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Olaf Gersemann

Die Deutschland-Blase

Das letzte Hurra
einer großen Wirtschaftsnation

1. Auflage

Copyright © 2014 Deutsche Verlags-Anstalt, München,

in der Verlagsgruppe Random House GmbH

Alle Rechte vorbehalten

Typografie und Satz: DVA /Brigitte Müller

Gesetzt aus der Minion

Grafiken: Peter Palm, Berlin

ISBN 978-3-641-14009-0

www.dva.de

Für Katja

Inhaltsverzeichnis

Einleitung
Herr Turtur und der Ententest

1 – Der neue deutsche Hochmut

2 – Das Japan des Westens

3 – Vier Millionen Vergessene

4 – Schunkeln mit Trunkenen

5 – Sechs Richtige mit Superzahl

6 – Dauerdoping für die Konjunktur

7 – Was vom Wachstum übrig bleibt

8 – Die Oskar-Matzerath-Nation

9 – Das zurückgebaute Land

10 – Wir Billigheimer

11 – Läuft. Und läuft. Und …?

12 – Die Weber des 21. Jahrhunderts

13 – Sind wir noch zu retten?

Danke!

Anmerkungen

Literaturverzeichnis

Einleitung
Herr Turtur und der Ententest

August Gersemann, mein Urgroßvater, war Steinmetz von Beruf. Nebenbei beackerte er ein Stück Land, das nicht sein Eigen war, und arbeitete, weil er keine Pacht zahlen konnte, auf dem Hof des Eigentümers. Er hatte, so würde man es heute ausdrücken, drei Jobs. 1902 starb er, mit 32 Jahren, an einer ansteckenden Krankheit, vermutlich Typhus. Maria Gersemann, seine Frau, schlug sich durch. Sie wusch in den Häusern anderer Leute die Wäsche, per Hand, denn Waschmaschinen gab es damals nicht.

Und vieles andere auch nicht. Das Flugzeug, das Radio und der Staubsauger zum Beispiel waren gerade erst erfunden worden. Lange noch sollten sie in Deutschland ein Luxus bleiben, der einigen wenigen vorbehalten war. Es war eine Welt ohne Panzer und ohne Atombombe – aber auch ohne Anti-Baby-Pille und Antibiotika.

Augusts Sohn Josef, mein Großvater, wurde Hauer, und der Job war ungefähr so unangenehm, ungesund und gefährlich, wie es der Name andeutet. Hauer, so wurden früher einfache Bergleute genannt. Als mein Großvater um die 30 war, bekam ein Hauer im deutschen Steinkohlenbergbau neun Reichsmark am Tag; ein Kilo Butter, zum Vergleich, kostete in deutschen Großstädten damals vier Reichsmark.1

Josef Gersemann wurde hineingeboren in ein ärmliches Leben. Das Pro-Kopf-Einkommen, ein grobes Maß für den ökonomischen Wohlstand eines Landes, lag in Deutschland ungefähr auf dem Niveau, das heute Staaten wie Algerien, Bolivien oder die Philippinen erreichen. Es folgten ein Weltkrieg, die Hyperinflation, die Große Depression, noch ein Weltkrieg. Und dennoch: Als mein Großvater 1991 starb, hatte sich das Pro-Kopf-Einkommen in Deutschland mehr als verfünffacht.2 Er hatte zuletzt einen Lebensstandard genossen, der zu Zeiten seiner Geburt unerreichbar scheinen musste. Das wohl eindeutigste Zeichen dafür ist gar kein materielles: Josef Gersemann wurde – trotz seiner vielen Arbeitsjahre unter Tage, trotz eines frühen Herzinfarkts – 93 Jahre alt. Fast dreimal so alt wie sein Vater. Und mit ziemlicher Sicherheit auch weit älter als jeder seiner Vorfahren.

Keine besondere Geschichte. Und gerade das ist so besonders.

»Scheußlich, viehisch und kurz«, so beschrieb der englische Philosoph Thomas Hobbes im 17. Jahrhundert das Leben des Menschen im »Naturzustand«. Für den allergrößten Teil der Geschichte traf diese Beschreibung auf den allergrößten Teil der Menschheit auch zu. Und es ging wenig voran. Im Jahr 1800 lag das Pro-Kopf-Einkommen in Deutschland sogar niedriger als drei Jahrhunderte zuvor. Die Zeitgenossen Goethes waren im Durchschnitt ärmer als die Landsleute Luthers.3

Dann erfasste die industrielle Revolution Deutschland. Seit nunmehr 200 Jahren hat hierzulande jede Generation den materiellen und immateriellen Wohlstand wachsen sehen – und das trotz aller Rückschläge. Fünf, sechs Generationen in Folge, jede zumindest im Durchschnitt in praktisch jeder nur denkbaren Hinsicht reicher als die davor – das hat es, soweit man das heute nachvollziehen kann, niemals zuvor gegeben.

Bald wird diese Serie abreißen, wir stehen vor einer historischen Zäsur. Meine Generation – ich bin Jahrgang 1968 – ist noch in sehr viel größerem Wohlstand aufgewachsen als die Generation zuvor. Meine Generation hat auch, wie die davor, einen beträchtlichen Wohlstandszuwachs miterleben dürfen. Aber meine Generation wird auch die neue Ära miterleben: die Ära, in der der Wohlstand in Deutschland mit hoher Wahrscheinlichkeit bestenfalls stagnieren wird. Die Phase dagegen, die wir aktuell erleben, eine Art Sonderkonjunktur, wird uns noch lange als die gute alte Zeit in Erinnerung bleiben. Sie ist das letzte Hurra einer großen Wirtschaftsnation.

Deutschland steht vor großen Herausforderungen. Es gilt, die Energiewende zu bewältigen, ohne dass die Preise für Strom weiter in dem Tempo der vergangenen Jahre steigen. Und es gilt, die Voraussetzungen dafür zu schaffen, dass die europäische Währungsunion dauerhaft Bestand hat. Wenn beides gelingt, dann hat Deutschland beste wirtschaftliche Aussichten: Das ist herrschende Meinung, ein weit verbreiteter Eindruck in Deutschland.

Dieses Buch widerspricht diesem Konsens. Euro- und Energiekrise sind in der Tat gewaltige Herausforderungen. Aber selbst wenn – ein großes Wenn – es gelingen sollte, sie zu meistern, gehen wir wirtschaftlich schweren Zeiten entgegen. Sehr schweren. Die Wirtschaftsmacht Deutschland gleicht Herrn Turtur aus Michael Endes Kinderbuch »Jim Knopf und Lukas der Lokomotivführer«: Je näher man hinschaut, umso kleiner wird sie. Deutschland ist ein Scheinriese, wir überschätzen unsere gegenwärtige wirtschaftliche Kraft ebenso wie unser wirtschaftliches Potenzial für die Zukunft.

Wenn sich dennoch Selbstzufriedenheit, ja Selbstgefälligkeit in der Wirtschaftspolitik der Ende 2013 gebildeten Großen Koalition widerspiegelt, dann ist das vor allem ein Produkt falscher Maßstäbe. Wir vergleichen uns mit Ländern, die gerade in akuten, umwälzenden Wirtschaftskrisen stecken, und freuen uns, dass wir dabei gut abschneiden. Wir definieren Beinahe-Stagnation in kräftige Aufschwünge um und anhaltende Massenarbeitslosigkeit in nahende Vollbeschäftigung. Wir protzen mit unseren Stärken und blenden unsere Schwächen aus. Wir haben uns die Latte niedrig gehängt und sind stolz, wenn wir sie überhüpfen.

Wirtschaftsexperten sind notorisch schlecht darin, die Zukunft vorherzusagen. Die Euro-Krise etwa hat praktisch niemand kommen sehen. Im Grunde reicht der Weitblick der Ökonomen noch nicht einmal bis zur nächsten Straßenecke. Rezessionen erkennen sie regelmäßig erst dann, wenn sie längst da sind.4

Auch auf sehr viel entscheidendere Fragen haben Ökonomen in der Vergangenheit vielfach die falschen Antworten gegeben. Der Österreicher Joseph Alois Schumpeter etwa, einer der ganz großen Theoretiker des Kapitalismus, sah im Kampf der Wirtschaftsordnungen den Sozialismus obsiegen. Ein anderer berühmter Ökonom, der Amerikaner Paul Samuelson, wurde 1961 noch konkreter: Schon 1984 könne die UdSSR die USA überholt haben. Die Dinge entwickelten sich bekanntlich anders, aber das schmälerte Samuelsons Zutrauen in den Kommunismus nicht. Noch 1980 schrieb er, die Sowjetunion werde womöglich zur weltgrößten Wirtschaftsmacht aufsteigen – vielleicht schon im Jahr 2002.5

Abschreckend wirken solche Blamagen offenbar nur bedingt. Vor allem Grenzgänger aus anderen Sozialwissenschaften trauten sich immer wieder kühne ökonomische Vorhersagen zu. 1979 betrachtete Ezra Vogel, ein Professor der amerikanischen Eliteuniversität Harvard, in einem gleichnamigen Bestseller »Japan as Number One«. 1993 dann machte Lester Thurow Furore. Der frühere Dekan der MIT Sloan School of Management, einer der Kaderschmieden für amerikanische Führungskräfte, sah in seinem Buch »Kopf an Kopf« drei Wirtschaftsblöcke um eine globale Vormachtstellung ringen: die USA, Europa und Japan. Thurow glaubte, dass Europa sich durchsetzen werde – ähnlich wie Jeremy Rifkin, der 2004 in »Der europäische Traum« Europa als »the new land of opportunity« propagierte und die Europäer, in einer Anspielung auf die Bergpredigt, als das auserwählte Volk. Zehn Jahre später dürfte Rifkins Traum für die vielen Millionen Arbeitslosen vor allem in Südeuropa wie Hohn klingen.

Wir glauben gerne, dass alles so bleibt, wie wir es gewohnt sind. Und so ist es ja auch meistens: Abends wird es dunkel, auf den Winter folgt der Frühling, auf den Blitz der Donner. Muster wiederholen sich, Trends setzen sich fort: Die Orientierung daran ist allzu menschlich.

Wir schreiben die Gegenwart fort in die Zukunft, wir »extrapolieren«, wie es im Deutsch der Wissenschaftler heißt. Extrapolation: darauf basierte Paul Samuelsons berühmte Prognose; er glaubte, das – scheinbar – starke Wachstum der Sowjetwirtschaft werde dauerhaft anhalten. Ganz ähnlich geartet waren die Prognosen aus den 70er- und 80er-Jahren, die Japan die USA überholen sahen. Und die heutigen Prognosen, die glauben machen, China werde bald schon zur größten Wirtschaftsnation der Welt aufsteigen, beruhen ebenfalls auf: Extrapolationen.

Dieses Buch ist auf den ersten Blick noch unbescheidener. Es behauptet nicht, dass sich ein Trend fortsetzen wird. Sondern dass ein Trend – die viel gepriesene wirtschaftliche Erholung Deutschlands nach Jahren der Stagnation nämlich – abbrechen wird, und zwar dauerhaft.

Aber die Prognosen, die dieses Buch enthält, sind nicht einfach nur plausibel in der Art, wie es simple Fortschreibungen der Vergangenheit sind. Es wohnt ihnen vielmehr eine Unausweichlichkeit inne. Denn erstens ist die dramatische Alterung der Bevölkerung, die uns bevorsteht, längst nicht mehr aufzuhalten. Um das Jahr 2035 herum werden unsere letzten geburtenstarken Jahrgänge in den Ruhestand gehen – und alle Menschen, die dann die Renten finanzieren müssen, sind bereits geboren. Es sind zu wenige.

Zweitens ist die wirtschaftliche Entwicklung Deutschlands in den vergangenen Jahren durch eine Reihe von Faktoren begünstigt worden, die uns in den Schoß gefallen sind und die – das ist entscheidend – nicht von Dauer sein können. Man denke etwa an die künstlich niedrigen Zinsen, die wie ein Dauerdoping auf die deutsche Wirtschaft wirken. Zudem hat die deutsche Wirtschaft in den Jahren seit 2005 enorm von der exzessiven Lohnentwicklung in Südeuropa profitiert. Damit haben sich Länder wie Spanien als Konkurrenten auf den Weltmärkten weitgehend selbst aus dem Spiel genommen – während die Nachfrage nach deutschen Exportprodukten bis zum Ausbruch von Finanz- und Euro-Krise hoch blieb. Wenn die Währungsunion nicht auseinanderfallen soll, werden die heutigen Krisenländer auf dem einen oder anderen Weg Wettbewerbsfähigkeit zurückgewinnen müssen – was zwangsläufig bedeutet, dass Deutschland Wettbewerbsfähigkeit verlieren wird.

»Blasen«, wie Wirtschaftswissenschaftler und Volksmund erhebliche, über längere Zeit andauernde Fehlbewertungen bezeichnen, können sich bei allen möglichen Vermögenswerten bilden. In den Niederlanden ging es in den 1630ern um Tulpenzwiebeln, beim »Südseeschwindel« von 1720 um die Anteilscheine eines einzigen Unternehmens; in den 1990er-Jahren richtete sich das Interesse beiderseits des Atlantiks auf ein ganzes Unternehmenssegment, nämlich Neugründungen (»Dot-coms«), deren Geschäftsmodell auf irgendeine Weise mit dem Internet zusammenhing. In den Nullerjahren schließlich bildeten sich in vielen Ländern der Welt mehr oder weniger große Blasen auf den Immobilienmärkten.

Den Begriff »Blase« auf ein ganzes Land anzuwenden, wie ich es mit diesem Buch tue, ist ungewöhnlich. Schließlich sind Volkswirtschaften keine Vermögenswerte, die sich kaufen und verkaufen lassen, an denen man sich beteiligen könnte, gegen die man mit sogenannten Leerverkäufen spekulieren könnte – einerseits. Andererseits hat die wirtschaftliche Situation in Deutschland aktuell viele Parallelen zu klassischen Spekulationsblasen – beängstigend viele. Auch Deutschland ist fehlbewertet, oder genauer: überbewertet.

Genau darum geht es in diesem Buch. Deutschland wird dem unterzogen, was in Amerika duck test genannt wird, ein Ententest – frei nach James Whitcomb Riley (1849–1916). »Wenn ich einen Vogel sehe«, erklärte der Dichter, »der wie eine Ente geht und wie eine Ente schwimmt und wie eine Ente quakt, dann nenne ich ihn eine Ente.«6

1 Statistisches Jahrbuch für das Deutsche Reich, Jahrgang 1929, S. 344 und 357, abgerufen unter digizeitschriften.de.

2 Die Zahlenangaben basieren auf der Datenbank des Maddison Project, das von Experten der Universität Groningen betrieben wird. Der Namensgeber, der 2010 verstorbene Ökonom Angus Maddison, hatte sich darauf spezialisiert, auch für weit zurückliegende Zeiträume international vergleichbare Wirtschaftsdaten zu sammeln und zu errechnen. Siehe http://www.ggdc.net/maddison/maddison-project/home.htm.

3 Maddison Project, a. a. O.

4 Im August 2008 zum Beispiel befragte die »Welt am Sonntag« acht namhafte deutsche Ökonomen, für wie wahrscheinlich sie eine Rezession halten. Die Antworten reichten von 10 bis 25 Prozent. Dabei ging die deutsche Wirtschaftsleistung damals bereits im zweiten Vierteljahr hintereinander zurück – die grobe, aber gebräuchliche Definition für eine Rezession war also längst erfüllt.

5 Levy/Peart (2011).

6 Beim »Ententest« wird ein unbekanntes Objekt anhand seiner sichtbaren Eigenschaften identifiziert. Den strengen Kriterien der Wissenschaftstheorie genügt diese Herangehensweise nicht. Aber dieses Buch erhebt diesen Anspruch nicht. Außerdem ist eine wissenschaftliche Methode zur (falsifizierbaren) Identifikation von Spekulationsblasen bisher nicht gefunden worden.

1
Der neue deutsche Hochmut

Wie uns die wirtschaftliche Erholung zu Kopf gestiegen ist

Davos, 23. Januar 2014. Wolfgang Schäuble, der deutsche Finanzminister, wirbt beim Weltwirtschaftsforum in den Schweizer Alpen für sein Land. Das muss der CDU-Politiker machen, das ist sein Job.

Die Frage ist, wie man das tut. Wenn man etwa die Briten in Davos reden hört, Premierminister David Cameron oder Londons Bürgermeister Boris Johnson, könnte man glauben, man sei an die Marketingschefs ihres Landes geraten: Sie bemühen sich um ausländische Investoren, die in Großbritannien Jobs schaffen sollen. Cameron berichtet beispielsweise von seinen Plänen, Großbritannien zur neuen Heimat all jener Unternehmen zu machen, die Standorte aus China und anderen Schwellenländern zurück nach Europa verlagern wollen. »Bevor Sie in einem Land investieren, sollten Sie sich fragen, wie oft seine Regierung vor Gericht verliert«, sagt der Regierungschef und grinst verschmitzt. »In Großbritannien tut sie das ständig.« Die versammelte globale Wirtschaftselite in der großen Halle des Davoser Kongresszentrums lacht herzlich.

Wolfgang Schäuble dagegen, der kurz nach Cameron in einem deutlich kleineren Saal auftritt, wirbt nicht um Unterstützung. Er verlangt Anerkennung. Frankreich, Griechenland, Italien – die Euro-Partner werden alle ein wenig gelobt. Sehr viel gelobt wird dagegen vom deutschen Finanzminister: Deutschland. Eine »Wachstumslokomotive« sei das Land, für Europa, für die Welt, sagt Schäuble. Das größte Problem Deutschlands sei das Ausmaß seiner Fortüne, denn: »Erfolg macht auch müde.«

Man kann Wolfgang Schäuble nicht vorwerfen, dass er vor internationalem Publikum extra dick aufträgt. Den gleichen Ton schlägt die deutsche Politik aber auch daheim an. »Deutschland ist stark«, plakatierte die CDU im Bundestagswahlkampf 2013, Kanzlerin Angela Merkel nannte Deutschland einen »Wachstumsmotor«. Die Botschaft wurde offenbar gern gehört. Der Union jedenfalls gelang, was Politikwissenschaftler und Wahlforscher keiner deutschen Volkspartei mehr zugetraut hatten: einen Stimmenanteil von mehr als 40 Prozent zu erreichen.

Dafür, dass die Union die Stimmung im Land getroffen hatte, sprechen auch Umfrageergebnisse. Das Institut für Demoskopie Allensbach ermittelt seit 1949 immer im Dezember in einer repräsentativen Erhebung, mit welchem Gefühl die Bürger dem Jahreswechsel entgegensehen. »Mit Hoffnungen« blickten sie ins neue Jahr, sagten im Dezember 2013 nicht weniger als 57 Prozent der Befragten – der höchste Wert seit 1994. »Mit Befürchtungen«, das gaben nur zwölf Prozent an – der niedrigste Wert seit dem Mauerfalljahr 1989.7

Wir sind zuversichtlich und selbstbewusst wie lange nicht – das, für sich genommen, ist natürlich ein Grund zur Freude. Aber man muss kein Miesepeter sein, um zu Vorsicht zu mahnen – und zwar gleich aus einer ganzen Reihe von Gründen.

Es war 1999, vor gerade einmal anderthalb Jahrzehnten, als das einflussreiche britische Wirtschaftsmagazin »The Economist« Deutschland zum »kranken Mann des Euro« stempelte. Das traf damals, mitten in der Dot-com-Euphorie, nicht unbedingt die Stimmung im Land. Doch ein paar Jahre später hatte das Krisenbewusstsein auch uns erreicht. Ende 2002 erklärten in der besagten Allensbach-Umfrage nur 31 Prozent der Deutschen, sie blickten »mit Hoffnungen« ins neue Jahr – so wenige wie seit 1950 nicht.

Eine kollektive Depression – die dann binnen weniger Jahre in kollektive Euphorie umschlägt: Wenn das alte Lebensgefühl so kurzlebig war, warum sind wir so sicher, dass das neue von Dauer sein wird? Zumal es anderen Nationen umgekehrt ergeht. Spanien etwa. Noch 2008 sagten in einer Umfrage des amerikanischen Pew Research Center 51 Prozent der Spanier, ihr Land bewege sich »in die richtige Richtung« – unter den 21 Ländern, in denen die Befragung damals durchgeführt wurde, war das der vierthöchste Wert. 2013 waren nur fünf Prozent der Spanier dieser Ansicht, der zweitniedrigste Wert, dahinter lagen einzig die Griechen.8

Wirtschaftlicher Niedergang und Wiederaufstieg einer Nation – beides kann sich offenkundig ziemlich rasch vollziehen, und es spricht einiges dafür, dass die Zyklen eher kürzer als länger werden. Denn in gewisser Weise hat die Globalisierung die Politik potenter, effektiver gemacht: Der Wegfall von bürokratischen und technischen Hemmnissen hat Kapital, ganze Unternehmen und – in geringerem Maße – Arbeitnehmer immer mobiler werden lassen. Daher können richtige politische Entscheidungen rasch Wunder wirken und Fehler sich schnell rächen.

Jeder Vierte ohne Job, Hunderttausende Häuser zwangsversteigert, explodierende Staatsschulden: Die schlechte Stimmung in Spanien ist leicht zu erklären. Was aus heutiger Sicht eher verwundert, ist die Zufriedenheit, die die Spanier noch im Jahr 2008 an den Tag legten. War nicht offensichtlich, dass der jahrelange Immobilienboom ein böses Ende nehmen würde? Hätte nicht ein Blick in die spanische Leistungsbilanz genügt, um zu sehen, dass die Spanier ihre laufenden Ausgaben zu einem erheblichen Teil durch fortwährende Kreditaufnahme im Ausland finanzierten? Ja, natürlich – aus heutiger Sicht.

Ähnlich verwundert kann man sein über die Amerikaner, aus ähnlichen Gründen: Auch sie erlebten einen jahrelangen Immobilienboom, und auch der war, wie in Spanien, angeheizt worden durch eine Politik, die Hypotheken an Geringverdiener kräftig subventionierte, und durch Banken, die Kreditkonditionen immer weiter lockerten und schließlich sogar Leute, die es sich eigentlich beim besten Willen nicht leisten konnten, zum Hauskauf animierten.

Und über Jahre fanden sich Experten, die Rechtfertigungen dafür lieferten. »Bubble Trouble? Not Likely«, Blasenprobleme unwahrscheinlich, überschrieben Professoren zweier angesehener amerikanischer Managementhochschulen einen Artikel im September 2005. »Es gibt keine Blase«, wurde der Chef einer Investmentgesellschaft noch im April 2006 im »Wall Street Journal« zitiert: »Die zugrundeliegenden Fundamentaldaten sind weiterhin sehr positiv.«9

Nur ein Jahr später, am 2. April 2007, brach der erste große amerikanische Finanzdienstleister zusammen: New Century, ein Spezialist für Hypotheken an Kunden mit schlechter Kreditwürdigkeit (»Subprime«), musste Konkurs anmelden, nachdem viele seiner Kunden in Zahlungsschwierigkeit geraten waren. In den folgenden Monaten nahm der Immobiliencrash seinen Lauf, im August 2007 sah sich die amerikanische Zentralbank erstmals gezwungen, die Kapitalmärkte mit Liquiditätsspritzen zu stabilisieren.

Es dauerte aber eine ganze Weile, ehe die Cheerleader des Booms verstummten. Noch am 13. Februar 2008 verkündete Alex Tabarrok, ein Ökonomieprofessor von der George Mason University nahe Washington, lapidar: »Es gab keine Häuserblase.«10 Zu jener Zeit befand sich Amerika bereits in einer Rezession – und das Schlimmste, die Ausweitung der amerikanischen Immobilienkrise zu einer globalen Finanzkrise, stand erst noch bevor.

Es ist fast immer so: Im Nachhinein erscheinen Blasen als irrational. Was ist da nur in die Menschen gefahren?, fragt man sich rückblickend. Übersehen wird dabei leicht, dass ganz zu Beginn eine gute Story steht. Ein Narrativ, an das eine kritische Masse der Beteiligten zu glauben beginnt. Das ist die erste – von insgesamt fünf – Phasen, die der amerikanische Wirtschaftswissenschaftler Hyman Minsky als charakteristisch für jede Spekulationsblase einstufte.11

Das Narrativ kann darin bestehen, dass eine technische Neuheit reif wird für den Massenmarkt – wie das Automobil im Amerika der 20er-Jahre oder das Internet in den 90er-Jahren – und neue Job- und Wachstumschancen verheißt. Es kann auch darin bestehen, dass sich neue Märkte eröffnen, wie Anfang des 18. Jahrhunderts die Südsee, und so der internationale Handel zusätzlichen Schwung gewinnt. Oder das Narrativ besteht darin, dass eine Kombination von konjunkturellen und strukturellen Faktoren die Häuserpreise immer weiter steigen lassen wird – so wie in den USA und im Spanien der Nullerjahre, als man hier wie dort glaubte, niedrige Zinsen und Landflucht, sinkende Arbeitslosigkeit und Masseneinwanderung würden für anhaltend günstige Bedingungen in attraktiven Küsten- und Metropolregionen sorgen. All diese Narrative haben eines gemeinsam: Zumindest für einen bedeutenden Teil einer Wirtschaft hellen sich die Aussichten auf die Zukunft auf.

Unser Pendant dazu ist die gefühlte wirtschaftliche Renaissance Deutschlands. Und es ist ja auch völlig unstrittig, dass einige beachtliche und erfreuliche Erfolge erzielt worden sind, die vor einem Jahrzehnt noch als nahezu utopisch galten. Die Erwerbstätigkeit in Deutschland erreicht immer neue Rekordmarken, die Zahl der offiziell registrierten Arbeitslosen ist um rund 40 Prozent gefallen. Erstmals seit Jahrzehnten sinken Langzeit- und Sockelarbeitslosigkeit.

Die Storys, die Narrative, von denen hier die Rede ist, machen eine Neubewertung möglich, ja nötig. Die wird auch regelmäßig vorgenommen, was ablesbar ist an steigenden Preisen und Kursen, die ihrerseits für zunehmenden Optimismus sorgen. Das ist, für Hyman Minsky, die Phase zwei einer Blasenbildung. Die Neubewertung vollzieht sich typischerweise zunächst verhalten. Doch je mehr die Erwartungen sich bestätigen, desto höher steigen sie – bis sie irgendwann zu hoch sind, um noch wahr werden zu können.

Einmal entstanden, entwickeln Blasen daher ein Eigenleben. Zuversicht und Vertrauen, das kommt noch hinzu, wirken ansteckend. Ein Beispiel dafür ist Bernard Madoff. Der amerikanische Finanzjongleur, 2009 zu 150 Jahren Gefängnis verurteilt, baute mit den Jahren ein sogenanntes Schnellballsystem auf: Investoren versprach er außergewöhnlich hohe Renditen, die er zunächst auch zahlen konnte – aber nur mit den Einlagen immer neuer Kunden. Das System funktionierte über Jahre, weil so viele Menschen ihm vertrauten. Und je mehr Menschen ihm vertrauten, umso einfacher wurde es für ihn, das Vertrauen von noch mehr Menschen zu gewinnen.

Auf ganz ähnliche Weise schwollen die Immobilienblasen in den USA oder Spanien an: Die Leute glaubten bereitwillig jenen, die prophezeiten, die Immobilienpreise würden immer weiter steigen. Je größer die Blase wurde – je mehr die Preise tatsächlich stiegen –, umso mehr sahen sie sich in ihrer Zuversicht bestätigt.12 Und das wollten sie ja auch: bestätigt werden. Zunächst ist eine Blase schließlich eine angenehme Angelegenheit; eine positive Entwicklung (das Narrativ) hat Folgen (eine Höherbewertung von Häusern, Aktien etc.), mit denen die Entwicklung weiter angetrieben wird. Viele – Unternehmer, Investoren, Politiker – haben ein vitales Interesse daran, dass die Preise hoch bleiben, oder besser noch: dass sie immer höher steigen, dass der Prozess der Neubewertung anhält. Man will, dass die Party weitergeht.

Und dass sie nicht gestört wird. So werden denn Skeptiker ignoriert und notfalls diffamiert. Wer zum Beispiel nicht an die Nachhaltigkeit des amerikanischen Immobilienbooms glaubte, musste damit rechnen, als Linker bezeichnet zu werden, der nur nach Gründen für ein Eingreifen des Staates suche.13 Außerdem werden immer neue Erklärungen dafür hervorgekramt, warum sich die Entwicklung fortsetzen wird. Ein führender amerikanischer Maklerverbandsvertreter argumentierte, der Anteil der Eigenheimbesitzer steige mit dem Alter, und weil nun die geburtenstarken Jahrgänge, die baby boomer, alt würden, werde die Nachfrage nach Häusern »für weitere 40 Jahre steigen«.14 Das war im Juni 2005. Keine zwei Jahre später platzte die Blase – und die Nachfrage brach ein.

Probleme schließlich, die sich nicht länger leugnen lassen, werden heruntergespielt. Anfeuerer des amerikanischen Immobilienbooms wie Frank Nothaft, Chefökonom des halbstaatlichen Hypothekengiganten Freddie Mac, wurden nicht müde zu betonen, dass es gar keinen nationalen Häusermarkt gebe, sondern nur isolierte, lokale – und dass es folglich auch nur isolierte, lokale Probleme geben könne.15 Die Finanzkrise, in die der Immobilienboom schließlich mündete, war dann aber alles andere als lokal.

Deutschland, vor 15 Jahren noch der »kranke Mann« in Europa, muss natürlich neu bewertet werden. Doch wir sind darüber längst in einen Zustand geraten, den der frühere amerikanische Zentralbankchef Alan Greenspan einmal als »irrationalen Überschwang« bezeichnet hat.

Fast alle Phänomene, die für die Euphorie bei der Entstehung herkömmlicher Spekulationsblasen kennzeichnend sind, lassen sich auch in Deutschland beobachten. Wir sind zuversichtlich wie lange nicht ob des vermeintlichen Wirtschaftswunders, das über das Land gekommen ist, und können uns schon nicht mehr vorstellen, dass es in absehbarer Zeit enden wird. Die Zuversicht ist so ansteckend, dass vor der Bundestagswahl 2013 nicht einmal die Opposition die Existenz des Wirtschaftswunders ernsthaft in Frage stellte – es ging ihr eher um die Verteilung seiner Früchte. Selbst Peer Steinbrück, damals ein führender Kopf der noch oppositionellen SPD, bezeichnete Deutschland als »Kraftwerk«.16

Auch Cheerleader haben sich längst gefunden. Bert Rürup zum Beispiel, Koautor des Buches »Fette Jahre«. Der frühere Vorsitzende des Sachverständigenrats zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung – der sogenannten Fünf Weisen – geht »so weit zu sagen, dass Deutschland beim Pro-Kopf-Einkommen in den nächsten 20 Jahren (…) auch die USA (…) abhängen wird«.17 Eine wahrhaft tollkühne Behauptung, die nur Realität werden kann, wenn Amerika in eine Phase permanenter Stagnation gerät. Oder wenn die Wachstumsraten pro Kopf in Deutschland zwei Jahrzehnte lang ein Vielfaches des amerikanischen Wertes erreichen.18 Das allerdings wäre dann wirklich im Wortsinne: ein Wirtschaftswunder.

Dass Skeptiker diffamiert werden, ist ebenfalls bereits zu beobachten. Am deutlichsten wird das in der Diskussion um die hohen deutschen Exportüberschüsse. Kritiker – unter anderem aus Frankreich und den USA – monieren, damit bereichere Deutschland sich auf Kosten Dritter. Der Vorwurf wird sehr zu Recht erhoben (siehe Kapitel 10) – und löst bei unseren Politikern und Wirtschaftsvertretern vielleicht gerade deshalb wütende Reaktionen aus.

Probleme, die eigentlich offenkundig sind, die aber die Party stören könnten, werden heruntergespielt: Auch das gibt es bereits. So ist kaum zu bestreiten, dass die dramatisch schwache Entwicklung bei den öffentlichen und vor allem den privaten Investitionen das Wachstum unserer Wirtschaft gebremst hat und die Aussichten eintrübt (siehe Kapitel 9). Umso größer ist das Bemühen, das Phänomen kurzerhand wegzurechnen. Offizieller Standpunkt des Bundeswirtschaftsministeriums in dieser Frage ist, dass die »Investitionsquote in Deutschland (…) dem Entwicklungsstand unserer Volkswirtschaft ungefähr angemessen« sei. Für »alarmistische Meldungen« bestehe »somit kein Anlass«.19

Es gibt noch drei weitere Phänomene, die nicht unbedingt typisch sind für die euphorische Phase von Blasen, die sich aber dem irrationalen Überschwang, der uns ereilt hat, zuordnen lassen. Alle drei hängen miteinander eng zusammen: Da ist, erstens, unser Hochmut gegenüber Dritten, die mangelnde Bereitschaft, unvoreingenommen und ohne Überheblichkeit über den Tellerrand zu schauen. Da ist, zweitens, unsere Neigung, alle möglichen Sonderwege, die wir gehen, vorbehaltlos als Stärken zu deuten. Und da ist, drittens, das Bestreben, uns selbst zum Musterknaben für die Welt zu erklären.

Wir sprachen vom »Modell Holland«, und wir suchten und fanden noch andere Vorbilder, die Schweiz etwa oder Schweden. Mitte der 90er-Jahre war das, als uns angesichts schwacher Wachstumszahlen und steigender Arbeitslosenquoten zunehmend unwohl wurde. Erstmals diskutierten wir ernsthaft über den internationalen »Standortwettbewerb«, dem Deutschland ausgesetzt ist. Damals kam »Benchmarking« in Mode. Dutzendweise wurden Studien angefertigt, die zeigen sollten, wie Deutschland im internationalen Vergleich dasteht. Bereitwillig schauten wir nach, wer besser abschneidet – und warum er es tut.

Ihren Höhepunkt erreichte die Benchmarking-Mode mit dem »Pisa-Schock« des Jahres 2001. Damals veröffentlichte die offizielle Denkfabrik der Industrieländer, die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) in Paris, zum ersten Mal Auswertungen aus ihrem »Programme for International Student Assessment« (Pisa). Das unerwartet schlechte Abschneiden deutscher Schüler bei diesem internationalen Leistungsvergleich löste eine heftige, lang anhaltende Debatte aus.

Mittlerweile sind wir nur noch schwer zu schocken. Anfang Oktober 2013 zum Beispiel legte die OECD zum ersten Mal die Ergebnisse des PIAAC, des »Programme for the International Assessment of Adult Competencies« vor, einer Art Pisa für Erwachsene. Für Deutschland fielen die Resultate verheerend aus (siehe Kapitel 12). Wer einen Aufschrei der Öffentlichkeit erwartet hätte, Brandreden des Bundespräsidenten, leidenschaftliche Diskussionen in Plenarsitzungen und Talkshows, lag daneben. Bundesbildungsministerin Johanna Wanka (CDU) tat damals etwas, was sie sonst eher selten tut: Sie schickte eine Staatssekretärin vor. Die bedachte das Thema in einer Pressemitteilung mit genau drei Sätzen.20 Nach wenigen Tagen versiegte die Berichterstattung darüber.

Ein großes Hallo gab es dafür zwei Monate später, als erstmals nach drei Jahren neue Pisa-Ergebnisse veröffentlicht wurden. Da war Wanka wieder da. Deutschlands Schüler »sind auf dem Weg in die Spitzengruppe«, erklärte sie im Dezember 2013 gemeinsam mit dem Präsidenten der Kultusministerkonferenz. »Besonders erfreulich ist, dass der Zusammenhang von sozialer Herkunft und Bildung abnimmt und die Schülerinnen und Schüler mit Zuwanderungshintergrund bessere Leistungen zeigen. Die vielfältigen Anstrengungen von Bund und Ländern zahlen sich aus.« In der dazugehörenden Pressemitteilung hatten Wankas Ministerialbeamte so ziemlich alles aus der Pisa-Studie zusammengekratzt, was sich als Erfolg für Deutschland deuten lässt.21

Dagegen blieb außen vor, in der Presseerklärung wie in der anschließenden kurzen Debatte über die Ergebnisse in der Öffentlichkeit, dass sich »vielfältige Anstrengungen« auch in einigen anderen Ländern gelohnt haben – darunter Italien, Polen, Portugal, Südkorea und die Türkei.22 Polen etwa, dessen Schüler beim ersten großen Pisa-Mathetest 2003 noch unter dem OECD-Durchschnitt und auch unter dem deutschen Niveau lagen, hat Deutschland inzwischen überholt. Konkret zeigt die jüngste Pisa-Studie,

dass polnische Schüler im Durchschnitt eine höhere »mathematische Kompetenz« an den Tag legen als die deutschen;

dass dabei sowohl die leistungsschwächsten zehn Prozent als auch die leistungsstärksten fünf Prozent in Polen besser abschneiden als in Deutschland; und

dass auch bei den naturwissenschaftlichen und den Lesetests polnische Schüler im Durchschnitt bessere Leistungen erbringen als deutsche.23

Wenn es richtig ist, dass zumindest auf längere Sicht das Bildungsniveau einen sehr starken Einfluss auf das Wohlstandsniveau hat: Sollten wir uns dann nicht anschauen, was die Polen besser machen? Oder sollten wir uns lieber von einer Bildungsministerin weismachen lassen, wir seien »auf dem Weg in die Spitzengruppe«, nur weil die Ergebnisse ein bisschen weniger betrüblich sind als zuvor?

Wir schmoren im eigenen Saft, meiden den Vergleich mit anderen Nationen oder picken uns das heraus, was zu unserem Selbstbild passt. Ein schönes Beispiel ist auch die sogenannte Exzellenzinitiative: 39 deutsche Universitäten bekommen derzeit, auf fünf Jahre verteilt, insgesamt 2,7 Milliarden Euro zusätzlich. Damit wollen Bund und Länder, wie es heißt, »den Wissenschaftsstandort Deutschland nachhaltig stärken, seine internationale Wettbewerbsfähigkeit verbessern und Spitzenforschung an deutschen Hochschulen sichtbar machen«.24 Ganz offiziell wird in diesem Zusammenhang von »Eliteuniversitäten« gesprochen.25

39 Hochschulen, fünf Jahre, 2,7 Milliarden Euro. Das macht im Durchschnitt knapp 14 Millionen Euro pro Uni und Jahr. Zum Vergleich: Die privat betriebene amerikanische Harvard University kassiert nicht nur Studiengebühren in Höhe von mehr als 40000 Dollar pro Student und Jahr. Sie hat auch eine eigene Vermögensverwaltung im Rücken: die Harvard Management Company. Deren einziges Ziel besteht darin, Forschung und Lehre an der berühmten Uni zu unterstützen. Am Ende des Geschäftsjahrs 2012/13 hatte die HMC rund 32,7 Milliarden Dollar auf dem Konto. Allein in jenem Jahr erwirtschaftete sie rund 3,7 Milliarden Dollar.26 Das ist ungefähr das 200-Fache dessen, was in Deutschland eine gleichsam per Dekret ernannte »Eliteuni« im Durchschnitt ein paar Jahre lang obendrauf bekommt.

Nun ist Geld nicht alles, vermutlich auch im Hochschulwesen nicht. Allerdings deuten einschlägige internationale Universitätsrankings nicht darauf hin, dass deutsche Hochschulen in der Lage wären, die schlechtere finanzielle Ausstattung auf einem anderen Wege auszugleichen. Die international vielbeachteten »QS World University Rankings« führen für 2013 unter den 100 besten Universitäten weltweit gerade einmal drei deutsche auf. Die kleine Schweiz dagegen ist mit vier Hochschulen vertreten, Japan mit sechs. Großbritannien ist sogar 18-mal in den Top 100 zu finden – und viermal in den Top 10.27

Auch in vielen anderen wirtschaftlich relevanten Bereichen steht Deutschland im internationalen Vergleich viel schlechter da als oftmals angenommen. Hier nur ein paar weitere, mehr oder wenige wahllos herausgegriffene Beispiele:

In Deutschland haben nur 20 Prozent der jungen Erwachsenen einen höheren Bildungsabschluss als ihre Eltern (Industrieländer-Durchschnitt: 37 Prozent). Demgegenüber erreichen 22 Prozent lediglich einen niedrigeren Abschluss (Industrieländer-Schnitt: 13 Prozent).28

In nicht weniger als 110 Ländern auf der Welt ist es leichter als in Deutschland, ein Unternehmen zu gründen.29

Die Informations- und Kommunikationstechnologien (IKT) bilden einen Boomsektor – in dem Deutschland unterrepräsentiert ist, gelinde gesagt. Unter den laut OECD 250 weltweit führenden IKT-Unternehmen finden sich gerade einmal sechs deutsche. Neben, zum Beispiel, Frankreich (10), Taiwan (18) und Japan (49) ist auch Brasilien (7) im Top-250-Ranking häufiger vertreten.30

Der Anteil der Haushalte, die Zugang haben zu sehr schnellen Internetverbindungen, ist so niedrig wie in nur wenigen anderen Industrieländern.31

Von den 15 Nobelpreisträgern, die Deutschland zwischen 1980 und 1998 in den Kategorien Chemie, Medizin und Physik hervorgebracht hat, forschten zwölf zum Zeitpunkt der Ehrung an heimischen Forschungseinrichtungen. Von den acht, die zwischen 1999 und 2013 geehrt wurden, taten das nur vier. Der Anteil ist also von 80 auf 50 Prozent gefallen.

Schon unter der schwarz-gelben Bundesregierung hatte kein anderes großes Industrieland die Reformempfehlungen der OECD so konsequent ignoriert wie Deutschland.32 Mit der schwarz-roten Koalition dürfte es, wenn man den Koalitionsvertrag zum Maßstab nimmt, nicht besser werden. Die Kritik von OECD-Generalsekretär Angel Gurría, mit den Rentenbeschlüssen der Großen Koalition seien die Zeiten vorbei, »in denen Deutschland international als gutes Beispiel für die Gestaltung der Rentensysteme galt«,33 konterte Kanzlerin Merkel im Februar 2014 kühl: Die Beschlüsse seien »im Augenblick vertretbar«. Manchmal sei die Politik halt verpflichtet, »auf bestimmte Befindlichkeiten Rücksicht zu nehmen«.34

Was andere besser machen und wie sie das anstellen: Wir hätten wahrlich Gründe, uns das eingehend anzuschauen. Tatsächlich passiert das Gegenteil.

Unsere Wirtschaft hat eine ganze Reihe von Eigenarten, die es fast nirgendwo sonst gibt. Die duale Ausbildung gehört dazu, die Mitbestimmung, das Sparkassenwesen, die Tarifautonomie. Deutsche Besonderheiten sind außerdem der vergleichsweise hohe Anteil der Industrie an der Wertschöpfung und die große Rolle, die mittelständische Familienunternehmen spielen.

Wir sind kollektiv stolz auf alle diese sechs Eigenarten. So loben Union und SPD in ihrem Ende 2013 abgeschlossenen Koalitionsvertrag Tarifautonomie und Mitbestimmung gleich in der Präambel als »ein hohes Gut«. Ebenfalls bereits in der vierseitigen Einleitung wird betont, »das besondere deutsche Modell mit Sparkassen, Genossenschaftsbanken und Privatbanken« habe »in der Finanzkrise zur Stabilität beigetragen«. Der dualen Ausbildung wiederum solle »zukünftig eine zentrale Bedeutung zukommen«. Der »Kern« der deutschen Wirtschaft werde derweil »auch weiterhin eine moderne, dynamische Industrie« sein. Und der Mittelstand schließlich sei »der innovationsstarke Beschäftigungsmotor für Deutschland«.35

Dass alle diese sechs Besonderheiten zumindest potenziell Stärken sein können, soll gar nicht in Abrede gestellt werden. Aber es gab sie eben auch schon, als wir Anfang der 80er-Jahre wirtschaftlich ins Schlingern gerieten; als in den 90er-Jahren das Wirtschaftswachstum stark nachließ; und als zu Beginn des Jahrtausends die Wirtschaftsleistung kaum mehr vom Fleck kam und schließlich die Arbeitslosenzahl die Fünf-Millionen-Marke überstieg.

Krisen verhindern können die Eigenarten also nicht, weder allein noch in ihrer Kombination. Da wäre es naheliegend, ja geboten, zu erforschen, ob es nicht andere Faktoren gibt, die für das Wohl und Wehe einer modernen Volkswirtschaft viel entscheidender – oder zumindest noch entscheidender – sind. Die Suche: Im Rausch des großen neuen Wir-sind-wieder-wer bleibt sie aus.

Der Welt deutsche Autos zu verkaufen und deutsche Maschinen – das reicht uns inzwischen nicht mehr. Unsere ganzen Eigentümlichkeiten kommen gleich mit auf die Verkaufstheke. So erklärt Arbeitsministerin Nahles die Tarifautonomie zum »Exportschlager«.36 Das Sparkassenwesen haben wir ebenfalls für den Export vorgesehen. Als »Erfolgsmodell für Europa«, das die griechische Wirtschaft retten soll und neuerdings sogar dem Regime in Kuba angedient wird.37 Außerdem will die Bundesregierung dafür sorgen, dass die Mitbestimmung in ganz Europa »weiter gestärkt« wird – so sieht es der Koalitionsvertrag vor.38 Und mit Blick auf die duale Ausbildung hat die Kanzlerin dem Rest Europas schon in Aussicht gestellt, man werde »alles daransetzen, dass (…) andere Länder dem Beispiel folgen«.39

Es ist keine Übertreibung: Wir versuchen im Jahr 2014, der Welt unser Geschäftsmodell von anno 1964 aufzudrängen. Fehlt eigentlich nur, dass wir die Menschheit mit Hauptschulen und Steinkohlesubventionen zwangsbeglücken wollen.

Zu unserem Leidweisen tut sich die Welt aber schwer mit dem Lernen. Das duale Ausbildungssystem versuchen Politik und Wirtschaft anderen Ländern schon seit Jahrzehnten anzudrehen. Flächendeckend übernommen hat es außerhalb des deutschsprachigen Raums bis heute: niemand. Das könnte uns zu denken geben. Vielleicht, ganz vielleicht ist es ja gar nicht der Rest der Welt, der ignorant und verblendet ist – sondern wir selbst. Wenn alle anderen in eine andere Richtung fahren: Vielleicht sind dann ja doch nicht sie es, die als Geisterfahrer unterwegs sind. Doch statt unsere Sonderwege auch nur einen Moment zu hinterfragen, schlagen wir noch neue ein.

Keine Nation der Welt hat nach der Reaktorkatastrophe im japanischen Fukushima im März 2011 beschlossen, vollständig und endgültig aus der Atomenergie auszusteigen. Keine – außer uns. Wir sind, glauben wir, allerdings auch die Einzigen, die den daraus resultierenden Herausforderungen gewachsen sind. Daher schaut die ganze Menschheit nun auf Deutschland, ehrfürchtig, bewundernd. So hätten wir es gern, so reden wir es uns sein. Vorneweg: die Kanzlerin. »Die Welt ist der Überzeugung: Wenn es einer schaffen kann, dann können’s die Deutschen schaffen«, sagte Merkel mit Blick auf die Energiewende im September 2013 in einer Fernsehdebatte mit ihrem damaligen Kontrahenten Peer Steinbrück. Woher sie weiß, was die Welt glaubt, behielt sie für sich.

Das ist vielleicht auch besser so, denn nicht wenige unabhängige ausländische Experten halten den jähen Atomausstieg wegen seiner Rückwirkungen auf die Energiemärkte in den Nachbarländern für einen »ziemlich rücksichtslosen« Akt des Unilateralismus.40 Für eine »schlecht geplante« Politik, die Deutschlands »tiefen Unwillen« illustriere, »strategisch über internationale Herausforderungen nachzudenken«.41

Wir selbst sehen das natürlich ganz anders. Auch den jüngsten deutschen Sonderweg wollen wir der Welt andrehen. Wenn die Energiewende »uns gelingt«, so drückte es die Kanzlerin in einer Regierungserklärung im Januar 2014 aus, »dann wird sie – davon bin ich überzeugt – zu einem weiteren deutschen Exportschlager«.42

Manchmal hilft ein Blick in einschlägige Statistiken. In die Statistiken für 2013 etwa, jenes Jahr, da Deutschland angeblich ein »Wachstumsmotor«, eine »Wachstumslokomotive« war. In Wirklichkeit wuchs die deutsche Wirtschaftsleistung um magere 0,4 Prozent. Die Einfuhr von Waren und Dienstleistungen ging zurück: Das Minus im Handel mit den Euro-Zonen-Partnern betrug 0,2 Prozent, insgesamt war sogar ein Rückgang von 1,1 Prozent zu verzeichnen.43

Dass die Importe des einen oder anderen Landes noch stärker rückläufig gewesen sind, ändert nichts daran: Ein Land, das im Ausland weniger einkauft als zuvor, ist kein Motor und erst recht keine Lokomotive. Sondern ein Bremsklotz.

Nun ist natürlich ein einziges Jahr kaum mehr als eine Momentaufnahme, wenn es darum gehen soll zu erfassen, wie dynamisch Deutschland sich wirklich entwickelt. Dazu muss man längere Zeiträume in den Blick nehmen.

7 Institut für Demoskopie Allensbach (2013), S. 5.

8 http://www.pewglobal.org/database/indicator/3/survey/all/.

9 Eine ausführliche Aufstellung ähnlicher Zitate findet sich unter http://economicsofcontempt.blogspot.de/2008/07/official-list-of-punditsexperts-who.html.

10 http://marginalrevolution.com/marginalrevolution/2008/02/was-there-a-hou.html.

11 Kindleberger/Aliber (2000), S. 25 ff.

12 Vgl. Cowen (2011), S. 74 ff.

13 Siehe etwa die Aussagen des konservativen Ökonomen Kevin Hassett in diesem Artikel der »New York Times« aus dem Jahr 2004: http://www.nytimes.com/2004/07/25/weekinreview/the-nation-the-perils-of-predicting-financial-bubbles.html.

14 http://www.businessweek.com/stories/2005-06-21/housing-bubble-or-bunk.

15 Ebd. Freddie Mac musste mit Milliardenspritzen vom amerikanischen Steuerzahler gerettet werden. Frank Nothaft behielt seinen Job.

16 Steinbrück (2013), S. VII.

17 Rürup/Heilmann (2013), S. 3.

18 2013 lag das Pro-Kopf-Einkommen in den USA bei 53101 Dollar, in Deutschland bei umgerechnet 44999 Dollar. Sollte die Wirtschaftsleistung in Amerika in den folgenden 20 Jahren auch nur um ein halbes Prozent pro Kopf und Jahr zulegen, käme man am Ende dieser Periode auf einen Wert von 58671 Dollar. Um diesen Wert zu erreichen, müsste das Pro-Kopf-Einkommen in Deutschland um jährlich gut 1,3 Prozent wachsen, also mehr als doppelt so schnell wie in den USA. Wenn man die tatsächliche Kaufkraft zugrunde legt – und das sollte man, wenn man versucht, den materiellen Wohlstand von Nationen zu vergleichen –, dann wird die Herausforderung für Deutschland noch größer. Kaufkraftbereinigt lag das deutsche Pro-Kopf-Einkommen 2013 nämlich statt bei 44999 nur bei 40007 Dollar. Um von diesem Niveau auf 58671 Dollar, also den angenommenen amerikanischen Wert, zu kommen, müsste das deutsche Pro-Kopf-Einkommen um jährlich gut 1,9 Prozent wachsen, also sogar fast viermal so schnell wie in den USA. Und selbst dann hätten die Deutschen die Amerikaner nur ein-, aber nicht überholt – und erst recht noch nicht »abgehängt«. Die hier präsentierten Berechnungen basieren auf der zweimal jährlich aktualisierten »World Economic Outlook Database« des Internationalen Währungsfonds (Stand: April 2014). Die Datenbank ist frei zugänglich unter http://www.imf.org/external/ns/cs.aspx?id=28.

19 Bundesministerium für Wirtschaft und Technologie (2013), S. 18.

20 »Jüngere schneiden besser ab als Ältere«, Pressemitteilung des Bundesministeriums für Bildung und Forschung vom 8. Oktober 2013.

21 »PISA 2012: Schulische Bildung in Deutschland besser und gerechter«, Pressemitteilung des Bundesministeriums für Bildung und Forschung vom 3. Dezember 2013.

22 OECD (2013), S. 5, und Prenzel/Sälzer/Klieme/Köller (2013), S. 85.

23 Prenzel/Sälzer/Klieme/Köllner (2013), S. 348, 353 f.

24 bmbf.de/de/1321.php.

25 Siehe zum Beispiel »Schavan begrüßt Engagement der Wirtschaft als Partner der Exzellenzinitiative und der drei Eliteuniversitäten«, Pressemitteilung des Bundesministeriums für Bildung und Forschung vom 18. Oktober 2006.

26 hmc.harvard.edu.

27 www.topuniversities.com. Die drei deutschen Hochschulen in den Top 100 sind die Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg (Platz 50), die Technische Universität München (53) und die Ludwig-Maximilians-Universität München (65).

28 OECD (2014), S. 21.

29 Weltbank (2013), S. 5.

30 OECD (2012), S. 41.

31 Ebd., S. 65 f.

32 OECD (2013a), S. 20.

33 http://www.welt.de/wirtschaft/article124955601/OECD-sieht-in-Deutschland-kein-gutes-Beispiel-mehr.html.

34 »Merkel als erstes deutsches Regierungsoberhaupt bei der OECD«, dpa-Meldung vom 19. Februar 2014.

35 S. 8 f., 18, 60 des Koalitionsvertrags, abrufbar zum Beispiel unter https://www.cdu.de/sites/default/files/media/dokumente/koalitionsvertrag.pdf.

36 Podiumsdiskussion beim WELT-Tarifforum am 20. Februar 2014 in Berlin.

37 Drost (2014) und »Haasis: Sparkassen sind Erfolgsmodell für Europa«. Pressemitteilung des Deutschen Sparkassen- und Giroverbands vom 28. September 2011.

38 Koalitionsvertrag, a. a. O., S. 114.

39 Rede beim IHK-Neujahrsempfang in Villingen-Schwenningen am 10. Januar 2013, http://www.bundesregierung.de/ContentArchiv/DE/Archiv17/Reden/2013/01/2013-01-10-merkel-ihk.html.

40 Buchan (2012), S. 34.

41 The Economist (2013), S. 3.

42 Regierungserklärung am 29. Januar 2014 im Deutschen Bundestag in Berlin, http://www.bundesregierung.de/Content/DE/Regierungserklaerung/2014/2014-01-29-bt-merkel.html.

43 https://www.destatis.de/DE/PresseService/Presse/Pressemitteilungen/2014/02/PD14_040_51.html.