. Er erhielt aber keine. Nachdem er neben sie getreten war und einen Blick hinabgeworfen hatte, wirbelte er herum und brüllte seinen Wachen zu, sie sollten nach unten zu dem gestürzten König laufen.

Stunden später stellte sich heraus, dass das Attentat – und die Kapitulation der drei Parschendi-Anführer – von der Flucht der übrigen Parschendi abgelenkt hatte. Sie waren rasch aus der Stadt entkommen, und die Kavallerie, die Dalinar hinter ihnen hergeschickt hatte, wurde vernichtet. Hundert Pferde, ein jedes von ihnen unendlich kostbar, waren zusammen mit ihren Reitern gestorben.

Die Parschendi-Anführer sagten nichts mehr und gaben auch keine weiteren Hinweise; sie wurden für ihr Verbrechen gehängt.

Jasnah beachtete all dies nicht. Stattdessen verhörte sie die überlebenden Wachen und erfuhr, was sie beobachtet hatten. Sie folgte allen Spuren, die auf den mittlerweile berühmt gewordenen Attentäter hinwiesen, und entlockte auch Liss einige Neuigkeiten. Am Ende aber hatte sie dennoch fast gar nichts. Liss hatte ihn nur eine kurze Zeit besessen und behauptete, nichts von seinen seltsamen Kräften gewusst zu haben. Den vorherigen Eigentümer konnte Jasnah nicht aufspüren.

Als Nächstes kamen die Bücher an die Reihe. Sie machte einen hingebungsvollen und fieberhaften Versuch, sich von dem abzulenken, was sie verloren hatte.

In jener Nacht hatte Jasnah das Unmögliche gesehen.

Nun würde sie herausfinden müssen, was es bedeutete.

ERSTER TEIL

Abstieg

SCHALLAN · KALADIN · DALINAR